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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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missachtet, aber das ist wohl zu frei, ich überlege gerade… ›<strong>Die</strong>ses<br />

Ding‹, so jedenfalls Lukrez, ›bringt dadurch seinem ursprünglichen<br />

Wesen den sofortigen Tod‹. Aber«, und der Zeigefinger des Ex—Lehrers<br />

ging in die Höhe, »der Dichter Ovid vertritt in den Metamorphosen eine<br />

diametral entgegengesetzte Ansicht. Er behauptet: ›So wie weiches<br />

Wachs‹ - erhitzt etwa für das Versiegeln von Dokumenten oder<br />

dergleichen, verstehen Sie - ›mit neuen Mustern versehen wird und seine<br />

Form verändert und nicht mehr dasselbe zu sein scheint, so bleibt es<br />

doch dasselbe, und das gilt ebenso für unsere Seelen.‹ - Hören Sie?<br />

Unsere Seelen! Unser unsterbliches Wesen! - ›Sie bleiben dieselben,<br />

nehmen auf ihrer Wanderschaft aber stets neue Formen an.‹«<br />

Vor Begeisterung über die alten Worte hüpfte er jetzt von einem Bein<br />

aufs andere. »Für mich kommt Ovid immer vor Lukrez«, erklärte er.<br />

»Ihre Seele, mein lieber armer Freund, bleibt dieselbe. Nur auf ihrer<br />

Wanderschaft hat sie zur Zeit diese Form angenommen.«<br />

»Ein ziemlich schwacher Trost.« Chamcha gelang es, eine Spur seiner<br />

alten Trockenheit aufzubringen. »Entweder ich akzeptiere Lukrez und<br />

ziehe den Schluss, dass in meinem Innersten eine teuflische und<br />

irreversible Mutation stattfindet, oder ich halte es mit Ovid und erkenne<br />

an, dass alles, was jetzt ans Tageslicht kommt, lediglich eine<br />

Manifestation des bereits Vorhandenen ist.«<br />

»Ich habe mich schlecht ausgedrückt«, entschuldigte sich Sufyan<br />

niedergeschlagen. »Ich wollte Sie nur trösten.«<br />

»Welchen Trost gibt es schon für einen Mann«, erwiderte Chamcha,<br />

dessen Sinn für Ironie vom Gewicht seines Kummers erdrückt wurde,<br />

mit bitterer Logik, »dessen alter Freund und Retter auch der nächtliche<br />

Liebhaber seiner Frau ist und so dafür sorgt - wie Ihre alten Bücher<br />

zweifellos bestätigen werden -, dass dem betrogenen Ehemann Hörner<br />

wachsen.«<br />

Der alte Freund, Jumpy Joshi, konnte sich in wachem Zustand auch nicht<br />

für einen einzigen Augenblick von dem Wissen befreien, dass er, nach<br />

seiner Erinnerung zum ersten Mal, den Willen verloren hatte, ein Leben<br />

gemäß seinen eigenen Moralvorstellungen zu führen. Im Sportzentrum,<br />

wo er eine wachsende Anzahl von Jugendlichen in asiatischen

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