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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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dass sein Übertritt zum Islam überwiegend taktischer Natur gewesen<br />

war: »Nur damit ich was zu trinken kriege, Bibi, was soll ich denn<br />

machen?« Seine Beichte hatte sie empört; er sei überhaupt kein Moslem,<br />

erklärte sie ihm, seine Seele sei in Gefahr, ihretwegen könne er ruhig<br />

nach Chatnapatna zurückkehren und verdursten.<br />

Während sie sprach, verfärbte sich ihr Gesicht aus einer unerklärlich<br />

starken Enttäuschung heraus, und es war die Heftigkeit dieser<br />

Enttäuschung, die ihm die Kraft gab, ein Dutzend Schritte von ihrem<br />

Haus entfernt hocken zu bleiben, Tag für Tag, aber weiterhin stolzierte<br />

sie mit hocherhobenem Kopf an ihm vorbei, ohne ein Guten Morgen<br />

oder Wie geht’s?<br />

Einmal in der Woche rumpelten die Kartoffelkarren auf dem gefurchten,<br />

schmalen, vier Stunden langen Weg nach Chatnapatna, wo der Feldweg<br />

auf die große Fernstraße stieß.<br />

In Chatnapatna standen die hohen, glänzenden Aluminiumsilos der<br />

Kartoffelgroßhändler, aber damit hatten Aischas regelmäßige Besuche in<br />

der Stadt nichts zu tun. Sie fuhr auf irgendeinem Kartoffelkarren mit, um<br />

ihre Waren, die sie in einem kleinen Bündel aus Sackleinen mit sich trug,<br />

auf den Markt zu bringen. Chatnapatna war in der ganzen Gegend<br />

bekannt für sein Kinderspielzeug: geschnitzte Holztiere und emaillierte<br />

Figürchen. Osman und sein Ochse standen am Rande des Banyanbaumes<br />

und sahen sie auf den Kartoffelsäcken herumhopsen, bis sie nur noch als<br />

Punkt zu erkennen war.<br />

In Chatnapatna begab sie sich zu den Räumlichkeiten von Sri Srinivas,<br />

dem Besitzer der größten Spielzeugfabrik im Ort. An den Hauswänden<br />

standen tagespolitische Graffiti: Wählt die Hand. Oder höflicher: Bitte<br />

wählen Sie KP (M). Über diesen Ermahnungen hing die stolze<br />

Bekanntmachung: Srinivas’ Spielzeug-Universum. Unser Motto:<br />

Ehrlichkeit & Kreativität.<br />

Drinnen wartete Srinivas: ein großer Wackelpudding von einem Mann,<br />

mit einem Kopf wie eine unbehaarte Sonne, ein Bursche um die Fünfzig,<br />

dem ein Leben in der Spielzeugbranche die gute Laune nicht verdorben<br />

hatte. Aischa verdankte ihm ihren Lebensunterhalt. Er war so angetan<br />

von ihrer kunstfertigen Schnitzerei, dass er ihr zugesagt hatte, soviel zu<br />

kaufen, wie sie herstellen konnte. Doch trotz seiner üblichen Jovialität<br />

verdunkelte sich seine Miene, als Aischa ihr Bündel aufmachte, um ihm

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