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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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erregten. Dann trat Mishal neben ihren Gatten. »Kennst du sie?« fragte<br />

Said, und sie nickte. »Ein Waisenmädchen. Sie stellt kleine<br />

Emaille-Tiere her und verkauft sie an der Fernstraße. Sie hatte die<br />

Fallsucht schon als ein kleines Kind.« Mirza Said war, nicht zum ersten<br />

Mal ergriffen von der Gabe seiner Frau, alles über andere Menschen zu<br />

wissen. Er selbst konnte kaum ein Dutzend der Dorfbewohner<br />

auseinanderhalten, aber sie kannte die Kosenamen, Familiengeschichte<br />

und Einkommensverhältnisse jedes Einzelnen. <strong>Die</strong> Leute erzählten ihr<br />

sogar ihre Träume, obgleich nur wenige von ihnen öfter als einmal im<br />

Monat träumten, denn sie waren zu arm, um sich solchen Luxus leisten<br />

zu können. <strong>Die</strong> überströmende Liebe, die er im Morgengrauen verspürt<br />

hatte, kehrte zurück, und er legte einen Arm um ihre Schultern. Sie<br />

lehnte den Kopf an ihn und sagte leise: »Herzlichen Glückwunsch zum<br />

Geburtstag.« Er küsste sie aufs Haar. So standen sie da, einander<br />

umarmend, und betrachteten das schlafende Mädchen. Aischa: seine<br />

Frau nannte ihm ihren Namen.<br />

Als das Waisenmädchen Aischa in die Pubertät gekommen und aufgrund<br />

ihrer geistesabwesenden Schönheit und ihrer Art, in eine andere Welt zu<br />

starren, der Wunschtraum vieler junger Männer geworden war, begannen<br />

die Leute zu sagen, sie halte wohl Ausschau nach einem himmlischen<br />

Liebhaber, weil ihr die Sterblichen alle nicht gut genug waren. Ihre<br />

abgewiesenen Verehrer beschwerten sich, sie habe - richtig besehen - gar<br />

keinen Grund, so wählerisch zu sein, zum ersten, weil sie eine Waise,<br />

und zum zweiten, weil sie vom Dämon der Epilepsie besessen war, der<br />

gewiss jedes himmlische Wesen abschrecken würde, das ansonsten<br />

vielleicht Interesse für sie gezeigt hätte. Einige enttäuschte junge Männer<br />

gingen soweit zu behaupten Aischas Makel würde ohnehin verhindern,<br />

dass sie jemals einen Ehemann fand, also könne sie sich genausogut<br />

Liebhaber zulegen, damit diese Schönheit nicht vergeudet wäre, die<br />

gerechterweise einem weniger schwierigem Menschenkind zugestanden<br />

hätte. Doch trotz aller Versuche der jungen Männer von Titlipur, sie zu<br />

einer Hure zu machen, blieb Aischa keusch; was sie schützte, war ihr<br />

Blick, den sie stets mit äußerster Konzentration auf das Stückchen Luft<br />

direkt über der linken Schulter ihres Gegenübers gerichtet hielt, und der

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