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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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sonnenhellen Luft nach unten auf ihre ausgestreckte Hand und in den<br />

sicheren Tod. Sie ergriff sie an den Flügelspitzen, warf den Kopf zurück<br />

und holte sie mit der Spitze ihrer schmalen Zunge in den Mund. Einmal<br />

ließ sie ihren Mund geöffnet, die dunklen Lippen teilten sich<br />

herausfordernd, und Mirza Said zitterte, als er sah, wie ein Schmetterling<br />

in der dunklen Höhle seines Todes umherflatterte, ohne dass er zu<br />

fliehen versuchte. Als sie überzeugt war, dass er dies gesehen hatte,<br />

schloss sie den Mund und begann zu kauen. So blieben sie an ihrem<br />

Platz, die Bäuerin unten, der Grundbesitzer oben, bis sie urplötzlich die<br />

Augen verdrehte und heftig zuckend mit voller Wucht auf die linke Seite<br />

fiel.<br />

Nach ein paar Sekunden starren Entsetzens rief der Mirza:<br />

»Ohé, Haus! Ohé, aufwachen, zu Hilfe!« Im selben Moment schon lief er<br />

auf die prächtige englische Treppe aus Mahagoniholz zu, die aus einer<br />

unvorstellbaren Gegend namens Warwickshire stammte, irgendeinem<br />

unwirklichen Ort, wo in einer feuchten und lichtlosen Priorei König<br />

Charles I ebendiese Stufen erklommen hatte, bevor er seinen Kopf verlor<br />

- im siebzehnten Jahrhundert einer anderen Zeitrechnung. Und diese<br />

Stufen hinunter eilte jetzt Mirza Said Akhtar, der letzte seines<br />

Geschlechts, und trampelte über die geisterhaften Abdrücke von<br />

enthaupteten Füßen, auf dem Weg in den Garten.<br />

Das Mädchen wand sich in Krämpfen, zerquetschte Schmetterlinge unter<br />

ihrem hin und her rollenden Leib, schlug mit Armen und Beinen um<br />

sich. Mirza Said gelangte als erster bei ihr an, obgleich die <strong>Die</strong>ner und<br />

Mishal, von seinen Schreien geweckt, gleich hinterherkamen. Er packte<br />

das Mädchen, zwang ihre Kiefer auseinander und schob einen<br />

herumliegenden Zweig dazwischen, den sie sofort entzweibiss.<br />

Blut tröpfelte aus ihrem Mund, und er fürchtete um ihre Zunge, aber<br />

genau in diesem Moment zog sich die Krankheit zurück, sie wurde ruhig<br />

und schlief ein. Mishal ließ sie in ihr eigenes Schlafzimmer bringen, und<br />

nun musste Mirza Said eine zweite schlafende Schönheit in diesem Bett<br />

betrachten und war zum zweiten Mal erfüllt von einer Empfindung, die<br />

ihm zu köstlich und zu tief erschien, um sie mit dem derben Wort Lust<br />

zu benennen. Er stellte fest, dass er zwar angewidert war von seinen<br />

unreinen Absichten, zugleich aber auch beglückt über die Gefühle, die<br />

ihn bedrängten, frische Gefühle, die ihn in ihrer Neuartigkeit überaus

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