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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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unter den geschlossenen Deckeln der Wasserkästen in den Toiletten von<br />

Peristan und in jedem Kleiderschrank und zwischen den Seiten von<br />

Büchern. Beim Aufwachen fand man schlafende Schmetterlinge auf dem<br />

eigenen Gesicht.<br />

Irgendwann wird das Alltägliche unsichtbar, und Mirza Said hatte die<br />

Schmetterlinge seit ein paar Jahren nicht mehr richtig wahrgenommen.<br />

Am Morgen seines vierzigsten Geburtstags jedoch, als das erste Licht<br />

der Dämmerung auf das Haus fiel und die Schmetterlinge augenblicklich<br />

zu leuchten begannen, verschlug ihm die Schönheit dieses Augenblicks<br />

den Atem. Er lief sofort zum Schlafzimmer im Zenana-Flügel, wo seine<br />

Frau Mishal unter dem Schleier eines Moskitonetzes schlief. <strong>Die</strong><br />

magischen Schmetterlinge ruhten auf ihren entblößten Zehen, und ein<br />

Moskito hatte offenbar ebenfalls den Weg hinein gefunden, denn am<br />

oberen Rand ihres Schlüsselbeines war eine Reihe kleiner Stiche zu<br />

sehen. Er wollte das Netz anheben, zu ihr hineinklettern und die Stiche<br />

küssen, bis sie verblassten. Wie entzündet sie aussahen! Wie sie jucken<br />

würden, wenn Mishal erwachte! Doch er hielt sich zurück, genoss statt<br />

dessen die Unschuld ihrer schlafenden Gestalt. Sie hatte weiches<br />

rotbraunes Haar, weiße Haut, und ihre Augen hinter den geschlossenen<br />

Lidern waren von einem seidigen Grau. Ihr Vater war Direktor bei der<br />

Staatsbank, deswegen war sie zunächst eine unwiderstehlich gute Partie<br />

gewesen; die arrangierte Ehe mit ihr hatte der alten, im Niedergang<br />

begriffenen Familie des Mirza wieder zu Reichtümern verholfen und<br />

dann, mit der Zeit, und trotz ihrer vergeblichen Versuche, Kinder zu<br />

bekommen, war diese Ehe zu wahrer Liebe herangereift. Voller Rührung<br />

sah Mirza Said Mishal schlafen und verjagte die letzten Fetzen des<br />

Alptraums aus seinem Kopf. »Wie kann die Welt am Ende sein«,<br />

folgerte er zufrieden, »wenn sie solche Momente der Vollendung bieten<br />

kann wie dieses wundervolle Morgengrauen?«<br />

Aus diesen glücklichen Gedanken heraus begann er, eine stumme Rede<br />

an seine ruhende Frau zu formulieren. »Mishal, ich bin vierzig Jahre alt<br />

und so zufrieden wie ein vierzig Tage alter Säugling. Ich erkenne jetzt,<br />

dass ich mit den Jahren immer tiefer in unsere Liebe gesunken bin, und<br />

nun schwimme ich wie ein Fisch in diesem warmen Meer.« Wie viel sie<br />

ihm gab, staunte er, wie sehr er sie brauchte! Ihre eheliche Verbindung<br />

ging über bloße Sinnlichkeit hinaus, war so eng, dass eine Trennung

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