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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Liebe und Sicherheit und dazu das Gefühl für Seine grenzenlose Zeit, die<br />

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst, die zeitlose Zeit, die<br />

sich nicht zu bewegen braucht. Wir sehnen uns nach dem Ewigen, und<br />

ich bin die Ewigkeit. Sie ist ein Nichts, ein Tick oder ein Tack.<br />

Sie sieht jeden Tag in ihren Spiegel und erschrickt bei dem Gedanken an<br />

das Alter, an die vergehende Zeit. Folglich ist sie die Gefangene ihrer<br />

eigenen Natur; auch sie liegt in den Ketten der Zeit. Nach der Revolution<br />

wird es keine Uhren mehr geben; wir werden sie alle zerschlagen. Das<br />

Wort Uhr wird aus unseren Wörterbüchern gestrichen werden. Nach der<br />

Revolution wird es keine Geburtstage mehr geben. Wir werden alle<br />

wiedergeboren werden, alle im selben unveränderlichen Alter im<br />

Angesicht des Allmächtigen Gottes.«<br />

Jetzt verstummt er, weil unter uns der große Augenblick gekommen ist:<br />

die Leute haben die Gewehre erreicht. <strong>Die</strong> jetzt ihrerseits zum<br />

Schweigen gebracht werden, als die endlose Menschenschlange, die<br />

Riesenpython der sich erhebenden Massen, die Wachen umarmt, sie<br />

erstickt, und das tödliche Kichern ihrer Waffen zum Schweigen bringt.<br />

Der Imam seufzt schwer. »Geschafft.«<br />

<strong>Die</strong> Lichter des Palastes werden gelöscht, als die Leute darauf<br />

zumarschieren, mit denselben gemäßigten Schritten wie zuvor. Und da<br />

erhebt sich aus dem dunklen Palast ein grauenhafter Schrei, der als<br />

hohes, dünnes, durchdringendes Wehklagen beginnt und dann zu einem<br />

tiefen Brüllen wird, ein Heulen, laut genug, um jede Ritze in der Stadt<br />

mit seiner Wut zu füllen. Und dann platzt die goldene Palastkuppel auf<br />

wie ein Ei, und daraus steigt, schwarz-glühend, eine mythologische<br />

Erscheinung auf mit riesigen schwarzen Flügeln und losem, wallendem<br />

Haar, so lang und schwarz, wie das des Imam lang und weiß ist: es ist<br />

Al-Lat, begreift Gibril, die aus Aischas Schale ausbricht.<br />

»Töte sie«, befiehlt der Imam.<br />

Gibril setzt ihn auf dem Ehrenbalkon des Palastes ab; der Imam hält die<br />

Arme ausgebreitet, um den Jubel der Massen zu umfangen - einen<br />

Klang, der selbst das Heulen der Göttin übertönt und sich erhebt wie ein<br />

Lied. Und dann wird Gibril in die Luft gerissen, er hat keine Wahl, er ist<br />

eine Marionette, die in den Krieg zieht; und sie, die ihn kommen sieht,<br />

kauert in der Luft und geht schrecklich stöhnend auf ihn los, mit all ihrer<br />

Kraft. Gibril begreift, dass der Imam, der seine Kämpfe immer von

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