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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Rundfunkamateuren.<br />

Gibril, auf dem der Imam hockt wie auf einem Teppich, stößt im<br />

Sturzflug herab, und in der dampfenden Nacht sehen die Straßen aus, als<br />

wären sie lebendig, sie scheinen sich zu winden wie Schlangen, während<br />

vor dem Palast der kaiserlichen Niederlage ein neuer Hügel zu wachsen<br />

scheint, was geht hier vor, Baba, während wir zusehen? <strong>Die</strong> Stimme des<br />

Imam hängt in der Luft: »Lasse uns landen. Ich will dir zeigen, was<br />

Liebe ist.«<br />

Sie sind in Höhe der Hausdächer, als Gibril erkennt, dass es überall<br />

wimmelt von Menschen. Menschliche Wesen, die sich in diesen<br />

gewundenen Straßen drängen, so dicht aneinander, dass sie aufgegangen<br />

sind in ein größeres, zusammengesetztes Ganzes, ein unaufhörliches<br />

Geschlängel. <strong>Die</strong> Menschen bewegen sich langsam, mit gleichmäßigen<br />

Schritten, durch Wege auf Gassen, durch Gassen auf Straßen, durch<br />

Seitenstraßen auf breitere Straßen, die allesamt auf eine große<br />

Prachtstraße zulaufen, zwölfspurig und von riesigen Eukalyptusbäumen<br />

gesäumt, und diese Straße führt zu den Palasttoren. Sie quillt über von<br />

Menschen, sie ist das vitale Zentrum dieses neugeschaffenen,<br />

vielköpfigen Wesens. Immer siebzig nebeneinander, so marschieren die<br />

Leute ernst auf die Tore der Kaiserin zu. Vor denen ihre Leibgarde in<br />

drei Reihen wartet, liegend, kniend und stehend, mit<br />

Maschinengewehren im Anschlag. <strong>Die</strong> Leute gehen den Hang hinauf,<br />

auf die Gewehre zu; immer siebzig auf einmal, so kommen sie in<br />

Schussweite; die Gewehre plappern und sie sterben, und dann steigen die<br />

nächsten siebzig über die Leiber der Toten, die Gewehre kichern noch<br />

einmal, und der Hügel aus Toten wird höher. <strong>Die</strong> dahinter beginnen, der<br />

Reihe nach darüber zu klettern. In den dunklen Toren der Stadt stehen<br />

mit bedeckten Häuptern Mütter, die ihre geliebten Söhne auf die Straße<br />

stoßen, geh, sei ein Märtyrer, tu das Nötige, stirb. »Du siehst, wie sie<br />

mich lieben«, sagt die geisterhafte Stimme. »Keine Tyrannei auf Erden<br />

kann der Macht dieser langsam marschierenden Liebe standhalten.«<br />

»Das ist keine Liebe«, entgegnet Gibril weinend. »Das ist Hass. Sie hat<br />

sie in Ihre Arme getrieben.« <strong>Die</strong> Erklärung klingt dünn, oberflächlich.<br />

»Sie lieben mich«, sagt die Stimme des Imam, »weil ich Wasser bin. Ich<br />

bin Fruchtbarkeit, und sie ist Fäulnis. Sie lieben mich dafür, dass ich<br />

Uhren zerschlage. Menschen, die sich von Gott abwenden, verlieren

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