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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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auf bestimmten, geheimen Radiowellen hören, auf denen die Stimme des<br />

amerikanischen Konvertiten Bilal das heilige Lied des Imam singt. Bilal<br />

der Muezzin: seine Stimme wird aufgenommen von einer<br />

Amateur-Radiostation in Kensington und entlassen im erträumten Desch,<br />

umgewandelt zur donnernden Rede des Imam höchstpersönlich. Er<br />

beginnt mit rituellen Beschimpfungen der Kaiserin, mit der Auflistung<br />

ihrer Verbrechen, Morde, Bestechungen, sexuelle Beziehungen zu<br />

Echsen und so weiter, verkündet schließlich schallend den<br />

allabendlichen Auftrag des Imam an sein Volk, sich gegen das Unheil<br />

ihrer Staatsführung zu erheben. »Es wird eine Revolution geben«, erklärt<br />

der Imam durch ihn, »eine Revolte nicht nur gegen eine Tyrannin,<br />

sondern auch gegen die Geschichte.« Denn es gibt einen Feind jenseits<br />

von Aischa, und das ist die Geschichte selbst. <strong>Die</strong> Geschichte ist der<br />

Blutwein, der nicht länger getrunken werden darf. <strong>Die</strong> Geschichte, das<br />

Rauschmittel, die Schöpfung und das Eigentum des Teufels, des<br />

Schaitan, die größte aller Lügen - Fortschritt, Wissenschaft, Rechte -, der<br />

sich der Imam widersetzt. <strong>Die</strong> Geschichte ist eine Abweichung vom<br />

Pfad, Wissen ist eine Illusion, denn an dem Tag, als Al-Lah seine<br />

Offenbarungen an Mahound vollendete, war auch alles Wissen vollendet.<br />

»Wir werden den Schleier der Geschichte vernichten«, wettert Bilal<br />

hinaus in die lauschende Nacht, »und wenn wir ihn zerrissen haben,<br />

werden wir das Paradies dahinter liegen sehen, in all seinem Glanz und<br />

Licht.«<br />

Dass der Imam Bilal für diese Aufgabe erwählt hat, liegt an der<br />

Schönheit seiner Stimme, der es in ihrer vorherigen Inkarnation gelang,<br />

den Mount Everest der Hitparade zu erklimmen, nicht nur einmal,<br />

sondern dutzendmal, bis zur Spitze. <strong>Die</strong> Stimme ist voll und<br />

respekteinflößend; eine Stimme, die es gewohnt ist, dass man ihr zuhört;<br />

gutgenährt, hochtrainiert, die Stimme der amerikanischen Zuversicht,<br />

eine Waffe des Westens, die sich gegen ihre Schöpfer gewandt hat, deren<br />

Macht die Kaiserin und ihre Tyrannei stützt. In früheren Zeiten<br />

protestierte Bilal X<br />

gegen eine solche Beschreibung seiner Stimme. Auch er gehöre einem<br />

unterdrückten Volk an, wurde er nicht müde zu betonen, so dass es<br />

unfair sei, ihn mit den Yankee-Imperialisten gleichzusetzen. Der Imam<br />

antwortete nicht ohne Freundlichkeit: Bilal, dein Leiden ist auch das

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