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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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cremefarbenem Untergrund - ist ein wenig verblichen, genug, um die<br />

helleren Rechtecke und Ovale zu betonen, die erkennen lassen, wo früher<br />

einmal Bilder hingen. Der Imam ist der Feind der Bildnisse. Als er<br />

einzog, glitten die Bilder geräuschlos von den Wänden und verdrückten<br />

sich aus dem Zimmer, wichen seiner unausgesprochenen, wütenden<br />

Missbilligung. Einige Darstellungen dürfen jedoch bleiben. Auf dem<br />

Kaminsims hat er eine kleine Sammlung von Postkarten stehen, alle mit<br />

konventionellen Motiven aus seinem Heimatland, das er einfach Desch<br />

nennt: ein Berg, der sich über einer Stadt erhebt; eine malerische<br />

Dorfszene unter einem gewaltigen Baum; eine Moschee. Aber an der<br />

Wand in seinem Schlafzimmer, der harten Pritsche gegenüber, auf der er<br />

hegt, hängt eine mächtigere Ikone, das Portrait einer Frau von<br />

außergewöhnlicher Härte, berühmt wegen ihres an griechische Statuen<br />

erinnernden Profils und ihrer schwarzen Haare, die so lang sind, wie sie<br />

groß ist. Eine mächtige Frau, seine Feindin, die Andere; er hält sie in<br />

seiner Nähe. Genau wie sie, weit weg in den Palästen ihrer Allmacht,<br />

sein Portrait unter ihrem königlichen Gewand umklammern oder es in<br />

einem Medaillon an ihrer Kehle verstecken wird. Sie ist die Kaiserin,<br />

und ihr Name ist - was sonst? - Aischa. Auf dieser Insel, der Imam im<br />

Exil, und zu Hause in Desch, sie. Beide schmieden Mordkomplotte<br />

gegeneinander.<br />

<strong>Die</strong> Vorhänge aus dickem goldenem Samt bleiben den ganzen Tag<br />

geschlossen, weil sich sonst das Böse in die Wohnung einschleichen<br />

könnte: Fremde, Ausland, das feindselige Volk. <strong>Die</strong> bittere Tatsache,<br />

dass er hier ist und nicht Dort, worauf sich all seine Gedanken richten.<br />

Bei jenen seltenen Gelegenheiten, wenn der Imam ausgeht, um in<br />

Kensington frische Luft zu schöpfen, im Zentrum eines Vierecks, das<br />

von acht jungen Männern mit Sonnenbrillen und ausgebeulten Anzügen<br />

gebildet wird, faltet er seine Hände vor dem Bauch und sieht sie mit<br />

starrem Blick an, damit keine Spur, kein Teilchen dieser verhassten Stadt<br />

- dieser Stätte des Lasters, die ihn demütigt, indem sie ihm Zuflucht<br />

gewährt, so dass er ihr trotz all ihrer Lüsternheit, Missgunst und Eitelkeit<br />

verpflichtet sein muss - sich wie ein Staubkörnchen in seinen Augen<br />

einnisten kann. Wenn er dieses verabscheute Exil verlässt, um im<br />

Triumphzug zu dieser anderen Stadt am Fuß des Postkartenbergs<br />

zurückzukehren, wird er stolz darauf sein, sagen zu können, dass er

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