10.12.2012 Aufrufe

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

ihm Rekha Merchant gegenüber, den Teppich zusammengerollt auf den<br />

Knien. Mit einem Knall schlossen sich die Türen hinter ihm.<br />

An diesem Tag floh Gibril Farishta in jede Richtung des Londoner<br />

U-Bahn-Netzes, und Rekha Merchant fand ihn, wo er auch hinfuhr; sie<br />

saß neben ihm auf der endlosen Rolltreppe am Oxford Circus, und im<br />

vollgepackten Fahrstuhl von Tufnell Park rieb sie sich von hinten an ihm<br />

auf eine Art, die sie zu Lebzeiten ziemlich unerhört gefunden hätte. An<br />

der Endstation der Metropolitan Line schleuderte sie die Geister ihrer<br />

Kinder von den Kronen klauenartiger Bäume, und als er vor der Bank<br />

von England ausstieg, um frische Luft zu schnappen, warf sie sich<br />

theatralisch von der Spitze eines neoklassizistischen Ziergiebels. Und<br />

obwohl er von der tatsächlichen Form dieser vielgestaltigsten und<br />

chamäleonartigsten aller Städte keinerlei Vorstellung hatte, wuchs in ihm<br />

die Überzeugung, dass sie ihre Form ständig veränderte, während er<br />

unter ihr herumrannte, so dass die U-Bahnhöfe offenbar nach dem<br />

Zufallsprinzip aufeinander folgten und dauernd die Linien wechselten.<br />

Mehr als einmal tauchte er, halb am Ersticken, aus dieser unterirdischen<br />

Welt auf, in der die Gesetze von Zeit und Raum nicht mehr galten und<br />

versuchte, ein Taxi anzuhalten; nicht eines war dazu bereit, und so war er<br />

gezwungen, sich erneut in diesen höllischen Irrgarten zu stürzen, in<br />

dieses Labyrinth ohne Ausgang, und seine dramatische Flucht<br />

fortzusetzen.<br />

Schließlich, hoffnungslos erschöpft, ergab er sich der verhängnisvollen<br />

Logik seines Wahnsinns und stieg an einer x-beliebigen Haltestelle aus,<br />

die er als letzte, bedeutungslose Station seiner weiten und vergeblichen<br />

Reise auf der Suche nach der Schimäre Erneuerung ansah. Er stieg<br />

hinauf in die herzzerreißende Gleichgültigkeit einer mit Müll übersäten,<br />

von Lastwagen verpesteten Straßenkreuzung. <strong>Die</strong> Nacht war bereits<br />

angebrochen, als er unter Aufbietung seiner letzten Reste an Optimismus<br />

über die Straße wankte, zu einem unbekannten, durch die ektoplasmische<br />

Wirkung der Wolframlampen gespenstisch anmutenden Park. Und als er<br />

dort in der Abgeschiedenheit der Winternacht auf die Knie sank, sah er<br />

die Gestalt einer Frau, die über das Leichentuch ging, das auf dem Gras<br />

lag, und er dachte, es könne niemand anders sein als Rekha Merchant,<br />

seine Nemesis, die nun kam, um ihm den Todeskuss zu geben, um ihn<br />

hinabzuziehen in eine Unterwelt, die viel tiefer lag als jene, in der sie

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!