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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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und diese Dinge nicht zur Sprache bringen. Aber sie existieren wirklich,<br />

das muss ich zugeben, obgleich ich zu den Leuten gehöre, die mit beiden<br />

Füßen fest auf der Erde stehen.«<br />

Das war ein Witz. Ihre Füße. Schon vor der Everestbesteigung hatte sie<br />

angefangen, an stechenden Schmerzen zu leiden, und war von ihrer<br />

praktischen Ärztin, einer nüchternen Person aus Bombay namens Dr.<br />

Mistry, darüber aufgeklärt worden, dass ihre Fußgewölbe<br />

zusammengebrochen waren. »Das heißt, Sie haben Plattfüße.«<br />

Ihre von jeher schwachen Fußgewölbe waren durch jahrelanges Tragen<br />

von Turnschuhen und anderem unpassenden Schuhwerk weiter<br />

geschwächt worden. Dr. Mistry konnte ihr nicht allzu viel raten:<br />

Übungen mit den Zehen, barfuß die Treppe rauflaufen, vernünftige<br />

Fußbekleidung. »Sie sind noch jung«, sagte sie. »Wenn Sie achtgeben,<br />

wird sich’s aushalten lassen. Wenn nicht, werden Sie mit vierzig ein<br />

Krüppel sein.« Als Gibril - verdammt! - erfuhr, dass sie den Everest mit<br />

Messern in den Füßen erklommen hatte, verfiel er darauf, sie sein<br />

China-Girl zu nennen. Er hatte ein Märchenbuch gelesen und darin die<br />

Geschichte von der Seejungfrau gefunden, die das Meer verließ und<br />

Menschengestalt annahm, um des Mannes willen, den sie liebte. Sie<br />

bekam Füße statt Flossen, aber jeder Schritt, den sie tat, war eine Qual,<br />

als würde sie über zerbrochenes Glas gehen; und doch ging sie weiter,<br />

immer geradeaus, fort vom Meer und übers Land. Du hast es für so einen<br />

blöden Berg getan, sagte er. Würdest du es auch für einen Mann tun?<br />

Sie hatte die Fußschmerzen vor ihren Bergsteigerkollegen verheimlicht;<br />

so überwältigend war der Reiz des Everest gewesen. Aber die<br />

Schmerzen waren immer noch da und wurden mit der Zeit stärker. Ihr<br />

waren die Füße durch Zufall eingebunden worden, durch eine<br />

angeborene Schwäche. Ende des Abenteuers, dachte Allie; im Stich<br />

gelassen von meinen Füßen. Das Bild der eingebundenen Füße ging ihr<br />

nicht aus dem Kopf. Gottverdammte Chinesen, dachte sie, ein Echo von<br />

Wilsons Geist.<br />

»Für manche Menschen ist das Leben so einfach«, hatte sie in Gibril<br />

Farishtas Armen geschluchzt. »Warum gehen denen nicht die Füße<br />

kaputt, verdammt noch mal?« Er hatte sie auf die Stirn geküsst. »Für<br />

dich wird es vielleicht immer ein Kampf sein«, sagte er. »Du willst es<br />

einfach zu sehr.«

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