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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Wilson öffnete die Augen, als Allie vorbeikam, und nickte kurz zur<br />

Begrüßung. Den Rest des Tages schlenderte er neben ihr her oder hing in<br />

der Luft, während sie sich an einer Wand hocharbeitete. Einmal, an<br />

einem steilen Hang, machte er eine Bauchlandung in den Schnee und<br />

glitt dann bergaufwärts, als würde er auf einem unsichtbaren<br />

Anti-Schwerkraftschlitten fahren. Allie war aufgefallen, dass sie sich<br />

ganz natürlich benahm, so als hätte sie zufällig einen alten Bekannten<br />

getroffen, aus Gründen, die sie später nicht mehr wusste.<br />

Wilson schwatzte einfach drauflos - »Hab’ dieser Tage so oder so nicht<br />

viel Gesellschaft« - und äußerte unter anderem seine große Enttäuschung<br />

darüber, dass im Jahre 1960 die chinesische Expedition seine Leiche<br />

gefunden hatte. »Und die kleinen gelben Scheißer hatten wirklich die<br />

Stirn, die Dreistigkeit, meinen Leichnam zu filmen.« Alleluja Cone war<br />

beeindruckt von dem leuchtenden schwarz-gelben Karo seiner<br />

makellosen Knickerbockerhose. Das alles erzählte sie den Mädchen der<br />

Brickhall Fields Girls’ School, die sie in so vielen Briefen darum gebeten<br />

hatten, einen Vortrag zu halten, dass sie einfach nicht hatte nein sagen<br />

können. »Sie müssen kommen«, schrieben sie in ihren Briefen. »Sie<br />

leben doch auch hier.« Vom Fenster des Klassenzimmers aus konnte sie<br />

durch das dichter werdende Schneetreiben ihre Wohnung am anderen<br />

Ende des Parks gerade noch erkennen.<br />

Was sie der Klasse nicht erzählte, war folgendes: wie Maurice Wilsons<br />

Geist in aller Ausführlichkeit seinen eigenen Aufstieg, aber auch seine<br />

posthumen Entdeckungen beschrieb, zum Beispiel das langsame,<br />

umständliche, unendlich delikate und stets unproduktive Paarungsritual<br />

des Yeti, das er kürzlich auf dem Südpass miterlebt hatte, so dass ihr der<br />

Gedanke kam, ihre Vision dieses Exzentrikers aus dem Jahr 1934, des<br />

ersten Menschen, der je versucht hatte, den Everest ganz allein zu<br />

besteigen, der also selbst eine Art scheußlicher Schneemensch war, sei<br />

gar kein Zufall gewesen, sondern ein Wegweiser, ein Zeichen von<br />

Verwandtschaft. Eine Prophezeiung für die Zukunft vielleicht, denn in<br />

diesem Moment geschah es, dass ihr heimlicher Traum geboren wurde,<br />

dieses Ding der Unmöglichkeit; der Traum vom Alleinaufstieg. Doch es<br />

konnte auch sein, dass Maurice Wilson ihr Todesengel war.<br />

»Ich wollte mit euch über Geister sprechen«, sagte sie, »weil die<br />

Bergsteiger, die vom Gipfel herunterkommen, meistens verlegen sind

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