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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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»Sie wollen uns auf den Arm nehmen, stimmts?« In ihren Gesichtern<br />

rang Skepsis mit Bewunderung. Sie kannte die Frage, die sie eigentlich<br />

stellen wollten, aber wahrscheinlich nicht stellen würden: die Frage nach<br />

dem Wunder ihrer Haut.<br />

Sie hatte sie aufgeregt tuscheln hören, als sie das Klassenzimmer betrat;<br />

es is’ wahr, guckt mal, wie bleich, is’ ja unglaublich. Alleluja Cone,<br />

deren Eiseskälte dem Ungestüm der Sonne in achttausend Meter Höhe<br />

trotzen konnte. Allie, die Schneejungfrau, die Eiskönigin. Miss, wieso<br />

werden Sie eigentlich nie braun? Als sie mit der siegreichen<br />

Collingwood-Expedition auf den Everest stieg, nannten die Zeitungen sie<br />

»Schneewittchen mit den sieben Zwergen«, obwohl sie kein<br />

Walt-Disney-Püppchen war: die vollen Lippen eher blass als rosenrot,<br />

das Haar eisblond statt schwarz, die Augen nicht in aller Unschuld<br />

aufgerissen, sondern zusammengekniffen, aus Gewohnheit, zum Schutz<br />

vor grellem Sonnenschein. Eine Erinnerung an Gibril Farishta stieg in ihr<br />

auf, packte sie unerwartet: Gibril, der irgendwann während ihrer<br />

dreieinhalb Tage mit seinem üblichen Hang zum Tritt ins Fettnäpfchen<br />

dröhnte: »Baby, du bist kein Eisberg, egal, was die anderen sagen. Du<br />

bist ein leidenschaftliches Weib, Bibi. Scharf und heiß wie ein<br />

frischgebackenes Kachori.« Er hatte auf seine Fingerspitzen gepustet, als<br />

wären sie verbrannt, und dazu noch die Hand geschüttelt: Viel zu heiß.<br />

Wasser, schnell. Gibril Farishta. Sie riss sich zusammen: Auf, auf, an die<br />

Arbeit.<br />

»Geister«, wiederholte sie in entschiedenem Ton. »Als ich bei meiner<br />

Everestbesteigung durch den gefrorenen Wasserfall gekommen war, da<br />

sah ich einen Mann auf einer Felsnase hocken, im Lotussitz, mit<br />

geschlossenen Augen und einer Schottenkaromütze auf dem Kopf, der<br />

das alte Mantra sang: om mani padmé hum.« Aus seiner altmodischen<br />

Kleidung und seinem überraschenden Verhalten hatte sie sofort<br />

geschlossen, dass es der Geist Maurice Wilsons war, des Yogi, der sich<br />

im Jahre 1934 auf einen Alleinaufstieg auf den Everest vorbereitet hatte,<br />

indem er drei Wochen lang hungerte, um die Bindung zwischen seinem<br />

Körper und seiner Seele so sehr zu festigen, dass der Berg nicht die Kraft<br />

haben würde, sie auseinanderzureißen. Er war in einem kleinen Flugzeug<br />

hinaufgeflogen, soweit es ihn trug, dann absichtlich in einem Schneefeld<br />

bruchgelandet, Richtung Gipfel losgeklettert und nie zurückgekehrt.

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