10.12.2012 Aufrufe

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Schuh aus und begann, die Socke herunterzurollen. »Mir wurde«, sagte<br />

er, »ein Zeichen gegeben.« Dann zog er die Socke ganz aus und enthüllte<br />

etwas, das wie ein völlig normaler, wenn auch übergroßer Fuß aussah.<br />

Gibril zählte und zählte noch einmal von eins bis sechs. »Der andere Fuß<br />

ist genauso«, sagte Maslama stolz. »Ich habe die Bedeutung dieses<br />

Zeichens nie auch nur für eine Minute bezweifelt.« Er war der<br />

selbsternannte Gehilfe des Herrn, die sechste Zehe am Fuß des<br />

Universellen Dings. Irgendetwas konnte einfach nicht stimmen mit dem<br />

spirituellen Leben des Planeten, dachte Gibril Farishta. Zu viele Teufel<br />

im Menschen, die behaupteten, an Gott zu glauben.<br />

Der Zug fuhr aus dem Tunnel heraus. Gibril traf eine Entscheidung.<br />

»Steh auf, sechszehiger Johannes«, intonierte er in seiner besten<br />

Hindi-Filmstimme. »Maslama, erhebe dich.«<br />

Der andere rappelte sich hoch und zog mit gesenktem Kopf an seinen<br />

Fingern. »Aber eins möchte ich doch wissen, Sir«, murmelte er, »was<br />

wird es sein? Vernichtung oder Erlösung?<br />

Warum sind Sie zurückgekehrt?«<br />

Gibril dachte rasch nach. »Es geht um die Urteilsfindung«, antwortete er<br />

schließlich. »In diesem Fall müssen die Fakten sehr genau geprüft<br />

werden. <strong>Die</strong> menschliche Rasse steht vor Gericht, und sie ist eine<br />

Angeklagte mit einem ansehnlichen Vorstrafenregister: eine<br />

Geschichtsklitterin, ein faules Ei. Es müssen sorgfältig Bewertungen<br />

vorgenommen werden. Im Augenblick steht das Urteil noch nicht fest; es<br />

wird zu gegebener Zeit verkündet werden. Einstweilen jedoch muss<br />

meine Anwesenheit hier ein Geheimnis bleiben, aus elementaren<br />

Sicherheitsgründen.« Er setzte den Hut wieder auf, war mit sich<br />

zufrieden.<br />

Maslama nickte wild. »Sie können sich auf mich verlassen«, versprach<br />

er. »Ich bin ein Mann, der das Privatleben eines jeden Menschen<br />

respektiert. Diskretion« - zum zweiten Mal!<br />

»Ehrensache.«<br />

Gibril floh in höchster Eile aus dem Abteil, verfolgt von den Hymnen<br />

des Wahnsinnigen. Noch während er bis zum Zugende rannte, konnte er<br />

Maslamas Lobgesänge leise erklingen hören. »Alleluja! Alleluja!«<br />

Offenbar hatte sich sein neuer Jünger in ein Potpourri aus Händels<br />

Messias gestürzt.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!