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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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spürte gleichzeitig ein Ziehen um seinen Bauchnabel, als würde<br />

irgendetwas versuchen herauszukommen, dann wandte sie den Blick ab,<br />

und das Ziehen ließ nach. Doch vielleicht war das nur eine Auswirkung<br />

der nervlichen Anspannung.<br />

Eines Nachts fragte er sie, ob sie die Hörner gesehen hätte, die aus<br />

Chamchas Kopf gewachsen waren, aber sie stellte sich taub und erzählte,<br />

statt ihm zu antworten, wie sie damals auf einem Klapphocker am<br />

Galpón oder Stiergehege von Los Alamos gesessen hatte und wie die<br />

preisgekrönten Stiere zu ihr kamen und ihre gehörnten Köpfe in ihren<br />

Schoß legten. Eines Nachmittags ließ eine gewisse Aurora del Sol, die<br />

Verlobte von Martin de la Cruz, eine freche Bemerkung fallen: Ich<br />

dachte, die legen den Kopf nur in den Schoß einer Jungfrau, flüsterte sie<br />

deutlich vernehmbar ihren kichernden Freundinnen zu, und Rosa drehte<br />

sich zu ihr um und erwiderte freundlich: Dann würden Sie’s vielleicht<br />

gern mal probieren, meine Liebe? Von da an war Aurora del Sol, die<br />

beste Tänzerin auf der Estancia und die begehrenswerteste aller<br />

Peon-Frauen, die Todfeindin der zu großen, zu knochigen Frau aus<br />

Übersee.<br />

»Sie sehen aus wie er«, sagte Rosa Diamond, als sie nebeneinander an<br />

ihrem nächtlichen Fenster standen und aufs Meer hinaussahen. »Sein<br />

Ebenbild. Martin de la Cruz.« Bei der Erwähnung dieses Namens fühlte<br />

Gibril einen heftigen Schmerz in seinem Nabel, einen ziehenden<br />

Schmerz, so als hätte ihm jemand einen Haken in den Bauch gestoßen,<br />

und dann löste sich ein Schrei von seinen Lippen. Rosa Diamond schien<br />

nichts zu hören. »Sehen Sie, dort«, rief sie selig.<br />

Was da über den mitternächtlichen Strand gelaufen kam, in Richtung<br />

Martello-Turm und Ferienlager - am Wasserrand, so dass die Flut seine<br />

Fußspuren verwischte -, was da fintenreich, hakenschlagend um sein<br />

Leben rannte, war ein leibhaftiger, ausgewachsener Strauß. Er floh über<br />

den Strand, und Gibrils Augen folgten ihm voller Erstaunen, bis er in der<br />

Dunkelheit nicht länger zu erkennen war.<br />

Das nächste Ereignis trug sich im Dorf zu. Sie waren losmarschiert, um<br />

einen Kuchen und eine Flasche Champagner zu kaufen, denn Rosa war<br />

eingefallen, dass sie an diesem Tag ihren neunundachtzigsten Geburtstag<br />

hatte. Ihre Familie war schon lange aus ihrem Leben verbannt, also hatte<br />

sie auch keine Glückwunschkarten oder Anrufe bekommen. Gibril

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