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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Und die wartete nun, in klaren Nächten, bei Vollmond, auf die<br />

Wiederkehr der normannischen Geister.<br />

Der beste Platz, um sie kommen zu sehen, sagte sie sich, Tribünenplatz.<br />

Ständige Wiederholung war ihr in ihrem ehrwürdigen Alter zum Trost<br />

geworden; abgenutzte Ausdrücke wie unerledigte Geschichte oder<br />

Tribünenplatz gaben ihr das Gefühl, robust, zeitlos, unvergänglich zu<br />

sein und nicht das Wesen mit Mängeln und Schwächen, das sie war.<br />

Wenn der Vollmond untergeht, in der Dunkelheit vor dem<br />

Morgengrauen, kommt ihre Stunde. Geblähte Segel, blanke Ruder, und<br />

Wilhelm der Eroberer am Bug des Flaggschiffs, das über den Strand<br />

hinaufzieht, mitten durch die hölzernen, muschelüberzogenen<br />

Wellenbrecher und die paar umgedrehten Skullboote. Oh, ich habe im<br />

Leben schon so mancherlei gesehen, hatte ja immer diese Gabe, dieses<br />

Geister-Gesicht.<br />

Wilhelm der Eroberer, in spitzem Helm mit Visier, wie er zu ihrer Tür<br />

hereinkommt, zwischen den Teetischchen und den Sofas mit<br />

Schonbezügen hindurchschwebt, gleich einem Echo, das leise durch das<br />

Haus der Erinnerungen und Sehnsüchte hallt und verstummt; dann:<br />

Totenstille.<br />

Als junges Mädchen stand ich einmal auf dem Battle Hill, erzählte sie<br />

immer gern und mit immer denselben, von der Zeit abgeschliffenen<br />

Worten, das einzige Kind weit und breit, fand ich mich plötzlich, doch<br />

ohne mich zu wundern, mitten im Schlachtengetümmel wieder.<br />

Langbögen, Keulen, Piken. <strong>Die</strong> Flachshaar-Sachsen, dahingerafft in der<br />

Blüte ihrer Jugend.<br />

König Harold mit dem Pfeil im Auge und Wilhelm mit dem Mund voller<br />

Sand. Ja, diese Gabe, dieses Geister-Gesicht. <strong>Die</strong> Geschichte von jenem<br />

Tag, an dem das Mädchen Rosa eine Vision von der Schlacht von<br />

Hastings gehabt hatte, war für die alte Frau einer der Meilensteine ihres<br />

Daseins, obgleich sie sie schon so oft erzählt hatte, dass niemand, nicht<br />

einmal die Erzählerin selbst, hätte mit Gewissheit sagen können, ob sie<br />

der Wahrheit entsprach. Manchmal sehne ich mich danach zurück,<br />

dachte Rosa wie gewohnt. Ach, die guten alten Zeiten: les beaux jours.<br />

Sie schloss noch einmal ihre erinnerungsschweren Augen. Und als sie sie<br />

wieder öffnete, sah sie, wie sich unten, am Rande des Wassers, kein<br />

Zweifel möglich, auf einmal etwas bewegte.

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