10.12.2012 Aufrufe

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

»Ach, ja. Wogegen es etwas vollkommen Ehrenhaftes ist, sich Mördern<br />

zur Verfügung zu stellen.« Ein Totenkult wütet in Jahilia. Wenn ein<br />

Mann stirbt, geißeln sich gekaufte Trauernde, zerkratzen sich die Brust,<br />

reißen sich die Haare aus. Ein Kamel, dem die Kniesehnen<br />

durchgeschnitten wurden, wird zum Grab gebracht, damit es dort<br />

verendet. Und wenn der Mann ermordet wurde, dann schwört sein<br />

nächster Verwandter asketische Eide und verfolgt den Mörder, bis Blut<br />

durch Blut gerächt ist; danach, so will es der Brauch, wird zur Feier ein<br />

Gedicht verfasst, doch nur wenige Rächer sind begabt im Reimen. Viele<br />

Dichter verdienen sich mit dem Schreiben von Mörderliedern ihren<br />

Lebensunterhalt, und man ist sich einig, dass der beste dieser<br />

blutpreisenden <strong>Verse</strong>schmiede der frühreife Polemiker Baal ist. Dessen<br />

Berufsstolz verhindert, dass er sich jetzt durch die Spöttelei des Granden<br />

verletzt fühlt. »Das ist eine kulturelle Angelegenheit«, erwidert er. Abu<br />

Simbel versinkt noch tiefer in Seidigkeit. »Vielleicht«, flüstert er am Tor<br />

des Hauses des Schwarzen Steins, »aber gib zu, Baal: habe ich nicht<br />

einen kleinen Anspruch auf dich? <strong>Die</strong>nen wir doch beide - so scheint mir<br />

- derselben Herrin.«<br />

Jetzt weicht das Blut aus Baals Gesicht; seine Dreistigkeit bekommt<br />

Sprünge, fällt von ihm ab wie eine Schale. Der Grande scheint diese<br />

Veränderung nicht zu bemerken und schiebt den Satiriker vor sich her<br />

ins Haus.<br />

In Jahilia behauptet man, dass dieses Tal der Nabel der Welt ist; dass der<br />

Planet, als er erschaffen wurde, sich um diesen Punkt drehte. Adam kam<br />

hierher und gewahrte ein Wunder: vier Smaragdsäulen, die oben in der<br />

Höhe einen riesigen glühenden Rubin trugen, und unter diesem<br />

Baldachin war ein ungeheuer großer weißer Stein, der ebenfalls aus sich<br />

heraus glühte, wie ein Traumbild seiner Seele. Er baute starke Mauern<br />

um diese Vision, um sie auf ewig an die Erde zu bannen. <strong>Die</strong>s war das<br />

erste Haus. Es wurde oftmals wiedererrichtet - einmal von Ibrahim, nach<br />

Hagars und Ismaels engelsunterstütztem Überleben -, und allmählich<br />

wurde die Farbe des weißen Steins durch die zahllosen<br />

Pilgerberührungen vieler Jahrhunderte schwarz. Dann begann die Zeit<br />

der Götzen; zur Zeit Mahounds drängten sich dreihundertsechzig<br />

Steingötter um Gottes eigenen Stein.<br />

Was hätte wohl der alte Adam gedacht? Seine Söhne stehen jetzt hier;

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!