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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Wüste geformt, aus der sie sich erhebt. Sie ist ein erstaunlicher Anblick:<br />

von Mauern umgeben, mit vier Toren versehen ganz und gar ein<br />

Wunder, gewirkt von seinen Bewohnern, die gelernt haben, den feinen<br />

weißen Dünensand dieser verlassenen Gegend - der Stoff aus dem die<br />

Unbeständigkeit ist, die Quintessenz der Nichtseßhaftigkeit, der<br />

Veränderung, des Verrats, des Mangels an Form -<br />

umzuwandeln, und ihn, mittels Alchimie, zum Grundstoff ihrer neu<br />

ersonnenen Sesshaftigkeit gemacht haben.<br />

<strong>Die</strong>se Menschen haben erst vor drei oder vier Generationen ihre<br />

nomadische Vergangenheit aufgegeben, während derer sie entwurzelt<br />

wie die Dünen waren, oder vielmehr verwurzelt in dem Wissen, dass das<br />

Umherwandern selbst das Zuhause ist.<br />

Wogegen der Auswanderer auf die Reise verzichten kann -<br />

es ist nicht mehr als ein notwendiges Übel; wichtig ist anzukommen.<br />

Vor nicht allzu langer Zeit also und gemäß der Art der gewitzten<br />

Geschäftsleute, die sie waren, ließen sich die Bewohner von Jahilia am<br />

Schnittpunkt der großen Karawanenrouten nieder und unterwarfen die<br />

Dünen ihrem Willen. Jetzt dient der Sand den mächtigen Kaufleuten der<br />

Stadt. Zu Kopfsteinen gehauen, pflastert er Jahilias gewundene Straßen;<br />

nachts lodern goldene Flammen aus Kohlenpfannen aus poliertem Sand.<br />

<strong>Die</strong> Fenster, die länglichen, schlitzförmigen Fenster in den unendlich<br />

hohen Sandwänden der Kaufmannspaläste sind verglast; in den Gassen<br />

Jahilias rollen Eselskarren auf glatten Siliziumrädern dahin. Ich, in<br />

meiner Bosheit, stelle mir manchmal vor, wie sich eine riesige Woge<br />

nähert, eine hohe Wand schäumenden Wassers, die durch die Wüste<br />

braust, eine flüssige Katastrophe voll von berstenden Booten und<br />

ertrinkenden Armen, eine Flutwelle, die diese eitlen Sandburgen wieder<br />

zu dem Nichts macht, zu den Sandkörnern aus denen sie errichtet sind.<br />

Aber hier gibt es keine Wellen.<br />

Wasser ist der Feind Jahilias. Es wird in irdenen Töpfen getragen und<br />

kein Tropfen darf verschüttet werden (das Strafgesetzbuch verfährt<br />

streng mit Zuwiderhandelnden), denn wo es hintropft, wird die Stadt in<br />

besorgniserregendem Maße ausgelöscht. <strong>Die</strong> Straßen werden löchrig,<br />

Häuser neigen sich und schwanken. <strong>Die</strong> Wasserträger von Jahilia sind<br />

eine verabscheute Notwendigkeit, Parias, auf die man nicht verzichten<br />

kann und denen deswegen nichts vergeben wird. Es regnet nie in Jahilia;

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