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Friedrich der Große - Verlag Josef Knecht

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cornelia wusowski<br />

<strong>Friedrich</strong><br />

<strong>der</strong> Große<br />

Der ungeliebte Sohn


Für Herta Ganß, Ralf Nölte, Manfred Thomas,<br />

Gerhard Wirtz<br />

Originalausgabe<br />

***<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© <strong>Verlag</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Knecht</strong> in <strong>der</strong> <strong>Verlag</strong> Karl Alber GmbH, Freiburg 2007<br />

Herstellung: fgb · freiburger graphische betriebe 2007<br />

www.fgb.de<br />

Ein Projekt <strong>der</strong> Montasser Medienagentur<br />

Gesamtgestaltung und Konzeption:<br />

Weiß-Freiburg GmbH – Grafi k & Buchgestaltung, Freiburg<br />

Umschlagmotiv:<br />

A. Pesne: Kronprinz <strong>Friedrich</strong> II<br />

© Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Foto: R. Handrick)<br />

Illustrationen:<br />

Bernadette Trost<br />

Nachsatz: Schloss Rheinsberg 1738/40, nach einem Kupferstich von F.G. Ast


ERSTER TEIL<br />

(1716–1725)<br />

1. Kapitel


6<br />

l<br />

Seit Tagesanbruch lag über <strong>der</strong> Residenzstadt Berlin ein grauer,<br />

trüber Himmel, und bereits am frühen Nachmittag wurden in den<br />

Handwerksbetrieben, den Läden und Bürgerhäusern Talglichter,<br />

Kerzen und Lampen entzündet, damit man bei <strong>der</strong> täglichen Arbeit<br />

besser sehen konnte.<br />

Im weitläufi gen Stadtschloss an <strong>der</strong> Spree waren nur zwei Räume<br />

erleuchtet, das Arbeitszimmer des Königs und <strong>der</strong> Salon <strong>der</strong><br />

Königin, weil genügend Kerzen zu den Privilegien gehörten, die<br />

<strong>der</strong> König seiner Gattin zubilligte.<br />

An jenem Nachmittag Mitte Februar 1716 stand Madame de<br />

Roucoulles, die Gouvernante des vierjährigen Kronprinzen <strong>Friedrich</strong>,<br />

im Vorzimmer seines Appartements, betrachtete schon seit<br />

geraumer Zeit unschlüssig einen zinnernen Kerzenleuchter und<br />

überlegte, ob sie es wagen durfte, ein Licht zu entzünden, denn <strong>der</strong><br />

Vorrat musste noch bis zum Monatsende reichen.<br />

«Nun», sagte sie halblaut zu sich selbst, «<strong>der</strong> Prinz muss heute<br />

beson<strong>der</strong>s sorgfältig angekleidet werden, weil ihm ein wichtiges<br />

Ereignis bevorsteht», und kurz entschlossen zündete sie die Kerze<br />

an, ging in die schmale, fensterlose Klei<strong>der</strong>kammer, stellte den<br />

Leuchter auf einen niedrigen, sauber gescheuerten Tisch aus dunkelbraunem<br />

Eichenholz und suchte in den Schränken nach einem<br />

passenden Kleid.<br />

Sie nahm eine Robe nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, betrachtete sie im Kerzenschimmer<br />

und hängte sie leise seufzend wie<strong>der</strong> zurück.<br />

«Sie sind alle zu verspielt», murmelte sie, «zu viele Rüschen und<br />

Borten, sie entbehren <strong>der</strong> Schlichtheit und Würde.»<br />

Ihre Augen wan<strong>der</strong>ten hilfl os die Klei<strong>der</strong>stange entlang und betrachteten<br />

dann fasziniert die letzte Robe, sie strich behutsam, fast<br />

andächtig über das einfache, sattblaue Tuch, betrachtete die roten<br />

Ärmelaufschläge, die blankpolierten gelben Messingknöpfe und<br />

murmelte zufrieden: «Dieses Uniformkleid ist das einzige, das dem<br />

Ereignis angemessen ist, das den Prinzen erwartet.»<br />

Sie ging hinüber in <strong>Friedrich</strong>s Schlafzimmer und gab <strong>der</strong> Kam-


merfrau, die neben einem spärlich fl ackernden Kaminfeuer saß, ein<br />

Zeichen. Diese stand rasch auf, nahm die Zinnkanne, die neben<br />

dem Feuer stand, und goss das Wasser in die Zinnschüssel auf dem<br />

niedrigen Waschtisch aus Fichtenholz; dann tauchte sie kurz einen<br />

Finger hinein, stellte zufrieden fest, dass das kalte Wasser inzwischen<br />

etwas weniger kalt war, knickste und verschwand.<br />

Die Gouvernante trat an das Bett des Prinzen, betrachtete liebevoll<br />

die vom Schlaf geröteten Wangen, die dichten, dunkelblonden,<br />

schulterlangen Locken, und plötzlich erschien vor ihrem<br />

inneren Auge das Bild seines Vaters, als dieser ungefähr fünf Jahre<br />

alt war: «Er ist ein Abbild des Königs», sagte sie leise zu sich<br />

selbst, rüttelte ihn sanft, und als <strong>Friedrich</strong> erwachte und seine<br />

Erzieherin sah, strahlten seine großen, himmelblauen Augen, er<br />

lächelte sie an, sie erwi<strong>der</strong>te sein Lächeln und sagte: «Sie müssen<br />

sich beeilen, Königliche Hoheit, Ihre Majestät erwartet uns um<br />

drei Uhr.»<br />

Da erinnerte er sich, dass er an jenem Nachmittag nicht wie<br />

sonst in einem Schlitten über die zugefrorene Spree fahren würde<br />

– diesen Nachmittag würden er und seine Schwester Wilhelmine<br />

im Salon <strong>der</strong> Königin verbringen, wo eine Überraschung auf sie<br />

wartete.<br />

Während er das warme Bett verließ, frierend zum Waschtisch<br />

ging und lustlos begann, Hände, Gesicht und Hals einzuseifen,<br />

überlegte er, wie er seine Erzieherin dazu bringen könnte, ihm die<br />

Überraschung zu verraten; bis jetzt war es ihm nicht gelungen, ihr<br />

ein Wort zu entlocken.<br />

Madame de Roucoulles stand neben ihm, achtete darauf, dass er<br />

sich sorgfältig wusch, und sagte nach einer Weile mahnend: «Königliche<br />

Hoheit, Sie müssen mehr Seife nehmen, Sie wissen doch,<br />

dass Seine Majestät großen Wert auf körperliche Sauberkeit legt<br />

und die Familie seinem Beispiel folgt, sich mindestens einmal täglich<br />

gründlich wäscht und die Leibwäsche wechselt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> gehorchte und sagte: «Ich mag keine Seife.»<br />

Als die Erzieherin ihm das Uniformkleid anziehen wollte, trat<br />

er einen Schritt zurück und sagte bestimmt: «Nein, ich mag dieses<br />

Kleid zwar, aber heute ist ein beson<strong>der</strong>er Nachmittag, ich will das<br />

hellblaue Samtkleid anziehen.»<br />

7


«Königliche Hoheit, das Samtkleid ist Ihr Sonntagskleid, heute<br />

ist ein Werktag, und <strong>der</strong> Uniformrock ist das einzige Kleidungsstück,<br />

das dem wichtigen Ereignis angemessen ist.»<br />

Er lächelte seine Gouvernante an und erwi<strong>der</strong>te: «Ich werde<br />

dieses Kleid tragen, wenn Sie mir sagen, welche Überraschung im<br />

Zimmer meiner Mama auf mich wartet.»<br />

Sie sah ihn erstaunt an und sagte nachdenklich: «Sie versuchen,<br />

mich zu erpressen, Königliche Hoheit, genau wie damals Seine<br />

Majestät», und vor ihrem inneren Auge sah sie plötzlich die stämmige<br />

Gestalt des fünfjährigen Kurprinzen von Brandenburg, und<br />

sie hörte sich sagen: «Sie bekommen kein Frühstück, Hoheit, wenn<br />

Sie nicht aufhören, Teller an die Wand zu werfen, mon Dieu, das<br />

kostbare Porzellan!»<br />

«Ich hasse Porzellan, ich will Zinnteller.»<br />

Er kletterte auf die Fensterbank und brüllte: «Ich springe hinunter<br />

in den Hof, wenn ich nicht sofort mein Frühstück bekomme!»<br />

«Um Gottes Willen, Hoheit, Sie können doch nicht vom zweiten<br />

Stock hinunterspringen!»<br />

Sie klingelte Sturm nach <strong>der</strong> Dienerschaft, befahl den Lakaien,<br />

unverzüglich das Frühstück zu servieren, und wenig später löffelte<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm von Hohenzollern gierig die dampfende Starkbiersuppe<br />

und verschlang genüsslich ein Schinkenbrot nach dem<br />

an<strong>der</strong>en.<br />

Der König hat mich damals erpresst, dachte die Erzieherin, jetzt erpresst<br />

mich sein Sohn. Aber seine Erpressung ist feiner und subtiler,<br />

nicht so rau und gewalttätig wie bei seinem Vater. Sie zog <strong>Friedrich</strong><br />

das Uniformkleid an, legte ihm einen weißen Leinenumhang über<br />

die Schultern, und während sie anfi ng, seine Locken zu bürsten, sagte<br />

sie: «Königliche Hoheit, Sie wollen wissen, welche Überraschung Sie<br />

in den Räumen Ihrer Majestät erwartet, nun ja, Sie erinnern sich,<br />

dass ich Ihnen von dem Krieg Seiner Majestät gegen die Schweden<br />

erzählt habe und von <strong>der</strong> Belagerung <strong>der</strong> Stadt Stralsund.<br />

Am 22. Dezember des vergangenen Jahres kapitulierte die Stadt,<br />

und die schwedischen Offi ziere waren nun die Gefangenen Seiner<br />

Majestät. Sie wurden nach Berlin gebracht und warten jetzt auf<br />

den Friedensvertrag, <strong>der</strong> es ihnen erlaubt, nach Schweden zurückzukehren.<br />

Unter diesen Offi zieren gibt es einen Grafen Cron, <strong>der</strong><br />

8


anscheinend die Gabe des Zweiten Gesichtes besitzt, man erzählt,<br />

dass er einigen vornehmen Berliner Familien die Zukunft vorhersagte;<br />

Ihre Majestät hat davon gehört und befahl den Grafen für<br />

heute Nachmittag in das Schloss, er soll Ihrer Majestät, <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Wilhelmine und Ihnen, Königliche Hoheit, die Zukunft prophezeien.»<br />

«Die Zukunft? Das verstehe ich nicht.»<br />

«Nun, Königliche Hoheit, angenommen, Sie fangen morgen mit<br />

<strong>der</strong> Prinzessin Wilhelmine einen Streit an; diesen Streit würde <strong>der</strong><br />

Graf Ihnen heute vorhersagen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte einen Augenblick und erwi<strong>der</strong>te: «Wilhelmine<br />

und ich, wir haben noch nie gestritten, und wir werden uns<br />

nie streiten.»<br />

«Nun, Königliche Hoheit, Sie wissen, dass Sie in einigen Wochen<br />

ein neues Geschwisterchen haben, aber Sie wissen nicht, ob<br />

es ein Bru<strong>der</strong> o<strong>der</strong> eine Schwester ist. Der schwedische Graf wird<br />

Ihrer Majestät wahrscheinlich sagen, ob sie einen Sohn o<strong>der</strong> eine<br />

Tochter zur Welt bringen wird.»<br />

<strong>Friedrich</strong> dachte erneut nach und fragte nach einer Weile: «Madame,<br />

was soll <strong>der</strong> Graf mir vorhersagen? Ich weiß schon jetzt, dass<br />

ich einmal König sein werde.»<br />

«Gewiss, Königliche Hoheit, aber je<strong>der</strong> König regiert, wie er es<br />

für richtig hält; <strong>der</strong> Graf wird Ihnen prophezeien, ob Sie auch ein<br />

bedeuten<strong>der</strong> Herrscher werden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> schwieg, und nach einer Weile sagte er leise, und in<br />

seiner Stimme schwang deutlich Enttäuschung mit: «Dies ist also<br />

die Überraschung, die mich im Salon meiner Mama erwartet. Ich<br />

höre jeden Tag, wenn ich bei Mama bin, dass ich einmal König sein<br />

werde. Ich hoffte, dass ich heute neues Spielzeug bekomme, neue<br />

Bil<strong>der</strong>bücher o<strong>der</strong> Süßigkeiten.»<br />

Madame de Roucoulles legte den leinenen Umhang zur Seite,<br />

bürstete das Uniformkleid ab und sagte: «Königliche Hoheit, Sie<br />

sollten an das glauben, was <strong>der</strong> Graf Ihnen prophezeien wird! Vor<br />

vielen Jahren lebte in Frankreich eine Königin, die mit dem Zweiten<br />

Gesicht begabt war; sie sah voraus, dass ihr Gatte bei einem<br />

Turnier tödlich verunglücken würde. So jedenfalls kann man es in<br />

den Memoiren ihrer Tochter Margot lesen.»<br />

9


Sie betrachtete die Messingknöpfe, nahm ihr blütenweißes Taschentuch,<br />

hauchte die Knöpfe an und begann, sie eifrig zu polieren.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete seine Erzieherin, und plötzlich bemerkte<br />

er zum ersten Mal, dass sie immer schwarze Klei<strong>der</strong> trug, die nur<br />

durch eine weiße Halskrause aufgelockert wurden. Die Erzieherin<br />

seiner Schwester Wilhelmine und die Hofdamen seiner Mutter hingegen<br />

waren stets bunt gekleidet. Er zögerte etwas und fragte dann<br />

vorsichtig: «Madame, warum tragen Sie immer schwarze Klei<strong>der</strong>?»<br />

Sie sah ihn überrascht an und versuchte, ihm den Unterschied<br />

zwischen Hugenotten und den übrigen Protestanten zu erklären:<br />

«Ich bin Hugenottin, Königliche Hoheit, so werden die Protestanten<br />

in Frankreich genannt. Unsere Religion for<strong>der</strong>t, dass wir arbeiten,<br />

beten, sparsam leben und uns schlicht anziehen, die schwarze Kleidung<br />

ist eine alte Tradition.»<br />

<strong>Friedrich</strong> dachte nach und fragte nach einer Weile: «Sie haben in<br />

Frankreich gelebt, Madame?»<br />

«Ja, Königliche Hoheit.»<br />

«Wo liegt Frankreich?»<br />

«Im Westen Europas, ich werde es Ihnen morgen auf <strong>der</strong> Landkarte<br />

zeigen.»<br />

Er überlegte und fragte zögernd: «Warum haben Sie Frankreich<br />

verlassen, Madame?»<br />

«Das ist eine traurige Geschichte, Königliche Hoheit. Im Jahr<br />

1685 wi<strong>der</strong>rief <strong>der</strong> französische König Ludwig XIV. das Toleranzedikt<br />

des guten Königs Heinrich, seines Großvaters. Dies bedeutete,<br />

dass die Hugenotten erneut mit blutiger Verfolgung rechnen<br />

mussten, und so verließen wir Frankreich und begaben uns nach<br />

England und Holland, nach Schweden und vor allem in die protestantischen<br />

Län<strong>der</strong> Deutschlands. Im Oktober 85 erließ Ihr Urgroßvater,<br />

Kurfürst <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, <strong>der</strong> Große Kurfürst, ein<br />

Edikt, worin uns nicht nur eine neue Heimat zugesichert wurde,<br />

son<strong>der</strong>n auch fi nanzielle Unterstützung beim Aufbau einer neuen<br />

Existenz und freie Ausübung unserer Religion. Damals wan<strong>der</strong>ten<br />

ungefähr 45 000 Franzosen in Brandenburg ein, und mein verstorbener<br />

Mann ging mit den Kin<strong>der</strong>n und mir nach Berlin. Im Jahre<br />

93 wurde ich zur Erzieherin Ihres Vaters, des Kurprinzen <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm, ernannt. Als Seine Majestät 1706 heiratete, fragte<br />

10


er mich, ob ich bereit wäre, seinen ältesten Sohn, den künftigen<br />

Kronprinzen, zu erziehen, und ich war gerne bereit. Die Nachfolger<br />

Ihres Urgroßvaters, Königliche Hoheit, haben seine religiöse<br />

Toleranzpolitik fortgeführt. Im Reich Seiner Majestät, Ihres Vaters,<br />

wird jede Religion respektiert, hier leben Protestanten, Katholiken<br />

und Juden friedlich nebeneinan<strong>der</strong>, das zeichnet Preußen vor<br />

vielen europäischen Staaten aus, hier ist nicht die Religionszugehörigkeit<br />

wichtig, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Beitrag des Einzelnen zum Aufbau des<br />

Staates.» Sie schwieg plötzlich, weil ihr bewusst wurde, dass sie zu<br />

einem vierjährigen Kind sprach, das dies alles noch nicht begreifen<br />

konnte.<br />

«In einigen Jahren, Königliche Hoheit, werden Sie besser verstehen,<br />

was ich meine.»<br />

«Ich habe Sie verstanden, Madame, im Reich meines Papas kann<br />

je<strong>der</strong> zu Gott beten, wie er will.»<br />

Die Erzieherin lächelte: «Ja, Königliche Hoheit.»<br />

Inzwischen war <strong>der</strong> letzte Knopf poliert, und Madame de Roucoulles<br />

legte ihre Hände auf die Schultern des Kindes und sagte ernst<br />

und feierlich: «Ich will Ihnen jetzt erklären, Königliche Hoheit,<br />

warum es wichtig ist, dass Sie heute Nachmittag das Uniformkleid<br />

tragen: Sie werden nachher etwas über Ihre Zukunft als künftiger<br />

König erfahren, und da ist es angemessen, den Rock des Königs<br />

zu tragen, so wird diese Uniform allgemein genannt; das einfache<br />

blaue Tuch symbolisiert den Beginn eines wirtschaftlichen Aufschwunges,<br />

weil es in unserem Land hergestellt wird, das ist eine<br />

<strong>der</strong> vielen Leistungen Seiner Majestät seit seinem Regierungsantritt.<br />

Seine Majestät hat am letzten Weihnachtsfest die königliche Familie<br />

mit diesem Tuch beschenkt, und ich habe Ihnen einen Uniformrock<br />

schnei<strong>der</strong>n lassen, den Sie vorerst als Kleid tragen können. Sie sind<br />

zwar schon etwas zu alt für Mädchenklei<strong>der</strong>, aber wir müssen sparen,<br />

deshalb lasse ich Ihre Klei<strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> ausbessern und verlängern.<br />

Vielleicht haben wir im nächsten Jahr genügend Geld, dass<br />

ich Hosen anfertigen lassen kann, und <strong>der</strong> Uniformrock ist so groß,<br />

dass Sie ihn mindestens zwei Jahre tragen können, Sie werden hineinwachsen.<br />

Vielleicht begegnen wir nachher Seiner Majestät, Ihr<br />

Vater freut sich immer, wenn er Sie in diesem Kleid sieht, und Sie<br />

wollen ihrem Vater doch stets Freude bereiten, nicht wahr?»<br />

11


«O ja, Madame, ich liebe meinen Papa.»<br />

Sie setzte ihm einen kleinen schwarzen Dreispitz auf die Locken<br />

und legte ihm einen schwarzen Zobelpelz um, weil es in den Gängen<br />

des Schlosses bitterkalt war und er sich nicht verkühlen sollte.<br />

Dann betrachtete sie unschlüssig das Kaminfeuer und murmelte:<br />

«Ob ich <strong>der</strong> Kammerfrau befehle, Holz nachzulegen? Nein, <strong>der</strong><br />

Vorrat muss noch bis zum Monatsende reichen, überdies verbringt<br />

<strong>der</strong> Prinz den Nachmittag bei Ihrer Majestät, es genügt, wenn das<br />

Feuer am Abend noch einmal angefacht wird.»<br />

Das trübe Tageslicht, das durch die hohen Fenster in die verwinkelten<br />

Gänge und die langen Galerien schimmerte, erhellte diese<br />

kaum, und so schritten <strong>Friedrich</strong> und seine Erzieherin im Halbdunkel<br />

vorwärts, was den Kleinen nicht weiter störte, er war es gewohnt,<br />

dass im Schloss erst bei Anbruch <strong>der</strong> Dunkelheit die Kerzen<br />

entzündet wurden.<br />

«Ist Ihnen sehr kalt, Königliche Hoheit?»<br />

«Nein, Madame, ich friere nie, wenn ich meine Mama besuche,<br />

ich weiß, dass sich irgendwann eine Tür öffnet und wir dann ein<br />

Zimmer betreten, wo viele Kerzen brennen und wo es warm ist.»<br />

Endlich standen sie vor dem Eingang zum Appartement <strong>der</strong> Königin.<br />

Die Gouvernante übergab Zobelpelz und Dreispitz einem <strong>der</strong><br />

Lakaien, ein an<strong>der</strong>er huschte fl ink in das Appartement, und wenig<br />

später öffnete sich vor <strong>Friedrich</strong> die große dunkelbraune Flügeltür,<br />

für den Bruchteil einer Sekunde wan<strong>der</strong>ten seine Augen verzückt<br />

über die Ornamente aus Blattgold, dann hörte er den Diener rufen:<br />

«Seine Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz, Madame de Roucoulles!»<br />

Er atmete tief durch, betrat freudig erregt ein großes, hohes<br />

Zimmer und schritt langsam und feierlich über einen weinroten,<br />

weichen Teppich zu seiner Mutter.<br />

12


2<br />

Die Luft im Salon <strong>der</strong> Königin war dumpf und schwer, weil die<br />

Fenster nur am Morgen kurz geöffnet wurden. Es roch nach süßem<br />

Parfum und Pu<strong>der</strong>, nach Schweiß und den Ausdünstungen ungewaschener<br />

Körper, aber <strong>Friedrich</strong> nahm die Gerüche nicht wahr.<br />

Er spürte nur die Wärme des hochfl ackernden Kaminfeuers und<br />

bewun<strong>der</strong>te im Stillen jeden Tag von neuem die schweren weinroten<br />

Samtportieren an den Fenstern, die unzähligen brennenden<br />

Kerzen in den silbernen Leuchtern und in den funkelnden kristallenen<br />

Lüstern, die an <strong>der</strong> Decke hingen. Seine Augen streiften kurz<br />

das Deckengemälde, auf dem die vier Jahreszeiten dargestellt waren.<br />

Dann sah er zu den Damen, beobachtete, wie sie elegant ihre<br />

buntbemalten Fächer bewegten, er hörte, wie sie sich halblaut auf<br />

Französisch unterhielten, er hörte das leise Rascheln <strong>der</strong> Seidenroben<br />

und die sanften Klänge eines Cembalos, das irgendwo im<br />

Hintergrund stand.<br />

«Träume ich?», fl üsterte er. «Nein, es ist kein Traum, ich darf<br />

jeden Tag hier sein.»<br />

Madame de Roucoulles ging hinter ihm und betrachtete fl üchtig<br />

die Szene. Die Königin saß in <strong>der</strong> Nähe des Kamins in einem<br />

bequemen gepolsterten Armsessel, rechts von ihr saßen die Oberhofmeisterin,<br />

Frau von Kamecke, und einige Hofdamen auf Polsterstühlen<br />

ohne Armlehne. Links von ihr saß die sechsjährige<br />

Prinzessin Wilhelmine kerzengerade auf einem weinroten Samtschemel;<br />

die kleinen Hände lagen sittsam auf dem dunkelblauen<br />

Samtkleid, und als Madame de Roucoulles das schlanke, aschblonde<br />

Mädchen genauer betrachtete, fi el ihr wie<strong>der</strong> einmal auf, dass<br />

Wilhelmine verängstigt und eingeschüchtert wirkte, wie immer,<br />

wenn ihre Erzieherin Fräulein Leti hinter ihr saß, und die Hugenottin<br />

dachte im Stillen, dass Wilhelmine stets lebhaft und fröhlich<br />

war, solange die Leti nicht in ihrer Nähe weilte.<br />

Jedes Mal, wenn <strong>Friedrich</strong> den Salon seiner Mutter betrat, unterbrachen<br />

die Damen ihre Unterhaltung, betrachteten ihn liebevoll,<br />

wohlwollend, mütterlich und entzückt und überlegten, mit welchen<br />

13


Bemerkungen über den Kronprinzen sie sich die Gunst <strong>der</strong> Königin<br />

sichern konnten.<br />

«Oh, quel prince charmant», fl ötete eine junge Hofdame, «wenn<br />

ich Seine Königliche Hoheit sehe, spüre ich, wie die Sonne aufgeht.»<br />

Frau von Kamecke, eine mittelgroße, füllige Dame mittleren Alters,<br />

drehte sich zu dem jungen Edelfräulein um und fl üsterte hinter<br />

ihrem Fächer: «Meine Liebe, Sie sollten die aufgehende Sonne<br />

nicht zu früh anbeten.»<br />

Dann sah sie verstohlen zu <strong>der</strong> Königin, hoffte, dass diese ihre<br />

Worte nicht gehört hatte, und atmete auf, als sie beobachtete, dass<br />

die ganze Aufmerksamkeit ihrer Herrin dem Kronprinzen galt.<br />

Sophie Dorothea von Hohenzollern, Kurfürstin von Brandenburg<br />

und Königin in Preußen, war eine große, vollschlanke Frau<br />

Ende zwanzig. Ihre Augen glitten über die zwei Saphirringe, die an<br />

den beiden Ringfi ngern steckten, und wie<strong>der</strong> einmal dachte sie erbittert,<br />

dass sie als Königin nur wenig Schmuck besaß. Sie bewegte<br />

gereizt den Fächer hin und her, um in dem überheizten Salon etwas<br />

Luft zu bekommen, und legte ihn zur Seite, als <strong>der</strong> Kronprinz<br />

gemeldet wurde.<br />

Während <strong>Friedrich</strong> auf sie zuschritt, überfl utete sie eine Woge<br />

von Stolz auf diesen Sohn, und sie dachte im Stillen, dass er nach<br />

den überstandenen Krankheiten etwas kräftiger geworden, aber<br />

immer noch zart und anfällig war. Aber, überlegte sie, seine Zartheit<br />

lässt ihn vornehm wirken. In diesem Augenblick sah sie, dass<br />

er das Uniformkleid trug, und versuchte vergeblich, die aufsteigende<br />

Wut zu bekämpfen. Warum, dachte sie verärgert, warum hat<br />

die Gouvernante meinen einzigen Sohn, den Kronprinzen, ausgerechnet<br />

heute so schlicht gekleidet?<br />

Nun stand <strong>Friedrich</strong> vor ihr, verbeugte sich, und als sie ihm<br />

lächelnd die rechte Hand reichte, schmatzte er ihr spontan einen<br />

feuchten Kuss auf den Handrücken.<br />

Sophie Dorothea entzog ihm halb amüsiert, halb verärgert die<br />

Hand und sagte mit einem tadelnden Unterton: «Mon bijou, hast<br />

du vergessen, wie ein Kavalier einer Dame die Hand küsst?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah überrascht auf, überlegte, warum die Königin seinen<br />

liebevollen Handkuss ablehnte, und antwortete: «Ich habe es<br />

nicht vergessen, Mama.»<br />

14


Sie reichte ihm erneut die Hand, und als er sich jetzt darüberbeugte,<br />

achtete er darauf, dass seine Lippen den Handrücken nicht<br />

berührten.<br />

Sophie Dorothea lächelte: «So ist es richtig, mon chéri. Du willst<br />

doch ein formvollendeter Kavalier werden?»<br />

«Ja, Mama.»<br />

Dann betrachtete er fasziniert ihre großen, strahlenden, dunkelblauen<br />

Augen, das schwarze Samtkleid und den schwarzen Samtumhang,<br />

<strong>der</strong> dekorativ über ihren Leib gebreitet war, er genoss den<br />

Duft von Pu<strong>der</strong> und Parfum, <strong>der</strong> sie stets umgab, und bewun<strong>der</strong>te<br />

im Stillen den Perlenschmuck an Hals und Ohren sowie die kunstvoll<br />

aufgesteckte, weißgepu<strong>der</strong>te Lockenfrisur.<br />

Sophie Dorothea wandte sich zu <strong>der</strong> Gouvernante, musterte sie<br />

einen Augenblick herablassend und fragte: «Madame, warum haben<br />

Sie ausgerechnet heute dem Kronprinzen dieses entsetzliche<br />

Soldatenkleid angezogen, diesen … diesen Sterbekittel?!»<br />

<strong>Friedrich</strong> horchte auf; das Wort «Sterbekittel» kannte er noch<br />

nicht, und er beschloss, seine Erzieherin zu fragen, was ein Sterbekittel<br />

war.<br />

Die Hugenottin straffte sich, sah <strong>der</strong> Königin in die Augen und<br />

erwi<strong>der</strong>te gelassen: «Majestät, heute wird Seine Königliche Hoheit,<br />

<strong>der</strong> Kronprinz, etwas über sein Schicksal als künftiger König in<br />

Preußen erfahren – ich hielt es für angemessen, ihm den Rock des<br />

Königs anzuziehen, überdies, vielleicht begegnet <strong>der</strong> Kronprinz<br />

Seiner Majestät. Seine Majestät ist stets von neuem begeistert,<br />

wenn er den Kronprinzen in diesem Kleid sieht, und ich überlege<br />

mir immer, wie ich Seiner Majestät eine kleine Freude bereiten<br />

kann.»<br />

Sophie Dorothea fächelte sich Luft zu und ärgerte sich über die<br />

Anhänglichkeit <strong>der</strong> Erzieherin gegenüber dem Gatten; sie verstand<br />

diese Gefühle nicht und sagte scharf: «Begeben Sie sich zu Ihrem<br />

Platz, Madame.»<br />

Dann wandte sie sich zu ihrem Sohn und hob sein Gesicht zu<br />

sich empor: «Hast du gut geschlafen, mon chéri?»<br />

«Ja, Mama.»<br />

Sie strich ihm über die Locken und sagte: «Du und deine Schwester<br />

werdet heute zum ersten Mal bei mir Tee trinken. Zum Tee<br />

15


wird englisches Gebäck serviert, diese Delikatessen hat dein guter<br />

Großvater, <strong>der</strong> König von England, vor einigen Tagen geschickt.<br />

Tee und Gebäck sollen mich stärken. Du und deine Schwester, ihr<br />

dürft nie vergessen, dass ihr die Enkel des Königs von England seid,<br />

und ihr müsst allmählich anfangen, euch mit <strong>der</strong> englischen Lebensart<br />

vertraut zu machen.»<br />

«Ja, Mama», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> und dachte im Stillen, dass dieser<br />

König für seine Mutter ein wichtiger Mann war, weil sie jeden<br />

Tag von ihm sprach. Als er sich auf den weinroten Samtschemel<br />

zwischen Mutter und Schwester setzte, stieg eine leichte Staubwolke<br />

empor, die von den Anwesenden nicht beachtet wurde, weil<br />

Staub zu Polstermöbeln gehörte.<br />

Jeden Tag genoss <strong>Friedrich</strong> von neuem die weichen Sitzmöbel im<br />

mütterlichen Appartement und sagte leise zu Wilhelmine: «Warum<br />

sind Stühle, Armsessel und Bänke nur in Mamas Räumen gepolstert,<br />

und warum werden in den übrigen Zimmern die Möbel<br />

täglich mit Wasser abgewaschen?»<br />

«Es ist ein Befehl von Papa, Fritzchen, er wünscht, dass im<br />

Schloss alles sauber ist, deswegen liegen nirgends Teppiche auf<br />

den Holzböden, und an den Fenstern hängen keine Vorhänge. Er<br />

erlaubt Mama Polstermöbel, Teppiche und Vorhänge, weil sie die<br />

Königin ist.»<br />

«Das verstehe ich, eine Königin ist eine wichtige Dame. Ist es<br />

nicht wun<strong>der</strong>bar, dass wir einen ganzen Nachmittag bei Mama<br />

verbringen dürfen? Wir sehen sie doch sonst nur eine Stunde am<br />

Vormittag und während <strong>der</strong> Mittags- und Abendtafel.»<br />

In diesem Augenblick wurde Graf Cron angekündigt. Als er<br />

das Zimmer betrat, verstummte die Unterhaltung, die Damen betrachteten<br />

ihn mit einer Mischung aus Neugier und Ängstlichkeit,<br />

und eine sagte leise zu ihrer Nachbarin: «Hoffentlich prophezeit er<br />

den Hohenzollern eine glückliche Zukunft, ein Nie<strong>der</strong>gang dieser<br />

Dynastie würde meine Entlassung bedeuten, und ich bin auf die<br />

Einkünfte als Hofdame angewiesen, weil meine Güter verschuldet<br />

sind.»<br />

Sophie Dorothea betrachtete den Schweden gelassen und dachte<br />

im Stillen, dass sie nicht mehr viel zu verlieren hatte und <strong>der</strong> Weg<br />

ihres ältesten Sohnes vorgezeichnet war. Er würde einmal König<br />

16


werden, und seine Schwestern mussten natürlich vorteilhaft verheiratet<br />

werden.<br />

Sie dachte auch daran, dass sie nicht viel von Astrologen hielt,<br />

aber in Berlin gehörte es inzwischen zum guten Ton, Cron zu empfangen<br />

und sich die Handlinien deuten zu lassen.<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte beim Anblick des großen, hageren Grafen unwillkürlich<br />

zusammen, rückte etwas näher zu seiner Schwester, betrachtete<br />

die schwarzen Samtklei<strong>der</strong>, die wallende, schwarze Lockenperücke,<br />

die bis zu den Hüften reichte, und spürte Angst in sich aufsteigen.<br />

«Er ist ein Gespenst», fl üsterte er.<br />

Nun stand <strong>der</strong> Schwede vor <strong>der</strong> Königin, beugte das Knie, berührte<br />

mit den Lippen den Saum ihres Kleides und sagte: «Majestät,<br />

es ist eine große Ehre für mich, dass Sie geruhen, mich zu<br />

empfangen, ich bin Ihr ergebener Diener.»<br />

Sophie Dorothea lächelte: «Ich habe viel von Ihnen gehört, Sie<br />

sollen meinen beiden Kin<strong>der</strong>n und mir die Zukunft vorhersagen.»<br />

«Zu Befehl, Majestät. Wollen Sie etwas über die nahe o<strong>der</strong> die<br />

ferne Zukunft wissen?»<br />

«Was mich betrifft, so möchte ich etwas über die nahe Zukunft<br />

wissen, bei meinen Kin<strong>der</strong>n ist natürlich nur die ferne Zukunft<br />

interessant.»<br />

«Was möchten Sie wissen, Majestät?»<br />

«In wenigen Wochen werde ich mein siebtes Kind zur Welt bringen,<br />

wird es ein Sohn sein o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> nur eine Tochter?»<br />

Der Graf erhob sich und bat die Königin, ihm ihre rechte Handfl<br />

äche zu zeigen. Während Cron mit ernstem Gesicht die Handlinien<br />

betrachtete, wurde Sophie Dorothea immer nervöser, und<br />

die wenigen Sekunden kamen ihr vor wie Stunden. Endlich sah<br />

<strong>der</strong> Schwede auf, lächelte und sagte: «Majestät, Sie werden am 13.<br />

März eine gesunde Tochter zur Welt bringen.»<br />

Die Königin glaubte, nicht richtig zu hören, und entzog Cron jäh<br />

ihre Hand.<br />

«Nein!», rief sie. «Nein, nicht schon wie<strong>der</strong> eine Tochter, ich<br />

habe genug Töchter geboren, ich möchte endlich einen Sohn haben,<br />

<strong>der</strong> die Erbfolge des Hauses Hohenzollern garantiert!»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät, Sie haben doch einen Sohn<br />

und Thronfolger.»<br />

17


«Ein Sohn ist zu wenig, die Erbfolge ist erst bei zwei Söhnen<br />

gesichert, <strong>der</strong> Kronprinz ist zwar gesund, aber sehr zart, ich weiß<br />

nicht, ob er eine schwere Krankheit überleben würde.»<br />

Eine Tochter, dachte Sophie Dorothea und fächelte sich nervös<br />

Kühlung zu, eine Tochter … eine Tochter bedeutet, dachte sie, dass<br />

ich nach dem Wochenbett erneut <strong>Friedrich</strong> Wilhelms leidenschaftliche<br />

Umarmungen ertragen muss, ich verabscheue seine <strong>der</strong>ben<br />

Zärtlichkeiten, ich hoffte, dass er nach <strong>der</strong> Geburt eines Sohnes<br />

mein Schlafgemach eine Weile nicht aufsuchen würde … mein<br />

Gott, wie viele Schwangerschaften und Wochenbetten stehen mir<br />

noch bevor?<br />

Sie spürte, dass ihre Laune bei dem Gedanken an die künftigen<br />

Wochenbetten immer schlechter wurde, und legte den Fächer abrupt<br />

zur Seite. Cron wartete einen Augenblick und fragte dann<br />

vorsichtig: «Majestät, darf ich Ihnen noch weitere Fragen beantworten?»<br />

«Nein, deuten Sie jetzt die Handlinien <strong>der</strong> Prinzessin Wilhelmine.»<br />

Während <strong>der</strong> Schwede sich über die Handfl äche des kleinen Mädchens<br />

beugte, wan<strong>der</strong>ten Sophie Dorotheas Augen kritisch über das<br />

verblichene, abgetragene, dunkelblaue Samtkleid <strong>der</strong> Tochter, und<br />

sie ärgerte sich, dass ihre fi nanzielle Lage es nicht erlaubte, für die<br />

Kleine neue Roben schnei<strong>der</strong>n zu lassen. Aber, dachte sie, meine<br />

Gar<strong>der</strong>obe für den Sommeraufenthalt in Monbijou ist wichtiger,<br />

schließlich muss ich in meinem Lustschlösschen bei jedem gesellschaftlichen<br />

Ereignis angemessen gekleidet sein, ich benötige neue<br />

Klei<strong>der</strong> und dazu passende Accessoires für Bootsfahrten, Spaziergänge<br />

im Park, für Bälle und Konzerte. Wilhelmines Klei<strong>der</strong> werden<br />

verlängert, überlegte sie, und die Naht kann mit Spitzen, Rüschen<br />

o<strong>der</strong> Borten verdeckt werden. Sie betrachtete die aufgesteckten Locken,<br />

die mit einem dunkelblauen Samtband geschmückt waren,<br />

und ärgerte sich erneut. Ausgerechnet meine Tochter, dachte sie,<br />

besitzt nur diesen armseligen Kopfschmuck, nun, im Frühjahr und<br />

Sommer, muss die Leti dem Kind Blumen ins Haar fl echten, die<br />

älteste Tochter des preußischen Königs trägt kein mit Edelsteinen<br />

verziertes Diadem, son<strong>der</strong>n eine Krone aus frischen Rosen, eine<br />

Rosenkrone mit Dornen, eine Dornenkrone …<br />

18


Sie zuckte unmerklich zusammen, mon Dieu, wohin verirren<br />

sich meine Gedanken? In diesem Augenblick fi el ihr <strong>der</strong> Halsschmuck<br />

des Kindes auf, und sie spürte eine Woge von Wut, Enttäuschung<br />

und Verbitterung in sich aufsteigen und beherrschte<br />

sich nur mühsam. Sie betrachtete die einreihige Kette aus dunkelroten<br />

Steinen, die aussah wie Rubinschmuck, aber es ist kein<br />

Rubinschmuck, dachte sie, es ist rotgefärbtes Glas, Tand … und vor<br />

ihrem inneren Auge sah sie plötzlich den Gatten: er spazierte in<br />

Begleitung seines Kammerdieners Eversmann, wie ein gewöhnlicher<br />

Bürger am Nachmittag des Heiligen Abends, zwischen den<br />

Buden des Berliner Christmarktes umher und kaufte kleine Geschenke<br />

für seine Kin<strong>der</strong>, die rote Glaskette für Wilhelmine, eine<br />

neue Trommel für <strong>Friedrich</strong> und Süßigkeiten für die zweijährige<br />

Frie<strong>der</strong>ike Luise. Warum benimmt er sich nicht wie ein König,<br />

dachte sie empört, warum mischt er sich unter das gemeine Volk?<br />

An den ausländischen Höfen lacht man über ihn, ich schäme mich<br />

für ihn vor den ausländischen Gesandten. Mon Dieu, wie lange<br />

noch will <strong>der</strong> Schwede die Handlinien meiner Tochter studieren?<br />

Aber wahrscheinlich ist dies ein gutes Zeichen.<br />

In diesem Augenblick sah Cron auf und sagte: «Königliche Hoheit,<br />

ich bitte um Vergebung, aber nun ja, es ist so, Ihr Leben wird<br />

von trügerischen Hoffnungen begleitet sein, und Sie werden viele<br />

Leiden erdulden müssen.»<br />

Sophie Dorothea erschrak. Nein, dachte sie, das ist unmöglich,<br />

das darf nicht Wilhelmines Zukunft sein, wahrscheinlich prophezeit<br />

dieser Schwede nur Unsinn, er will sich wichtigmachen,<br />

ich werde bestimmt einen Sohn gebären, und meine Tochter wird<br />

die Königin des reichsten europäischen Landes werden und an<br />

einem glanzvollen Hof leben. Was sind trügerische Hoffnungen,<br />

fragte sich Wilhelmine, dann dachte sie an den Schluss <strong>der</strong> Vorhersage<br />

und sagte leise zu Cron: «Ich weiß, was es bedeutet zu<br />

leiden.»<br />

Sie presste die Lippen aufeinan<strong>der</strong> und unterdrückte mühsam die<br />

aufsteigenden Tränen. <strong>Friedrich</strong> spürte den Kummer <strong>der</strong> Schwester,<br />

sprang spontan auf, umarmte sie und wisperte: «Sei nicht traurig,<br />

Wilhelmine, ich bin doch bei dir, ich werde dir helfen.»<br />

«Ich weiß, Fritzchen», und sie strich ihm über die Locken.<br />

19


Cron hüstelte: «Möchten Sie noch etwas wissen, Königliche Hoheit?»<br />

«Nein, Monsieur.»<br />

Nun beugte <strong>der</strong> Schwede sich über <strong>Friedrich</strong>s kleine, feingliedrige<br />

Hand, stutzte nach einer Weile, führte das Kind dann zu einem<br />

hohen Kerzenstän<strong>der</strong>, studierte im vollen Licht erneut die Handlinien,<br />

dann sah er auf und sagte feierlich: «Königliche Hoheit, Sie<br />

werden in Ihrer Jugend viele Unannehmlichkeiten erdulden müssen,<br />

aber später, in reiferen Jahren, werden Sie einer <strong>der</strong> größten<br />

und bedeutendsten Fürsten Europas werden.»<br />

Nach diesen Worten herrschte sekundenlang eine ehrfurchtsvolle<br />

Stille im Salon. Ich werde einmal König sein, dachte <strong>Friedrich</strong>,<br />

aber das weiß ich schon lange, und so sagte er zu Cron: «Vielen<br />

Dank, Monsieur», und ging zurück zu Wilhelmine.<br />

Die Schwester sah ihn liebevoll an und fl üsterte: «Ich bin so<br />

glücklich, Fritzchen, du wirst einmal ein großer König werden.»<br />

Sophie Dorothea strahlte und strich dem Sohn über die Locken:<br />

«Mon bijou, ich bin so stolz auf dich: einer <strong>der</strong> größten und bedeutendsten<br />

Fürsten Europas. Nun, es überrascht mich nicht weiter,<br />

schließlich bist du ein halber Welfe», und zu dem Schweden: «Vielen<br />

Dank, Sie können jetzt gehen.»<br />

20<br />

3<br />

Nach einer Weile unterhielten die Hofdamen sich auf Französisch<br />

über die glückliche Zukunft des Hauses Hohenzollern. Frau<br />

von Kamecke hörte zu, und als nun eine <strong>der</strong> Damen erneut sagte:<br />

«Der Kronprinz wird einer <strong>der</strong> größten und bedeutendsten Fürsten<br />

Europas», sah sie sich erstaunt in <strong>der</strong> Runde um. Merkwürdig,<br />

dachte sie, <strong>der</strong> erste Teil <strong>der</strong> Prophezeiung wird von allen ignoriert,<br />

auch von <strong>der</strong> Königin.<br />

In diesem Augenblick wurde die Ankunft des Königs gemeldet<br />

und die Damen schwiegen sofort, weil in <strong>der</strong> Gegenwart des Monarchen<br />

nur Deutsch gesprochen werden durfte.<br />

Sie sahen unsicher zur Tür, weil sie nie wussten, ob er gut o<strong>der</strong>


schlecht gelaunt war, nur Frau von Kamecke, die Königin und ihre<br />

Kin<strong>der</strong> blieben gelassen, sie fürchteten sich nicht vor dem König,<br />

Gatten und Vater.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm I., Kurfürst von Brandenburg, König<br />

in Preußen, den Salon betrat, atmeten die Damen erleichtert auf,<br />

weil seine großen, runden, etwas vorstehenden hellblauen Augen<br />

strahlten und lachten, er war also gut gelaunt.<br />

Die Damen betrachteten den siebenundzwanzigjährigen mittelgroßen,<br />

kräftigen Fürsten, und eine sagte zu ihrer Nachbarin: «Ist<br />

er nicht ein gutaussehen<strong>der</strong> Mann? Ich bewun<strong>der</strong>e immer wie<strong>der</strong><br />

sein volles, rundes Gesicht, die gerade Nase, und vor allem seine<br />

schlanken Hände und die weiße Haut.»<br />

«Gewiss, aber seiner Kleidung fehlt die höfi sche Eleganz, sie ist<br />

für einen Fürsten zu schlicht, und seit einigen Wochen trägt er nur<br />

noch die Uniform seines Leibgar<strong>der</strong>egiments, mon Dieu, wir leben<br />

in einer Residenzstadt und nicht im Heerlager», und ihre Augen<br />

glitten geringschätzig über die schlichte rote Uniform unter dem<br />

blauen Rock aus preußischem Tuch, wan<strong>der</strong>ten zu den knappsitzenden<br />

roten Hosen, die in weißen Leinengamaschen steckten, und<br />

zu den breiten, bequemen schwarzen Schuhen.<br />

«Seine Perücke ist auch zu schlicht, kein Lockengekräusel, nur<br />

ein kurzer Zopf, <strong>der</strong> auf den Rücken fällt.»<br />

«Das ist doch die neue Haartracht à la Chinoise, fällt Ihnen nicht<br />

auf, dass er immer so frisch wirkt, wenn er den Salon betritt?»<br />

«Frisch? Ich weiß nur, dass er nie Pu<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Parfüm benutzt,<br />

wie es sich für einen hochgestellten Herrn ziemt, und sehen Sie<br />

nur, wie er wie<strong>der</strong> bewaffnet ist: an <strong>der</strong> linken Seite baumelt <strong>der</strong><br />

Offi ziersdegen, in <strong>der</strong> rechten Hand trägt er seinen dicken Stock<br />

aus Buchenholz.» <strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging bis zur Mitte des Salons<br />

und blieb dann stehen, weil die schwere Luft ihn anwi<strong>der</strong>te, am<br />

liebsten hätte er sich die Nase zugehalten, aber das war unhöfl ich,<br />

und so ging er zu den Damen, die im Hofknicks vor ihm zu Boden<br />

sanken.<br />

«Meine Damen!», rief er laut, und seine Stimme klang für die<br />

Ohren <strong>der</strong> Anwesenden etwas schnarrend. «Bitte keine überfl üssigen<br />

Zeremonien, Sie wissen doch, dass ich diese Fisimatenten hasse,<br />

Sie sind nicht bei einem offi ziellen Empfang, son<strong>der</strong>n im Salon mei-<br />

21


ner Frau und leisten ihr Gesellschaft. Ich wun<strong>der</strong>e mich allerdings,<br />

dass Sie in diesem Mief atmen können.»<br />

Er marschierte zu <strong>der</strong> Fensterreihe, riss einen Flügel nach dem<br />

an<strong>der</strong>en auf, blieb beim letzten Fenster stehen, atmete tief durch<br />

und genoss die klare Winterluft.<br />

Einige Damen schrien leise auf, als eine Woge von eisiger Kälte<br />

in das Zimmer strömte. Sophie Dorothea zog ärgerlich den Umhang<br />

fester um sich und wollte den Gatten bitten, die Fenster wie<strong>der</strong><br />

zu schließen, da stand ihre Oberhofmeisterin schon auf, trat<br />

zum König und sagte in einem Ton, <strong>der</strong> keinen Wi<strong>der</strong>spruch duldete:<br />

«Majestät, die kalte Luft ist nicht gut für die Gesundheit <strong>der</strong><br />

Königin und für das ungeborene Kind.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm zuckte zusammen und erwi<strong>der</strong>te: «Sie haben<br />

recht, liebe Frau von Kamecke, mein Gott, wie konnte ich es nur<br />

vergessen, das Kind …»<br />

Er schloss eilig ein Fenster nach dem an<strong>der</strong>en bis auf das letzte<br />

im hinteren Teil des Raumes und ging zu seiner Gattin. Er nahm<br />

ihre rechte Hand, beugte sich darüber, streifte den Handrücken<br />

sanft mit seinen Lippen und fragte: «Wie fühlen Sie sich heute,<br />

liebe Frau?»<br />

Frau von Kamecke horchte auf den weichen Klang in seiner<br />

Stimme, sie sah den zärtlichen Blick, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Königin ruhte,<br />

dann betrachtete sie Sophie Dorothea.<br />

Die Königin lächelte gezwungen und antwortete seufzend:<br />

«Mon Dieu, Sie stellen merkwürdige Fragen, wenige Wochen vor<br />

einer Nie<strong>der</strong>kunft fühle ich mich immer schlecht, das Kind wird<br />

allmählich zur Last.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete nachdenklich den gewölbten Leib<br />

<strong>der</strong> Gattin, dann nahm er ihre Hände und sagte ernst und feierlich:<br />

«Liebe Frau, Kin<strong>der</strong> sind ein Geschenk Gottes, sie sind <strong>der</strong> Sinn<br />

und die Erfüllung einer Ehe, wenn ein Ehepaar viele Kin<strong>der</strong> hat, so<br />

ruht Gottes Segen auf diesem Bund.»<br />

Er schwieg, streichelte ihre Hände und betete im Stillen: Mein<br />

Gott, ich danke dir, dass ich mit einer so wun<strong>der</strong>vollen, fruchtbaren<br />

Frau verheiratet bin, von unseren sechs Kin<strong>der</strong>n haben zwar<br />

nur drei die ersten Monate überlebt, aber die drei lebenden Kin<strong>der</strong><br />

gedeihen, wir sind eine harmonische Familie, auch dafür danke ich<br />

22


dir, Gott. Er sah seine Gattin an und sagte leise: «Ich habe Sie aus<br />

Liebe geheiratet, und mit jedem Kind ist meine Zuneigung zu Ihnen<br />

tiefer und inniger geworden. Ich verstehe nicht, warum an<strong>der</strong>e<br />

Fürsten sich Mätressen halten – Mätressenwirtschaft ist nicht nur<br />

ein teures Vergnügen, son<strong>der</strong>n auch ein schlechtes Beispiel für die<br />

Untertanen; ein Fürst muss immer ein Vorbild sein für die Menschen,<br />

<strong>der</strong>en Schicksal in seinen Händen liegt.<br />

Liebe Frau, wir sind die Erste Familie des Landes, und dies verpfl<br />

ichtet uns, Vorbild zu sein, was unser Familienleben betrifft,<br />

also: eheliche Treue, viele Kin<strong>der</strong> und eine fromme Lebensführung<br />

ohne großen Aufwand. Bis jetzt waren wir ein Vorbild, und Sie<br />

haben entscheidend dazu beigetragen, dafür danke ich Ihnen von<br />

ganzem Herzen, und ich hoffe, dass unser Familienleben harmonisch<br />

bleibt.»<br />

Ich hasse seine Grundsätze, dachte Sophie Dorothea gereizt,<br />

warum verabscheut er Mätressen, ein Hof ohne Mätressen ist kein<br />

richtiger Hof. Warum hat er nicht wenigsten eine einzige Geliebte?<br />

Er muss sich ja keinen Harem halten wie <strong>der</strong> sächsische Kurfürst,<br />

eine Mätresse würde bedeuten, dass ich mir einen Liebhaber<br />

nehmen kann, einen Mann, <strong>der</strong> mein Interesse für Literatur und<br />

Musik teilt, einen Mann, mit dem ich mich geistreich unterhalten<br />

kann. Ich leide unter seiner Sparsamkeit und hasse sie, aber<br />

ich muss meine Gefühle verbergen, um mir meine Privilegien zu<br />

sichern. Sie lächelte ihn an und sagte: «Sie haben recht, die königliche<br />

Familie muss ein Vorbild für die Untertanen sein.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm strahlte und erwi<strong>der</strong>te: «Ich bin sehr glücklich,<br />

dass wir immer einer Meinung sind.» Gütiger Himmel, dachte<br />

Frau von Kamecke, während sie das Paar beobachtete, ob er jemals<br />

bemerkt, dass seine Zuneigung nicht erwi<strong>der</strong>t wird, und wenn er<br />

es merkt, wie wird er reagieren?<br />

Sophie Dorothea lächelte immer noch, und während sie sich Luft<br />

zufächelte, sagte sie zu ihrem Gatten: «Erzählen Sie mir, wie Sie<br />

den Nachmittag verbracht haben.»<br />

«Da gibt es nicht viel zu erzählen, liebe Frau, das heißt, nein,<br />

davon später, also ich verbrachte den Nachmittag wie üblich, nach<br />

<strong>der</strong> Mittagstafel diktierte ich einige wichtige Briefe, dann spazierte<br />

ich durch das Viertel um die Nikolaikirche, beobachtete die Hand-<br />

23


werker bei <strong>der</strong> Arbeit, hörte mir ihre Bitten und Beschwerden an,<br />

schlichtete einen Ehestreit, wobei <strong>der</strong> Mann meinen Stock zu spüren<br />

bekam, weil er nicht einsichtig war. Na, bei meiner Rückkehr<br />

erwartete mich eine wun<strong>der</strong>volle Überraschung, einhun<strong>der</strong>tfünfzig<br />

Lange Kerls waren eingetroffen, hun<strong>der</strong>t aus Russland, fünfzig<br />

aus Großbritannien und dem Kurfürstentum Hannover. Mein<br />

Freund, <strong>der</strong> Zar, hat sich mit seinem Geschenk selbst übertroffen,<br />

seine Russen sind alle sieben Fuß hoch, ich muss ihm natürlich<br />

eine Gegengabe schicken, darüber werde ich nachher mit Leopold<br />

sprechen. Bei den Briten ist ein Ire, <strong>der</strong> sieben Fuß misst, alle übrigen<br />

sind nur sechs Fuß hoch, aber ich habe mich richtig gefreut,<br />

dass ich Ihrem Bru<strong>der</strong>, dem Komödianten, einige kräftige Untertanen<br />

abjagen konnte, er wird sich höllisch ärgern, wenn er davon<br />

erfährt.»<br />

Sophie Dorotheas Lächeln gefror, sie legte den Fächer zur Seite<br />

und sagte vorwurfsvoll: «Warum nennen Sie meinen Bru<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />

Ihr Vetter und Schwager ist, immer einen Komödianten? Überdies<br />

wird nicht er sich ärgern, son<strong>der</strong>n mein Vater, <strong>der</strong> König von England.»<br />

«Ich weiß nicht, warum ich meinen Vetter einen Komödianten<br />

nenne, Sie wissen, dass wir uns schon als Kin<strong>der</strong> nicht mochten.<br />

Mein Gott, ich werde nie vergessen, wie ich ihn in Hannover verprügelte!»<br />

Er lachte und fuhr gutgelaunt fort: «Unsere Großmutter,<br />

die Kurfürstin, war darüber so entsetzt, dass sie mich nach Berlin<br />

zurückschickte, obwohl ich ihr Lieblingsenkel war. – Nun, liebe<br />

Frau, ich bin gekommen, um zu hören, was <strong>der</strong> Schwede prophezeit<br />

hat.»<br />

Sophie Dorothea seufzte: «Er hat mir prophezeit, dass ich eine<br />

Tochter zur Welt bringen werde, wie<strong>der</strong> nur eine Tochter, ach, es<br />

ist entsetzlich.»<br />

«Liebe Frau, wichtig ist, dass Sie das Wochenbett überleben und<br />

dass unsere Tochter gesund bleibt und heranwächst. Vielleicht ist<br />

unser nächstes Kind ein Sohn – o<strong>der</strong> das übernächste; Gott hat uns<br />

die beiden ersten Söhne genommen, wahrscheinlich wollte er uns<br />

Demut lehren, ich habe seither versucht, ihm zu dienen, so gut ich<br />

konnte. Vielleicht schenkt er uns noch einen Sohn, vielleicht sogar<br />

mehrere Söhne – ich bitte ihn stets um ein ‹Vierergespann›.»<br />

24


«Ein Vierergespann?»<br />

«Ja, ich bitte Gott, dass unser Fritzchen noch drei Brü<strong>der</strong> bekommt,<br />

bei vier Söhnen ist die Thronfolge nach menschlichem Ermessen<br />

gesichert.»<br />

Sophie Dorothea schwieg und bewegte langsam ihren Fächer hin<br />

und her. Gütiger Himmel, dachte sie, drei weitere Söhne, wie oft<br />

soll ich noch schwanger werden?<br />

«Gott wird uns weitere Prinzen schenken, liebe Frau», er beugte<br />

sich über ihre Hand und trat zu seiner Tochter.<br />

«Mein liebes Kind, was hat <strong>der</strong> Schwede dir prophezeit?»<br />

Ehe Wilhelmine antworten konnte, sagte Sophie Dorothea zu<br />

ihrem Gatten: «Haben Sie vergessen, was wir an Wilhelmines<br />

sechstem Geburtstag vereinbarten? Es war mein Wunsch, dass wir<br />

unsere älteste Tochter künftig mit ‹Sie› anreden.»<br />

«Liebe Frau, manchmal denke ich nicht daran», er zögerte etwas<br />

und fuhr fort: «Die Anrede ‹Sie› ist so förmlich, sie schafft eine<br />

Distanz zwischen Eltern und Kin<strong>der</strong>n, die ich nicht mag.»<br />

«Die Anrede ‹Sie› ist vornehmer als das vertrauliche ‹Du›.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm wandte sich erneut seiner Tochter zu: «Mein<br />

liebes Kind, was hat <strong>der</strong> Schwede Ihnen prophezeit?»<br />

Wilhelmine sah zu Boden und antwortete leise: «Er hat gesagt,<br />

dass ich viele Leiden werde erdulden müssen, Papa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete seine Älteste und dachte: Wie<br />

kann ich sie trösten? Die Prophezeiung des Schweden ist albern,<br />

zum Leben eines Menschen gehören Höhen und Tiefen, aber wie<br />

kann ich das einer Sechsjährigen erklären? Er hob das Gesicht <strong>der</strong><br />

Tochter zu sich empor und sagte: «Mein Kind, das Leben eines jeden<br />

Menschen besteht aus Freude und Leid; ich bin Ihr Vater und<br />

werde alles tun, damit Sie möglichst wenig leiden und ein glückliches<br />

Leben führen. Ich werde Sie zur rechten Zeit mit einem<br />

frommen Fürsten verheiraten, <strong>der</strong> vor allem an das Wohl seiner<br />

Untertanen denkt. An <strong>der</strong> Seite eines pfl ichtbewussten Fürsten<br />

werden Sie glücklich werden.»<br />

Was bedeutet dies, überlegte das Kind, was ist ein frommer,<br />

pfl ichtbewusster Fürst? Nun, Papa meint es gut mit mir – und sie<br />

atmete erleichtert auf.<br />

«Ich danke Ihnen, Papa, Sie sind zu gütig.»<br />

25


Ein frommer, pfl ichtbewusster Fürst, dachte Sophie Dorothea<br />

entsetzt, schmiedet er Heiratspläne, die meine Pläne durchkreuzen?<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm beugte sich zu dem Kronprinzen hinunter<br />

und strich ihm über die Locken.<br />

«Nun, Fritzchen, deine Zukunft ist sehr wichtig, was hat <strong>der</strong><br />

Schwede zu dir gesagt?»<br />

Ehe <strong>Friedrich</strong> antworten konnte, rief Sophie Dorothea: «Cron hat<br />

prophezeit, dass unser Sohn <strong>der</strong>einst <strong>der</strong> größte und bedeutendste<br />

Fürst Europas sein wird!»<br />

Der König sah die Gattin überrascht an, betrachtete nachdenklich<br />

den Kronprinzen, dann hob er ihn plötzlich hoch und wirbelte<br />

ihn durch die Luft.<br />

«Ich werde ihn zu einem soldatischen, frommen, pfl ichtbewussten<br />

und sparsamen König erziehen lassen!», rief er mit strahlenden<br />

Augen. «Diese Erziehung wird ihn zu einem großen Fürsten formen,<br />

ein großer Fürst denkt immer zuerst an das Wohl des Staates,<br />

ein großer Fürst ist immer <strong>der</strong> Erste Diener seines Staates!»<br />

Sophie Dorothea zuckte zusammen. Mon Dieu, dachte sie, er will<br />

den Sohn zu seinem Ebenbild formen, aus <strong>Friedrich</strong> soll ein zweiter<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm werden, dies bedeutet, dass <strong>der</strong> preußische Hof<br />

auch unter dem künftigen <strong>Friedrich</strong> II. sparsam, glanzlos und unkultiviert<br />

vor sich hin vegetiert. In Dresden, Wien und vor allem in<br />

London wird man auch künftig über den Berliner Hof spötteln und<br />

die Nase rümpfen. Nein, das muss verhin<strong>der</strong>t werden, <strong>der</strong> künftige<br />

König in Preußen muss ein gebildeter, kultivierter Herrscher<br />

sein, dessen geistiger Horizont über Landwirtschaft und Soldaten<br />

hinausreicht. Ich werde versuchen, <strong>Friedrich</strong>s Erziehung zu beeinfl<br />

ussen, so weit es möglich ist.<br />

«Nun, Fritzchen», sagte <strong>der</strong> König, «wollen wir zusammen Ball<br />

spielen?»<br />

«Ja, Papa, sehr gerne, Papa.»<br />

Sophie Dorotheas Augen wan<strong>der</strong>ten zwischen Vater und Sohn hin<br />

und her. Soll ich ihn bitten, Fritz mir zu überlassen, damit er endlich<br />

englische Lebensgewohnheiten kennenlernt? Aber mein Mann mag<br />

die englischen Verwandten nicht beson<strong>der</strong>s, es ist vielleicht diplomatischer,<br />

wenn ich das Fritzchen heute seinem Vater überlasse.<br />

26


Der König nahm die Hand des Kronprinzen und wollte das Zimmer<br />

verlassen, als ihm noch etwas einfi el: «Liebe Frau, ich werde<br />

heute nicht an <strong>der</strong> Tafel anwesend sein, son<strong>der</strong>n den Abend im Tabakskollegium<br />

verbringen, wegen <strong>der</strong> Friedensverhandlungen habe<br />

ich fast eine Woche auf dieses Vergnügen verzichtet.»<br />

Die Königin atmete auf. Gott sei Dank, dachte sie, endlich ein<br />

Abend, an dem ich nicht hören muss, wie viel Land im O<strong>der</strong>bruch<br />

bereits urbar gemacht wurde, welche Krondomäne wie viele Taler<br />

erwirtschaftet und dass die Erweiterung Potsdams die ökonomische<br />

Entwicklung des Landes beschleunigt und ein großes Plus<br />

einbringt.<br />

Mon Dieu, manchmal kann ich das Wort ‹Plus› nicht mehr hören.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Gedanken kreisen nur um dieses Wort, kein<br />

Wun<strong>der</strong>, dass das Volk ihn den ‹Plusmacher› nennt. Nun, an <strong>der</strong><br />

heutigen Abendtafel wird nicht über ‹Plus› geredet, wir werden uns<br />

über französische Literatur unterhalten und über die geplanten<br />

Verschönerungen in Monbijou. Nach dem Kaffee verbringen wir<br />

den Abend am Spieltisch, und neben den Goldmünzen müssen keine<br />

Kaffeebohnen liegen; wenn er in <strong>der</strong> Tabagie ist, wird er nicht<br />

unverhofft auftauchen. Gott sei gedankt, dass Damen an dieser<br />

vulgären Tabagie nicht teilnehmen dürfen, aber sie gehört zu seinem<br />

Leben, es ist wohl angebracht, dass ich Interesse und Anteilnahme<br />

heuchle.<br />

Sie lächelte den Gatten an und fragte: «Werden Sie wie<strong>der</strong> Fische<br />

braten, um die Herren für Ihre mehrtägige Abwesenheit zu<br />

entschädigen?»<br />

«Nein, meine Abwesenheit ist kein Grund, um aufwendig zu<br />

speisen, es muss gespart werden. Während <strong>der</strong> nächsten Wochen<br />

werden we<strong>der</strong> kalter Braten noch Schinken serviert, son<strong>der</strong>n<br />

eine preußische Delikatesse: Tilsiter Käse. Die Hollän<strong>der</strong>in auf<br />

<strong>der</strong> Domäne versteht ihr Handwerk, es ist <strong>der</strong> würzigste Käse,<br />

den ich je gegessen habe, viel besser als die teure Importware aus<br />

Frankreich, für die mein seliger Vater einst Unsummen ausgab.<br />

Die Domäne hat vor Weihnachten eine Menge geliefert, die bis<br />

zum Sommer reichen wird, und während <strong>der</strong> vergangenen Wochen<br />

konnte <strong>der</strong> Käse noch richtig reifen, er entfaltet erst jetzt<br />

27


seinen Duft und ist zu einer wahrhaften einheimischen Delikatesse<br />

geworden.»<br />

Sophie Dorothea betrachtete die genießerische Miene des Gatten<br />

und erinnerte sich wehmütig an die feinen französischen Käse, die<br />

am väterlichen Hof serviert wurden. Dort gab es sahnigen Brie,<br />

milden Camembert und würzigen Roquefort.<br />

Dieser gelbe Käse aus Tilsit ist wi<strong>der</strong>lich, mon Dieu, wenn ich<br />

daran denke, dass dieser starke Käsegeruch sich mit dem Bierdunst<br />

und dem Tabaksqualm vermischt, wird mir übel. Diese Tabagie ist<br />

dégoûtant, die ausländischen Gesandten berichten ihren Fürsten<br />

natürlich über diese unkultivierte abendliche Männerrunde, und<br />

in London wird man wahrscheinlich über dieses Freizeitvergnügen<br />

meines Gatten spötteln.<br />

Sie zwang sich zu einem Lächeln und sagte: «Ich wünsche Ihnen<br />

einen erholsamen, vergnüglichen Abend.»<br />

«Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen schönen Abend und viel<br />

Glück am Spieltisch.»<br />

«Mon Dieu», und sie bewegte nervös den Fächer hin und her, «es<br />

ist doch gleichgültig, ob ich gewinne o<strong>der</strong> verliere. Sie wissen doch,<br />

dass wir nicht um Geld, son<strong>der</strong>n um Kaffeebohnen spielen.»<br />

«Ich weiß, liebe Frau, entschuldigen Sie mich bitte.»<br />

Kaffeebohnen, dachte er, während er mit <strong>Friedrich</strong> und <strong>der</strong> Gouvernante<br />

hinausging. Kaffeebohnen, ich spüre, dass in ihrem Salon<br />

trotz meines Verbotes nach wie vor um Geld gespielt wird, wie zu<br />

Lebzeiten meines seligen Vaters, aber ich kann es nicht beweisen,<br />

wenn ich am Abend einmal unangemeldet ihren Salon aufsuche, liegen<br />

stets Kaffeebohnen neben den Karten und keine Goldmünzen.<br />

Sophie Dorothea sah dem Gatten nach und dachte, dass seine<br />

Abwesenheit von <strong>der</strong> Abendtafel eine günstige Gelegenheit war,<br />

etwas delikater zu speisen als gewöhnlich. Am Mittag, überlegte<br />

sie, wurden Grünkohl mit geräuchertem Schweinebauch, Erbsen<br />

mit Speck, gekochtes Eisbein und Bratwürste serviert. Da niemand,<br />

außer meinem Mann, diese <strong>der</strong>ben Speisen mag, ist viel übriggeblieben,<br />

und die Reste werden aufgewärmt und am Abend erneut<br />

serviert. Ich habe keine Lust, aufgewärmten Grünkohl zu essen,<br />

und weil mein Sohn ein bedeuten<strong>der</strong> Herrscher wird, sollten wir<br />

heute delikat speisen.<br />

28


«Meine Damen, Sie haben gehört, dass in <strong>der</strong> Tabagie preußische<br />

Delikatessen serviert werden, nun, wir werden heute Abend englische<br />

Delikatessen genießen.»<br />

Sie ließ den Küchenmeister holen und sagte: «Verwende Er die<br />

Reste <strong>der</strong> Mittagstafel, wie es Ihm gut dünkt, Er besitzt einige englische<br />

Rezepte, bereite Er also für den Abend eine Fischpastete vor,<br />

ferner ein englisch gebratenes Roastbeef, dazu Rotkohl, dieses Gemüse<br />

ist feiner als Weißkohl, und als Dessert …»<br />

Mon Dieu, ich bin heißhungrig auf Marzipankonfekt, Eiercreme<br />

und Torten, aber ich will den Bogen nicht überspannen …<br />

«Er kann den trockenen Hefekuchen servieren, aber mit Butter<br />

und Konfi türe, so ist er einigermaßen genießbar, und <strong>der</strong> Kellermeister<br />

soll nicht nur Rheinwein hochschicken, son<strong>der</strong>n auch Tokaier.»<br />

Der Küchenmeister glaubte, nicht richtig zu hören, verbeugte<br />

sich während <strong>der</strong> Befehle und erwi<strong>der</strong>te vorsichtig: «Majestät,<br />

mein Budget ist begrenzt, ich weiß nicht, wie ich bis zum Monatsende<br />

…»<br />

«Das ist Seine Angelegenheit», erwi<strong>der</strong>te Sophie Dorothea. «Er<br />

hat meine Befehle gehört und kann gehen.»<br />

Gütiger Himmel, dachte Frau von Kamecke, wenn <strong>der</strong> König<br />

wüsste, dass wir in <strong>der</strong> Mitte des Monats Roastbeef essen und<br />

teuren Tokaier trinken – ab <strong>der</strong> Monatsmitte werden doch nur<br />

noch Innereien und Würste serviert!<br />

Er wird von unserer teuren Tafel erfahren, dachte Sophie Dorothea,<br />

aber da ich ihn gewöhnlich erst am Mittag sehe, wird seine<br />

erste Wut verraucht sein. Und wenn er mir eine Szene macht und<br />

Verschwendungssucht vorwirft – nun ja, ich habe mich an diese<br />

Szenen gewöhnt, und bis jetzt hat er mich am Schluss einer solchen<br />

Szene noch immer um Verzeihung gebeten, ich weiß, dass er mich<br />

liebt, und ich weiß, was ich ihm zumuten kann.<br />

29


30<br />

4<br />

Als Madame de Roucoulles im Vorraum den Zobelpelz um<br />

<strong>Friedrich</strong> legen wollte, sagte <strong>der</strong> König: «Ich sehe es zwar gern,<br />

wenn mein Sohn ein Geschenk meines Freundes, des russischen<br />

Zaren, trägt, trotzdem, meine liebe Roucoulles, kein Pelz, das<br />

Fritzchen muss abgehärtet werden.»<br />

«Mit Verlaub, Majestät, wollen Sie, dass <strong>der</strong> Prinz sich verkühlt?»<br />

«Nein», brummte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «Sie untergraben meine<br />

Erziehungsmethoden, liebe Roucoulles.»<br />

Im Arbeitszimmer nahm <strong>Friedrich</strong> Wilhelm den mittelgro ßen<br />

Le<strong>der</strong>ball, <strong>der</strong> in einem Korb neben dem Kamin lag, und sagte zu<br />

seinem Sohn: «Du bist jetzt vier Jahre alt, Fritzchen, es ist an <strong>der</strong><br />

Zeit, dass ich dir den Ball aus einer größeren Entfernung zuwerfe.<br />

Versuche, ihn zu fangen, wenn es nicht klappt, so ist es nicht<br />

schlimm, es ist eine Sache <strong>der</strong> Übung, bei meinen Soldaten dauert<br />

es auch einige Wochen, bis sie einexerziert sind und den Gleichschritt<br />

und das Laden <strong>der</strong> Musketen mit dem eisernen Ladestock<br />

beherrschen.»<br />

Er warf ihm den Ball zu, und <strong>Friedrich</strong> schrie vor Vergnügen, als<br />

es ihm gelang, ihn beim dritten Mal zu fangen.<br />

«Hervorragend!», rief <strong>der</strong> König. «Man kann Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

nicht hoch genug ansetzen, merke dir, mein Sohn, nur hohe Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

erbringen hohe Leistungen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> fragte sich, was <strong>der</strong> Vater damit meinte, aber da ihm<br />

weitere Bälle zugespielt wurden, die er mühelos auffi ng, vergaß er<br />

die Bemerkung des Vaters.<br />

Einige Minuten später meldete ein Diener die Ankunft von Monsieur<br />

Duhan de Jandun. <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah auf: «Duhan ist rascher<br />

genesen, als es zunächst schien!», rief er. «Er soll eintreten»,<br />

und er warf dem Sohn den Ball zu. <strong>Friedrich</strong> warf den Ball zurück,<br />

und im gleichen Augenblick betrat ein mittelgroßer, schlanker junger<br />

Mann von ungefähr dreißig Jahren das Zimmer und betrachtete<br />

erstaunt das Spiel zwischen Vater und Sohn.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging zu dem Besucher, drückte herzlich des-


sen rechte Hand und sagte: «Willkommen am Hof, Monsieur Duhan.<br />

Sie wun<strong>der</strong>n sich, dass ich mit meinem Sohn spiele, nun, Väter<br />

müssen mit ihren Kin<strong>der</strong>n zuweilen Kin<strong>der</strong> sein, müssen mit<br />

ihnen spielen und ihnen die Zeit vertreiben.»<br />

«Gewiss, Majestät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> trat einen Schritt vor, betrachtete die schlichte schwarze<br />

Kleidung des Mannes und sah, dass die dunklen Haare sorgfältig<br />

zurückgekämmt und zu einem Zopf gefl ochten waren.<br />

«Es ist gut, dass Sie jetzt gekommen sind», sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm,<br />

«so lernen Sie ohne überfl üssige Zeremonien meinen Sohn<br />

kennen. Komm, Fritzchen, <strong>der</strong> Herr ist Monsieur Duhan de Jandun,<br />

er wird dich von jetzt an bis zu deinem fünfzehnten Lebensjahr<br />

unterrichten.<br />

Monsieur Duhan ist Hugenotte, seine Familie verließ Frankreich<br />

anno 87 und kam nach Berlin. Bei <strong>der</strong> Belagerung Stralsunds<br />

zeichnete er sich durch Tapferkeit aus, und ich beschloss damals,<br />

dass er dein Lehrer sein soll. Es gibt keinen besseren Lehrer für<br />

dich als einen tapferen Soldaten. Offi ziell ist er bereits seit dem 31.<br />

Januar dein Informator, aber eine fi ebrige Erkältung hin<strong>der</strong>te ihn<br />

daran, dich in die Rechenkunst einzuführen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete das offene, freundliche Gesicht des Hugenotten,<br />

ging plötzlich auf ihn zu, strahlte ihn an und sagte: «Guten<br />

Tag, Monsieur, Sie gefallen mir.»<br />

Der Franzose verbeugte sich: «Königliche Hoheit, es ist eine<br />

große Ehre für mich, dass ich den künftigen preußischen König<br />

unterrichten darf.»<br />

Dann ließ er die großen blauen Augen des Kindes auf sich wirken:<br />

Der Kleine scheint aufgeweckt zu sein, aber in den Augen<br />

spiegelt sich eine gewisse Verträumtheit, eine reizvolle Mischung,<br />

dachte er und sagte spontan: «Königliche Hoheit, ich werde Sie gerne<br />

unterrichten, ich werde Sie in die antike und in die französische<br />

Dichtkunst einführen, wir werden zusammen Ciceros Reden lesen<br />

und darüber disputieren. Ich werde Sie mit <strong>der</strong> mythologischen<br />

Welt <strong>der</strong> alten Griechen vertraut machen, ich werde alles tun, damit<br />

Sie sich zu einem fähigen Fürsten entwickeln.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte den Franzosen und sagte bedächtig:<br />

«Ich freue mich, dass wir das gleiche Ziel verfolgen, aber ein<br />

31


fähiger Fürst muss vor allem die praktischen Dinge des Lebens lernen.<br />

Er muss die Rechenkunst beherrschen; können Sie morgen<br />

mit dem Unterricht beginnen?»<br />

«Ja, Majestät.»<br />

«Sehr gut, ich werde Ihnen jetzt meinen Erziehungsplan erläutern.<br />

Das Fritzchen hat bis jetzt in den Tag hineingelebt und<br />

gespielt, das ist völlig in Ordnung während <strong>der</strong> ersten drei Lebensjahre.<br />

Seit einem Jahr wird er von seiner Gouvernante in<br />

<strong>der</strong> Religion unterrichtet, sie erzählt ihm biblische Geschichten<br />

und lehrt ihn fromme Lie<strong>der</strong> und Gebete. Am 24. Januar ist mein<br />

Sohn vier Jahre alt geworden, und ich denke, er ist jetzt verständig<br />

genug, um allmählich zu lernen, dass die Wochentage eingeteilt<br />

sind in Arbeit und Muße, die Sonn- und Feiertage in Gebet,<br />

Gottesdienst und Muße. Ich möchte dem Fritzchen den Schock<br />

ersparen, wenn er in drei Jahren zwei Gouverneure bekommt,<br />

die ihn bis zum sechzehnten o<strong>der</strong> siebzehnten Lebensjahr erziehen.<br />

In drei Jahren wird sein Tag nicht mehr nach Stunden eingeteilt,<br />

son<strong>der</strong>n nach Minuten! Er soll sich ab jetzt langsam an<br />

einen geregelten Tagesablauf mit Arbeit und Freizeit gewöhnen.<br />

Ab morgen wird er täglich um halb acht Uhr geweckt, bis acht<br />

Uhr müssen Morgengebet, Waschen, Ankleiden und Frühstück<br />

erledigt sein. Punkt acht Uhr beginnt seine Erzieherin mit dem<br />

Religionsunterricht, von neun bis halb zehn Uhr kann er spielen,<br />

dann beginnen Sie mit dem Unterricht, um halb elf Uhr gibt es<br />

eine Pause von fünfzehn Minuten, dann folgt eine weitere Stunde<br />

Unterricht bis Viertel vor zwölf, eine Viertelstunde genügt, um<br />

das Fritzchen für die Mittagstafel zu säubern. Ich erwarte Sie und<br />

meinen Sohn um Punkt zwölf Uhr im Speisesaal. Am Nachmittag<br />

kann das Fritzchen spielen wie bisher.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging zum Schreibtisch, entnahm einer Schublade<br />

einen Bogen Papier und reichte ihn Duhan.<br />

«Ich habe einen Stundenplan aufgestellt, in welchen Gebieten<br />

Sie meinen Sohn wie lange unterrichten sollen. Von Montag bis<br />

Freitag werden Sie das Fritzchen in <strong>der</strong> ersten Stunde die Rechenkunst<br />

lehren, nach <strong>der</strong> Pause unterweisen Sie ihn eine halbe Stunde<br />

lang im Lesen und Schreiben und nicht nur in <strong>der</strong> französischen,<br />

son<strong>der</strong>n auch in <strong>der</strong> deutschen Sprache. Ich lege Wert darauf, dass<br />

32


mein Sohn die deutsche Sprache richtig beherrscht, und Sie sprechen<br />

Deutsch so gut wie Französisch, nicht wahr?»<br />

«Ja, Majestät.»<br />

«Mein Sohn und ich, wir haben zuerst Französisch gelernt, weil<br />

Madame de Roucoulles nur diese Sprache beherrscht und an den<br />

deutschen Fürstenhöfen nur Französisch gesprochen wird. Mein<br />

Sohn und ich, wir haben die deutsche Sprache nur von <strong>der</strong> Dienerschaft<br />

gelernt, das ist schlimm, ich bin ein deutscher Fürst und lebe<br />

in Deutschland, nicht in Frankreich, die deutschen Fürsten sollten<br />

Deutsch sprechen und nicht Französisch.<br />

Nach dem Sprachunterricht unterweisen Sie ihn eine halbe<br />

Stunde in Geographie und <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> letzten hun<strong>der</strong>t Jahre.<br />

Ich überlasse es Ihnen, an welchen Tagen Sie Geographie o<strong>der</strong><br />

Geschichte unterrichten.<br />

Am Sonnabend repetieren Sie mit dem Fritzchen den Lernstoff<br />

<strong>der</strong> Woche, danach sind Sie beurlaubt bis zum Montag. Sie dürfen<br />

während des Unterrichts zusätzlich zu <strong>der</strong> größeren Pause zwei<br />

kleine Pausen einlegen, aber jede darf nur fünf Minuten dauern.»<br />

Gütiger Himmel, dachte Duhan entsetzt, das ist kein Unterrichtsplan,<br />

son<strong>der</strong>n ein militärisches Reglement, ich werde die Pausen<br />

verlängern, wenn es notwendig ist.<br />

<strong>Friedrich</strong> bekam Herzklopfen, als er hörte, dass er nun lesen und<br />

schreiben lernen würde. Lesen …<br />

«Lesen», sagte er leise, ging spontan zu seinem Vater und<br />

schmiegte sich an ihn.<br />

«Papa», rief er, «ich bin so glücklich, dass ich endlich lesen lerne!<br />

Jetzt entscheide ich, welche Geschichte ich lese, wie oft ich sie lese,<br />

jetzt muss ich Madame de Roucoulles o<strong>der</strong> Wilhelmine nicht mehr<br />

bitten, dass sie mir vorlesen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete überrascht die blauen Kin<strong>der</strong>augen,<br />

die ihn anstrahlten, und strich dem Sohn über das Haar.<br />

«Ich wusste nicht, dass dir so viel daran liegt, lesen zu lernen, das<br />

ist gewiss löblich, mein Sohn, aber vergiss das Rechnen nicht, das<br />

ist noch wichtiger als Lesen», und zu Duhan: «Ich lege Wert darauf,<br />

dass mein Fritzchen fl ink die Rechenkunst erlernt, ein Fürst<br />

muss gut und rasch rechnen können, das ist die Voraussetzung für<br />

die wirtschaftliche Entwicklung seines Landes, für volle Staatskas-<br />

33


sen, für das Wohlergehen seiner Untertanen. Die Beherrschung <strong>der</strong><br />

Zinsrechnung ist beson<strong>der</strong>s wichtig, ein Fürst muss sofort berechnen<br />

können, wie viele Zinsen ein Projekt abwirft, ob er dabei für<br />

den Staat ein Plus erwirtschaftet, haben Sie mich verstanden?»<br />

«Gewiss, Majestät.»<br />

Was meint Papa mit Rechenkunst, überlegte <strong>Friedrich</strong>. Wilhelmine<br />

kann rechnen, dachte er. und vor seinem inneren Auge sah er<br />

sie an ihrem Schreibtisch sitzen: Sie leerte ihre Geldbörse, zählte<br />

Pfennige und Groschen, dann schrieb sie etwas in ein Heft und<br />

sagte seufzend: «Hoffentlich reicht das Geld, das Mama mir gegeben<br />

hat, bis zum Sonntag.»<br />

«Was hast du eben geschrieben?»<br />

«Ich notiere regelmäßig meine Ausgaben, um zu wissen, wie viel<br />

Geld ich noch habe, außerdem kontrolliert Mama einmal im Monat,<br />

ob ich mein Ausgabenbuch sorgfältig führe, Mama führt auch<br />

ein Ausgabenbuch.»<br />

«Ich fi nde es langweilig, Pfennige zu zählen.»<br />

«Es ist notwendig, Fritzchen.»<br />

Wilhelmines Gestalt verschwand, und er fl üsterte: «Rechnen»,<br />

dann sah er zu seinem Vater hoch und sagte ernst: «Ich werde versuchen,<br />

die Rechenkunst zu erlernen, das verspreche ich Ihnen,<br />

Papa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm beugte sich zu dem Kind hinunter, küsste den<br />

Kleinen auf Stirn, Wangen und Mund und rief: «So gefällst du mir,<br />

Fritzchen!»<br />

Als Duhan gegangen war, hob <strong>Friedrich</strong> Wilhelm das Gesicht<br />

seines Sohnes zu sich empor und sagte: «Du musst Monsieur Duhan<br />

ebenso gehorchen wie deiner Erzieherin, <strong>der</strong> Mama o<strong>der</strong> mir.<br />

Gehorsam ist wichtig für einen künftigen König; nur wenn du<br />

lernst, zu gehorchen, wirst du eines Tages auch befehlen können,<br />

hast du mich verstanden?»<br />

«Ja, Papa.»<br />

«Für heute haben wir genug gespielt, Fritzchen, die Pfl icht ruft,<br />

ich muss jetzt wie<strong>der</strong> dem König in Preußen dienen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Vater erstaunt an: «Warum müssen Sie dem<br />

König dienen? Sie sind doch <strong>der</strong> König.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete seinen Sohn eine Weile und erwi-<br />

34


<strong>der</strong>te: «Ich will versuchen, dir meine Auffassung von den Pfl ichten<br />

eines Fürsten zu erklären: Ich bin König von Gottes Gnaden, Fritzchen,<br />

und Gott erwartet, dass ich dieses Amt zum Wohle meiner<br />

Untertanen ausübe. Dies ist nur möglich, wenn ich mich als Diener<br />

des Königs betrachte, ich stehe im Dienst des Königs in Preußen,<br />

und nur, wenn ich die damit verbundenen Pfl ichten erfülle, werde<br />

ich nach meinem Tod mit gutem Gewissen vor Gott treten können;<br />

Gott wird mich zur Rechenschaft ziehen über mein irdisches Leben.»<br />

Auf dem Weg zu seinem Appartement dachte <strong>Friedrich</strong> über<br />

die Worte des Vaters nach. Warum ist ein König gleichzeitig Diener?<br />

Madame de Roucoulles kann es mir bestimmt erklären.<br />

35


36<br />

5<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm zog weißleinene Ärmelschoner an, band<br />

sich eine saubere Schürze aus weißem Leinen um, die den Uniformrock<br />

vor Tintenspritzern schützen sollte, und begann, die Akten<br />

auf dem Schreibtisch zu studieren.<br />

Er nahm den Speiseplan des Küchenmeisters für den folgenden<br />

Tag und überprüfte die einzelnen Posten.<br />

«Wie bitte», brummte er, «eine Zitrone kostet neun Pfennige?<br />

Unsinn, die Marktweiber sagen, <strong>der</strong> Tagespreis beträgt acht Pfennige,<br />

auch das ist zu teuer, ein guter Küchenmeister muss ohne<br />

Zitronen auskommen», und er strich den Posten.<br />

«Ah», murmelte er zufrieden, «morgen an <strong>der</strong> Mittagstafel werden<br />

Hammelkaldaunen mit Weißkohl serviert», und er schloss genießerisch<br />

die Augen.<br />

«Gesottene Hammelkaldaunen sind eine Delikatesse», und<br />

er amüsierte sich, als vor seinem inneren Auge die indignierten<br />

Gesichter <strong>der</strong> Familie und <strong>der</strong> Hofl eute auftauchten, wenn dieses<br />

Gericht serviert würde: «Sie werden die Kaldaunen mit gezierten<br />

Bewegungen auf dem Teller hin- und herschieben», sagte er halblaut,<br />

«aber das interessiert mich nicht, die Kaldaunen sind nicht nur<br />

delikat, son<strong>der</strong>n auch billig.»<br />

Er öffnete die Augen, las, welche Summe <strong>der</strong> Küchenmeister dafür<br />

ansetzte, und erstarrte: «Drei Taler!», rief er. «Drei Taler?»<br />

Er schlug mit <strong>der</strong> Faust auf den Tisch, sprang auf und lief erregt<br />

auf und ab.<br />

«Drei Taler!», schrie er und befahl den Küchenmeister zu sich.<br />

«Ist Er verrückt geworden?», brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und hielt<br />

dem zitternden Koch das Blatt Papier unter die Augen.<br />

«Will Er seinen König übervorteilen? Will Er mich für dumm<br />

verkaufen? Hammelkaldaunen mit Weißkohl kosten keine drei Taler!<br />

Nun, was sagt Er dazu?»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät, ich würde es nie wagen, Eure<br />

Majestät zu übervorteilen, aber <strong>der</strong> Preis für dieses Gericht beträgt<br />

drei Taler.»


«Nein!», brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, und <strong>der</strong> Küchenmeister beobachtete<br />

ängstlich, wie das Gesicht des Königs rot wurde vor Wut<br />

und sich zwischen den Augenbrauen eine Zornesfalte bildete.<br />

«Dieses Essen kostet nur eineinhalb Groschen, ich habe es mir<br />

von dem Gärtner, bei dem ich vor einigen Tagen das Gericht zum<br />

ersten Mal aß, vorrechnen lassen. Wie oft habe ich Ihm gesagt, Er<br />

soll sich bei verschiedenen Marktweibern und Metzgern nach dem<br />

Tagespreis erkundigen und die Preise vergleichen?»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät, ich habe mich bei zwei Gemüsehändlerinnen<br />

und zwei Metzgern nach den Preisen erkundigt.»<br />

«Was sagt Er? Er hat nur zwei Preise verglichen? Er muss mindestens<br />

vier Preise vergleichen! Ich bezahle Ihn nicht fürs Faulenzen,<br />

son<strong>der</strong>n dafür, dass Er seine Pfl icht erfüllt und sparsam<br />

wirtschaftet. Ich weiß, dass es für Ihn mehr Arbeit bedeutet, vier<br />

Händler statt zwei zu befragen, aber merke Er sich ein für alle Mal,<br />

in meinem Staat wird gearbeitet, gearbeitet und noch einmal gearbeitet.<br />

Ab morgen wird Er mir täglich schriftlich über die Marktpreise<br />

berichten, und wehe Ihm, Er schwindelt. Ich kontrolliere<br />

jede Kleinigkeit in meinem Staat.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm griff nach dem Buchenholzstock, hielt den<br />

zurückweichenden Küchenmeister fest, schrie: «Das ist für die drei<br />

Taler», und ließ den Stock dreimal auf den Rücken des Kochs herabsausen.<br />

«Verschwinde Er!», und er warf den Stock in eine Zimmer ecke.<br />

Der Küchenmeister rannte hinaus und schalt sich einen Narren:<br />

Warum, dachte er, vergesse ich immer wie<strong>der</strong>, dass <strong>der</strong> König regelmäßig<br />

über den Markt spaziert und sich nach den Preisen erkundigt?<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm atmete tief durch, betrachtete den Kostenvoranschlag<br />

und schrieb neben den Posten Weißkohl: «ein Kopf Weißkohl<br />

sechs Pfennige, Tagespreis». Dann überprüfte er die übrigen<br />

Preise, zeichnete den Speiseplan ab und legte die Fe<strong>der</strong> nachdenklich<br />

zur Seite.<br />

«Meine Finanzpläne», sagte er leise, «wurden durch den unerwarteten<br />

Krieg gegen Schweden stark beeinträchtigt, diese Ausgaben<br />

müssen erneut erwirtschaftet werden. Dies bedeutet, dass <strong>der</strong><br />

37


Etat des königlichen Haushaltes erneut gesenkt wird», und er befahl<br />

den Oberhofmarschall von Printzen in sein Arbeitszimmer.<br />

«Sie wissen», begann er ohne weitere Einleitung, «dass ich von<br />

meinem seligen Vater zwanzig Millionen Goldtaler Staatsschulden<br />

geerbt habe, diese Schulden konnte ich zwar während <strong>der</strong> vergangenen<br />

drei Jahre etwas reduzieren, aber dann kam <strong>der</strong> Krieg gegen<br />

Schweden, <strong>der</strong> Unsummen kostete. Ich möchte meinem Sohn<br />

<strong>Friedrich</strong> nicht nur einen schuldenfreien Staat vererben, son<strong>der</strong>n<br />

auch eine gefüllte Staatskasse. Die Ausgaben für den Hof müssen<br />

noch mehr gesenkt werden.<br />

Der Hofstaat meines seligen Vaters hat jährlich 376 000 Taler gekostet,<br />

bei meinem Regierungsantritt habe ich diese Summe um<br />

fast zwanzig Prozent gesenkt. Ihr Gehalt zum Beispiel wurde von<br />

jährlich 1.700 auf 400 Taler herabgesetzt, das des Oberhofmundschenks<br />

von Schlippenbach wurde von 2 000 auf 800 Taler jährlich<br />

reduziert, ich habe die Witwenpensionen <strong>der</strong> gefallenen Offi ziere<br />

von jährlich 180 auf 48 Taler herabgesetzt, aber das reicht nicht, es<br />

muss noch mehr gespart werden.»<br />

Er nahm einen Bogen grobes graues Papier, das er für seine<br />

Befehle innerhalb Preußens benutzte, schrieb einige Zahlen,<br />

rechnete, schrieb erneut, und <strong>der</strong> Oberhofmarschall beobachtete<br />

seinen König und dachte verzweifelt: Gütiger Himmel, was will<br />

er noch einsparen?! Unser Hof ist schon <strong>der</strong> dürftigste in Europa<br />

– und er durchlebte noch einmal jene Szene vom 25. Februar<br />

1713: König <strong>Friedrich</strong> I. war seit ungefähr zehn Minuten tot, da<br />

wurde ich, <strong>der</strong> Oberhofmarschall, mit dem Hofetat zum neuen<br />

König befohlen.<br />

Er riss mir die Liste aus <strong>der</strong> Hand, nahm einen Fe<strong>der</strong>kiel und<br />

strich den Etat von oben bis unten durch. Ich taumelte in das Vorzimmer,<br />

wo die Hofl eute mich neugierig ansahen, meine Hand zitterte,<br />

als sie den Bogen Papier hielt, und ich suchte verzweifelt nach<br />

Worten. Dann trat <strong>der</strong> General von Tettau vor mich, nahm den<br />

Bogen, sah den Tintenstrich des Königs, lachte schallend auf und<br />

rief: «Meine Herren, unser guter Herr ist tot, und <strong>der</strong> neue König<br />

schickt Sie alle zum Teufel!»<br />

Dann erschien vor seinem inneren Auge jener Zettel, <strong>der</strong> einige<br />

Wochen nach <strong>Friedrich</strong> Wilhelms Regierungsantritt am Eosan<strong>der</strong>-<br />

38


portal hing: «Dieses Schloss ist zu vermieten, und diese Residenz<br />

Berlin zu verkaufen.»<br />

Der typische Berliner Mutterwitz, dachte <strong>der</strong> Oberhofmarschall;<br />

dann hörte er die Stimme des Königs: «Obschon im Etat für jeden<br />

Tag 93 Taler bestimmt sind, so müssen diese nicht draufgehen.<br />

Wenn ich in Potsdam o<strong>der</strong> Wusterhausen bin, die Königin<br />

in Berlin, dann müssen es täglich nicht mehr als 70 bis 72 Taler<br />

sein. Wenn die Königin sich bei mir befi ndet, dann darf es täglich<br />

nur 55 Taler kosten. Ich will auch, dass künftig von Hamburg o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en fremden Orten nichts soll verschrieben werden, ohne dass<br />

ich vorher gefragt worden bin und es genehmigt habe. Hingegen<br />

soll das Hofmarschallamt die Veranstaltung treffen, dass je<strong>der</strong>zeit<br />

gutes Rindfl eisch, gute, fette Hühner und <strong>der</strong>gleichen vorhanden<br />

und konsumiert werden.»<br />

Printzen erwi<strong>der</strong>te vorsichtig: «Ich bitte um Vergebung, Majestät,<br />

aber ich weiß nicht, wie ich mit <strong>der</strong> von Eurer Majestät festgesetzten<br />

Summe auskommen soll.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat vor den Oberhofmarschall, starrte ihn<br />

für den Bruchteil einer Sekunde an, und als dieser einen Schritt<br />

zurückwich, sagte er: «Es ist Ihre Aufgabe, zu überlegen, wie Sie<br />

mit dieser Summe auskommen. Notieren Sie, welche Ausgaben<br />

notwendig und welche überfl üssig sind. Überprüfen Sie, ob nicht<br />

einige Lakaien, Türsteher, Küchenjungen und Wäscherinnen entlassen<br />

werden können. Ich muss sparen, und das fängt bei <strong>der</strong> Hofhaltung<br />

an, außerdem ist ein sparsamer Hof ein Beispiel für die<br />

Untertanen, dass sie ebenfalls bescheiden leben. Es gibt Ausgaben,<br />

da kann ich nicht sparen, weil diese Ausgaben die wirtschaftliche<br />

Entwicklung des Landes för<strong>der</strong>n sollen, ich erkläre es Ihnen am<br />

Beispiel Potsdams: ich möchte Potsdam erweitern, zu einer Garnisonsstadt<br />

ausbauen, irgendwann sollen die drei Bataillone meines<br />

Leibregiments dort wohnen können.<br />

Dies bedeutet, dass Sümpfe trockengelegt werden müssen, damit<br />

man Häuser bauen kann; um dies zu verwirklichen, benötige ich<br />

Handwerker, Maurer, Zimmerleute, Glaser; diese Handwerker fehlen<br />

mir, ich muss sie aus dem Ausland, also vor allem aus Holland<br />

und Frankreich holen. Kein Hollän<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Franzose, die Hugenotten<br />

ausgenommen, geht freiwillig in die Mark Brandenburg, in<br />

39


die Streusandbüchse des Reiches, es sei denn, ich gewähre ihnen<br />

fi nanzielle Vorteile. Sie bekommen also kostenlos Land und Material,<br />

um ihre Häuser zu bauen, sie müssen während <strong>der</strong> ersten<br />

Jahre keine Steuern zahlen und so weiter. Dies sind notwendige<br />

Investitionen, bei denen ich nicht sparen kann, weil sie die Wirtschaft<br />

ankurbeln sollen. Der Hofstaat indes, gütiger Himmel, <strong>der</strong><br />

Lakai, <strong>der</strong> Sie gemeldet hat, ist völlig überfl üssig, er hätte besser<br />

ein Handwerk erlernt. Sie können ebenso gut anklopfen und bei<br />

mir eintreten, ohne dass Sie gemeldet werden, verstehen Sie, was<br />

ich meine?»<br />

«Gewiss, Majestät.»<br />

«Nun, dann überlegen Sie, wo Sie sparen können, und versuchen<br />

Sie, ein Plus zu erwirtschaften.»<br />

«Selbstverständlich, Majestät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm vertiefte sich erneut in die eingegangene Post<br />

und überfl og einen Bericht seines Gesandten in Frankreich. Der<br />

Diplomat schil<strong>der</strong>te detailliert den Tagesablauf König Ludwig XV.,<br />

des «Kindes von Europa», er beschrieb ausführlich die Kleidung,<br />

die Spiele und das Wachstum des französischen Königs; <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm warf den Bericht nach einer Weile angewi<strong>der</strong>t auf den<br />

Holzfußboden.<br />

«Blackscheißer», brummte er, «dieser junge Bourbone wird sich<br />

wahrscheinlich zu einem verweichlichten, unfähigen König entwickeln,<br />

ein verweichlichter König ist <strong>der</strong> Anfang vom Ende einer<br />

Dynastie, aber <strong>der</strong> allmähliche innere Nie<strong>der</strong>gang Frankreichs<br />

kann für Preußen nur vorteilhaft sein.»<br />

Er öffnete den Brief eines Werbers, <strong>der</strong> versuchte, in Dänemark<br />

«Lange Kerls» für das preußische Heer zu gewinnen, las das Schreiben,<br />

sprang auf und lief erregt im Zimmer auf und ab.<br />

«Ein verlockendes Angebot», murmelte er, «verlockend, aber<br />

auch teuer. Ich werde nachher im Tabakskollegium mit Leopold<br />

darüber reden.»<br />

Er las den Brief erneut und verwahrte ihn dann in einer geheimen<br />

Schublade.<br />

In diesem Augenblick meldete <strong>der</strong> Diener den Grenadier Heinrich<br />

Wilhelm Wagenführ, und ein Mann, <strong>der</strong> ungefähr sieben Fuß<br />

groß war, betrat den Raum und präsentierte das Gewehr.<br />

40


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete stolz den Riesen, <strong>der</strong> im ersten<br />

Glied des I. Bataillons seines Leibregimentes stand.<br />

«Majestät, ich melde gehorsamst, dass die heute eingetroffenen<br />

Russen, Englän<strong>der</strong> und Hannoveraner bereit sind für den Transport<br />

nach <strong>der</strong> Stadt Brandenburg. Morgen werden wir bei Sonnenaufgang<br />

Berlin verlassen.»<br />

«Sehr gut. Wie gefallen Ihm die Russen?»<br />

«Prächtige Kerle, Majestät. Aber die an<strong>der</strong>n sind auch nicht zu<br />

verachten, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Ire Fitzgerald.»<br />

«Er hat recht, Fitzgerald macht einen aufgeweckten Eindruck, in<br />

einigen Jahren könnte man ihn als Werber nach England schicken.<br />

Was meint Er, welcher Russe eignet sich als Flügelmann für mein<br />

Bataillon in Potsdam?»<br />

Wagenführ überlegte und erwi<strong>der</strong>te: «Schwerid Re di va noff.»<br />

«Ja, das denke ich auch.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging zum Schreibtisch, nahm einen versiegelten<br />

Brief und reichte ihn Wagenführ.<br />

«Dieses Schreiben übergibt Er dem Kommandanten in Brandenburg,<br />

es sind Anweisungen bezüglich <strong>der</strong> Russen. Ich wünsche,<br />

dass Er persönlich den Kommandanten noch einmal auf gewisse<br />

Punkte hinweist, die ich für wichtig erachte: die Russen sollen,<br />

ebenso wie die Katholiken, ihren Gottesdienst so zele brieren, wie<br />

sie es gewohnt sind, an hohen orthodoxen Feiertagen werden sie<br />

vom Dienst beurlaubt, und an Ostern – das Osterfest ist für die<br />

Russen so wichtig wie für uns Weihnachten –, an Ostern sollen<br />

sie die Speisen essen, die in Russland aufgetischt werden. Ich<br />

möchte, dass meine ausländischen Kin<strong>der</strong> sich in Preußen heimisch<br />

fühlen. Der Branntwein ist bei den Russen allerdings ein<br />

Problem: sie dürfen kein Tröpfchen Branntwein trinken, dieses<br />

Verbot gilt zwar für alle meine Kin<strong>der</strong>, aber für die Russen beson<strong>der</strong>s.<br />

Ein betrunkener Russe ist unberechenbar und schlägt alles<br />

kurz und klein, das habe ich beim Besuch meines Freundes, des<br />

Zaren, anno 12 erlebt, also: kein einziges Tröpfchen Branntwein.<br />

Sage Er auch dem Kommandeur, ich wünsche, dass pünktlich am<br />

l. April mit dem Einexerzieren begonnen wird, unabhängig von<br />

<strong>der</strong> Witterung, die neuen Soldaten werden nicht nur während <strong>der</strong><br />

Monate April, Mai und Juni exerzieren, son<strong>der</strong>n auch während<br />

41


des Sommers und im Herbst, sie müssen die militärische Disziplin<br />

lernen.»<br />

«Sehr wohl, Majestät, ich bitte Eure Majestät um Vergebung,<br />

aber unterwegs überreichte man mir zwei Briefe.» Er gab sie dem<br />

König, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm begann, laut zu lachen.<br />

«Das ist mal wie<strong>der</strong> typisch für die gewitzten Berliner. Sie wissen<br />

natürlich längst, dass ich in Potsdam Bittschriften <strong>der</strong> Einwohner,<br />

die meine Kin<strong>der</strong> mir überreichen, positiv entscheide; nun nutzen<br />

sie die Gelegenheit, wenn sie einen ‹Langen Kerl› in Berlin sehen.<br />

Kennt Er den Inhalt <strong>der</strong> Briefe?»<br />

«Ja, Majestät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm öffnete das erste Schreiben, las, und <strong>der</strong> Grenadier<br />

beobachtete besorgt, wie die Miene des Königs sich verfi nsterte.<br />

Er warf den Brief ins Kaminfeuer, trat vor Wagenführ, musterte<br />

ihn und sagte: «Er gehört zu den wenigen Grenadieren, die Potsdam<br />

verlassen dürfen, weil ich weiß, dass Er nicht versuchen wird<br />

zu desertieren.<br />

Ich weiß, dass Er mit Leib und Seele Soldat ist; wenn ich nicht von<br />

Seiner Loyalität überzeugt wäre, würde ich Ihm jetzt eine Tracht<br />

Prügel verpassen. Kennt Er meinen Befehl nicht, dass die Marktweiber<br />

stricken sollen, wenn keine Kunden zu bedienen sind? Diese<br />

Frau ist mehrfach erwischt worden, dass sie nicht strickt, son<strong>der</strong>n<br />

schwätzt. Sie arbeitet nicht und hält die an<strong>der</strong>en Frauen von <strong>der</strong><br />

Arbeit ab. Die vier Wochen im Spinnhaus sind nur recht und billig,<br />

sie muss spüren, dass in Preußen gearbeitet wird. Hier wird gearbeitet,<br />

gearbeitet und noch einmal gearbeitet!»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät, aber <strong>der</strong> Ehemann – er<br />

übergab mir den Brief – kann den Säugling und die beiden an<strong>der</strong>en<br />

Kin<strong>der</strong>n – sie sind ein und zwei Jahre alt – nicht allein versorgen,<br />

er muss tagsüber arbeiten. Verwandte hat die Familie nicht in<br />

Berlin, und die Nachbarn können sich auch nicht um die Kleinen<br />

kümmern, weil sie mit <strong>der</strong> eigenen Familie genug zu tun haben.<br />

Die Kin<strong>der</strong> brauchen die Mutter, und vier Wochen sind eine lange<br />

Zeit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging nachdenklich auf und ab, blieb dann vor<br />

dem Grenadier stehen und sagte: «Er hat recht, die Kin<strong>der</strong> brau-<br />

42


chen die Mutter, aber wenn ich <strong>der</strong> Frau die Strafe erlasse, so schaffe<br />

ich für die Zukunft einen Präzedenzfall. Die Gerechtigkeit darf<br />

nicht leiden, die Frau wird vier Wochen im Spinnhaus arbeiten,<br />

die Kin<strong>der</strong> … ich will ihr erlauben, die Kin<strong>der</strong> mitzunehmen. Im<br />

Spinnhaus wird man sich um sie kümmern.»<br />

Wagenführ atmete auf: «Ich danke Euer Majestät.»<br />

Während <strong>Friedrich</strong> Wilhelm das zweite Schreiben öffnete, sagte<br />

er zu dem Grenadier: «Na, Wagenführ, für Ihn und seine Kameraden<br />

sind diese Bittgesuche bestimmt ein lukrativer Nebenverdienst.<br />

Wie viele Groschen hat man Ihm für das Überbringen <strong>der</strong><br />

Briefe gezahlt?»<br />

Als <strong>der</strong> Grenadier antworten wollte, sah er, dass sich zwischen den<br />

Brauen des Königs die Zornesfalte bildete. Ich bin ein Narr, dachte<br />

er, warum zum Teufel habe ich den Brief des Schankwirts Bleuset<br />

angenommen, als ich vorhin einen Becher Wein bei ihm trank?<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm zerriss den Brief, warf ihn in das Kaminfeuer,<br />

rannte zu Wagenführ, starrte ihn für den Bruchteil einer Sekunde<br />

an und brüllte: «Ist Er verrückt geworden? Er, <strong>der</strong> zu meinem Leibbataillon<br />

gehört, Er wagt es, mir einen Brief zu überreichen, worin<br />

man mich bittet, einen Deserteur zu begnadigen? Dieser Bleuset ist<br />

meinen Werbern schon etliche Male entwischt. Vor einigen Wochen<br />

haben sie ihn endlich in <strong>der</strong> Schenke seines Bru<strong>der</strong>s gefangen,<br />

jetzt ist er desertiert, das ist Hochverrat am Staat, Hochverrat an<br />

mir, dem König, für Desertion gibt es keine mil<strong>der</strong>nden Umstände,<br />

ein Deserteur muss sterben, egal, ob er ein einfacher Soldat o<strong>der</strong><br />

Offi zier ist. Weiß Er das nicht?»<br />

«Ich weiß es, Eure Majestät», antwortete Wagenführ kleinlaut.<br />

«Er hätte es verdient, durch die Gasse zu laufen, aber ich schätze<br />

Seine Loyalität und hoffe, dass Er mir künftig nicht mehr Gnadengesuche<br />

für einen Deserteur überreicht. Merke Er sich ein für alle<br />

Mal: Es ist besser, dass einer stirbt, als dass die Justiz aus <strong>der</strong> Welt<br />

kommt. Ich werde einen Deserteur nie begnadigen, seine Abstammung<br />

wird für mich nie eine Rolle spielen, er mag ein Bauernjunge<br />

sein o<strong>der</strong> zum ältesten märkischen Adel gehören. Auf Desertion<br />

steht die Todesstrafe.»<br />

Er ging zum Schreibtisch, öffnete eine Aktenmappe, und als er<br />

das Urteil fand, las er: «Der Bleuset soll dreißigmal durch die Gasse<br />

43


laufen», nahm die Fe<strong>der</strong>, schrieb einige Worte an den Seitenrand<br />

und sagte: «Er wird vierzigmal durch die Gasse laufen.»<br />

Wagenführ erschrak und sagte vorsichtig: «Majestät, vierzigmal<br />

durch die Gasse …»<br />

Er schwieg, als er die ernsten Augen des Königs sah.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat vor den Grenadier, betrachtete ihn nachdenklich<br />

und sagte langsam: «Ich weiß, wie Ihm zumute ist, vierzigmal<br />

durch die Gasse bedeutet den Tod; ich weiß auch, dass viele<br />

meiner Kin<strong>der</strong> Mitleid mit einem Deserteur haben. Aber in einer<br />

schlagkräftigen Armee muss absolute Disziplin herrschen; Er und<br />

seine Kameraden werden ausgebildet, damit sie eines Tages die<br />

Landesgrenzen erfolgreich verteidigen können. Ich hoffe, dass dies<br />

nie nötig ist, aber man muss immer gerüstet sein. Geh Er jetzt und<br />

merke Er sich: Die Bitte, einen Deserteur zu begnadigen, ist schon<br />

fast Landesverrat. Hat Er mich verstanden?»<br />

«Ja, Majestät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte wohlwollend den großen Soldaten,<br />

lächelte und fragte: «Will Er immer noch eine Weinhandlung eröffnen?»<br />

«Ja, Majestät, wenn ich das nötige Kapital zusammengespart<br />

habe, will ich eine Familie gründen, Weinhandel treiben und eine<br />

Schenke eröffnen. Mein Exerzierdienst endet um zwölf Uhr, so<br />

bleibt genug Zeit, um am Nachmittag ein eigenes Gewerbe zu betreiben.»<br />

«So ist es recht, jede Minute des Tages muss sinnvoll genutzt<br />

werden, na und Er als Rheinlän<strong>der</strong> kennt natürlich die guten Rebsorten,<br />

ich wünsche Ihm viel Glück.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm vertiefte sich erneut in die Akten, aber er<br />

musste wie<strong>der</strong> an Wagenführs Briefe denken. Er stand auf, ging<br />

unruhig auf und ab und sagte laut zu sich selbst: «Verlange ich<br />

von meinen Untertanen zu viel? – Was verlange ich von ihnen?<br />

Arbeit, Ordnung, Gehorsam, Frömmigkeit, wobei es keine Rolle<br />

spielt, ob ein Untertan Lutheraner, Calvinist, Katholik, Jude, Moslem<br />

o<strong>der</strong> Orthodoxer ist. Ich erwarte eine bescheidene, sparsame<br />

Lebensführung, solange Preußen wirtschaftlich aufgebaut werden<br />

muss … nein, ich verlange nicht zu viel, diese For<strong>der</strong>ungen kann<br />

je<strong>der</strong> erfüllen. Warum zum Teufel begreifen bis jetzt nur wenige,<br />

44


dass ich meine Untertanen nicht ausbeuten will wie die an<strong>der</strong>en<br />

Fürsten? Ich will den Preußen zu Wohlstand verhelfen, und um<br />

dieses Ziel zu erreichen, müssen alle hart arbeiten, je<strong>der</strong> muss seinen<br />

Teil beitragen zum Aufbau des Landes, auch ich, <strong>der</strong> König. Ich<br />

muss für meine Untertanen ein Vorbild sein.»<br />

Er setzte sich wie<strong>der</strong> an den Schreibtisch, sah einen Augenblick<br />

nachdenklich vor sich hin und sagte dann leise: «Mit <strong>der</strong> Macht<br />

darf man nicht spielen – Gott hat mir doch ein schweres Amt gegeben;<br />

wenn ich baue und das Land verbessere und nicht zugleich<br />

gute Christen mache, so hilft mir alles nichts.»<br />

Er trat zum Fenster, sah hinunter in den verschneiten Schlosshof,<br />

beobachtete die eilig hin- und herlaufenden Diener, Kutscher, Soldaten,<br />

er bemerkte, wie das Tageslicht allmählich schwächer wurde,<br />

und murmelte: «Was habe ich heute bewirkt in meinem Staat? Ich<br />

habe viel gearbeitet wie jeden Tag, bin um sechs Uhr aufgestanden,<br />

um sieben Uhr kamen zwei Kabinettsräte mit ihren Sekretären,<br />

und ich begann mit <strong>der</strong> Lektüre <strong>der</strong> Briefe und Staatsdepeschen.<br />

Ich traf Entscheidungen, diktierte meine Antworten, dann trugen<br />

die Räte Angelegenheiten <strong>der</strong> Armee, <strong>der</strong> Justiz und <strong>der</strong> Außenpolitik<br />

vor, schließlich wurden dringende Finanzfragen besprochen,<br />

anschließend empfi ng ich Minister und Generäle und erteilte ihnen<br />

meine Befehle, dann begab ich mich in den Marstall, überprüfte den<br />

Zustand <strong>der</strong> Pferde, und als es zwölf Uhr schlug, ging ich zur Mittagstafel.<br />

Anschließend erledigte ich wichtige Korrespondenz, dann<br />

ein Inspektionsrundgang in den Straßen Berlins, ein Besuch bei <strong>der</strong><br />

Königin. Ich hörte, was <strong>der</strong> Schwede über die Zukunft meines Fritzchens<br />

sagte …» Er schwieg, starrte hinunter in den Hof, und einem<br />

plötzlichen Impuls folgend faltete er die Hände und begann, laut<br />

zu beten: «Lieber Gott, eines Tages werde ich Rechenschaft ablegen<br />

müssen über mein irdisches Tun, ich werde beweisen müssen, dass<br />

ich dem König in Preußen treu gedient habe, dass ich den Auftrag,<br />

den Du, Herr, mir erteilt hast, erfüllt habe. Herr, ich bin bereit, diesen<br />

Auftrag zu erfüllen und mein Leben dem Dienst des Königs in<br />

Preußen zu weihen, aber, Herr, bitte gib mir die Kraft, alle Wi<strong>der</strong>stände<br />

zu überwinden. Bitte gib mir die Kraft, Amen.»<br />

In diesem Augenblick schlug die Standuhr in <strong>der</strong> Ecke die volle<br />

Stunde, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah auf: sechs Uhr.<br />

45


«Das Tabakskollegium tagt schon seit einer Stunde, es wird<br />

höchste Zeit», murmelte er, faltete die Ärmelschoner und die<br />

Schürze sorgfältig zusammen, legte sie in eine Schublade, ging<br />

in sein Schlafzimmer, wusch Gesicht und Hände, überprüfte vor<br />

dem Spiegel den Sitz <strong>der</strong> Uniform und spürte, dass er anfi ng, sich<br />

zu entspannen. «Nun», sagte er gutgelaunt zu seinem Spiegelbild,<br />

«für den Rest des Tages bin ich nicht mehr König in Preußen, son<strong>der</strong>n<br />

nur noch <strong>der</strong> Oberst <strong>Friedrich</strong> Wilhelm von Hohenzollern.<br />

In meinem Tabakskollegium bin ich ein Offi zier wie die an<strong>der</strong>en<br />

Offi ziere.» Während er hinausging, summte er leise den Dessauer<br />

Marsch.<br />

46


6<br />

Das Tabakskollegium war ein hoher, großer, schmuckloser,<br />

weißgetünchter Raum, in dessen Mitte ein langer, blankgescheuerter<br />

Eichentisch stand, um den sich zwölf Eichenstühle mit Armlehne,<br />

aber ohne Rückenlehne gruppierten. Vor jedem Platz lag<br />

eine kurze holländische Tonpfeife in einem Futteral, auf dem Tisch<br />

standen zahlreiche gefl ochtene Körbchen mit Tabak und kupferne<br />

Feuerpfannen mit glühendem Torf, um die Pfeifen zu entzünden.<br />

Neben den Pfeifen standen Zinnkrüge mit Bier und ein Glas zum<br />

Einschenken. An einer Wand stand ein Tisch mit Brettspielen und<br />

Zeitungen aus Deutschland, Holland und Frankreich. Am oberen<br />

Ende des Tisches war <strong>der</strong> Platz des Königs, rechts von ihm saß <strong>der</strong><br />

Generalfeldmarschall Fürst Leopold von Anhalt-Dessau, <strong>der</strong> allgemein<br />

<strong>der</strong> «Alte Dessauer» genannt wurde, links von ihm Generalleutnant<br />

von Grumbkow, <strong>der</strong> erste Minister und engste Berater<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms. Die an<strong>der</strong>en Teilnehmer, Generäle und Offi -<br />

ziere, saßen je<strong>der</strong> auf den ihnen vom König zugewiesenen Plätzen.<br />

Fürst Leopold von Anhalt-Dessau war ein großer, kräftiger Mann<br />

von ungefähr vierzig Jahren. Seine ungebändigte, ungepu<strong>der</strong>te<br />

Lockenmähne und sein Schnauzbart betonten seine kriegerische<br />

Erscheinung. An jenem Abend schob er die kalte Pfeife zwischen<br />

den Zähnen herum und beobachtete die Tischgesellschaft: zwei<br />

Generäle unterhielten sich halblaut über die Bewirtschaftung ihrer<br />

Güter, zwei an<strong>der</strong>e Offi ziere lasen in den Zeitungen, die übrigen<br />

tranken, rauchten, dösten vor sich hin und warteten auf das Erscheinen<br />

des Königs.<br />

Leopold sah hinüber zu Grumbkow und sagte: «Es ist wie an<br />

jedem Abend, die erste Stunde vergeht rasch, weil man sich Neuigkeiten<br />

erzählt, dann breitet sich allmählich Langeweile aus, die<br />

Kriegsgeschichten sind inzwischen alle erzählt, und über innenpolitische<br />

Projekte ist in letzter Zeit nur selten diskutiert worden. Die<br />

Stimmung hier könnte lustiger sein, nicht wahr?»<br />

Grumbkow lächelte verbindlich und erwi<strong>der</strong>te: «Das wird sich<br />

än<strong>der</strong>n, wenn <strong>der</strong> König kommt. Seine Majestät erzählt ein Kriegs-<br />

47


erlebnis, und dann unterhalten wir uns lebhaft. Ich bin gespannt,<br />

was Seine Majestät heute erzählt.»<br />

Er trank einen Schluck und dachte: Nach einigen Krügen Bier<br />

und zu vorgerückter Stunde erzählt <strong>der</strong> König manchmal zu viel<br />

und vor allem zu offenherzig, zum Glück sind wir unter uns, weil<br />

ausländische Gesandte nie in unsere Runde eingeladen werden.<br />

Leopold betrachtete das schmale Gesicht, die gepfl egte, weißgepu<strong>der</strong>te,<br />

schulterlange Lockenperücke und die verbindliche Miene<br />

des Ministers. Er ist undurchsichtig, dachte er, höfl ich, aber aalglatt,<br />

ein Diplomat, kein Krieger, sein Generalsrang ist lächerlich,<br />

aber ich muss mich mit ihm arrangieren. Wie alt ist er jetzt? Er ist<br />

ungefähr zehn Jahre älter als <strong>der</strong> König, also Ende dreißig.<br />

«Der König», sagte Leopold, «wird wahrscheinlich vom Spanischen<br />

Erbfolgekrieg erzählen – mein Gott, wie die Zeit vergeht,<br />

in diesem Krieg haben wir uns vor zehn Jahren kennengelernt und<br />

angefreundet.»<br />

Grumbkow zündete sich eine neue Pfeife an und sagte bedächtig:<br />

«Ich wüsste eine Möglichkeit, die Stimmung in unserer Runde etwas<br />

anzuheizen, wir brauchen einen Hofnarren.»<br />

«Ein Hofnarr? Wollen Sie etwa die Gepfl ogenheiten des Versailler<br />

Hofes in Berlin einführen? Diesen Vorschlag wird <strong>der</strong> König<br />

ablehnen.»<br />

«Warten Sie ab, ich habe eine Idee.» Er sah sich in <strong>der</strong> Runde um,<br />

lächelte süffi sant und sagte: «Creutz fehlt heute, wahrscheinlich<br />

arbeitet er.»<br />

«Ich bin gespannt, wie lange er noch im vornehmen Hotel Koch<br />

wohnen wird.»<br />

Grumbkow lächelte und erwi<strong>der</strong>te: «Der Präsident des General-<br />

Finanzdirektoriums wird dort wohnen, bis er genügend Geld hat,<br />

um sich ein Stadtpalais zu bauen, und dann wird er wahrscheinlich<br />

ein junges Mädchen aus einer verarmten adeligen Familie heiraten,<br />

in <strong>der</strong> Hoffnung, durch diese Verbindung gesellschaftlich aufzusteigen;<br />

ich befürchte allerdings, dass ihm dieser Aufstieg nicht gelingt,<br />

für den märkischen Adel wird er ein Parvenü bleiben.»<br />

«Parvenü hin o<strong>der</strong> her», erwi<strong>der</strong>te Leopold gereizt, «gewiss, sein<br />

Vater war nur Amtmann und Domänenpächter, aber Creutz ist für<br />

den König unentbehrlich, weil er ein perfekter Buchhalter ist. Ich<br />

48


fi nde es richtig, dass <strong>der</strong> König bei <strong>der</strong> Besetzung wichtiger Ämter<br />

nicht auf die Herkunft, son<strong>der</strong>n auf die Fähigkeiten eines Mannes<br />

achtet.»<br />

Grumbkow lächelte erneut und erwi<strong>der</strong>te sanft: «Es ist allgemein<br />

bekannt, dass die Herkunft für Sie keine Rolle spielt.»<br />

Aha, dachte Leopold, das ist eine Anspielung auf meine Ehe,<br />

und antwortete ruhig: «Meine Ehe ist <strong>der</strong> beste Beweis, dass die<br />

Herkunft unwichtig ist. Meine Frau ist nur die Tochter eines Apothekers,<br />

aber wir sind seit vielen Jahren glücklich verheiratet und<br />

haben gesunde Söhne; Sie wissen, dass sogar <strong>der</strong> Kaiser meine Ehe<br />

anerkannte und meine Frau zur Landesfürstin ernannte, manchmal<br />

denke ich, dass es Zeit ist, den Stammbaum nicht mehr so wichtig<br />

zu nehmen – ein Staat wie Preußen, <strong>der</strong> am Beginn des Aufbaues<br />

steht, muss in vielen Angelegenheiten des täglichen Lebens toleranter<br />

sein, und <strong>der</strong> König geht mit gutem Beispiel voran, er duldet<br />

zum Beispiel jede Religion in seinem Staat.»<br />

Er nahm den leeren Bierkrug, ging in den Nebenraum, und<br />

während er Ducksteiner Bier aus Königslutter zapfte, murmelte er:<br />

«Wie angenehm, dass man sich hier selbst bedienen muss, es ist<br />

so gemütlicher, und die Lakaien hören nicht, worüber gesprochen<br />

wird.»<br />

Er trank einen Schluck, ging zu dem Tisch in <strong>der</strong> Mitte des<br />

Raumes und betrachtete hungrig die langen gelben Käselaibe unter<br />

den Glasglocken, das frische dunkle Roggenbrot, die goldene<br />

Butter, die braunen Holzteller, die Servietten aus weißem Leinen,<br />

die zweizackigen zinnernen Gabeln, die stählernen Messer mit den<br />

beigen Hirschhorngriffen, die grünen Weinfl aschen.<br />

«Darf ich es wagen, mir ein Stück Käse zu nehmen?», sagte er<br />

leise zu sich selbst. «Nein, ich darf es nicht wagen, ich muss warten,<br />

bis <strong>der</strong> König mit <strong>der</strong> Abendmahlzeit beginnt.»<br />

Er ging zurück in das Tabakskollegium, sah auf die Uhr und<br />

schob die kalte Pfeife in seinem Mund umher.<br />

Wenige Minuten später betrat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm den Raum, und<br />

alle klopften zur Begrüßung auf den Tisch. Keiner <strong>der</strong> Anwesenden<br />

stand auf, weil dies im Tabakskollegium nicht üblich war.<br />

«Guten Abend», rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm gutgelaunt, «ich konnte<br />

nicht früher kommen wegen <strong>der</strong> Staatsgeschäfte.»<br />

49


Er nahm seinen Krug, ging in das Nebenzimmer, überlegte, ob er<br />

Ducksteiner Bier o<strong>der</strong> Köpenicker Moll zapfen sollte, entschied sich<br />

für das Bier aus Köpenick, ging zurück in das Kollegium, schenkte<br />

sich ein, leerte das Glas in einem Zug und sagte: «Das erste Glas<br />

Bier schmeckt am besten.»<br />

Dann entzündete er seine Pfeife und sagte: «Die erste Pfeife<br />

schmeckt am besten», und zu Leopold: «Wollen Sie nicht auch anfangen,<br />

richtig zu rauchen? Das Rauchen einer Pfeife schärft den<br />

Geist und erhöht die Aufmerksamkeit.»<br />

«Majestät, Sie wissen, dass ich den Tabak nicht mag. Sie haben<br />

mir erlaubt, nicht zu rauchen, und Sie wünschen, dass ich wenigstens<br />

so tue und eine kalte Pfeife im Mund habe, ich bitte Sie, erlassen<br />

Sie mir das Rauchen.»<br />

«Ihre Bitte ist Ihnen gewährt», sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, betrachtete<br />

gutgelaunt die Männerrunde, trank Bier, rauchte, so vergingen<br />

einige Minuten.<br />

Leopold wusste von dem nachmittäglichen Besuch des Schweden<br />

im Schloss und sagte vorsichtig: «Es geht mich zwar nichts an, aber<br />

die Neugier zwickt mich, ich hoffe, <strong>der</strong> Wahrsager Cron hat dem<br />

Haus Hohenzollern eine glückliche Zukunft prophezeit.»<br />

«Gewiss, sofern man diesen Astrologen glauben darf.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm füllte sein Glas, zündete sich eine neue Pfeife<br />

an und fuhr fort: «Mein Fiek … meine Frau wird eine gesunde<br />

Tochter gebären», und er berichtete, was <strong>der</strong> Schwede den beiden<br />

ältesten Kin<strong>der</strong>n prophezeite.<br />

Grumbkow unterdrückte ein Lächeln, weil <strong>der</strong> König es auch in<br />

dieser Runde vermied, den Kosenamen «Fiekchen» auszusprechen.<br />

Er ist prüde, dachte <strong>der</strong> Minister, <strong>der</strong>be Soldatenwitze sind im<br />

Tabakskollegium erlaubt, Zoten hingegen streng untersagt. Der<br />

König achtet die Frauen, aber etwas mehr Galanterie von seiner<br />

Seite würde den langweiligen Hof beleben.<br />

Er zuckte zusammen, als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm ihn ansah und sagte:<br />

«Ilgen hat gute Arbeit geleistet, was die Friedensverhandlungen mit<br />

Schweden betrifft, wir werden wahrscheinlich Stettin und einen Teil<br />

Vorpommerns zwischen O<strong>der</strong> und Peene bekommen, mit den Inseln<br />

Usedom und Wollin. Es ist zwar nur ein kleines Territorium, aber<br />

<strong>der</strong> Traum meines Großvaters, des Großen Kurfürsten, hat sich nun<br />

50


endlich erfüllt: wir besitzen die O<strong>der</strong>mündung, und Stettin wird zur<br />

Hafenstadt Berlins werden, so haben wir einen Fuß am Meer und<br />

nehmen am Welthandel teil, allerdings verlangen die Schweden zwei<br />

Millionen Taler dafür, nun ja, Ilgen wird weiter verhandeln.»<br />

Grumbkow verbarg seinen Ärger und erwi<strong>der</strong>te lächelnd: «Ich<br />

beglückwünsche Eure Majestät.»<br />

Das hätte ich auch ausgehandelt, dachte er, warum hat <strong>der</strong> König<br />

den Außenminister seines Vaters im Amt belassen? Ich bin diesem<br />

Ilgen auf dem diplomatischen Parkett ebenbürtig.<br />

«Die O<strong>der</strong>mündung ist für Ihren Handel natürlich wichtig»,<br />

sagte Leopold, «aber es wäre noch besser, wenn die ganze O<strong>der</strong> zu<br />

Preußen gehören würde.»<br />

«Das würde bedeuten», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «dass ich<br />

den Habsburgern Schlesien wegnehme; ich hasse Kriege und beson<strong>der</strong>s<br />

Angriffskriege. Gegen die Schweden habe ich gekämpft,<br />

weil <strong>der</strong> Nordische Krieg zwischen Schweden und Russland sich<br />

vor <strong>der</strong> Haustür Berlins, nämlich bei Stettin abspielte, so kam es<br />

zum Krieg gegen Schweden.»<br />

«Es war ein Verteidigungskrieg», sagte Leopold, «was Schlesien<br />

betrifft, so besitzt das Haus Hohenzollern doch gewisse Erbansprüche?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm erwi<strong>der</strong>te: «Erstens: diese Erbansprüche sind<br />

vermo<strong>der</strong>t, zweitens: als Kurfürst von Brandenburg bin ich ein<br />

Reichsfürst, das heißt, ein Vasall des Kaisers, und ich werde nie<br />

die Waffen gegen den Kaiser erheben, ich bin ein treuer Diener des<br />

Hauses Habsburg.»<br />

Er erhob sein Glas und rief: «Es lebe <strong>der</strong> Kaiser! Auf Germania<br />

teutscher Nation! Ein Hundsfott, <strong>der</strong>‘s nicht von Herzen meint!»<br />

Die Anwesenden wie<strong>der</strong>holten den Trinkspruch, und dann wurden<br />

Erlebnisse aus dem letzten Krieg gegen Schweden erzählt. Der<br />

«Alte Dessauer» und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm hörten eine Weile zu,<br />

dann sagte Leopold nachdenklich: «Schweden ist keine europäische<br />

Großmacht mehr seit Karls XII. Nie<strong>der</strong>lage bei Poltawa im<br />

Juli 1709, diesen Sieg über die Schweden wird Russland nutzen und<br />

versuchen, sich als neue nordosteuropäische Großmacht zu etablieren.<br />

Zar Peter versucht seit seinem Regierungsantritt, Russland zu<br />

zivilisieren und wirtschaftlich zu entwickeln.»<br />

51


«Er verfolgt die gleichen Ziele wie ich», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> Wilhelm,<br />

«ein Staat muss viel exportieren und so wenig wie möglich<br />

importieren. Seit meiner Thronbesteigung ist es mir tatsächlich gelungen,<br />

einheimische Manufakturen aufzubauen, die unsere Wolle<br />

selbst verarbeiten. Preußen ist inzwischen unabhängig von teurer<br />

Importware, die inländische Tuchproduktion blüht und kann unbedenklich<br />

gesteigert werden, weil die Armee ständig neues Tuch<br />

für die Uniformen benötigt. Allerdings ist Russland, was die wirtschaftliche<br />

Entwicklung betrifft, viel weiter zurück als Preußen.<br />

Übrigens, ich habe mir vorhin die Langen Kerls aus Russland angesehen,<br />

es sind Prachtburschen, und sie haben mich keinen Pfennig<br />

gekostet. Allerdings, nun ja, mein Freund Peter erwartet natürlich<br />

eine Gegengabe, ich weiß auch, was er sich wünscht: holländische<br />

Handwerker. Ich könnte sie ihm beschaffen, aber ich benötige<br />

selbst dringend Maurer, Zimmerleute, Glaser. Ich weiß nicht, was<br />

ich ihm schenken könnte.»<br />

Er entzündete eine neue Pfeife, dachte einen Augenblick nach<br />

und sagte: «Der Zar liebt den Prunk, ich würde ihm gerne eine<br />

Kostbarkeit schenken, aber sie darf natürlich nicht viel kosten, haben<br />

Sie eine Idee?»<br />

Leopold trank einen Schluck Bier, bewegte die kalte Pfeife zwischen<br />

den Zähnen und erwi<strong>der</strong>te: «Ein kostbares Geschenk, das<br />

nicht viel kostet? Ich glaube, so etwas gibt es nicht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm dachte nach und schlug plötzlich gutgelaunt<br />

mit <strong>der</strong> Faust auf den Tisch: «Es gibt ein wertvolles Geschenk, das<br />

mich keinen Pfennig kostet, das Bernsteinzimmer meines seligen<br />

Vaters.»<br />

Leopold nahm die Pfeife aus dem Mund und starrte den König<br />

fassungslos an.<br />

«Wollen Sie wirklich dieses einzigartige, kostbare Zimmer dem<br />

Zaren schenken?»<br />

«Ja, anno 12, als Peter in Berlin weilte, hat er dieses Zimmer bestaunt<br />

und bewun<strong>der</strong>t, er wird sich darüber freuen, und das prunkvolle<br />

Lustschiff meines Vaters werde ich ihm ebenfalls schenken.<br />

Ich habe diesen ganzen Plun<strong>der</strong> nie gemocht. Das Bernsteinzimmer<br />

ist im prachtvollen Palais des Zaren in Petersburg gut aufgehoben.»<br />

52


«Das Bernsteinzimmer», murmelte Leopold, «ausgerechnet das<br />

Bernsteinzimmer.»<br />

«Beruhigen Sie sich, lieber Freund, es gibt wichtigere Dinge. Einer<br />

meiner Werber kann in Norwegen einen Langen Kerl kaufen,<br />

<strong>der</strong> über acht Fuß groß ist, Jonas Henrikson, ein Schmiedeknecht.<br />

Man verlangt 6 000 Taler, ich weiß noch nicht, ob ich ihn kaufe.<br />

Bisher habe ich für Männer dieser Größe nur 4 000 Taler bezahlt,<br />

ich werde handeln, vielleicht muss ich nur 5 000 zahlen. Meine fi -<br />

nanzielle Lage erlaubt es zwar nicht, aber das Angebot ist zu verlockend.<br />

Was meinen Sie, soll ich den Norweger kaufen?»<br />

Leopold lächelte, er wusste, dass sein königlicher Freund eine Ermunterung<br />

erwartete, und antwortete: «Kaufen Sie den Norweger,<br />

Sie verfügen doch über die Einnahmen aus <strong>der</strong> ‹Rekrutenkasse›.»<br />

Er lächelte vielsagend, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm brummte zufrieden:<br />

«Sie haben recht, diese Kasse ist immer gut gefüllt, die Juden zahlen<br />

am meisten ein, im letzten Monat wollten zehn Juden heiraten,<br />

das bedeutet ein Plus von 10 000 Talern für diese Kasse, 1 000 Taler<br />

pro Judenheirat sind angemessen, nicht wahr?»<br />

«Selbstverständlich, zumal die Juden von ihren Schuldnern Wucherzinsen<br />

verlangen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schmunzelte: «Die verwitwete Freifrau von<br />

Kniephausen hat ein uneheliches Kind geboren und sich mit 13 000<br />

Talern von <strong>der</strong> Schande freigekauft», er beugte sich zu Leopold und<br />

fl üsterte: «Unter uns, diese ‹illegale Kasse› bringt mir monatlich<br />

ungefähr 40 000 Taler ein. Ich werde den Norweger kaufen, egal<br />

was er kostet.»<br />

Er hob sein Glas und rief in die Runde: «Es lebe <strong>der</strong> Kaiser! Auf<br />

Germania teutscher Nation! Ein Hundsfott, <strong>der</strong>‘s nicht von Herzen<br />

meint!»<br />

Während die Tischrunde den Trinkspruch wie<strong>der</strong>holte, ging<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm in den Nebenraum und belud einen Teller mit<br />

Brot, Butter und Käse.<br />

Die Anwesenden folgten ihm, und für eine Weile erstarb die Unterhaltung,<br />

weil alle ihren Hunger stillten, nur Grumbkow schob<br />

den Käse auf seinem Teller hin und her und dachte: Nachher erwartet<br />

mich in meinem Palais ein raffi niertes Souper mit frischen<br />

Austern und einem Kalbsbraten, dazu werde ich eine Flasche wei-<br />

53


ßen Burgun<strong>der</strong> trinken; dieser Käse riecht einfach wi<strong>der</strong>lich, ordinär.<br />

Er schob seufzend ein Stückchen Tilsiter in seinen Mund und<br />

spülte den Käse mit einem Schluck Bier hinunter.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm legte ein großes Stück Käse auf seine dick<br />

mit Butter bestrichene Brotscheibe und sagte zu Leopold: «Die<br />

Domäne in Tilsit, die diesen Käse herstellt, ist ein erfreulicher<br />

Fortschritt in meinem Königreich, ansonsten … die preußischen<br />

Junker sind noch wi<strong>der</strong>spenstiger als <strong>der</strong> märkische Adel, aber ich<br />

werde die Herren zur Raison bringen. Überall in Europa fühlt<br />

sich <strong>der</strong> Adel dem Landesfürsten ebenbürtig, überall versucht <strong>der</strong><br />

Adel, seine Privilegien zu stabilisieren. Alte Monarchien können<br />

den Herrschaftsanspruch <strong>der</strong> Aristokratie verkraften, aber in einer<br />

jungen Monarchie wie Preußen müssen die Junker sich als<br />

Preußen fühlen und dem König mit Haut und Haaren, mit Leib<br />

und Seele dienen. Sie müssen ihren Teil zum Aufbau des Landes<br />

beitragen.»<br />

Er hob sein Glas und rief: «Meine Herren, ich ruiniere die Autorität<br />

<strong>der</strong> Junker und stabilisiere meine Souveränität wie einen<br />

rocher von bronce!»<br />

Die Anwesenden sahen einan<strong>der</strong> unsicher an, prosteten ihrem<br />

König zu, und während <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sein Glas in einem Zug<br />

leerte, dachte er: Warum soll ich in dieser Runde nicht etwas von<br />

meinen geheimen Plänen verraten – eine Andeutung genügt, dann<br />

können die Herren darüber nachdenken, was gemeint ist. Und er<br />

rief gutgelaunt: «Auf das Wohl des preußischen Offi zierskorps!<br />

Auf Germania teutscher Nation! Ein Hundsfott, <strong>der</strong>‘s nicht von<br />

Herzen meint!»<br />

«Auf das Wohl des preußischen Offi zierskorps!», rief einer <strong>der</strong><br />

Generäle, und die übrigen Generäle und Offi ziere wie<strong>der</strong>holten<br />

den Trinkspruch.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging in das Nebenzimmer, füllte seinen Bierkrug,<br />

belud seinen Teller erneut mit Brot, Butter und Käse, und<br />

während er aß und trank, betrachtete er zufrieden die Offi ziere<br />

und dachte: Wenn mein Plan gelingt, sind die störrischen Junker in<br />

einigen Jahren entmachtet.<br />

Grumbkow trank einen Schluck Bier und überlegte: Der König<br />

will den Adel entmachten? Gütiger Himmel, wie? Er kann sich<br />

54


nicht mit dem Adel verfeinden, aber er plant etwas, und bis jetzt<br />

waren seine Pläne immer gut durchdacht.<br />

Er beobachtete den König, und als dieser sich behaglich zurücklehnte<br />

und eine Pfeife entzündete, begann Grumbkow eine Unterhaltung<br />

mit seinem Nachbarn, wobei er <strong>Friedrich</strong> Wilhelm unauffällig<br />

beobachtete, und als dieser sich zu Leopold beugte, versuchte<br />

er, dem halblauten Gespräch zwischen dem König und dem «Alten<br />

Dessauer» zu lauschen.<br />

«Was haben Sie mit den Junkern vor?», fragte Leopold vorsichtig.<br />

«Lieber Freund, Sie wissen, dass ich Frankreich und die Franzosen<br />

verabscheue, dieses Volk ist geziert, affektiert, effeminiert,<br />

und Versailles ist kein Hof, son<strong>der</strong>n Sodom und Gomorrha. Ich<br />

verstehe nicht, dass je<strong>der</strong> deutsche Fürst Versailles nachäfft, aber<br />

in einer Angelegenheit ist <strong>der</strong> tote Sonnenkönig für mich ein Beispiel:<br />

es ist ihm gelungen, die Macht des französischen Adels zu<br />

brechen – und wie? Er hat sein Schloss Versailles zum Zentrum<br />

Frankreichs gemacht und die Edelleute dorthin gelockt, indem er<br />

ihnen überfl üssige Hofämter anbot und sie davon überzeugte, dass<br />

es eine Ehre sei, ihm, dem König, am Morgen das Hemd zu reichen<br />

o<strong>der</strong> seinen Leibstuhl zu tragen; diese Zeremonien gab es zwar am<br />

französischen Hof schon seit mehreren Generationen, aber Ludwig<br />

XIV. hat sie zur ‹Ehre› hochstilisiert, mit dem Ergebnis, dass<br />

ein Graf lieber in einer ungemütlichen Dachkammer in Versailles<br />

wohnt als in einem seiner bequemen Schlösser in <strong>der</strong> Provinz. Ich<br />

habe einen ähnlichen Plan entwickelt. Meine fi nanzielle Lage erlaubt<br />

es nicht, ein Versailles zu erbauen, aber ich kann mir eine<br />

Armee leisten, die den Etat nicht weiter belastet; diese Armee ist<br />

das Zuckerbrot, mit dem ich die Junker entmachte und locke.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: «Die Verpfl ichtung<br />

des Adels zur Heerfolge im Krieg ist militärisch inzwischen sinnlos,<br />

da ich in Preußen ein stehendes Heer aufbaue; ich werde also<br />

die Lehensgüter in Eigentumsgüter umwandeln, dafür müssen die<br />

Junker eine jährliche Summe an die Kriegskasse entrichten. Das ist<br />

<strong>der</strong> erste Schritt.»<br />

«Die Junker werden opponieren und sich darauf berufen, dass Ihr<br />

seliger Großvater, <strong>der</strong> ‹Große Kurfürst›, anno 1653 die Privilegien<br />

des Adels erneut bestätigt hat, nämlich Steuerfreiheit, Staatsdienst<br />

55


nur freiwillig o<strong>der</strong> im Kriegsfall, volles Verfügungsrecht über die<br />

bäuerlichen Abgaben und Frondienste, uneingeschränkte Obrigkeitsrechte<br />

über Gut und Dorf. Die Junker werden sofort erkennen,<br />

dass sie in eine politisch-fi nanzielle Abhängigkeit vom Staat gebracht<br />

werden sollen.»<br />

«Ich weiß, deshalb werde ich von Provinz zu Provinz reisen, mit<br />

jedem Junker persönlich verhandeln und die Herren gegeneinan<strong>der</strong><br />

ausspielen.»<br />

«Nun gut, aber <strong>der</strong> Adel wird sich irgendwann zu einer neuen<br />

‹Fronde› gegen Sie formieren.»<br />

«Das werde ich verhin<strong>der</strong>n, indem ich den Junkern ein Versailles<br />

anbiete, nämlich das preußische Offi zierskorps. Ich selbst werde<br />

künftig nur noch die Uniform eines Obersten tragen, das ist mein<br />

militärischer Rang; meine Uniform soll für den Adel zum Vorbild<br />

werden. Dann werde ich den Junkern allmählich beibringen, dass<br />

<strong>der</strong> Dienst in meiner Armee eine Ehre ist. Das geht nicht von heute<br />

auf morgen, sie müssen erzogen werden: künftig kann in Preußen<br />

nur ein Junker Offi zier werden, kein Bürgerlicher, mag er noch so<br />

reich sein. Die Söhne des Adels werden in Kadettenanstalten erzogen,<br />

wo sie lernen, dass ein Junker Offi zier werden muss, weil<br />

es zu seiner adeligen Standesehre gehört. Sie müssen begreifen,<br />

dass es eine Ehre ist, zum Offi zierskorps zu gehören, ich werde sie<br />

persönlich nach <strong>der</strong> Ausbildung zu Offi zieren ernennen, und sie<br />

werden rasch lernen, dass nur, wer Offi zier ist, zum Ersten Stand<br />

und zur gesellschaftlichen Elite gehört. Sie werden lernen, dass sie<br />

über den Hofbeamten rangieren, dass ihre schlichte Uniform über<br />

dem goldbetressten Staatsrock eines Ministers steht; das künftige<br />

preußische Offi zierskorps wird <strong>der</strong> erste und vornehmste Stand des<br />

Staates sein. Diese Ehre wird dem dünkelhaften, aufsässigen Hochmut<br />

<strong>der</strong> Junker schmeicheln; allerdings verlange ich auch etwas<br />

für die Ehre, zur Elite des Staates zu gehören: absoluten Gehorsam<br />

gegenüber dem militärischen Vorgesetzten, absolute Bewahrung<br />

<strong>der</strong> Standesehre – das bedeutet Fleiß, Gottesfurcht, Sauberkeit und<br />

Sparsamkeit, weil meine Offi ziere nur einen geringen Sold erhalten<br />

werden. Sie dürfen nicht saufen, huren o<strong>der</strong> Schulden machen.<br />

Dazu zählen vor allem Spielschulden, dies sind Verstöße gegen ihre<br />

Ehre; ich verlange von meinen künftigen Offi zieren Treue gegen-<br />

56


über dem König, Bewahrung <strong>der</strong> Standesehre und unermüdliche<br />

Pfl ichterfüllung im Dienst. Das ist wahrhaftig nicht zu viel verlangt,<br />

wenn man als Offi zier zur Elite des Staates gehört.»<br />

Er trank einen Schluck Bier, zündete sich eine neue Pfeife an<br />

und sagte gutgelaunt: «Das preußische Offi zierskorps ist das preußische<br />

Versailles.»<br />

Leopold erwi<strong>der</strong>te: «Ihre Idee ist faszinierend. Sie entmachten<br />

den Adel, binden ihn aber durch die Zugehörigkeit zum Offi zierskorps<br />

an die Krone wie kein an<strong>der</strong>er deutscher Fürst.»<br />

Der Dessauer hat recht, überlegte Grumbkow, die ausländischen<br />

Fürsten lachen über die Langen Kerls, aber sie sollten den preußischen<br />

König nicht unterschätzen; er baut nicht nur seine Armee<br />

auf, son<strong>der</strong>n auch ein Offi zierskorps, das diese Armee befehligen<br />

kann.<br />

Er zündete sich eine neue Pfeife an und sagte bedächtig zu <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm: «Euer Majestät erinnern sich vielleicht an einen<br />

gewissen Jacob Paul Gundling, er war unter <strong>der</strong> Regierung König<br />

<strong>Friedrich</strong>s I. Professor an <strong>der</strong> Akademie, königlicher Historiograph<br />

und Rat beim Oberheroldsamt, er ist inzwischen dreiundvierzig<br />

Jahre, seit dem Regierungswechsel ohne Stellung und unterhält die<br />

Gäste in <strong>der</strong> Weinschenke des Wirtes Bleuset. Er liest die Zeitung<br />

vor, macht seine Späße, und er hat bei Bleuset freie Zeche, weil er<br />

die Gäste mit seinen Anekdoten und Vorträgen bestens unterhält.<br />

Wäre dieser Mann nicht geeignet, das Tabakskollegium hin und<br />

wie<strong>der</strong> zu amüsieren?»<br />

«Gundling?», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Ich entsinne mich,<br />

ich werde über Ihren Vorschlag nachdenken.»<br />

57


58<br />

7<br />

An <strong>der</strong> Tafel <strong>der</strong> Königin trugen die Diener das englisch gebratene<br />

Roastbeef auf, und als <strong>der</strong> Küchenmeister begann, das Fleisch<br />

in Scheiben zu schneiden, sahen die Anwesenden, dass es nur halb<br />

gebraten war und Blut auf die Platten fl oss. Die Hofl eute sahen einan<strong>der</strong><br />

befremdet an und überlegten, ob es möglich war, halbrohes<br />

Fleisch zu essen.<br />

Sophie Dorothea betrachtete zufrieden die Scheibe Roastbeef<br />

auf ihrem Teller, schnitt ein winziges Stück ab, und die Unterhaltung<br />

erstarb, weil alle die Königin beobachteten und ebenfalls versuchten,<br />

kleine Stücke abzuschneiden. Der Kronprinz legte nach<br />

einer Weile das Messer ermüdet zur Seite, und seine Mutter befahl<br />

einem Diener, das Fleisch zu schneiden. Wilhelmine beobachtete<br />

den Diener: Ob ich ihn bitte, auch mir behilfl ich zu sein? Nein,<br />

Mama würde mich tadeln, weil ich schon alt genug bin, um ohne<br />

Hilfe Messer und Gabel zu gebrauchen, und die Leti würde mich,<br />

wenn wir allein sind, prügeln. Sie versuchte, das Fleisch zu schneiden,<br />

was ihr schließlich auch gelang.<br />

<strong>Friedrich</strong> nahm die zweizinkige zinnerne Gabel, spießte ein<br />

Stück Fleisch auf, und während er kaute, betrachtete er das Silbergeschirr<br />

seiner Mutter und ihre dreizinkige silberne Gabel.<br />

Mama ist eine beson<strong>der</strong>e Frau, überlegte er, weil nur an ihrem<br />

Platz Silbergeschirr gedeckt ist, wir Übrigen speisen von Zinntellern,<br />

sogar Papa, und er ist <strong>der</strong> König. Seit meinem letzten Geburtstag<br />

darf ich an <strong>der</strong> Tafel teilnehmen und sitze links von Papa.<br />

Er schluckte das Fleischstückchen hinunter, sah sich in <strong>der</strong> Runde<br />

um und dachte: Ich sitze neben Papa, weil ich <strong>der</strong> künftige König<br />

bin.<br />

Sophie Dorothea sah die Erzieherin ihrer Tochter an und sagte:<br />

«Haben Sie die Prinzessin über die Dynastie <strong>der</strong> Welfen unterrichtet?»<br />

«Selbstverständlich, Majestät.»<br />

Sophie Dorothea betrachtete ihre Tochter: «Was wissen Sie über<br />

Ihre Vorfahren?»


Wilhelmine zuckte zusammen, zögerte einen Augenblick und<br />

antwortete: «Meine Ahnin, die schottische Königin Maria Stuart,<br />

hatte einen Sohn, Jakob I. von England; seine Tochter Elisabeth vermählte<br />

sich mit dem Kurfürsten von <strong>der</strong> Pfalz, ihre Söhne starben,<br />

nur die jüngste Tochter Sophie überlebte die Geschwister. Sie vermählte<br />

sich mit dem Kurfürsten von Hannover. Ihr Sohn ist Georg<br />

I., <strong>der</strong> König von England, er ist mein Großvater; das englische<br />

Parlament hat ihn zum König ernannt, weil er <strong>der</strong> letzte männliche<br />

Stuart ist. Eine Tochter <strong>der</strong> Kurfürstin Sophie, Charlotte, war die<br />

Gemahlin König <strong>Friedrich</strong>s I., er war mein Großvater. Sie, Mama,<br />

Sie sind die Tochter des Königs von England und des Kurfürsten von<br />

Hannover.»<br />

Sophie Dorothea sah sich lächelnd in <strong>der</strong> Tischrunde um, ihre<br />

großen blauen Augen strahlten kühl, und die Damen und Herren<br />

an <strong>der</strong> Tafel spürten, dass die gebürtige Welfenprinzessin weit über<br />

ihnen stand.<br />

«Meine Tochter, ich bin zufrieden mit Ihnen. Sie dürfen nie<br />

vergessen, dass auch Sie eine Welfi n sind, diese Dynastie gehört<br />

zu den ältesten Häusern Europas, die Welfen waren bereits im 11.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t mächtig, damals waren die Namen Habsburg und Hohenzollern<br />

noch unbekannt.»<br />

Wilhelmine atmete auf, als sie von ihrer Mutter gelobt wurde.<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät», begann Fräulein Leti, «die<br />

Prinzessin kennt inzwischen auch den Stammbaum des Hauses<br />

Hohenzollern, wenn Eure Majestät erlauben, wird die Prinzessin<br />

die Kurfürsten von Brandenburg aufzählen, sie weiß die Lebensdaten<br />

und die Regierungszeiten, angefangen bei <strong>Friedrich</strong> I., <strong>der</strong> bis<br />

1411 Burggraf von Nürnberg war.»<br />

Sophie Dorothea musterte die Erzieherin herablassend und erwi<strong>der</strong>te<br />

gereizt: «Die Hohenzollern sind nicht so wichtig, und in dieser<br />

Runde interessiert sich niemand für den Burggrafen von Nürnberg.<br />

Die Geschichte des Hauses Hohenzollern beginnt am 18. Januar<br />

1701, als mein seliger Schwiegervater <strong>Friedrich</strong> I. sich in Königsberg<br />

krönte und König in Preußen wurde», und zu <strong>Friedrich</strong>: «Du darfst<br />

nie vergessen, dass du ein halber Welfe bist», und zu Wilhelmine:<br />

«Sie werden am 3. Juli sieben Jahre alt, und Sie wissen, dass dann<br />

ein strenger Unterricht beginnt; Sie sprechen zwar schon fl ießend<br />

59


Französisch und Italienisch, aber nun werden Sie auch die lateinische<br />

Sprache lernen, außerdem Spanisch und Englisch. Vor allem Englisch,<br />

außerdem Tanzen, Zeichnen, Musik, Rhetorik, Literatur und<br />

Philosophie. Aber am wichtigsten ist, dass Sie die englische Sprache<br />

beherrschen. Irgendwann wird Ihr Großvater, <strong>der</strong> König von England,<br />

uns besuchen, und dann erwarte ich, dass Sie sich mit ihm<br />

und seiner Begleitung geistreich auf Englisch unterhalten können.<br />

Es ist wichtig, dass Sie viel lernen, irgendwann werden Sie einen<br />

König heiraten, einen reichen König, keinen ‹Bettelkönig› wie Ihren<br />

Vater, <strong>der</strong> keinen Pfennig für ein bisschen Luxus erübrigt. Sie<br />

werden einmal standesgemäß Hof halten und es hoffentlich besser<br />

haben als ich.»<br />

«Ja, Mama», erwi<strong>der</strong>te Wilhelmine schüchtern, «ich werde viel<br />

lernen, vor allem Englisch.»<br />

Warum ist mein Papa ein Bettelkönig?, fragte sie sich.<br />

Die Anwesenden sahen einan<strong>der</strong> verlegen an, und Frau von Kamecke<br />

sagte leise zu ihrem Tischnachbarn: «Ich fi nde es peinlich,<br />

dass sie sich ständig über die Sparsamkeit des Königs beklagt. Wir<br />

müssen nun einmal sparen, warum fi ndet sie sich nicht damit ab?»,<br />

und zu Sophie Dorothea: «Majestät, ich habe heute zum ersten Mal<br />

englisch gebratenes Rindfl eisch gegessen, die englische Küche ist<br />

originell.»<br />

«Ich freue mich, dass es Ihnen gemundet hat», und zu Wilhelmine:<br />

«Sie wissen, dass Sie zusätzlich zum Klavier noch ein weiteres<br />

Instrument erlernen müssen, haben Sie sich inzwischen entschieden?»<br />

«Ja, Mama, ich möchte gerne das Lautenspiel lernen.»<br />

«Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Wahl. Ihre Ahnin, Maria Stuart,<br />

hat die Laute meisterhaft gespielt.»<br />

Gütiger Himmel, dachte Frau von Kamecke, wie kann man auf<br />

eine Ahnin stolz sein, die es zuließ, dass ihr Gatte ermordet wurde,<br />

und die von ihren Lords zur Abdankung gezwungen wurde.<br />

Sophie Dorothea überlegte und sagte zu Fräulein Leti: «Meine<br />

Tochter wird ab morgen das Lautenspiel lernen, ich wünsche nicht,<br />

dass deswegen eine an<strong>der</strong>e Unterrichtsstunde ausfällt, sie wird also<br />

eine Stunde länger, bis sechs Uhr, unterrichtet werden. Bis zur Abendtafel<br />

bleibt dann noch genug Zeit für Spiel und Entspannung.»<br />

60


<strong>Friedrich</strong> erschrak, als er dies hörte. Bis sechs Uhr Unterricht,<br />

dachte er, das bedeutet, dass ich noch weniger Zeit mit Wilhelmine<br />

verbringen darf. Er sah seine Mutter bittend an: «Mama, darf ich<br />

anwesend sein, wenn Wilhelmine das Lautenspiel lernt? Ich verspreche<br />

Ihnen, dass ich nicht stören werde, aber ich möchte bei<br />

meiner Schwester sein.»<br />

Sophie Dorothea betrachtete den Sohn und dachte nach: Die<br />

Geschwister hängen aneinan<strong>der</strong>, Fritz ist ein stilles Kind, er wird<br />

wahrscheinlich während des Unterrichts ruhig in einer Ecke sitzen,<br />

überdies bietet sich hier eine Gelegenheit, die Bildung des<br />

künftigen Königs in eine Richtung zu lenken, die mir genehm ist.<br />

Sie lächelte <strong>Friedrich</strong> an: «Du darfst selbstverständlich beim Unterricht<br />

deiner Schwester zuhören, mon bijou. Aber ich habe noch<br />

eine an<strong>der</strong>e Idee, es wird allmählich Zeit, dass auch du lernst, ein<br />

Instrument zu spielen, ihr würdet zusammen in <strong>der</strong> Musik unterrichtet.<br />

Welches Instrument würde dir gefallen, mon bijou?»<br />

<strong>Friedrich</strong> glaubte, nicht richtig zu hören: gemeinsamer Musikunterricht<br />

mit <strong>der</strong> Schwester – sein Herz begann vor Aufregung<br />

zu klopfen, und er fühlte sich unendlich glücklich. Er strahlte seine<br />

Mutter dankbar an und stammelte: «Vielen Dank, Mama.» Dann<br />

überlegte er, welches Instrument er lernen wollte: Klavier? Cembalo?<br />

Geige? Laute?<br />

Plötzlich erinnerte er sich an die Parade, die er im Frühling des<br />

vergangenen Jahres von einem Schlossfenster aus gesehen hatte: auf<br />

dem Exerzierplatz hinter dem Schloss marschierte das Musikkorps<br />

auf, Trommler, Trompeter und Flötisten … er erinnerte sich an die<br />

Querfl öten, irgendwann verstummten die an<strong>der</strong>en Instrumente<br />

und er hörte nur noch das weiche, sanfte melodische Flötenspiel …<br />

«Mama, ich möchte lernen, die Flöte zu spielen.»<br />

«Du hast dir ein wun<strong>der</strong>bares Instrument ausgesucht, mon bijou»,<br />

und zu Madame de Roucoulles: «Besorgen Sie für den Kronprinzen<br />

eine Querfl öte!»<br />

«Mama», rief <strong>Friedrich</strong> spontan, «wenn Sie in Monbijou weilen,<br />

werden Wilhelmine und ich Ihnen und den Damen vorspielen!»<br />

Sophie Dorothea sah sich stolz in <strong>der</strong> Tischrunde um: «Meine<br />

Damen, meine Herren, ich glaube <strong>der</strong> künftige preußische König<br />

wird ein musischer König sein.»<br />

61


Am unteren Ende <strong>der</strong> Tafel unterhielt man sich leise über das<br />

Roastbeef: «Es geht doch nichts über die französische Küche, die<br />

englische Küche ist barbarisch, halbrohes Fleisch, es ist einfach wi<strong>der</strong>lich.»<br />

«Ich verstehe, dass die Königin für englische Lebensgewohnheiten<br />

schwärmt, aber manchmal vergisst sie, dass ihr Vater bis<br />

vor zwei Jahren nur Kurfürst von Hannover war. Gewiss, in seinen<br />

A<strong>der</strong>n fl ießt Stuartblut, aber er hat es einem Beschluss des<br />

englischen Parlaments zu verdanken, dass er König wurde, und er<br />

ist zwar <strong>der</strong> König eines reichen Landes, aber bei allen wichtigen<br />

Entscheidungen redet das Parlament mit, und er muss die Entscheidungen<br />

des Parlaments akzeptieren. Er ist <strong>der</strong> einzige Fürst<br />

in Europa, <strong>der</strong> innenpolitisch völlig machtlos ist. Im Gegensatz zu<br />

unserem König.»<br />

«Sie haben recht, England wird für unsere Königin allmählich<br />

zur fi xen Idee, so wie die Langen Kerls für unseren König.»<br />

Eine Stunde später kniete <strong>Friedrich</strong> vor seinem Bett und sprach<br />

das Abendgebet. Madame de Roucoulles stand neben ihm, und als er<br />

nach den ersten Sätzen immer schneller das Gebet herunterleierte,<br />

unterbrach sie ihn: «Königliche Hoheit, wie oft soll ich Ihnen noch<br />

sagen, dass Sie langsam und andächtig beten sollen! Ein rasches<br />

Gebet hört <strong>der</strong> liebe Gott nicht, <strong>der</strong> liebe Gott weiß, dass Sie während<br />

des Gebetes nicht an ihn denken, son<strong>der</strong>n an die Geschichte,<br />

die ich Ihnen anschließend vorlesen werde. Ihr Vater hat, als er so<br />

alt war wie Sie, immer andächtig gebetet. Nicht nur ein Gebet, son<strong>der</strong>n<br />

mehrere, und dann musste ich ihm eine biblische Geschichte<br />

vorlesen o<strong>der</strong> erzählen. Zuletzt musste ich ihm ein geistliches Lied<br />

vorsingen. Seine Majestät wäre entsetzt, wenn er Sie beten hörte,<br />

und Sie wollen Ihrem Vater doch nur Freude bereiten?»<br />

«Ja, Madame», und er begann wi<strong>der</strong>willig erneut zu beten, wobei<br />

er sich verzweifelt bemühte, langsam zu sprechen.<br />

«Amen», und er kletterte erleichtert in sein Bett. Gott sei Dank,<br />

dachte er, das ist mal wie<strong>der</strong> überstanden, jetzt beginnt <strong>der</strong> unterhaltsame<br />

Teil <strong>der</strong> Zeremonie des Zubettgehens.<br />

«Nun, Königliche Hoheit», und die Erzieherin setzte sich auf<br />

den Schemel neben dem Bett, «soll ich Ihnen ein Märchen vorlesen<br />

o<strong>der</strong> ein Lied singen?»<br />

62


<strong>Friedrich</strong> dachte nach. Sie muss mir einige Fragen beantworten,<br />

und er sagte: «Madame, warum hat die Mama mein Uniformkleid<br />

‹Sterbekittel› genannt?»<br />

Die Hugenottin sah ihren Zögling erstaunt an und überlegte,<br />

was sie antworten sollte.<br />

«Königliche Hoheit, je<strong>der</strong> Soldat trägt eine Uniform, je<strong>der</strong> Soldat<br />

muss irgendwann gegen einen Feind kämpfen und wird dabei vielleicht<br />

getötet, deswegen hat Ihre Majestät das Uniformkleid ‹Sterbekittel›<br />

genannt. Für unsere Soldaten ist dieses Wort unpassend,<br />

weil Ihr Vater seine Soldaten nur dann in den Krieg schickt, wenn<br />

es unvermeidlich ist. Ihr Vater wird nie einen Staat angreifen und<br />

das Leben seiner Soldaten leichtfertig opfern. Königliche Hoheit,<br />

ich bitte Sie, vergessen Sie dieses schreckliche Wort, es würde Ihren<br />

Vater sehr schmerzen, wenn er hörte, dass Sie die Uniform als<br />

‹Sterbekittel› bezeichnen.»<br />

«Ja, Madame. Und warum hat <strong>der</strong> Papa gesagt, dass er ein Diener<br />

des Königs in Preußen ist? Er ist doch kein Diener.»<br />

«Seine Majestät meint es bildlich, wenn er sich als Diener bezeichnet.<br />

Ich entsinne mich, dass Ihr Vater kurz nach <strong>der</strong> Thronbesteigung<br />

sagte, er sei <strong>der</strong> Generalfeldmarschall und <strong>der</strong> Finanzminister<br />

des Königs in Preußen, das bedeutet, dass er alle<br />

Entscheidungen allein trifft, er überlässt die Regierungsgeschäfte<br />

nicht den Ministern, son<strong>der</strong>n kümmert sich selbst um alles. Die<br />

Minister müssen ihm nur zuarbeiten. Ihr Vater betrachtet sein Königsamt<br />

als Verpfl ichtung – er dient dem Staat, er möchte, dass es<br />

seinen Untertanen wirtschaftlich gutgeht; er ist sich seiner Verantwortung<br />

bewusst, das ist außergewöhnlich. Königliche Hoheit,<br />

die an<strong>der</strong>en europäischen Fürsten beuten ihre Untertanen aus, damit<br />

sie selbst Prunk entfalten können; Ihr Vater legt keinen Wert<br />

auf Prunk, er möchte, dass sein Staat wirtschaftlich gedeiht. Er<br />

betrachtet sein Königtum als eine Aufgabe und sich selbst als Ersten<br />

Diener des Staates o<strong>der</strong> des Königs in Preußen. Er fühlt sich<br />

verantwortlich für seine Untertanen. Ihr Vater, Königliche Hoheit,<br />

ist ein bedeuten<strong>der</strong> Fürst in Europa, weil er zuerst an seinen Staat<br />

denkt, und dann noch einmal an seinen Staat, und ganz zuletzt an<br />

sich. Wenn Sie einmal König sind, sollten Sie dem Beispiel Ihres<br />

Vaters folgen, er ist wahrhaftig ein Vorbild.»<br />

63


Nach einer Weile sagte <strong>Friedrich</strong>: «Mein Papa ist also ein beson<strong>der</strong>er<br />

König. Ich möchte ein König werden wie er.»<br />

Die Erzieherin lächelte – das Kind verstand ihre Erklärungen.<br />

«Sie müssen jetzt schlafen, morgen wecke ich Sie früher als gewöhnlich,<br />

und dann beginnt für Sie ein neuer Lebensabschnitt.»<br />

«Ja», rief <strong>Friedrich</strong>, « ich werde lesen und schreiben lernen!»<br />

«Sie werden noch mehr lernen, Sie werden vor allem die Rechenkunst<br />

lernen, aber jetzt müssen Sie schlafen.»<br />

«Madame, bitte, ich bin noch nicht müde, spielen Sie noch etwas<br />

Musik, bitte.»<br />

Die Gouvernante zögerte, aber da für <strong>Friedrich</strong> am nächsten Tag<br />

<strong>der</strong> Unterricht und <strong>der</strong> Ernst des Lebens beginnen würden, holte<br />

sie ihre Laute und spielte ein französisches Kin<strong>der</strong>lied. <strong>Friedrich</strong><br />

lauschte <strong>der</strong> Melodie, aber nach einigen Minuten schloss er die<br />

Augen und schlief ein. Die Erzieherin legte die Laute zur Seite,<br />

schraubte den Docht <strong>der</strong> Lampe herunter und ging zur Tür. Sie<br />

verweilte einen Augenblick, betrachtete das schlafende Kind und<br />

dachte über Crons Prophezeiung nach, dass <strong>der</strong> preußische Kronprinz<br />

einer <strong>der</strong> bedeutendsten Fürsten Europas werden würde.<br />

Nun, überlegte sie, bis dahin ist ein weiter Weg, da wird noch viel<br />

Wasser die Spree und die Havel hinunterfl ießen.<br />

64


2. Kapitel


66<br />

l<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stand am offenen Fenster seines Arbeitszimmers<br />

im Berliner Stadtschloss, genoss die ungewöhnlich warme<br />

Maisonne, lauschte glücklich den Kanonenschüssen und zählte leise<br />

mit: «Neunundneunzig, einhun<strong>der</strong>t, einhun<strong>der</strong>teins, die Thronfolge<br />

ist erneut gesichert.»<br />

Als die Kanonen verstummten, hörte er die Jubelrufe <strong>der</strong> Berliner:<br />

«Es lebe <strong>der</strong> König, es lebe die Königin, es lebe <strong>der</strong> Kronprinz,<br />

es lebe <strong>der</strong> neugeborene Prinz!»<br />

Er lächelte, setzte sich an den Schreibtisch, betrachtete stolz das<br />

in rotes Saffi anle<strong>der</strong> gebundene Buch, worauf in goldenen Lettern<br />

stand: DIE HOHENZOLLERN, dann schlug er es auf und schrieb:<br />

2. Mai 1717: Geburt meines Sohnes Wilhelm.<br />

Er streute Sand über die Tinte, und während sie trocknete, wan<strong>der</strong>ten<br />

seine Augen über die Seite und verweilten nachdenklich<br />

bei dem vorletzten Eintrag: 13. März 1716: Geburt meiner Tochter<br />

Philippine Charlotte.<br />

«Der Schwede hat richtig prophezeit», sagte er leise, «er hat auch<br />

Wilhelmine und dem Fritzchen gesagt, welches Schicksal sie erwartet.<br />

Angenommen, seine Vorhersagen sind richtig – dann wäre<br />

das Leben eines Menschen von Gott vorherbestimmt? Nein, das<br />

kann nicht sein, es gibt keine Prädestination eines Lebens, es darf<br />

keine Prädestination geben, jedenfalls nicht in meinem Staat, sonst<br />

würde je<strong>der</strong> Deserteur sich darauf berufen und sagen, dass seine<br />

Flucht von Gott vorherbestimmt war, nein, je<strong>der</strong> Mensch ist für<br />

seine Handlungen allein verantwortlich, die Lehre von <strong>der</strong> Prädestination<br />

ist absurd, hier irrt Calvin.»<br />

Er ging hinüber in sein Schlafzimmer, fi el vor dem Hausaltar auf<br />

die Knie und sprach ein Dankgebet: «Lieber Herrgott, himmlischer<br />

Vater. Wir sagen dir Lob und Dank, dass du unser Haus gesegnet<br />

und uns ein Kind geschenkt hast. Du hast gnädig gewacht über <strong>der</strong><br />

Mutter, hast sie bewahrt vor allem Schaden, hast sie getröstet und<br />

gestärkt in ihrer schweren Stunde. In Deine Vaterhände befehlen<br />

wir nun unser Kind. Du bist ja <strong>der</strong> rechte Vater über alles, was Kin-


<strong>der</strong> heißt im Himmel und auf Erden. Du wolltest ihm Leben und<br />

Odem bewahren, es aufnehmen in Deine heilige Gemeinde und es<br />

zu Deinem Kind und Erben machen. Amen.»<br />

Er verweilte noch einen Augenblick in stiller Andacht, dann begab<br />

er sich hinauf in den zweiten Stock, wo die Appartements seiner<br />

Kin<strong>der</strong> lagen.<br />

Er schritt rasch eine Galerie entlang, betrat das Vorzimmer seiner<br />

Tochter Wilhelmine und blieb plötzlich stehen, weil die Klänge<br />

einer Laute und einer Flöte sein Ohr streiften. Er lauschte und<br />

schloss die Augen.<br />

«Händel», murmelte er verzückt, «sie spielen Händel»; in diesem<br />

Augenblick schlug es drei Uhr, <strong>Friedrich</strong> Wilhelm zuckte irritiert<br />

zusammen und öffnete die Augen.<br />

«Sie musizieren», brummte er, «zu dieser frühen Stunde?»<br />

Er riss die Tür auf, stürmte in das Zimmer und schrie: «Aufhören,<br />

sofort aufhören!»<br />

Wilhelmine und <strong>Friedrich</strong> erschraken, legten die Instrumente<br />

zur Seite, sprangen auf, <strong>Friedrich</strong> verbeugte sich, Wilhelmine raffte<br />

ihr Taftkleid und knickste, dann sahen sie den Vater ängstlich<br />

an.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete missmutig das weiße, seidene<br />

Hemd mit dem üppigen Spitzenjabot und den Spitzenmanschetten,<br />

das <strong>der</strong> Kronprinz zu den Kniehosen aus blauem preußischem Tuch<br />

trug, dann wandte er sich zu Wilhelmine und fragte barsch: «Haben<br />

Sie jetzt nicht Unterricht?»<br />

Sie errötete, knickste erneut und antwortete leise: «Ja, Papa, aber<br />

Mama wünscht, dass Fritz und ich vor dem Zar und <strong>der</strong> Zarin musizieren,<br />

um sie zu unterhalten, deswegen hat Mama angeordnet,<br />

dass wir täglich nach <strong>der</strong> Mittagstafel eine Stunde lang unser Stück<br />

üben, <strong>der</strong> Unterricht beginnt dann später und endet auch später, die<br />

Lehrstunden werden eingehalten. Mama hat auch angeordnet, dass<br />

wir eine Arie aus <strong>der</strong> Oper ‹Almira› üben, weil Sie, Papa, die Musik<br />

von Händel so sehr lieben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Eure Mama hat recht, man muss<br />

den Russen etwas bieten, warum nicht Händel? Nun Wilhelmine,<br />

ich habe seinerzeit Ihrer Mutter versprochen, dass die Erziehung<br />

unserer Töchter in ihren Händen liegt und ich mich nicht einmi-<br />

67


schen werde, und dieses Versprechen werde ich natürlich auch halten;<br />

spielt noch einmal den Anfang <strong>der</strong> Arie.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lauschte, beobachtete seinen Sohn und sagte<br />

nach einer Weile: «Genug, <strong>der</strong> Zar wird entzückt sein, in eurem<br />

Spiel ist eine wun<strong>der</strong>bare Harmonie», und zu <strong>Friedrich</strong>: «Du hast<br />

Fortschritte beim Flötenspiel gemacht, wie kommt dies?»<br />

<strong>Friedrich</strong> strahlte und antwortete stolz: «Ich übe jeden Nachmittag<br />

zwei Stunden auf <strong>der</strong> Flöte, Papa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Gesicht wurde ernst, er betrachtete den Sohn<br />

und sagte nach einer Weile: «Soso, jeden Nachmittag zwei Stunden<br />

Flötenspiel, nun ja, du darfst den Nachmittag verbringen, wie du<br />

willst; obwohl, zwei Stunden Flötenspiel, was machst du, wenn du<br />

nicht musizierst?»<br />

«Ich lese, Papa.»<br />

«Soso, Lesen, Lesen und Flötespielen, nun ja, diese Beschäftigungen<br />

sind nicht gegen Gott.»<br />

Er sah sich nachdenklich in dem Raum um und bemerkte auf<br />

einmal Madame de Roucoulles und ihre Tochter aus erster Ehe,<br />

Mademoiselle de Montbail, die ihren Zögling Frie<strong>der</strong>ike Luise auf<br />

dem Schoß hielt.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging zu seiner Tochter, hob ihr Gesicht empor,<br />

betrachtete stolz die makellose, weiße Haut und die strahlenden<br />

blauen Augen und fragte scherzend: «Wie heißt du?»<br />

Das Kind lächelte den Vater an und krähte vergnügt: «Ike!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm begann zu lachen und sagte zu den Erzieherinnen:<br />

«Ich glaube, meine Ike wird einmal eine kleine Schönheit<br />

werden, aber ich besuche euch wegen eines beson<strong>der</strong>en Ereignisses:<br />

eure Mutter hat vorhin einen gesunden Sohn zur Welt gebracht, er<br />

wird den Namen Wilhelm tragen.»<br />

«Wir haben die Salutschüsse gehört und mitgezählt, Papa!», rief<br />

Wilhelmine. «Wann dürfen wir Mama besuchen?»<br />

«Kurz vor <strong>der</strong> Abendtafel, aber nur einige Minuten.»<br />

In diesem Augenblick wurde <strong>der</strong> Lehrer gemeldet, und ein Mann<br />

Mitte fünfzig, in <strong>der</strong> schwarzen Kleidung <strong>der</strong> Hugenotten, betrat<br />

das Zimmer.<br />

«Guten Tag, Monsieur La Croze!», rief <strong>Friedrich</strong>. «Darf ich wie<strong>der</strong><br />

zuhören, wenn Sie meine Schwester unterrichten?»<br />

68


La Croze lächelte: «Selbstverständlich, Königliche Hoheit.»<br />

«Nein», sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und trat zu La Croze: «Ich<br />

möchte nicht, dass mein Sohn Ihren Unterricht stört», und zu<br />

<strong>Friedrich</strong>: «Komm, Fritzchen, du bist so blass, du gehörst an die<br />

frische Luft.»<br />

Während sie, gefolgt von den Erzieherinnen und <strong>der</strong> kleinen<br />

Frie<strong>der</strong>ike, zu <strong>Friedrich</strong>s Appartement gingen, sagte <strong>der</strong> König:<br />

«Fritzchen, ich wünsche nicht, dass du an Wilhelmines Unterricht<br />

teilnimmst, du sollst kein Stubenhocker werden, son<strong>der</strong>n ein<br />

kräftiger Junge, <strong>der</strong> sich in <strong>der</strong> frischen Luft tummelt und sich mit<br />

Gleichaltrigen balgt und rauft. Und was dein Flötenspiel betrifft,<br />

nun ja, ich habe nichts dagegen, dass meine Kin<strong>der</strong> ein Gefühl für<br />

Musik entwickeln, aber täglich zwei Stunden Flötenspiel üben, das<br />

ist zu viel, es gibt wichtigere Dinge: beobachte, was um dich herum<br />

geschieht, gehe mit deiner Gouvernante zu einer <strong>der</strong> zahlreichen<br />

Baustellen in Berlin, sieh den Handwerkern bei ihrer Arbeit zu;<br />

dies hat mich als Kind immer fasziniert. Du musst die praktischen<br />

Dinge des Lebens kennenlernen, das ist wichtig für einen Fürsten,<br />

du musst immer Kontakt zum Volk, zu deinen Untertanen haben,<br />

verstehst du, was ich meine?»<br />

«Ja, Papa», und im Stillen dachte er: Ich will mich nicht raufen<br />

und ich will den Handwerkern nicht zusehen, ich möchte bei Wilhelmine<br />

sein o<strong>der</strong> lesen o<strong>der</strong> Flöte spielen.<br />

In <strong>Friedrich</strong>s Appartement musterte <strong>der</strong> König seinen Sohn und<br />

sagte: «Du bist so blass, du hast meine weiße Haut geerbt, aber das<br />

kann man än<strong>der</strong>n», und zu <strong>der</strong> Kammerfrau: «Besorge Sie sofort<br />

eine Speckschwarte, aber cito, cito!»<br />

«Majestät», rief Madame de Roucoulles, «mon Dieu! Wollen Sie<br />

etwa …»<br />

«Ja, ich will», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> Wilhelm gutgelaunt, und als<br />

die Kammerfrau mit <strong>der</strong> Speckschwarte erschien, streifte er dem<br />

Sohn das Hemd über den Kopf, nahm den Speck und begann, den<br />

Oberkörper des Kindes damit einzureiben.<br />

«Höre, Fritzchen, als ich ein Kind war, hasste ich meine weiße<br />

Haut, und immer wenn es warm war, rieb ich sie mit Speck ein<br />

und tummelte mich in <strong>der</strong> Sonne, weil ich braun werden wollte,<br />

eine braune Haut wirkt kriegerischer als eine weiße Haut. Lei<strong>der</strong><br />

69


lieb meine Haut hell, aber vielleicht bräunt deine Haut, du sollst<br />

martialisch aussehen, nicht effeminiert – und nun hinaus in die<br />

Sonne, an die frische Luft, raufe dich mit dem Sohn des Grafen<br />

von Finckenstein, verprügele ihn, wie es sich für einen richtigen<br />

Jungen gehört.»<br />

Der König verließ das Zimmer, und <strong>Friedrich</strong> betrachtete seine<br />

eingefettete Haut, dann sah er seine Gouvernante fl ehend an: «Madame,<br />

bitte, ich möchte mich nicht prügeln, son<strong>der</strong>n in meinem<br />

Märchenbuch lesen.»<br />

«Königliche Hoheit, Seine Majestät wünscht …»<br />

«Bitte, liebe Madame …»<br />

Sie betrachtete die großen blauen Augen und seufzte unhörbar.<br />

Dann holte sie ihren Korb, legte das Buch und ihr Strickzeug hinein,<br />

breitete das Hemd darüber und ging mit <strong>Friedrich</strong>, ihrer Tochter<br />

und Frie<strong>der</strong>ike Luise hinunter.<br />

Das kleine Mädchen wurde in seinen Kin<strong>der</strong>wagen gesetzt und<br />

dann spazierten sie zum Ufer <strong>der</strong> Spree.<br />

Madame de Roucoulles sah sich prüfend um und sagte zu ihrer<br />

Tochter: «Hier sind wir unsichtbar für die neugierigen Augen des<br />

Schlosses.»<br />

Mademoiselle de Montbail hob das kleine Mädchen aus dem Wagen<br />

und gab ihm einige Murmeln zum Spielen, <strong>Friedrich</strong> setzte sich<br />

auf eine Bank, schlug das Buch auf, und Madame de Roucoulles holte<br />

ihr Strickzeug aus dem Korb, fi ng an zu stricken und sah hin und<br />

wie<strong>der</strong> über die Spree. Plötzlich stutzte sie und stand auf: «Mon<br />

Dieu, was für eine Überraschung, da kommt Monsieur Duhan.»<br />

Der Lehrer ging zu <strong>der</strong> kleinen Gruppe und sagte: «Madame, ich<br />

bin überrascht, Sie an diesem Ort zu sehen.»<br />

«Nun ja, hier sind wir vor allen Augen unsichtbar, und <strong>der</strong> Kronprinz<br />

kann in Ruhe lesen.»<br />

Duhan betrachtete <strong>Friedrich</strong> und fragte: «Warum trägt <strong>der</strong> Prinz<br />

kein Hemd?»<br />

«Es ist ein Wunsch o<strong>der</strong> Befehl Seiner Majestät, <strong>der</strong> König<br />

wünscht, dass sein Sohn in <strong>der</strong> Sonne bräunt, damit er kriegerisch<br />

aussieht.»<br />

«Monsieur Duhan», sagte <strong>Friedrich</strong>, «warum erlaubt mein Papa<br />

nicht, dass ich bei Wilhelmines Unterricht zuhöre? Monsieur La<br />

70


Croze ist ein gelehrter Mann, er spricht nicht nur Deutsch und<br />

Französisch, er beherrscht auch Englisch, Spanisch, Portugiesisch,<br />

Italienisch, Lateinisch, Griechisch, Hebräisch und Arabisch, er<br />

besitzt sogar einige Kenntnisse <strong>der</strong> chinesischen Sprache, man erzählt,<br />

dass er zwölf Verse in zwölf verschiedenen Sprachen, nachdem<br />

er sie einmal gehört, rezitiert und übersetzt hat! Warum darf<br />

ich ihm nicht zuhören?»<br />

Duhan erwi<strong>der</strong>te vorsichtig: «Königliche Hoheit, Seine Majestät<br />

legt keinen Wert darauf, dass Sie viele Sprachen beherrschen,<br />

Seine Majestät wünscht, dass Sie lernen, wie man einen Staat gut<br />

regiert», und zu <strong>der</strong> Gouvernante: «Haben Sie einen Augenblick<br />

Zeit? Ich möchte Sie um einen Rat bitten.»<br />

Madame de Roucoulles legte ihr Strickzeug in den Korb und ging<br />

mit Duhan am Ufer entlang, bis sie außer Hörweite waren.<br />

«Nun, Monsieur, was bedrückt Sie?»<br />

Duhan sah verstohlen zu <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> in seinem Märchenbuch<br />

blätterte, und sagte leise: «Der König will den Prinzen zu seinem<br />

Ebenbild formen, mon Dieu, sieht er nicht, dass <strong>der</strong> Sohn an<strong>der</strong>s<br />

veranlagt ist? Der Prinz ist still und verträumt, denkt lange nach,<br />

bevor er antwortet, er ist zu allen höfl ich – können Sie sich vorstellen,<br />

dass er einen Untertanen verprügelt o<strong>der</strong> an den wilden<br />

Parforcejagden des Königs teilnimmt?»<br />

«Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.»<br />

«Warum sieht <strong>der</strong> König nicht, dass sein Sohn sich wahrscheinlich<br />

an<strong>der</strong>s entwickelt, als er es erhofft?»<br />

«Monsieur Duhan, <strong>der</strong> König sieht seinen Sohn nicht, wie er ist,<br />

son<strong>der</strong>n so, wie er ihn sich wünscht, das ist völlig normal, überdies<br />

müssen Sie bedenken, dass <strong>der</strong> König während des vergangenen<br />

Jahres häufi g die Provinzen inspizierte und den Kronprinzen selten<br />

sah. Im Herbst wird <strong>der</strong> Prinz zum ersten Mal in Wusterhausen<br />

weilen, dann sieht Seine Majestät ihn zwar täglich, aber wahrscheinlich<br />

nur während <strong>der</strong> Mahlzeiten, weil Seine Majestät den<br />

ganzen Tag auf <strong>der</strong> Jagd ist; aber Sie fragten mich um Rat.»<br />

«Ja, Madame, es ist eine heikle Angelegenheit. Der Kronprinz<br />

hat sehr rasch lesen und schreiben gelernt, aber das Rechnen fällt<br />

ihm schwer, ich habe den Eindruck, dass er kein Gefühl für Zahlen<br />

hat, überdies scheinen ihn Zahlen nicht zu interessieren.<br />

71


Nach einem Jahr Unterricht müsste er bis hun<strong>der</strong>t zählen können,<br />

er müsste bis zur Zahl zwanzig darstellen, ordnen und vergleichen<br />

können, er müsste bis zu dieser Zahl addieren, subtrahieren,<br />

zerlegen, ergänzen, verdoppeln, halbieren können, dabei mit den<br />

Gesetzmäßigkeiten vertraut werden und diese nutzen, um einfache<br />

Gleichungen und Ungleichungen zu lösen, er muss das Einmaleins<br />

bis zwanzig beherrschen, Ziffern und Zeichen, also Plus und Minus<br />

formklar und bewegungsrichtig schreiben. Seine Königliche<br />

Hoheit kann nur bis fünfzig zählen und nur bis zur Zahl Zehn<br />

ordnen und vergleichen.»<br />

Duhan schwieg einen Augenblick und fuhr kleinlaut fort: «Ich<br />

musste Seiner Majestät regelmäßig über die Fortschritte des Kronprinzen<br />

in <strong>der</strong> Rechenkunst berichten, nun ja, ich habe diese Berichte<br />

so abgefasst, dass <strong>der</strong> König glaubt, sein Sohn beherrscht<br />

die Rechenkunst wie vorgeschrieben. Gestern sagte mir <strong>der</strong> König,<br />

dass er, nach dem Besuch des Zaren, an einer Rechenstunde<br />

teilnehmen wolle, um sich von den Fortschritten des Prinzen zu<br />

überzeugen.<br />

Ich überlege verzweifelt, wie ich dieses Problem lösen kann.<br />

Wenn <strong>der</strong> König merkt, dass sein Sohn die Rechenkunst nicht so<br />

beherrscht, wie ich es ihm schil<strong>der</strong>te, verliere ich meine Stellung.»<br />

Die Gouvernante starrte den Lehrer einen Augenblick fassungslos<br />

an, dann rief sie: «Mon Dieu, warum haben Sie nicht die Wahrheit<br />

berichtet? Sie wissen doch, dass <strong>der</strong> König nichts so sehr hasst<br />

wie Unaufrichtigkeit und Verstellung.»<br />

Duhan sah verlegen zu Boden: «Madame, ich wollte den Prinzen<br />

vor dem väterlichen Zorn bewahren, ich befürchtete, dass er ihn<br />

verprügelt, wenn er erfährt, dass sein Sohn nur langsam und wi<strong>der</strong>willig<br />

die Rechenkunst erlernt.»<br />

«Monsieur Duhan, ich kenne den König besser als Sie; gewiss,<br />

er prügelt, ohne sich dabei um Rang und Stand zu kümmern, <strong>der</strong><br />

Handwerker bekommt seinen Stock ebenso zu spüren wie ein Hofmann,<br />

aber er prügelt nur, wenn jemand faulenzt o<strong>der</strong> seine Pfl ichten<br />

vernachlässigt; ich glaube nicht, dass er den Kronprinzen verprügelt<br />

hätte, nur weil das Kind langsam rechnen lernt.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte Duhan: «Angenommen, ich<br />

verliere meine Stellung als Lehrer des Prinzen, das allein wäre<br />

72


nicht weiter tragisch, ich würde bestimmt bei einem <strong>der</strong> Junker als<br />

Lehrer arbeiten können. Aber es liegt mir sehr viel daran, den Geist<br />

des künftigen preußischen Königs zu bilden, <strong>der</strong> Prinz ist sensibel,<br />

phantasievoll, neugierig, nachdenklich – es wäre ein Jammer, wenn<br />

seine Anlagen verkümmerten und er nur ein Soldatenkönig würde<br />

wie sein Vater.»<br />

«Soldatenkönig», erwi<strong>der</strong>te die Gouvernante, «gewiss, für ganz<br />

Europa ist Seine Majestät nur <strong>der</strong> ‹Soldatenkönig›, das ist meiner<br />

Meinung nach eine sehr einseitige Beurteilung, aber Sie fragten<br />

mich um Rat, lassen Sie mich einen Augenblick überlegen.»<br />

Sie ging einige Schritte am Ufer entlang, dann trat sie zu Duhan<br />

und sagte ernst: «Ich schätze Sie als Lehrer, und es liegt mir viel<br />

daran, dass Sie den Prinzen auch künftig unterrichten, ich wüsste<br />

eine Lösung, allerdings würden Sie den König dabei erneut täuschen.<br />

Sie haben genügend Zeit, um den Prinzen auf die Unterrichtsstunde<br />

im Beisein des Königs vorzubereiten; üben Sie mit<br />

ihm einige Rechenexempel und geben Sie ihm diese als Aufgabe,<br />

wenn Seine Majestät anwesend ist.»<br />

Duhan atmete erleichtert auf: «Eine wun<strong>der</strong>volle Idee, Madame,<br />

ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Allerdings besteht die<br />

Gefahr, dass Seine Majestät dem Prinzen ebenfalls Rechenaufgaben<br />

stellt und das Kind diese nicht lösen kann, wie wird <strong>der</strong> König<br />

dann reagieren?»<br />

«Das ist schwer zu sagen. Aber ich glaube nicht, dass <strong>der</strong> König,<br />

wenn sein Sohn einige Aufgaben richtig und einige falsch löst, Sie<br />

entlassen wird, seien Sie guten Mutes.»<br />

<strong>Friedrich</strong> saß auf <strong>der</strong> Bank und blickte verträumt über die<br />

Spree.<br />

Plötzlich schoben sich einige Wolken vor die Sonne, er begann<br />

zu frösteln, nahm sein Hemd aus dem Korb und streifte es über.<br />

Dann betrachtete er das Titelbild des Märchenbuches, auf dem die<br />

germanische Königin Bertha mit dem Gänsefuß dargestellt war,<br />

und las leise den Titel, weil er den Klang <strong>der</strong> französischen Sprache<br />

genießen wollte: «Pierre Perrault d’Armencour, Contes de ma mère<br />

l‘Oye.»<br />

Während seine Augen über das Inhaltsverzeichnis glitten, kam<br />

seine kleine Schwester und sagte: «Bitte, spiele mit mir.»<br />

73


<strong>Friedrich</strong> sah unwillig auf und erwi<strong>der</strong>te: «Ich will lesen, Ike.»<br />

Die Kleine sah ihn erstaunt an: «Mit Wilhelmine spielst du immer.»<br />

«Du bist nicht Wilhelmine, Ike, und jetzt lass mich in Ruhe, ich<br />

will lesen.»<br />

Sie sah ihn enttäuscht an und ging langsam zu ihrer Erzieherin.<br />

«Er will nicht mit mir spielen», jammerte sie, und die großen<br />

blauen Augen füllten sich mit Tränen.<br />

«Was fällt Ihnen ein, Königliche Hoheit, Sie dürfen den Kronprinzen<br />

nicht stören! Eines müssen Sie sich für immer merken: Ihr<br />

älterer Bru<strong>der</strong> ist <strong>der</strong> künftige König und das künftige Familienoberhaupt.<br />

Sie müssen ihm stets gehorchen, auch jetzt, solange er<br />

noch Kronprinz ist. Haben Sie mich verstanden?»<br />

Frie<strong>der</strong>ike Luise sah ihre Erzieherin ängstlich an und antwortete<br />

leise: «Ja, Mademoiselle.»<br />

<strong>Friedrich</strong> vertiefte sich erneut in das Inhaltsverzeichnis, und als<br />

er las: «La Belle au bois dormant», sah er auf und überlegte, dass er<br />

dieses Märchen schon unzählige Male gelesen hatte und es immer<br />

von neuem reizvoll und spannend war. Er blätterte in dem Buch<br />

und begann, leise vor sich hin zu lesen: «Die schlafende Schöne im<br />

Walde.<br />

Es waren einmal ein König und eine Königin, die waren sehr betrübt,<br />

dass sie keine Kin<strong>der</strong> hatten, so betrübt, dass es mit Worten<br />

kaum zu sagen ist. Sie fuhren zu allen Bä<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Welt, taten die<br />

Gelübde, unternahmen Wallfahrten, unterwarfen sich Andachtsübungen,<br />

doch alles war vergebens. Endlich aber wurde die Königin<br />

doch schwanger und brachte ein Mädchen zur Welt. Man richtete<br />

eine schöne Taufe aus und gab <strong>der</strong> kleinen Prinzessin alle Feen, die<br />

man im Lande fi nden konnte (man fand ihrer sieben) zu Patinnen,<br />

damit eine jede ihr eine Gabe verleihen konnte, wie das damals bei<br />

den Feen <strong>der</strong> Brauch war. Auf diesem Wege sollte die Prinzessin<br />

alle erdenklich hervorragenden Eigenschaften erhalten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> blätterte die Seite um und betrachtete verzückt eine kolorierte<br />

Zeichnung: er sah ein kleines Mädchen mit runden, rosigen<br />

Wangen, einem roten, herzförmigen Mund und leuchtenden blau-<br />

74


en Augen. Ein Goldreif schmückte die langen blonden Locken, sie<br />

trug ein schlichtes, langes weißes Kleid und einen kurzen dunkelblauen<br />

Umhang.<br />

Nach einer Weile lösten <strong>Friedrich</strong>s Augen sich von dem Mädchen,<br />

er sah die Amme mit ihrer großen weißen Flügelhaube hinter <strong>der</strong><br />

Prinzessin und einen kleinen Jungen in kurzen schwarzen Pumphosen<br />

und weißen Beinklei<strong>der</strong>n, <strong>der</strong> ein schwarzes Barett in <strong>der</strong> rechten<br />

Hand hielt und sich vor <strong>der</strong> Prinzessin verbeugte.<br />

«Amalie», fl üsterte <strong>Friedrich</strong>, schloss die Augen, und plötzlich<br />

wurde das Bild lebendig: Das kleine Mädchen ging zu ihm und fragte:<br />

«Wer bist du? Ich habe dich noch nie an unserem Hof gesehen.»<br />

Er verbeugte sich und antwortete: «Ich bin <strong>Friedrich</strong> von Hohenzollern,<br />

<strong>der</strong> Kurprinz von Brandenburg und Kronprinz in Preußen.»<br />

Die Kleine starrte ihn einen Augenblick lang an, dann lief sie auf<br />

ihn zu und umarmte ihn.<br />

«Mon Dieu, du bist <strong>Friedrich</strong>? Du bist mein künftiger Gatte?<br />

Warum ist deine Ankunft nicht gemeldet worden?! Wo ist Wilhelmine?»<br />

«Ich bin heimlich gekommen, weil ich dich sehen wollte, meine<br />

Schwester hat Angst vor ihrer Erzieherin, deswegen blieb sie in<br />

Berlin.»<br />

Amalie lächelte ihn an und sagte: «Morgen werde ich sechs Jahre<br />

alt, am Abend gibt es einen Ball wegen meines Geburtstages, wir<br />

tanzen zusammen, nicht wahr?»<br />

«Ja, Amalie.»<br />

Er öffnete die Augen und las die Erklärung unter <strong>der</strong> Zeichnung:<br />

,,Die Prinzessin empfängt einen Pagen», dann glitten seine Augen<br />

über die Zeilen und er las, was er für wichtig hielt: «Als sich aber<br />

alle an <strong>der</strong> Tafel nie<strong>der</strong>ließen, sah man eine alte Fee hereinkommen,<br />

die nicht eingeladen worden war, da sie seit mehr als fünfzig<br />

Jahren ihren Turm nicht mehr verlassen hatte und man sie für tot<br />

o<strong>der</strong> verzaubert hielt …<br />

Nun war die Reihe an <strong>der</strong> alten Fee. Sie wackelte mit dem Kopf,<br />

mehr aus Ärger als wegen ihres Alters, und sprach, dass die Prinzessin<br />

sich mit einer Spindel in die Hand stechen und daran sterben<br />

solle.<br />

75


Diese furchtbare Gabe ließ die ganze Gesellschaft erzittern, und<br />

da war keiner, <strong>der</strong> nicht geweint hätte. In diesem Augenblick trat<br />

die junge Fee hinter dem Wandteppich hervor und sprach mit erhobener<br />

Stimme folgende Worte:<br />

‹Fasset Mut, mein König und meine Königin, Eure Tochter wird<br />

daran nicht sterben; ich besitze allerdings nicht die Macht, den<br />

Spruch meiner älteren Schwester ganz auszulöschen. Die Prinzessin<br />

wird sich daher mit einer Spindel in die Hand stechen, doch<br />

anstatt daran zu sterben, wird sie lediglich in einen tiefen Schlaf<br />

fallen, <strong>der</strong> hun<strong>der</strong>t Jahre dauern wird. Wenn sie abgelaufen sind,<br />

wird <strong>der</strong> Sohn eines Königs sie erwecken.›»<br />

<strong>Friedrich</strong> blätterte die Seite um und betrachtete die nächste Zeichnung:<br />

Er sah einen Ballsaal, in dessen Mitte <strong>der</strong> kleine Junge und<br />

die Prinzessin standen; die Prinzessin trug ein Kleid aus Goldbrokat,<br />

die Locken waren zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt<br />

und wurden von einer kleinen, goldenen Krone geschmückt.<br />

<strong>Friedrich</strong> schloss die Augen, und im gleichen Moment nahm die<br />

Prinzessin seine Hand, und während die Musiker auf <strong>der</strong> Empore<br />

zum Tanz aufspielten, schritten sie langsam durch den Saal, gefolgt<br />

von an<strong>der</strong>en Paaren.<br />

«Nach diesem Tanz, <strong>Friedrich</strong>, wird mein Großvater, <strong>der</strong> König,<br />

unsere Verlobung verkünden und auch die Verlobung deiner<br />

Schwester.»<br />

Er schritt aufgeregt neben Amalie durch den Saal, irgendwann<br />

verebbte die Musik, und er hörte die Stimme seines Großvaters:<br />

«Meine Damen und Herren, heute feiern wir nicht nur den Geburtstag<br />

meiner Enkelin, wir feiern auch zwei Verlobungen: meine<br />

Enkelin Amalie wird den preußischen Kronprinzen heiraten und<br />

einmal Königin in Preußen sein, mein Enkel <strong>Friedrich</strong> Ludwig, <strong>der</strong><br />

Herzog von Gloucester, wird die älteste Tochter des preußischen<br />

Königs, Prinzessin Wilhelmine, heiraten.»<br />

Mademoiselle de Montbail beobachtete <strong>Friedrich</strong> und rief: «Königliche<br />

Hoheit, ich glaube, Sie träumen schon wie<strong>der</strong>!»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen, öffnete die Augen und sah verlegen<br />

auf das Buch.<br />

«Welches Märchen lesen Sie, Königliche Hoheit?»<br />

76


«La Belle au bois dormant. Es ist mein Lieblingsmärchen, meine<br />

Schwester Wilhelmine liest am liebsten ‹Cendrillon ou la petite<br />

pantoufl e de verre›. Welches Märchen haben Sie am meisten geliebt?»<br />

In diesem Augenblick erschien Madame de Roucoulles und sagte<br />

zu <strong>Friedrich</strong>: «Es wird kühl, Königliche Hoheit, wir sollten in das<br />

Schloss zurückkehren», und zu ihrer Tochter: «Der Kronprinz hat<br />

mit dem jungen Grafen von Finckenstein ge spielt, dann begannen<br />

sie zu streiten und <strong>der</strong> Kronprinz verprügelte den Grafen, haben<br />

Sie mich verstanden?»<br />

«Ja, Mama.»<br />

77


78<br />

2<br />

Während <strong>Friedrich</strong> in seinem Märchenbuch las, saß seine<br />

Mutter in ihrem Bett, betrachtete in einem ovalen Handspiegel<br />

kritisch ihr Gesicht und ordnete mit <strong>der</strong> linken Hand die langen,<br />

glänzenden, dunkelbraunen Locken. Nach einer Weile legte sie<br />

den Spiegel auf das hellbraune eichene Tischchen neben dem Bett,<br />

lehnte sich seufzend an das weiße seidene Daunenkissen und beobachtete<br />

ihre Kammerfrau Ramen, die am Frisiertisch saß und den<br />

Schmuck in <strong>der</strong> roten Samtschatulle ordnete.<br />

Sie betrachtete die grazile Frau, die hochgesteckten glatten<br />

Haare, und sagte mit einem klagenden Unterton in <strong>der</strong> Stimme:<br />

«Der Spiegel lügt nicht, er erinnert mich daran, dass ich seit einigen<br />

Tagen dreißig Jahre alt bin, ich bekomme allmählich ein Doppelkinn.»<br />

Die Kammerfrau wandte sich um, und als Sophie Dorothea die<br />

breite, hässliche Nase und die schmalen, verkniffenen Lippen sah,<br />

empfand sie für den Bruchteil einer Sekunde ein merkwürdiges<br />

Unbehagen, aber die großen strahlenden Augen <strong>der</strong> Ramen verdrängten<br />

jene Stimmung.<br />

Die Kammerfrau lächelte: «Mit Verlaub, Majestät, Sie bilden sich<br />

ein, dass Sie ein Doppelkinn bekommen, warten Sie ab, nach dem<br />

Wochenbett sieht die Welt wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s aus.»<br />

«Ich hoffe, dass Sie recht hat; wird Sie am 1. Juni dreißig o<strong>der</strong><br />

einunddreißig Jahre, ich konnte mir noch nie Ihr Geburtsjahr merken.»<br />

«Ich werde dreißig Jahre, wie Euer Majestät.»<br />

«Sie ist jetzt seit elf Jahren, seit meiner Verheiratung in meinem<br />

Dienst … mon Dieu, wie lange dies alles zurückliegt. Wie gut ging<br />

es mir damals, meine selige Großmutter bestellte meine Aussteuer<br />

und Brauttoilette bei den besten Pariser Schnei<strong>der</strong>n, die Schwägerin<br />

des französischen Königs, die Herzogin von Orléans, hat persönlich<br />

die Herstellung überwacht, Ludwig XIV. war überwältigt,<br />

als er meine Ausstattung sah, und sagte, er wünsche, dass es in<br />

Deutschland viele Fürsten geben möge, die den Pariser Kaufl euten


so viel Geld zu verdienen gäben, nun ja, <strong>der</strong> Hof in Hannover war<br />

immer <strong>der</strong> eleganteste in Deutschland, sein Luxus wurde höchstens<br />

vom Dresdner Hof übertroffen.»<br />

Sophie Dorothea schwieg einen Moment und fuhr fort: «Liebe<br />

Ramen, Sie hat mir stets loyal gedient und war nie bestechlich.<br />

Unbestechlichkeit ist eine seltene Tugend an den europäischen Höfen,<br />

ich danke Ihr dafür. Ich weiß auch Ihre Verschwiegenheit zu<br />

schätzen, Sie gehört zu den wenigen Personen, denen ich vertraue,<br />

ich hoffe, dass dies auch künftig so bleibt.»<br />

Die Kammerfrau senkte den Kopf und sagte leise: «Euer Majestät,<br />

Loyalität ist für mich die oberste Pfl icht, und ich werde auch<br />

künftig schweigen wie ein Grab. Niemand wird erfahren, was Euer<br />

Majestät geruhen, mir anzuvertrauen.»<br />

In diesem Augenblick wurde <strong>der</strong> König gemeldet.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stürmte in das Zimmer, beugte sich über die<br />

Gattin, küsste sie zärtlich auf den Mund und fragte: «Wie fühlst<br />

du dich, Fiekchen?»<br />

Sie lächelte matt und erwi<strong>der</strong>te: «Ich fühle mich noch etwas<br />

erschöpft, aber …», sie senkte die Stimme, dass die Kammerfrau<br />

nichts hören konnte, «wir sind nicht allein, <strong>der</strong> Name Fiekchen, das<br />

wissen Sie, gehört unserer Zweisamkeit.»<br />

«Verzeihung, ich wollte Sie nicht kränken.»<br />

Er holte ein Päckchen aus seiner Rocktasche und überreichte es<br />

ihr. Sophie Dorothea entfernte neugierig das Papier, betrachtete einen<br />

Augenblick das längliche Kästchen aus schwarzem Ebenholz,<br />

dann öffnete sie es und starrte gebannt auf das glitzernde Geschmeide.<br />

Ihre Finger glitten behutsam über die Edelsteine, dann<br />

lächelte sie den Gatten an: «Smaragde, ich bin überwältigt von Ihrer<br />

Großzügigkeit, ich werde diesen Schmuck tragen, wenn ich den<br />

Zaren empfange.» Sie nahm jedes Stück in die Hand, hielt es in das<br />

Licht und sagte: «Ohrgehänge, ein dreireihiges Collier, eine Brosche,<br />

ein Armband, ein Ring; ich danke Ihnen von ganzem Herzen<br />

für das Geschmeide. Als <strong>Friedrich</strong> geboren wurde, haben Sie mir<br />

auch Schmuck geschenkt.»<br />

«Je<strong>der</strong> Schmuck, den ich Ihnen während unserer Ehe schenkte,<br />

gehörte meiner seligen Mutter, und ich denke, die Geburt eines<br />

Sohnes ist ein würdiger Anlass; verstehen Sie mich bitte richtig, ich<br />

79


liebe unsere Töchter ebenso wie unsere Söhne, aber Söhne sichern<br />

den Fortbestand <strong>der</strong> Dynastie, Töchter müssen mit einer Mitgift<br />

standesgemäß verheiratet werden, das ist nicht immer einfach.»<br />

Sophie Dorothea stellte das Kästchen auf den Tisch neben Ihrem<br />

Bett und sagte zufrieden: «Dieses Geschmeide ermöglicht es mir,<br />

beim Besuch des Zaren angemessen zu repräsentieren, wie es einer<br />

Königin ziemt. Ich hoffe nur, dass ich bis zur Ankunft <strong>der</strong> Gäste<br />

die Wochenstube verlassen habe.»<br />

«Seien Sie unbesorgt, vorhin überbrachte mir ein Kurier die<br />

Nachricht, dass die Ankunft des Zaren sich verzögert, er wird<br />

nicht Ende Mai, son<strong>der</strong>n erst im Juni hier eintreffen, weil die Zarin<br />

auf <strong>der</strong> Rückreise von Holland eine Fehlgeburt hatte. Sie weilen<br />

jetzt in Kleve und hoffen, dass die Zarin sich bald erholt; die arme<br />

Frau tut mir leid, ich weiß, wie sehr Peter sich einen weiteren Sohn<br />

wünscht, weil sein Verhältnis zum Zarewitsch sehr gespannt ist,<br />

um es vorsichtig auszudrücken. Wir sollten ihnen taktvoll begegnen<br />

und unser familiäres Glück nicht unnötig zur Schau stellen, ich<br />

habe angeordnet, dass <strong>der</strong> kleine Wilhelm nicht präsentiert wird,<br />

es genügt, wenn <strong>der</strong> Zar mein Fritzchen kennenlernt; Wilhelmine<br />

hat er bereits bei seinem letzten Besuch, anno 12, gesehen.»<br />

Sophie Dorothea lächelte spöttisch: «Frankreich ist das kultivierteste<br />

Land Europas, England ist, wegen seines Handels, das reichste<br />

europäische Land, ich verstehe nicht, was Sie und Ihren Freund<br />

Peter an dem unbedeutenden Holland fasziniert.»<br />

«Ich habe keine ausgedehnten Bildungsreisen unternommen wie<br />

an<strong>der</strong>e deutsche Fürsten, ich war nur zweimal in Holland, anno<br />

1700 und anno 1704, aber was ich dort sah, hat mich zutiefst beeindruckt.<br />

Die wirtschaftliche Blüte, <strong>der</strong> Handel, die gesunden Finanzen,<br />

die praktische Baukunst, die Sauberkeit in den Städten wurden<br />

für mich zum Vorbild; vor allem begriff ich, dass ein solcher Staat<br />

nur entstehen kann, wenn seine Bürger fl eißig sind; ein wohlhabendes<br />

Bürgertum ist heute die wirtschaftliche Basis eines Landes,<br />

<strong>der</strong> Adel ist nur noch Dekoration. In Holland gibt es hervorragende<br />

Handwerker, das ist es auch, was den Zaren fasziniert, er benötigt<br />

Handwerker, um Russland wirtschaftlich aufzubauen.»<br />

Er schwieg einen Moment und fuhr lächelnd fort: «Sie dürfen<br />

nicht vergessen, dass meine Großmutter, Luise Henriette von Ora-<br />

80


nien, eine Hollän<strong>der</strong>in war. Mein Großvater schenkte ihr das Domänengut<br />

Bötzow im Norden Berlins, und sie verwandelte das Gut<br />

in einen Musterbetrieb, <strong>der</strong> zum Beispiel für alle Domänen wurde,<br />

was Viehzucht, Milch- und Käsewirtschaft betraf, damals wurde<br />

ganz Berlin von Bötzow mit Milch beliefert. Das Geheimnis des<br />

Erfolges meiner Großmutter ist einfach: Sie kümmerte sich persönlich<br />

um jede Kleinigkeit, vielleicht habe ich diese Eigenschaft<br />

geerbt, ich kümmere mich auch persönlich um jedes Detail im<br />

Staat.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte Sophie Dorothea: «Ich verstehe,<br />

dass Holland für Sie und den Zaren ein Vorbild ist, dem Sie<br />

folgen, um den eigenen Staat wirtschaftlich aufzubauen, ich freue<br />

mich auf den Besuch des Zaren, weil er Ihr Freund ist und weil je<strong>der</strong><br />

Staatsbesuch für mich eine Gelegenheit ist, um zu repräsentieren.<br />

Ich liebe meine Repräsentationspfl ichten, aber ich empfi nde es als<br />

Zumutung, dass ich bei diesem Besuch auch die sogenannte Zarin<br />

empfangen muss. Ich bin eine gebürtige Welfi n – was ist sie? Eine<br />

Stallmagd, die einen Dragoner geheiratet hat, dann entführte Fürst<br />

Menschikow Katharina, sie wurde seine Geliebte, irgendwann begegnete<br />

sie dem Zaren und wurde seine Mätresse, Gott allein weiß,<br />

wie vielen Männern sie sich außerdem hingab, und diese Frau soll<br />

ich empfangen; es ist unglaublich, was Sie mir zumuten.»<br />

«Liebe Frau, <strong>der</strong> Zar hat Katharina für würdig befunden, sie zu<br />

seiner Gemahlin zu erheben, das allein ist für mich wichtig; ich erwarte,<br />

dass Sie die Zarin ihrem Rang gemäß behandeln, sie ist für<br />

uns keine Stallmagd, son<strong>der</strong>n die Zarin von Russland.»<br />

Er betrachtete das verdrossene Gesicht <strong>der</strong> Gattin und fuhr fort:<br />

«Ich weiß, dass es Ihnen nicht genehm ist, wenn <strong>der</strong> Zar in Ihrem<br />

Schloss Monbijou wohnt, aber ich habe Ihren Wunsch erfüllt<br />

und Monbijou räumen lassen, sämtliche Möbel, Spiegel, Vorhänge,<br />

Teppiche, alle Bil<strong>der</strong>, das Porzellan und Ihr Silbergeschirr wurden<br />

nach Schloss Charlottenburg gebracht, in Monbijou gibt es jetzt<br />

nur noch Möbel aus Fichtenholz und Zinngeschirr.»<br />

«Ich danke Ihnen, trotzdem, wer weiß, wie die Russen in meinem<br />

Schloss hausen, ich sehe zerbrochene Fensterscheiben, abgerissene<br />

Tapeten und zertrampelte Blumenbeete, mon Dieu, mir schwindelt,<br />

wenn ich daran denke, dass diese Barbaren in Monbijou wohnen.»<br />

81


«Es gab keine an<strong>der</strong>e Möglichkeit, sie unterzubringen, und mir<br />

schwindelt, wenn ich an die Kosten dieses Besuches denke: ich<br />

habe angeordnet, dass 6 000 Taler reichen müssen, vor <strong>der</strong> Welt<br />

soll man es allerdings so darstellen, dass mich dieser Besuch 30 000<br />

bis 40 000 Taler kostet.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging im Zimmer auf und ab und blieb plötzlich<br />

vor einem Bild stehen, das seine beiden ältesten Kin<strong>der</strong> darstellte:<br />

Er betrachtete <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> ein dekolletiertes blaues Samtkleid<br />

mit goldener Verschnürung trug, sah die rostrote Schärpe und den<br />

schwarzen Adlerorden, dann wan<strong>der</strong>ten seine Augen von <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>trommel<br />

am Gürtel über die Toque mit den wallenden Fe<strong>der</strong>n<br />

auf den blonden Locken des Sohnes hin zur Tochter: Wilhelmine<br />

trug ein dekolletiertes Silberkleid mit Goldstickerei und einen roten<br />

Samtmantel, ihre hochgesteckten Haare waren mit einer Rose<br />

und Perlen geschmückt, hinter den Kin<strong>der</strong>n stand ein Mohr mit<br />

aufgespanntem Schirm, seine Augen wan<strong>der</strong>ten erneut zu Wilhelmine,<br />

<strong>der</strong>en Hand auf <strong>der</strong> des Bru<strong>der</strong>s lag, um ihn am Trommeln<br />

zu hin<strong>der</strong>n. Dann las er die Signatur des Malers: Pesne, 1714.<br />

Er ging zu Sophie Dorothea: «Das Gemälde von Pesne ist ein<br />

Meisterwerk, erinnern Sie sich, liebe Frau, warum ich ihm den<br />

Auftrag gab, unsere Kin<strong>der</strong> zu malen?»<br />

«Gewiss, Fritz und Wilhelmine waren in meinem Zimmer; Fritz<br />

versuchte, einen Marsch zu trommeln, Wilhelmine war damit beschäftigt,<br />

den Puppen in ihrem Wagen Blumen in die Arme zu legen,<br />

irgendwann bat sie Fritz, mit dem Trommeln aufzuhören und<br />

ihr bei den Blumen zu helfen, und mein Sohn erwi<strong>der</strong>te: ‹Trommeln<br />

ist mir nützlicher als Spielen und lieber als Blumen.›<br />

Als ich Ihnen die Szene schil<strong>der</strong>te, waren Sie so erfreut über das<br />

soldatische Interesse meines Sohnes, dass Sie Pesne den Auftrag<br />

für dieses Gemälde gaben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging wie<strong>der</strong> zu dem Bild und sagte: «Es wird<br />

Zeit, dass mein Sohn erneut gemalt wird, aber jetzt wird er keine<br />

Mädchenklei<strong>der</strong> mehr tragen, son<strong>der</strong>n die Uniform eines Grenadiers.<br />

Ich habe beschlossen, dass er im Herbst, während seines ersten<br />

Aufenthaltes in Wusterhausen, das Exerzieren lernt, ab Herbst<br />

wird er genau wie ich nur noch die Uniform seines militärischen<br />

Ranges tragen.»<br />

82


Gütiger Himmel, dachte Sophie Dorothea, er will ihn zum Soldaten<br />

erziehen, aber es ist klüger, wenn ich jetzt schweige, allerdings<br />

ist dies jetzt eine Gelegenheit, um über die englische Heirat<br />

zu sprechen.<br />

«Ich wünsche», sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «dass mein Fritzchen<br />

in Wusterhausen gemalt wird, aber wer soll ihn malen? Pesne und<br />

Leygabe weilen noch in Italien, Gericke und Huber sind in Holland,<br />

Weidenmann und Meister Hänsgen sind vollauf in Potsdam<br />

beschäftigt und werden von dem Regimentsmaler Fuhrmann unterstützt,<br />

Merk ist auf <strong>der</strong> Domäne Königshorst beschäftigt.»<br />

Sophie Dorothea sah den Gatten erstaunt an: «Womit sind sie<br />

beschäftigt, wen malen sie?»<br />

«Nun, Weidenmann und Meister Hänsgen haben vor einigen<br />

Wochen angefangen, meine Langen Kerls in Lebensgröße darzustellen,<br />

die Bil<strong>der</strong> sollen teils in meinen privaten Räumen, teils in<br />

einer Galerie des Schlosses hängen. Merk malt die Zuchtsauen,<br />

wenn er damit fertig ist, sind die Milchkühe an <strong>der</strong> Reihe.»<br />

«Mon Dieu, ich kann verstehen, dass Sie Ihre Soldaten malen<br />

lassen, aber Schweine und Kühe …»<br />

«Warum nicht? Daegen ist auch unabkömmlich, weil er die neuen<br />

Häuser malt, die ich in Potsdam bauen lasse, es ist wohl am besten,<br />

wenn Merk nach Wusterhausen kommt, seine angefangenen Bil<strong>der</strong><br />

soll er mitbringen, ich werde versuchen, sie fertigzumalen; ich bin<br />

gespannt, ob ich noch mit Palette und Pinsel umgehen kann, seit<br />

meiner Thronbesteigung habe ich kein Bild mehr gemalt. Merk kann<br />

das Fritzchen darstellen und vielleicht die Hirsche, die ich erlege.»<br />

Er trat wie<strong>der</strong> vor das Bild, studierte die Gesichtszüge des Sohnes,<br />

und nach einer Weile fragte Sophie Dorothea vorsichtig: «Wollen<br />

Sie Wilhelmine nicht auch malen lassen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah erstaunt auf: «Nein, es besteht keine Veranlassung.»<br />

«Man könnte die Bil<strong>der</strong> nach England schicken, mein Vater freut<br />

sich, wenn er seine Enkelkin<strong>der</strong> sieht, und <strong>Friedrich</strong> Ludwig und<br />

Amalie sind bestimmt neugierig auf Cousin und Cousine, mit denen<br />

sie fast verlobt sind.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging zu seiner Frau und sagte langsam: «Sie<br />

denken immer noch an diese Doppelhochzeit, aber ich bezweifele,<br />

83


dass mein Schwiegervater und mein Schwager noch daran interessiert<br />

sind.»<br />

«Warum zweifeln Sie? Als ich nach Wilhelmines Geburt meiner<br />

Schwägerin Caroline vorschlug, durch eine Vermählung Wilhelmines<br />

mit <strong>Friedrich</strong> Ludwig das alte Bündnis zwischen unseren<br />

Häusern zu stärken, war sie sofort einverstanden und mein Vater<br />

und mein Bru<strong>der</strong> ebenfalls, und als ich nach <strong>Friedrich</strong>s Geburt eine<br />

Vermählung mit Amalie vorschlug, weil sie altersmäßig zueinan<strong>der</strong><br />

passen, waren meine Verwandten ebenfalls einverstanden. Caroline<br />

hat <strong>Friedrich</strong> zu seinem zweiten Geburtstag einen Ring aus Amaliens<br />

Haaren geschickt. Als er fünf Jahre alt wurde, habe ich ihm<br />

den Ring gegeben und ihm erzählt, dass er einmal seine Cousine<br />

heiraten würde, er ist begeistert, betrachtet jeden Tag den Ring und<br />

spricht von seiner künftigen Verlobten, und Wilhelmine hat angefangen,<br />

mit <strong>Friedrich</strong> Ludwig zu korrespondieren. Meine Kin<strong>der</strong><br />

sind mit meinen Heiratsplänen einverstanden, mehr kann man nicht<br />

erwarten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm nahm einen Stuhl, setzte sich neben das Bett<br />

und streichelte einen Augenblick die Hände <strong>der</strong> Gattin, dann sagte<br />

er: «Sie vergessen, liebe Frau, dass unsere Großmutter, die Kurfürstin<br />

Sophie, im Juni 1714 überraschend verstarb, ihr folgte im<br />

August, ebenfalls überraschend, die englische Königin Anna, Ihr<br />

Vater wurde rascher als erwartet König von Großbritannien. Vielleicht<br />

verfolgt er nun, als Herrscher über eines <strong>der</strong> reichsten Län<strong>der</strong><br />

Europas, ganz an<strong>der</strong>e Heiratspläne für seine Kin<strong>der</strong>, in London<br />

schweigt man seit drei Jahren, was diese Doppelheirat betrifft.»<br />

«Sie irren sich, Caroline schrieb erst kürzlich, wie sehr mein Bru<strong>der</strong><br />

eine Verbindung zwischen Amalie und <strong>Friedrich</strong> wünscht.»<br />

«Was Ihr Bru<strong>der</strong> redet, ist doch nur Wind, Wind und blauer<br />

Dunst, und was mich betrifft, so wünsche ich keine Verbindung<br />

meines Sohnes mit einer englischen Prinzessin.»<br />

Sophie Dorothea richtete sich abrupt auf und entzog dem Gatten<br />

die Hand: «Wie bitte? Was haben Sie gegen Amalie?»<br />

«Liebe Frau, ich habe nichts gegen Amalie, aber bedenken Sie:<br />

Dieses Mädchen wächst an einem reichen Hof auf, sie ist bereits in<br />

<strong>der</strong> Wiege mit allem erdenklichen Luxus umgeben, sie wird sich<br />

am Berliner Hof nie wohl fühlen. Bei meinem Tod wird Preußen<br />

84


zwar ein blühendes Land sein, aber das Fritzchen wird zur Sparsamkeit<br />

erzogen, <strong>der</strong> Hof wird auch unter seiner Regierung bescheiden<br />

leben. Eine verwöhnte Prinzessin wie Amalie wird sich<br />

darüber beklagen, und falls mein Sohn ihre Wünsche nicht erfüllt,<br />

wird sie ihm das Leben schwermachen, und die Ehe wird unglücklich;<br />

falls er nachgibt, bedeutet das den fi nanziellen Ruin Preußens.<br />

Ich rackere mich nicht jeden Tag von früh bis spät ab, damit eine<br />

Welfi n irgendwann mein Lebenswerk zerstört. Nein, mein Sohn<br />

wird eine Prinzessin heiraten, die in bescheidenen Verhältnissen<br />

aufgewachsen ist und sich dem Berliner Hof anpasst. Was Wilhelmine<br />

betrifft, so kann ich mir nicht vorstellen, dass mein Bru<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> Komödiant, eine Verbindung seines Sohnes mit <strong>der</strong> Tochter seines<br />

Feindes wünscht, er hasst mich ebenso, wie ich ihn hasse, ich<br />

weiß, wie er mich betitelt: ‹mein Bru<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Korporal›; soll er, es<br />

stört mich nicht.»<br />

Er schwieg und fuhr dann zögernd fort: «Ich muss gestehen, ich<br />

kann mir Wilhelmine gut als Königin von England vorstellen, sie<br />

wird ihre Repräsentationspfl ichten hervorragend erfüllen, sie ist<br />

schon jetzt eine kleine Dame.»<br />

Sophie Dorothea lächelte: «Ich freue mich, dass wir einer Meinung<br />

sind, es ist mein sehnlichster Wunsch, dass meine Tochter<br />

eines Tages Königin von England wird, und was <strong>Friedrich</strong> betrifft,<br />

so verstehe ich Ihre Bedenken wegen Amalie, aber mein Sohn wird<br />

einmal König sein, er muss, hören Sie, er muss eine Prinzessin<br />

aus einem bedeutenden Haus heiraten, keine Provinzlerin aus irgendeinem<br />

unbedeutenden deutschen Fürstenhaus.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stand auf: «Entschuldigen Sie mich jetzt, die<br />

Arbeit ruft. Was Wilhelmines Verehelichung betrifft, so sollten Sie<br />

bedenken, dass es außer dem Herzog von Gloucester zwei weitere<br />

Kandidaten gibt, die man erwägen sollte.»<br />

Sophie Dorothea erschrak: «Zwei Kandidaten? Was haben Sie<br />

für Pläne?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte geheimnisvoll: «Bevor ich heute in<br />

das Tabakskollegium gehe, besuche ich Sie noch einmal, und dann<br />

verrate ich Ihnen die Namen <strong>der</strong> Kandidaten, seien Sie völlig beruhigt,<br />

beide Herren sind im Interesse Preußens.»<br />

Er küsste die Gattin auf den Mund und verließ das Zimmer.<br />

85


86<br />

3<br />

Als es fünf Uhr schlug, wurde Grumbkow gemeldet.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah von seinen Akten auf und beobachtete,<br />

wie <strong>der</strong> Minister mit fe<strong>der</strong>nden Schritten das Zimmer betrat, in<br />

<strong>der</strong> Mitte stehenblieb und sich schwungvoll verbeugte.<br />

«Pünktlich wie immer!», rief <strong>der</strong> König gutgelaunt. «Treten Sie<br />

näher», und er wies mit <strong>der</strong> Hand auf den dunkelbraunen Eichenstuhl<br />

vor dem Schreibtisch.<br />

Grumbkow verbeugte sich erneut: «Majestät, erlauben Sie, dass<br />

ich Ihnen von ganzem Herzen zur glücklichen Geburt des kleinen<br />

Prinzen gratuliere. Wie geht es Ihrer Majestät?»<br />

«Danke, meine Frau fühlt sich wohl und wird wahrscheinlich in<br />

einigen Tagen die Wochenstube verlassen können.»<br />

«Erlauben Sie, Majestät, dass ich Ihnen zu Ihrem großartigen<br />

Sieg über den Adel gratuliere. Die Junker müssen also künftig<br />

jährlich eine bestimmte Summe an die preußische Kriegskasse<br />

zahlen.»<br />

Er setzte sich, schlug lässig die Beine übereinan<strong>der</strong> und sah<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm erwartungsvoll an.<br />

Ein listiges Lächeln umspielte die Lippen des Königs, er lehnte<br />

sich behaglich zurück und sagte: «Ja, ich habe die Junker zur<br />

Raison gebracht, aber es war eine schwere Arbeit. Nach meinem<br />

Edikt vom 5. Januar trafen täglich schriftliche Proteste <strong>der</strong> hohen<br />

Herren ein, nun, das war zu erwarten, also bin ich wochenlang in<br />

meinem Staat umhergereist und habe mit jedem Junker verhandelt,<br />

sogar die adeligen Dickschädel in Ostpreußen haben nachgegeben.»<br />

Grumbkow beugte sich erstaunt vor: «Ostpreußen, Majestät?<br />

Das verstehe ich nicht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schmunzelte: «Nun, schon seit geraumer Zeit<br />

bezeichnen die ausländischen Gesandten meinen Staat als Preußen,<br />

Preußen ist für das Ausland inzwischen nicht nur das Königreich<br />

im Osten, son<strong>der</strong>n auch die Mark Brandenburg und meine Besitzungen<br />

am Rhein.


Es gibt also faktisch den Staat Preußen, und damit keine Verwirrung<br />

entsteht, werde ich die Gebiete im Osten als Ostpreußen<br />

bezeichnen, im Gegensatz zum polnischen Westpreußen. Ich habe<br />

inzwischen dekretiert, dass eine permanente Steuer von vierzig<br />

Talern jährlich auf jedes Ritterpferd gezahlt werden muss, das ergibt<br />

ein beträchtliches Plus für die Staatskasse.»<br />

Er nahm eine Aktenmappe, schlug sie auf und sagte: «Creutz hat<br />

mir eine Aufstellung über die Anzahl <strong>der</strong> Schulhäuser in meinem<br />

Staat geliefert, in Ostpreußen zum Beispiel gibt es nur 320 Schulhäuser,<br />

das heißt, eine Schule für 1500 Menschen, diesen Zustand<br />

will ich än<strong>der</strong>n. In Preußen soll es in einigen Jahren je eine Schule<br />

für 400 Menschen geben.»<br />

Es entstand eine Pause, dann beugte Grumbkow sich etwas vor<br />

und sagte: «Euer Majestät wollen also Schulhäuser bauen?»<br />

Da sprang <strong>Friedrich</strong> Wilhelm auf, lief im Zimmer hin und her,<br />

blieb vor dem Minister stehen und rief ungeduldig: «Verstehen Sie<br />

nicht, was ich plane? Ich will in Preußen die allgemeine Schulpfl<br />

icht einführen. In den nächsten Wochen ergeht eine Verordnung<br />

an alle Kirchenbehörden: ab Oktober müssen die Eltern – egal ob<br />

Kaufl eute, Handwerker o<strong>der</strong> Bauern – ihre Kin<strong>der</strong>, nicht nur die<br />

Söhne, son<strong>der</strong>n auch die Töchter, vom fünften bis zum zwölften<br />

Lebensjahr in die Schule schicken, im Winter an jedem Werktag,<br />

im Sommer, wenn die Kin<strong>der</strong> zur Feldarbeit benötigt werden, an<br />

zwei Werktagen. Die Eltern müssen für den Unterricht wöchentlich<br />

sechs Pfennige bezahlen, für die Mittellosen wird die Ortsarmenkasse<br />

einspringen. Seit dem vergangenen Jahr lehren meine<br />

Feldprediger die Rekruten lesen, schreiben und rechnen, aber ich<br />

wünsche, dass alle meine Untertanen lesen, schreiben und rechnen<br />

können. Ein Bauer, <strong>der</strong> rechnen kann, wird nicht nur für den<br />

eigenen Bedarf das Land bewirtschaften, son<strong>der</strong>n ein Plus produzieren,<br />

das er verkaufen kann, gebildete Untertanen kurbeln die<br />

Wirtschaft an.»<br />

«Der Plan Eurer Majestät ist faszinierend, aber Sie werden wahrscheinlich<br />

auf starken Wi<strong>der</strong>stand stoßen: die Eltern werden Ihr<br />

Edikt als Eingriff in ihr Verfügungsrecht über die Kin<strong>der</strong> sehen,<br />

überdies werden sie es nicht gern sehen, dass die Kin<strong>der</strong> klüger sind<br />

als sie selbst, und sie werden nicht gewillt sein, im Sommer auf die<br />

87


Kin<strong>der</strong> als billige Arbeitskräfte zu verzichten; die Kirche wird dagegen<br />

sein, weil sie ein Volk, das lesen, schreiben und rechnen kann,<br />

nicht mehr so beeinfl ussen kann wie in <strong>der</strong> Vergangenheit; die Junker<br />

werden ebenfalls opponieren, weil ein Bauer, <strong>der</strong> kein Analphabet<br />

mehr ist, vielleicht die Frondienste kritisch betrachtet.»<br />

«Ich bin an Wi<strong>der</strong>stand gewöhnt und werde ihn brechen, mein<br />

Gott, Grumbkow, ich bin doch <strong>der</strong> Herr und König in diesem Land<br />

und kann tun und lassen, was ich will, also: den Gutsherren wird<br />

befohlen, auf ihre Kosten Schulhäuser zu errichten und die Lehrer<br />

zu bezahlen, auf den Domänen trägt <strong>der</strong> Staat die Baukosten, und<br />

bis die Häuser errichtet sind, werden die Kin<strong>der</strong> in den Schlössern<br />

und Gutshäusern unterrichtet; in den Städten wird sich für die<br />

Übergangszeit auch ein Raum fi nden. Was die Lehrer betrifft, so<br />

werde ich zunächst Theologiestudenten aus dem Hallischen Waisenhaus<br />

Franckes anwerben, diese jungen Männer haben Waisenkin<strong>der</strong><br />

unterrichtet und eine gewisse pädagogische Erfahrung, irgendwann<br />

werden in Preußen auch Lehrer ausgebildet, wie, muss<br />

noch reifl ich überlegt werden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm setzte sich an den Schreibtisch und sah nachdenklich<br />

vor sich hin.<br />

«Lieber Grumbkow», sagte er nach einer Weile, «ich möchte, dass<br />

meine Untertanen fröhlich arbeiten, dies bedeutet, dass die Bauern,<br />

sie sind zahlenmäßig <strong>der</strong> größte Teil, allmählich von den Frondiensten,<br />

die sie dem Gutsherren leisten, befreit werden. Das geht nicht<br />

von heute auf morgen, vor allem darf <strong>der</strong> Adel nicht noch mehr gereizt<br />

werden, die allgemeine Schulpfl icht ist ein erster Schritt, <strong>der</strong><br />

nächste Schritt ist eine Domänenreform. Einige Monate nach meiner<br />

Thronbesteigung, im August 13, erließ ich ein Edikt, wonach<br />

sämtliche königliche Besitzungen unveräußerlich sind, mit an<strong>der</strong>en<br />

Worten, die königlichen Besitzungen sind Staatseigentum. Dieses<br />

Staatseigentum werde ich in den kommenden Jahren vergrößern, ich<br />

werde also verschuldetes Junkerland kaufen und in Krondomänen<br />

umwandeln, und auf meinen Domänen wird es keine junkerliche<br />

Willkür mehr geben. Bereits im letzten Jahr hob ich bei den Verwaltern<br />

die Erbpacht auf, jetzt gibt es nur noch Zeitpacht auf sechs Jahre,<br />

und wenn ein Verwalter sich korrupt o<strong>der</strong> brutal aufführt, wird er<br />

gekündigt und durch einen besseren Kandidaten ersetzt.<br />

88


Allen Gutsbesitzern und Domänenverwaltern werde ich streng<br />

untersagen, die Bauern mit Schlägen zu traktieren, die Junker werden<br />

sich einen Teufel um dieses Edikt scheren, das weiß ich, aber<br />

auf den Domänen wird es künftig we<strong>der</strong> Stock noch Peitsche geben;<br />

nur ein Bauer, <strong>der</strong> gutwillig arbeitet, arbeitet auch gut, und<br />

gute Arbeit, das ist wichtig in meinem Staat.»<br />

Grumbkow schwieg, betrachtete seine gepfl egten, polierten Fingernägel<br />

und sagte nach einer Weile: «Die Kontrolle <strong>der</strong> Domänenpächter<br />

ist nicht schwierig, man muss eben die Bauern befragen,<br />

aber wie wollen Eure Majestät kontrollieren, ob die Eltern ihre<br />

Kin<strong>der</strong> zur Schule schicken?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm seufzte: «Das ist ein allgemeines Problem<br />

in meinem Staat, man müsste Kommissionen einsetzen, die regelmäßig<br />

durch das Land reisen, aber dies bedeutet eine Verwaltungsreform,<br />

eine Zentralisierung, und im Augenblick habe ich<br />

noch keine Idee, wie man die Verwaltung besser organisieren<br />

kann.»<br />

Grumbkow betrachtete das nachdenkliche Gesicht des Königs<br />

und dachte: Kurios, auf den Domänen schafft er die Prügelstrafe<br />

ab, er selbst aber prügelt lustig weiter, unabhängig von Rang und<br />

Stand. Der König sah zur Uhr und sagte: «Lieber Grumbkow, wir<br />

sehen uns später im Tabakskollegium, ich habe meiner Frau versprochen,<br />

sie vorher zu besuchen.»<br />

Als er Sophie Dorotheas Zimmer betrat, war die Kammerfrau<br />

Ramen damit beschäftigt, eine Robe nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en vor ihrer<br />

Herrin auszubreiten, und er hörte die Gattin sagen: «Nein, sie ist<br />

zu schlicht, nein, sie ist zu prunkvoll, nein, die Farbe ist zu langweilig»<br />

– in diesem Augenblick sah sie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und rief:<br />

«Man hat Sie nicht gemeldet!»<br />

«Liebe Frau, Sie wissen, dass ich diese Förmlichkeiten hasse.»<br />

Sophie Dorothea lächelte den Gatten an: «Nun, welches Kleid<br />

soll ich beim Empfang des Zaren tragen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete eine Robe nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en und<br />

sagte: «Ich verstehe nichts von modischem Firlefanz.»<br />

«Ich würde mir ja neue Klei<strong>der</strong> für den Zarenempfang schnei<strong>der</strong>n<br />

lassen, weil ich weiß, dass Peter Ihr Freund ist, aber meine<br />

89


fi nanzielle Lage erlaubt es nicht», sie seufzte und lächelte den Gatten<br />

erneut an.<br />

Er vermied ihren Blick, ging unruhig auf und ab, blieb dann vor<br />

dem Bett stehen und sagte: «Liebe Frau, wir Preußen sind arme<br />

Leute, Sie müssen mit Ihrem Jahresgehalt von 80 000 Talern auskommen,<br />

ich weiß, dass es nicht einfach für Sie ist, weil Sie auch<br />

die Gar<strong>der</strong>obe <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> davon bezahlen müssen, aber wir sind<br />

nun einmal arme Leute», und zu <strong>der</strong> Ramen: «Ich möchte mit meiner<br />

Frau unter vier Augen sprechen.»<br />

Die Kammerfrau knickste, verließ den Raum, ging in das Zimmer<br />

nebenan, presste ihr Ohr an die Tapetentür, und als sie die<br />

Stimme des Königs hörte, hielt sie die Hand vor den Mund, um ihr<br />

Lachen zu unterdrücken.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm setzte sich neben das Bett, streichelte die Hände<br />

<strong>der</strong> Gattin und sagte: «Nun, Fiekchen, du bist gewiss gespannt, wer<br />

die beiden Heiratskandidaten für Wilhelmine sind.»<br />

«Gewiss, aber sie sind bestimmt keine bessere Partie als <strong>der</strong> Herzog<br />

von Gloucester.»<br />

«Wie man es betrachtet, <strong>der</strong> eine Kandidat ist <strong>der</strong> schwedische<br />

König Karl XII.»<br />

«Wie bitte? Er ist doch viel zu alt für meine Tochter, er ist fast<br />

Mitte dreißig, Wilhelmine wird in diesem Sommer acht Jahre, es<br />

dauert noch mindestens sieben Jahre, bis sie im heiratsfähigen Alter<br />

ist, dann hat <strong>der</strong> König das vierzigste Lebensjahr überschritten.<br />

Willst du meine Tochter mit einem alten Mann verheiraten?»<br />

«Ich bin auch nicht glücklich über den Altersunterschied, aber<br />

die Friedensverhandlungen mit Schweden stagnieren, weil es zwischen<br />

den verbündeten Mächten gegen Schweden Spannungen<br />

gibt. Seit einiger Zeit versucht <strong>der</strong> Minister Karls XII., Graf Görtz,<br />

den Krieg zu beenden, indem er sich mit Schwedens Hauptgegner<br />

Russland verständigt. Mein Interesse ist es, dass Preußen in einem<br />

Friedensvertrag in den Besitz <strong>der</strong> O<strong>der</strong>mündung gelangt, so kam<br />

ich auf die Idee, das Einvernehmen mit Schweden über Heiratsverhandlungen<br />

herzustellen.»<br />

«Ist die O<strong>der</strong>mündung wirklich so wichtig?»<br />

«Ja, so können wir am Seehandel teilnehmen.» Er schwieg ei-<br />

90


nen Augenblick und fuhr fort: «Fiekchen, Schweden hat, seit <strong>der</strong><br />

Nie<strong>der</strong>lage bei Poltawa, zwar seine Vormachtstellung im nordosteuropäischen<br />

Raum an Russland abtreten müssen, aber Karl XII.<br />

ist immerhin ein König und das Haus Wasa eine alte Dynastie, ich<br />

weiß doch, wie sehr dir daran liegt, dass Wilhelmine einen König<br />

heiratet. Warum soll sie nicht Königin von Schweden werden?»<br />

Sophie Dorothea erwi<strong>der</strong>te: «Ich muss darüber nachdenken; wer<br />

ist <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Kandidat?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm zögerte, stand auf, ging im Zimmer umher,<br />

dann trat er zur Gattin und sagte: «Es ist <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, <strong>der</strong><br />

Erbprinz und künftige Markgraf von Schwedt, er ist neun Jahre<br />

älter als Wilhelmine und würde altersmäßig besser zu ihr passen<br />

als <strong>der</strong> Schwede.»<br />

Sophie Dorothea starrte den Gatten einen Augenblick fassungslos<br />

an, dann setzte sie sich auf und rief empört: «Mon Dieu, meine<br />

Tochter soll einen einfachen Markgrafen heiraten? Abgesehen<br />

davon, dass <strong>der</strong> Prinz leichtsinnig ist und nur dumme Streiche im<br />

Kopf hat, das habe ich bei seinen Besuchen an unserem Hof beobachtet,<br />

aber die Markgrafschaft Schwedt ist lächerlich klein und<br />

müsste zu Preußen gehören, diese sogenannte Markgrafschaft hat<br />

deine Stiefgroßmutter mit List und Tücke ergattert, damit nicht<br />

genug, versuchte sie deinen Vater zu vergiften, damit ihr ältester<br />

Sohn einmal Kurfürst würde, dein Vater fl oh zum Glück vom Hof<br />

deines Großvaters, so rettete er sein Leben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm hob abwehrend die Hand: «Ach, diese alten<br />

Geschichten … Mein Vater bildete sich ein, dass seine Stiefmutter<br />

ihn vergiften wollte, und was Schwedt betrifft, so hat sie diese<br />

Län<strong>der</strong>eien völlig legal erworben. Es gibt ein Gesetz, die sogenannte<br />

Dispositio Achillea, wonach Kin<strong>der</strong> aus zweiten Ehen des<br />

regierenden Kurfürsten nicht mit eigenem Land und Untertanen<br />

im Nachlass bedacht werden dürfen. Meine Stiefgroßmutter wollte<br />

ihren Söhnen etwas vererben, umging diese Bestimmungen<br />

geschickt, kaufte das von meinem Großvater verpfändete Amt<br />

Schwedt-Vierraden zurück und bezahlte den Preis von 26 500 Talern<br />

aus ihren eigenen Mitteln, später erwarb sie dann das Amt<br />

Wildenbruch in <strong>der</strong> Neumark und Schloss und Stadt Fiddichow an<br />

<strong>der</strong> O<strong>der</strong> hinzu, insgesamt ist Schwedt ein ansehnlicher Besitz mit<br />

91


drei Schlössern, drei Städten, dreiunddreißig Dörfern und vierundzwanzig<br />

Vorwerken. Da es ihr Privateigentum war, vermachte<br />

sie es ihren Kin<strong>der</strong>n, und ihr ältester Sohn wurde anno 90 erster<br />

regieren<strong>der</strong> Markgraf von Schwedt.»<br />

Sophie Dorothea sah verdrossen vor sich hin und sagte nach einer<br />

Weile: «Diese Verbindung wäre für Wilhelmine ein Abstieg,<br />

kein Aufstieg.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Du vergisst, Fiekchen, dass <strong>der</strong><br />

künftige Markgraf <strong>der</strong> preußische Thronprätendent ist. Wir haben<br />

jetzt zwei Söhne, aber wer weiß, vielleicht sterben sie in jungen<br />

Jahren, vielleicht schenkt Gott uns keine weiteren Söhne mehr.<br />

Angenommen, <strong>der</strong> Fall des Falles tritt ein, und ich sterbe ohne<br />

männliche Nachkommen, dann würden, falls Wilhelmine mit dem<br />

Schwedter verheiratet ist, meine Staaten erhalten bleiben, Schwedt<br />

würde überdies wie<strong>der</strong> zu Preußen gehören, kurz, mein Lebenswerk<br />

würde erhalten bleiben; falls Wilhelmine aber mit dem Herzog<br />

von Gloucester verheiratet ist, würde Preußen unweigerlich<br />

ein Vasall Englands und faktisch untergehen.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte Sophie Dorothea: «Ich verstehe<br />

deine Überlegungen, aber wir haben jetzt zwei Söhne und ich<br />

halte es für unwahrscheinlich, dass du ohne männliche Nachkommen<br />

stirbst.»<br />

«Dieser Heiratsplan entstand nach <strong>der</strong> Geburt von Philippine<br />

Charlotte und er ist eine Idee von Grumbkow und Leopold.»<br />

«Aha, eine Idee deines Freundes Leopold. Natürlich wäre es ihm<br />

lieb, wenn Wilhelmine seinen Neffen heiraten würde, dann wäre<br />

nach deinem Tod <strong>der</strong> ‹Alte Dessauer›, sofern er noch lebt, <strong>der</strong> wahre<br />

preußische König, dann würde er regieren und nicht sein Neffe<br />

und meine Tochter.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm seufzte: «Ich weiß, dass Leopold ehrgeizig ist,<br />

aber in diesem Fall denkt er auch an das Wohl Preußens, er ist<br />

<strong>der</strong> Meinung, dass nur ein bedingungsloser Anschluss Preußens<br />

an das Haus Habsburg den Bestand meines Staates garantiert; ein<br />

Bündnis zwischen Berlin und London führt zur Entfremdung von<br />

Österreich, deshalb lehnt er die englische Heirat ab.»<br />

Sophie Dorothea überlegte eine Weile und erwi<strong>der</strong>te: «Dein<br />

Freund Leopold ist also proösterreichisch und antienglisch ein-<br />

92


gestellt; aber warum befürwortet Grumbkow die Verbindung mit<br />

Schwedt?»<br />

«Ich verstehe nichts von Außenpolitik, Fiekchen, aber Ilgen und<br />

Grumbkow sind davon überzeugt, dass eine notwendige Ausdehnung<br />

und Abrundung Preußens nur nach Westen hin möglich ist,<br />

da steht nun allerdings Hannover im Wege, eine preußisch-englische<br />

Heirat würde, ihrer Meinung nach, unsere Ausdehnungsbestrebungen<br />

lähmen, deswegen lehnt Grumbkow eine erneute<br />

eheliche Verbindung zwischen den Welfen und Hohenzollern ab.»<br />

Sophie Dorothea musterte den Gatten und fragte: «Du kennst<br />

die Meinung deiner Minister. Welches Bündnis würdest du befürworten,<br />

das mit England o<strong>der</strong> das mit Österreich?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging im Zimmer auf und ab, blieb dann stehen<br />

und sagte mit einem hilfl osen Unterton in <strong>der</strong> Stimme: «Ich<br />

weiß es nicht, jedes Bündnis hat seine Vor- und Nachteile, ich weiß<br />

wirklich nicht, für wen ich mich entscheiden soll.»<br />

Sophie Dorothea lächelte: «Niemand erwartet von dir, dass du<br />

dich endgültig entscheidest, die ganze Außenpolitik ist doch nur<br />

ein Maskenspiel, so jedenfalls habe ich es am Hofe meines Vaters<br />

immer empfunden.»<br />

«Ein Maskenspiel?»<br />

«Ja, bei einem Maskenspiel wechselt man im Laufe des Abends<br />

die Masken, in <strong>der</strong> Außenpolitik schließt man heute einen Vertrag<br />

mit dem Staat X, am nächsten Tag wi<strong>der</strong>ruft man ihn und schließt<br />

einen Vertrag mit dem Staat Y, man verbündet sich so, wie es im<br />

Augenblick für den eigenen Staat am nützlichsten ist. Dein Großvater,<br />

<strong>der</strong> Große Kurfürst, hat seinen Staat nur erhalten können,<br />

weil er es meisterhaft verstand, mit Bündnissen zu jonglieren, oh,<br />

ich liebe diese außenpolitischen Maskenspiele.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm horchte auf, und für den Bruchteil einer Sekunde<br />

streiften seine Augen argwöhnisch das Gesicht <strong>der</strong> Gattin,<br />

dann sah er ihre lächelnden Augen und beruhigte sich.<br />

«Ich hasse außenpolitische Maskenspiele, ein Vertrag verpfl ichtet,<br />

man sollte immer dazu stehen, ich bin ein aufrichtiger Mensch<br />

und werde auch in <strong>der</strong> Außenpolitik immer aufrichtig handeln,<br />

kein Blatt vor den Mund nehmen und offen sagen, was ich denke;<br />

Aufrichtigkeit ist immer besser als Lüge und Verstellung, und jetzt<br />

93


entschuldige mich, man erwartet mich bereits im Tabakskollegium.<br />

Ich wünsche dir eine geruhsame Nacht.»<br />

Er küsste sie auf den Mund und verließ das Zimmer.<br />

Sophie Dorothea klingelte Sturm nach ihrer Kammerfrau, und<br />

als die Ramen in das Zimmer stürzte, rief sie: «Mon Dieu, liebe Ramen,<br />

soeben habe ich erfahren, dass <strong>der</strong> König beabsichtigt, meine<br />

älteste Tochter eventuell mit dem König von Schweden o<strong>der</strong> dem<br />

Markgrafen von Schwedt zu vermählen. Die Verbindung mit dem<br />

Markgrafen ist eine Idee von Grumbkow und dem ‹Alten Dessauer›,<br />

diese beiden Herren sind gegen meine englischen Heiratspläne.<br />

Wer gegen diese Pläne ist, den betrachte ich als meinen Feind, oh,<br />

ich werde nichts unversucht lassen, um diese Doppelheirat zu arrangieren,<br />

das schwöre ich.»<br />

«Majestät, bitte, beruhigen Sie sich. Die Prinzessin Wilhelmine<br />

ist so jung, es dauert noch einige Jahre, bis sie im heiratsfähigen<br />

Alter ist. Sie sollten die Entwicklung, was die Heiratspläne Seiner<br />

Majestät betrifft, in Ruhe abwarten.»<br />

Sophie Dorothea überlegte: «Sie hat recht, es ist wenig sinnvoll,<br />

den König von seinen jetzigen Plänen mit Schweden und dem<br />

Markgrafen abzubringen; wenn man lange genug wartet, erledigen<br />

Probleme sich manchmal von selbst.»<br />

Als es zehn Uhr schlug, legte die Ramen ihre Näharbeit zur Seite<br />

und ging zum Bett <strong>der</strong> Königin: «Haben Sie noch einen Wunsch,<br />

Majestät, soll ich Ihnen einen Schlaftrunk bringen?»<br />

«Danke, liebe Ramen, ich bin furchtbar müde und möchte jetzt<br />

schlafen, ein Fenster kann offen bleiben, und morgen früh kommt<br />

Sie erst, wenn ich klingele.»<br />

«Selbstverständlich, Majestät.»<br />

Während die Kammerfrau sorgfältig eine Kerze nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

löschte, sagte sie: «In <strong>der</strong> Tabagie geht es heute hoch her, zur<br />

Feier des Tages hat <strong>der</strong> König eigenhändig Fische gebraten und Salat<br />

zubereitet, dazu wird Tokaier getrunken.»<br />

«Woher weiß Sie dies?»<br />

«Eversmann hat es mir erzählt.»<br />

«Ach so.» Im nächsten Augenblick war Sophie Dorothea eingeschlafen.<br />

94


Die Ramen zog die Bettvorhänge zusammen, schraubte den<br />

Docht <strong>der</strong> Nachtlampe niedriger und eilte hinunter in das Erdgeschoss<br />

zum Tabakskollegium.<br />

Schon von weitem hörte sie, wie Männerstimmen das Lieblingslied<br />

des Königs grölten: «Prinz Eugen, <strong>der</strong> edle Ritter …»<br />

Als die Ramen vor <strong>der</strong> Tür des Kollegiums stand, brach das Lied<br />

ab, und sie hörte den König rufen: «Na, Gundling, alter Säufer, hier<br />

trinken Sie noch ein Glas, meine Herren, es lebe <strong>der</strong> Herr Geheimrat<br />

Gundling!»<br />

Die Ramen sah sich vorsichtig um, dann presste sie ihr rechtes<br />

Ohr an die Tür, hörte undeutlich die lallende Stimme Gundlings,<br />

und dann rief <strong>der</strong> König: «Meine Herren, hiermit ernenne ich den<br />

Geheimrat Gundling zum Oberzeremonienmeister!»<br />

Alle lachten, und einer <strong>der</strong> Anwesenden rief: «Das Amt ist doch<br />

längst abgeschafft!»<br />

«Das macht nichts», rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «auf das Wohl des<br />

neuen Oberzeremonienmeisters!»<br />

Da hörte die Ramen, wie Schritte sich <strong>der</strong> Tür näherten, sie eilte<br />

zur Seite, und im nächsten Augenblick fl og die Tür auf. Gundling<br />

taumelte hinaus und fi el <strong>der</strong> Länge nach auf den Boden.<br />

Die Ramen rannte den Gang entlang, verbarg sich in einer Fensternische<br />

und beobachtete, wie <strong>der</strong> ‹Alte Dessauer› und ein an<strong>der</strong>er<br />

Offi zier den mittelgroßen, rundlichen Gundling aufhoben und in<br />

das Tabakskollegium zurückschleiften.<br />

«Na», sagte sie zu sich selbst, «das Saufgelage wird noch eine<br />

Weile dauern, Zeit genug, um mit Eversmann zu schwätzen.»<br />

Der Kammerdiener saß im Vorraum von <strong>Friedrich</strong> Wilhelms<br />

Appartement und reinigte die Pistolen seines Herren.<br />

Die Ramen trat erstaunt näher: «Was macht Er? Der König trägt<br />

nie Pistolen bei sich!»<br />

«Davon versteht Sie nichts», brummte Eversmann, «Waffen<br />

müssen in gewissen Abständen gereinigt werden, und diese Pistolen<br />

haben eine gründliche Reinigung nötig.»<br />

Die Ramen setzte sich auf einen Schemel, betrachtete die kräftige,<br />

vierschrötige Gestalt des Dieners, rechnete nach, dass er so alt<br />

wie <strong>der</strong> König war, und sagte: «Ich habe Neuigkeiten.»<br />

Der Kammerdiener verzog keine Miene und die Ramen fuhr<br />

95


fort: «Heute Nachmittag unterhielten sich <strong>der</strong> König und Olympia<br />

über die Verheiratung ihrer beiden ältesten Kin<strong>der</strong>.»<br />

Eversmann sah auf: «Wer ist Olympia?»<br />

«Gütiger Himmel, das weiß Er nicht? Die Königin wird seit einigen<br />

Tagen bei Hof hinter vorgehaltener Hand ‹Olympia› genannt.<br />

Olympia wünscht eine Doppelheirat zwischen ihren beiden ältesten<br />

Kin<strong>der</strong>n und dem Herzog von Gloucester, dem künftigen<br />

englischen König, und seiner Schwester Amalie. Der König hat<br />

zwar nichts dagegen, dass seine Tochter einmal Königin von England<br />

wird, aber er ist gegen eine Verbindung des Kronprinzen mit<br />

<strong>der</strong> Prinzessin Amalie. Der König denkt auch an eine Verbindung<br />

<strong>der</strong> Prinzessin Wilhelmine mit dem Schwedenkönig o<strong>der</strong> dem<br />

Erbprinzen von Schwedt. Die Verbindung mit Schwedt wird von<br />

Grumbkow und dem Dessauer befürwortet, weil beide, aus irgendwelchen<br />

Gründen, gegen die englische Heirat sind.»<br />

Sie schwieg, und als Eversmann sich weiterhin mit den Pistolen<br />

beschäftigte, fragte sie erwartungsvoll: «Nun, was zahlt Er mir für<br />

diese Neuigkeiten?»<br />

Der Kammerdiener sah auf und erwi<strong>der</strong>te ruhig: «Ich muss erst<br />

wissen, was Grumbkow mir für diese Neuigkeiten zahlt.»<br />

Die Ramen verzog enttäuscht den Mund und beobachtete<br />

stumm, wie <strong>der</strong> Kammerdiener seine Arbeit beendete und die Pistolen<br />

sorgfältig in einem Kasten aus Ebenholz verwahrte.<br />

Dann setzte er sich neben die Ramen und fragte: «Wird die Prinzessin<br />

Wilhelmine immer noch von <strong>der</strong> Leti gezüchtigt?»<br />

«Ja, die Amme <strong>der</strong> Prinzessin, die Mermann, erzählte mir, dass<br />

die Leti das Kind bei <strong>der</strong> geringsten Verfehlung körperlich züchtigt.»<br />

«Gütiger Himmel, ein so liebenswürdiges Kind wie die Prinzessin<br />

ist bestimmt nie so unartig, dass man es körperlich züchtigen<br />

muss. Was nimmt diese hergelaufene Italienerin sich heraus? Sie<br />

ist die Tochter eines italienischen Mönchs, <strong>der</strong> aus seinem Kloster<br />

fl oh, seinem Glauben abschwor und sich in Holland nie<strong>der</strong>ließ; gewiss,<br />

er hat eine Geschichte Brandenburgs verfasst und über das<br />

Leben Karls V. und Philipps II. geschrieben, aber ich verstehe nicht,<br />

dass die Königin die körperliche Züchtigung ihrer Tochter durch<br />

diese Person duldet.»<br />

96


Die Ramen zögerte etwas und erwi<strong>der</strong>te: «Nun, Ihre Majestät<br />

ist für eine strenge Erziehung, überdies befürchtet sie, dass, wenn<br />

sie <strong>der</strong> Leti Einhalt gebietet o<strong>der</strong> sie gar entlässt, die Italienerin<br />

schlechte Nachrichten über Wilhelmine nach England schickt,<br />

schlechte Nachrichten über das Benehmen o<strong>der</strong> die äußere Erscheinung<br />

<strong>der</strong> Prinzessin zum Beispiel. Die Leti kam anno 12 auf<br />

Empfehlung von Lady Arlington an unseren Hof, die Leti korrespondiert<br />

wahrscheinlich mit ihr.»<br />

Eversmann grinste: «Gewiss, indes, wer kann sie daran hin<strong>der</strong>n,<br />

etwas Negatives über unsere Prinzessin zu berichten? Soll ich nicht<br />

doch dem König andeuten, wie seine Tochter von dieser hergelaufenen<br />

Person behandelt wird?»<br />

«Nein, auf keinen Fall, <strong>der</strong> König würde die Leti sofort vom Hofe<br />

verjagen, wer weiß, was sie dann in England erzählte, und meine Herrin<br />

müsste die Vorwürfe des Königs ertragen, nein, Er soll schweigen!»<br />

«Wie Sie meint. Übrigens, vor einigen Wochen beobachtete ich,<br />

dass <strong>der</strong> Dessauer sich mit <strong>der</strong> Leti unterhielt, na, vielleicht war es<br />

eine harmlose Unterhaltung, vielleicht auch nicht, ich weiß nur,<br />

dass an diesem Hof je<strong>der</strong> bestechlich ist.»<br />

Die Ramen sah den Kammerdiener unsicher an und zuckte plötzlich<br />

zusammen: «Höre Er, ist das nicht <strong>der</strong> Stock des Königs?»<br />

Sie lauschten dem gleichmäßigen Schlag auf den Holzfußboden,<br />

<strong>der</strong> von schweren Schritten begleitet war, die sich dem Appartement<br />

näherten.<br />

Die Ramen sprang auf und verbarg sich hinter einem <strong>der</strong> Wandschirme,<br />

während <strong>der</strong> Kammerdiener gelassen die Ankunft seines<br />

Herren erwartete.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm die Tür aufstieß und in das Zimmer taumelte,<br />

eilte Eversmann auf ihn zu, fi ng ihn auf und geleitete ihn in<br />

das Schlafzimmer.<br />

Als er dem König den Rock auszog, lallte dieser: «Ich glaube,<br />

ich … ich bin … ich bin ein bisschen betrunken», dann fi el er auf<br />

das Bett.<br />

Während <strong>der</strong> Kammerdiener ihm die Schuhe auszog, die Beine<br />

hochlegte und eine Decke über ihn breitete, lallte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm:<br />

«Es … es lebe … Ger … Germania teutischer Nation, ein …<br />

ein Hundsfott …»<br />

97


Im nächsten Augenblick war er eingeschlafen und begann, laut<br />

zu schnarchen.<br />

Eversmann verließ das Zimmer, gab <strong>der</strong> Ramen einen Wink, und<br />

sie eilte hinaus zu ihrer Kammer im Appartement <strong>der</strong> Königin.<br />

98


4<br />

Am nächsten Vormittag sagte Duhan zu <strong>Friedrich</strong>: «Königliche<br />

Hoheit, während <strong>der</strong> kommenden Woche werden Sie vor allem das<br />

Kopfrechnen üben, also: fünf plus fünf?»<br />

<strong>Friedrich</strong> rechnete und sagte: «Zehn.»<br />

«Gut, zehn minus fünf?»<br />

Er rechnete erneut: «Fünf.»<br />

«Gut, jetzt noch einmal: fünf plus fünf?»<br />

«Zehn.»<br />

«Zehn minus fünf?»<br />

«Fünf.»<br />

«Sehr gut, noch einmal, fünf plus fünf?»<br />

Da sah <strong>Friedrich</strong> seinen Lehrer erstaunt an und fragte: «Monsieur<br />

Duhan, warum muss ich immer dieselben Aufgaben rechnen?»<br />

Der Hugenotte sah verlegen zu Boden, zögerte etwas, dann<br />

straffte er sich und antwortete: «Königliche Hoheit, Seine Majestät<br />

wird nach dem Zarenbesuch an einer Ihrer Rechenstunden teilnehmen,<br />

um sich von Ihren Fortschritten zu überzeugen, und … nun<br />

ja, ich bereite Sie auf diese Rechenstunde vor.»<br />

<strong>Friedrich</strong> schwieg eine Weile, dann fragte er vorsichtig: ,,Monsieur<br />

Duhan, werden Sie mir die Aufgaben, die Sie mir soeben gaben,<br />

auch geben, wenn mein Vater anwesend ist?»<br />

Duhan mied den Blick <strong>der</strong> großen Kin<strong>der</strong>augen, ging im Zimmer<br />

auf und ab, blieb dann vor seinem Schüler stehen und sagte:<br />

«Ja, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah seinen Lehrer unsicher an und fragte: «Monsieur<br />

Duhan, ist es … ist es nicht eine Lüge, wenn Sie die Aufgaben, die<br />

Sie mir stellen, vorher mit mir üben? Mein Papa denkt nach dieser<br />

Stunde, dass ich gut rechnen kann, aber ich kann nicht gut rechnen,<br />

das weiß ich.»<br />

Duhan ging eine Weile im Zimmer auf und ab, dann blieb er vor<br />

<strong>Friedrich</strong> stehen und sagte: «Königliche Hoheit, es ist keine Lüge,<br />

weil Sie die Zahlen bis zu einer gewissen Grenze beherrschen. Al-<br />

99


lerdings muss man im Leben manchmal praktisch handeln, man<br />

muss sich verstellen, etwas vortäuschen – aber dies ist keine Lüge,<br />

weil Sie diese Zahlen beherrschen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah nachdenklich vor sich hin und nach einer Weile sagte<br />

Duhan: «Königliche Hoheit, Sie werden sich im Laufe Ihres Lebens<br />

noch öfter verstellen müssen, wie jetzt, wenn Ihr Vater bei <strong>der</strong> Rechenstunde<br />

anwesend ist, aber das ist völlig normal, es gibt Situationen,<br />

da rettet man sein Leben nur, wenn man sich verstellt. Ich hoffe,<br />

Königliche Hoheit, dass Ihnen eine solche Situation erspart bleibt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Duhan lange an, wie<strong>der</strong>holte im Stillen dessen<br />

Worte: «Es gibt Situationen, da rettet man sein Leben nur, wenn<br />

man sich verstellt», dann sagte er zu Duhan: «Lassen Sie uns weiter<br />

das Kopfrechnen üben.»<br />

Während Duhan seinen Zögling neue Rechenaufgaben lösen<br />

ließ, überreichte Creutz seinem königlichen Herren eine Aufstellung<br />

des überschuldeten adeligen Grundbesitzes.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm notierte einige Zahlen, rechnete, dann lehnte<br />

er sich entspannt zurück und sagte gutgelaunt: «Während meiner<br />

Regierungszeit habe ich für 600 000 Taler überschuldeten adeligen<br />

Grundbesitz erworben. Wenn ich die restlichen überschuldeten<br />

Güter peu à peu aufkaufe, so sind irgendwann fast fünfunddreißig<br />

Prozent <strong>der</strong> landwirtschaftlichen Flächen meines Staates königlicher<br />

Domänenbesitz.»<br />

Creutz verneigte sich: «So ist es, Majestät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte den großen, langen Präsidenten des<br />

Generalfi nanzdirektoriums und sagte: «Lieber Creutz, Sie sind <strong>der</strong><br />

Einzige an meinem Hof, <strong>der</strong> we<strong>der</strong> die französischen Louisdors<br />

noch die holländischen Gulden noch die Wiener Dukaten liebt, Sie<br />

lieben nur die preußischen Taler, alle Achtung.»<br />

«Majestät, Sie … Sie wissen, dass einige Herren des Hofes vom<br />

Ausland bezahlt werden?»<br />

«Ich weiß es, und es stört mich nicht, dass ausländisches Geld in<br />

mein Land fl ießt, das ist besser, als wenn mein Geld ins Ausland<br />

fl ießt.»<br />

Er lächelte den Präsidenten verschmitzt an und fuhr fort: «Gestern<br />

ritt ich am Rohbau Ihres Palais vorbei, wissen Sie schon, wann<br />

Sie einziehen können?»<br />

100


«Ja, Majestät, wenn die Handwerker fl eißig arbeiten, werde ich<br />

vor Beginn <strong>der</strong> kalten Jahreszeit mein eigenes Heim beziehen.»<br />

«Nun, ich hoffe, dass Sie Ihr Palais gebührend einweihen, ich<br />

erwarte ein Bankett, bei dem <strong>der</strong> Tokaier in Strömen fl ießt und die<br />

Tische sich biegen unter den Platten mit Austern und Trüffeln.»<br />

Ein säuerliches Lächeln umspielte die schmalen, verkniffenen Lippen<br />

des Präsidenten: «Es ist eine große Ehre für mich, wenn Eure<br />

Majestät und die Königin geruhen, an diesem Abend meine Gäste zu<br />

sein, ich hoffe auch, dass Eure Majestät und die Königin an meiner<br />

Verlobungs- und Hochzeitsfeier anwesend sind.»<br />

«Aha, wer ist die glückliche Braut?»<br />

«Fräulein von Wagnitz, ein junges Mädchen aus altem Adel,<br />

dessen Familie inzwischen völlig verarmt ist, die Güter sind überschuldet,<br />

die Brü<strong>der</strong> ohne Amt und Einkünfte, sie sind auf mich<br />

angewiesen, und ich werde sie fi nanziell unterstützen.»<br />

«Wagnitz? Sie ist eine Hofdame meiner Frau. Sie handeln christlich.<br />

Lassen Sie mich jetzt allein.»<br />

Ungefähr eine halbe Stunde später empfi ng <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

Grumbkow und Ilgen.<br />

«Majestät», begann Ilgen, «<strong>der</strong> schwedische Minister, Graf<br />

Görtz, hat seinem König den Plan, die Prinzessin Wilhelmine mit<br />

dem schwedischen König zu vermählen, inzwischen unterbreitet.<br />

Karl XII. ist entzückt, dass er in einigen Jahren eine blutjunge<br />

Frau heiraten kann, er wünscht allerdings, dass die Braut, wenn sie<br />

zwölf Jahre alt ist, nach Stockholm kommt, damit ihre Erziehung<br />

dort vollendet wird.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah einen Augenblick ratlos vor sich hin und<br />

murmelte: «Zwölf Jahre, es wi<strong>der</strong>strebt mir als Vater, mein Kind in<br />

diesem Alter wegzugeben, ich muss über den Vorschlag des schwedischen<br />

Königs in Ruhe nachdenken.»<br />

In diesem Augenblick betrat ein Diener das Zimmer.<br />

«Verzeihen Sie die Störung, Majestät, aber im Vorzimmer wartet<br />

Baron Clement von Rosenau und bittet um eine Audienz, er<br />

möchte Euer Majestät wichtige Briefe überreichen.»<br />

Grumbkow und Ilgen sahen einan<strong>der</strong> erstaunt an, und <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm sagte: «Der Name ist mir bekannt, <strong>der</strong> Baron wohnt seit<br />

einigen Tagen beim Prediger Roloff, weil er zum protestantischen<br />

101


Glauben übertreten möchte», und zu dem Diener: «Der Baron soll<br />

eintreten.»<br />

Ein großer schlanker Mann mit fein geschnittenen Gesichtszügen<br />

und einer schlichten, weißgepu<strong>der</strong>ten Zopffrisur betrat das<br />

Zimmer.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete wohlwollend den Rock aus einfachem<br />

blauem Tuch, während Grumbkow und Ilgen sorgfältig das<br />

Gesicht des Mannes studierten, das sie an gewisse hochgestellte<br />

Persönlichkeiten erinnerte.<br />

Der Baron ging bis zur Mitte des Zimmers, verbeugte sich elegant<br />

und sagte: «Ich bin <strong>der</strong> ergebene Diener Eurer Majestät, und<br />

ich bin vor einigen Tagen nach Preußen gekommen, weil ich für<br />

immer hier leben möchte, ich bin nämlich ein Bewun<strong>der</strong>er Eurer<br />

Majestät. Es ist erstaunlich, welchen wirtschaftlichen Aufschwung<br />

Preußen unter <strong>der</strong> Regierung Eurer Majestät genommen hat.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Baron erstaunt an und erwi<strong>der</strong>te<br />

nach einer Weile: «Es freut mich, dass es Menschen gibt, die meine<br />

Arbeit zu würdigen wissen. Treten Sie näher, was für ein Landsmann<br />

sind Sie?»<br />

Clement ging einige Schritte vor und verbeugte sich erneut:<br />

«Majestät, ich stamme aus Ungarn und war einige Jahre <strong>der</strong> Sekretär<br />

des Prinzen Ragozy, wir sind quer durch Europa gereist, ich<br />

habe die Höfe studiert und die Intrigen, die dort gesponnen werden,<br />

dies ist auch ein Grund, weshalb ich nach Preußen kam.»<br />

Er schwieg, und einige Sekunden lang war <strong>der</strong> Raum von einer<br />

unbehaglichen Stille erfüllt, dann stand <strong>Friedrich</strong> Wilhelm auf,<br />

ging zu dem Baron und fragte: «Was sind das für Intrigen?»<br />

Clement zögerte, streifte Grumbkow und Ilgen mit einem Seitenblick<br />

und sagte: «Kann ich Euer Majestät unter vier Augen sprechen?»<br />

«Das ist nicht nötig, die beiden Herren besitzen mein volles Vertrauen.»<br />

Clement zögerte erneut, dann straffte er sich, sah <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

gerade in die Augen und sagte: «Ich bin nach Preußen gekommen,<br />

um Eure Majestät zu warnen. Ich habe einige Zeit an<br />

den Höfen in Wien und Dresden gelebt, sowohl in Wien als auch<br />

in Dresden betrachtet man Preußen allmählich als Gefahr, als mi-<br />

102


litärische Gefahr. In Wien und Dresden rüstet man gegen Preußen<br />

auf, es werden auch schon Fäden nach Hannover und England gesponnen,<br />

um zu erfahren, ob man sich nicht einem Bündnis gegen<br />

Preußen anschließen wolle. Man will verhin<strong>der</strong>n, dass Preußen<br />

wirtschaftlich erstarkt und die Armee immer größer wird. Man<br />

plant, Euer Majestät zu entführen und den Staatsschatz zu beschlagnahmen,<br />

man will den Kronprinzen zum König ausrufen<br />

und während seiner Min<strong>der</strong>jährigkeit einen Regenten einsetzen,<br />

<strong>der</strong> im Sinne Wiens und Dresdens regiert; die preußische Armee<br />

soll künftig nur aus einer kleinen Anzahl schlecht ausgerüsteter<br />

Truppen bestehen.»<br />

Er schwieg, und es dauerte einen Moment, bis <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

begriff, was er soeben gehört hatte.<br />

Clement beobachtete verstohlen die Mienen von Grumbkow und<br />

Ilgen, vermochte aber nicht zu erkennen, was die beiden dachten.<br />

«Das ist doch nicht möglich», rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «das, das<br />

glaube ich einfach nicht! August <strong>der</strong> Starke von Sachsen ist nicht<br />

nur mein Verbündeter, son<strong>der</strong>n auch mein Freund, ich legte Wert<br />

auf gute Beziehungen zu August, denn, wenn ich nach Ostpreußen<br />

reise, muss ich das Königreich Polen durchqueren! Ich verstehe das<br />

alles nicht, woher wissen Sie von dieser Verschwörung?»<br />

«Majestät, als Sekretär des Prinzen Ragozy war ich auch sein<br />

Agent, <strong>der</strong> Prinz wollte aus irgendwelchen Gründen über alles Bescheid<br />

wissen, was sich an den Höfen tut o<strong>der</strong> anbahnt.»<br />

Er holte ein Bündel Briefe hervor und überreichte sie dem König.<br />

«Majestät, lesen Sie, in dieser Korrespondenz zwischen Dresden<br />

und Wien steht, was ich Ihnen in Kurzform gesagt habe.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm öffnete zögernd einen Brief nach dem an<strong>der</strong>en,<br />

und je länger er las, desto bleicher wurde sein Gesicht, und<br />

seine Hände begannen zu zittern. Dann gab er die Schreiben wortlos<br />

den beiden Ministern. Grumbkow und Ilgen überfl ogen die<br />

Briefe mit undurchdringlichen Mienen, dann legte Ilgen sie auf<br />

den Schreibtisch.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte Clement und sagte: «Wie viele Taler<br />

verlangen Sie als Belohnung?»<br />

Der Baron trat einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hän-<br />

103


de: «Majestät, ich bitte Sie, meine Belohnung ist völlig unwichtig,<br />

ich möchte Euer Majestät einen Dienst erweisen, vielleicht gelangen<br />

noch an<strong>der</strong>e Briefe in meine Hände, darf ich sie Euer Majestät<br />

dann übergeben?»<br />

«Natürlich, ich bitte darum, und jetzt lassen Sie mich mit meinen<br />

Ratgebern allein.»<br />

Als Clement gegangen war, sah <strong>Friedrich</strong> Wilhelm Grumbkow<br />

und Ilgen erwartungsvoll an: «Nun, wie denken Sie über diese<br />

Verschwörung?» Die Minister sahen einan<strong>der</strong> an, und dann sagte<br />

Ilgen: «Mit Verlaub, Majestät, an dieser Geschichte ist etwas faul.<br />

Für das protestantische Sachsen waren die Hohenzollern immer<br />

ein wichtiger Verbündeter gegen die katholischen Reichsfürsten,<br />

Augusts Übertritt zum katholischen Glauben hing nur mit seiner<br />

Wahl zum König von Polen zusammen, überdies ist man in Dresden<br />

vor allem damit beschäftigt, sich zu amüsieren und das Leben<br />

zu genießen, und was die preußische Armee betrifft –», er zögerte<br />

und fuhr vorsichtig fort, «es ist allgemein bekannt, dass Euer Majestät<br />

den Frieden lieben und nichts so sehr hassen wie Kriege und<br />

beson<strong>der</strong>s Angriffskriege.» «Das ist wahr», erwi<strong>der</strong>te <strong>der</strong> König,<br />

«so schnell schießen die Preußen nicht.»<br />

«Majestät», begann Grumbkow, «in Wien und im Reich ist es<br />

bekannt, dass Sie einer <strong>der</strong> loyalsten Reichsfürsten sind und dem<br />

Kaiser treu ergeben, in Wien hat man bestimmt kein Interesse daran,<br />

Sie zu entthronen, und die Idee, die preußischen Truppen zu<br />

schwächen, ist geradezu absurd. In allen Kriegen des Reiches gegen<br />

Frankreich haben sich die Brandenburger stets bewährt und ausgezeichnet,<br />

denken Sie an die Eroberung Bonns durch die Brandenburger<br />

am 12. Oktober 1689, denken Sie an die Schlacht bei Malplaquet<br />

am 11. September 1709, die Brandenburger haben damals<br />

entscheidend zur Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Franzosen beigetragen; in Wien<br />

wäre man töricht, wollte man die preußische Armee schwächen,<br />

<strong>der</strong> Kaiser benötigt die preußischen Truppen bei einem eventuellen<br />

neuen Krieg gegen Frankreich.»<br />

«Sie haben recht», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «aber was hat<br />

Prinz Eugen gesagt, als <strong>der</strong> Kaiser den Krönungsvertrag unterzeichnete,<br />

<strong>der</strong> meinem Vater erlaubte, sich in Königsberg zum<br />

König in Preußen zu krönen? Prinz Eugen sagte, man müsste die<br />

104


Minister, die dem Kaiser zu diesem Vertrag geraten hätten, aufhängen.<br />

Ich zweifele, ob Prinz Eugen ein Freund Preußens ist.»<br />

«Er ist vielleicht nicht unser Freund, Majestät, aber ich glaube,<br />

dass er die politischen Kräfteverhältnisse in Europa realistisch einschätzt.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Ich<br />

wünsche, dass niemand etwas von diesen Briefen erfährt, vor allem<br />

nicht meine Frau; wir wollen abwarten. Allerdings müssen die Wachen<br />

an den Stadttoren und den Schlosstoren verstärkt werden, das<br />

Appartement des Kronprinzen muss unauffällig bewacht werden,<br />

und meine Pistolen werden ab jetzt in <strong>der</strong> Nacht griffbereit neben<br />

mir liegen.»<br />

«Majestät», sagte Grumbkow, «ich könnte mich diskret über den<br />

Baron erkundigen.»<br />

«Ich habe nichts dagegen, aber ich vertraue ihm, er wirkt selbstlos<br />

und aufrichtig. Überdies werde ich an den Prinzen Eugen schreiben<br />

und ihn um eine Stellungnahme zu diesen Briefen bitten.»<br />

«Mit Verlaub, Majestät», begann Ilgen vorsichtig, «ich weiß<br />

nicht, ob es sehr diplomatisch ist, wegen dieser Briefe nach Wien zu<br />

schreiben – falls Wien tatsächlich Ihren Sturz plant, wird man uns<br />

nicht aufrichtig antworten, falls die Briefe unecht sind, verärgern<br />

Sie den Wiener Hof.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat vor Ilgen und schrie: «Hören Sie auf mit<br />

Ihrem diplomatischen Getue, die ganze Diplomatie interessiert<br />

mich nicht, ich bin ein aufrichtiger, ehrlicher Mann, und ich will<br />

wissen, was ich von diesen Briefen zu halten habe.»<br />

105


106<br />

5<br />

Einige Wochen später standen das preußische Königspaar, ihre<br />

beiden ältesten Kin<strong>der</strong>, die Damen und Herren des Hofes und die<br />

ausländischen Gesandten im Park von Schloss Monbijou am Ufer<br />

<strong>der</strong> Spree und warteten auf die Ankunft des Zaren, <strong>der</strong> auf dem<br />

Wasserweg zu dem Lustschloss kommen sollte.<br />

Es war ein heißer, windstiller Junitag, und ein wolkenloser blauer<br />

Himmel lag über <strong>der</strong> Mark Brandenburg.<br />

Als die Sonne höher stieg, begannen die Damen, leise zu stöhnen,<br />

weil ihre Taille zu fest geschnürt war, und die Herren tupften mit<br />

einem Tuch diskret die Schweißperlen von <strong>der</strong> Stirn.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trug wie jeden Tag seine Obristenuniform, Sophie<br />

Dorotheas Kleid war aus cremefarbener Seide, von oben bis unten<br />

mit cremefarbenen Spitzen besetzt, und diese zarte Pastellfarbe<br />

brachte den funkelnden, grünen Smaragdschmuck voll zur Geltung.<br />

<strong>Friedrich</strong> trug einen Rock und Kniehosen aus einfachem preußischem<br />

blauem Tuch, dazu weiße seidene Strümpfe und schwarze<br />

Le<strong>der</strong>schuhe.<br />

Er zupfte das Spitzenjabot seines weißen, seidenen Hemdes zurecht,<br />

dann zupfte er an den Spitzenmanschetten <strong>der</strong> Ärmel, und<br />

als er aufsah, begegneten seine Augen dem strengen Blick des Vaters,<br />

<strong>der</strong> ihn kritisch musterte.<br />

<strong>Friedrich</strong> schlug die Augen nie<strong>der</strong>: «Papa ist verärgert über mich,<br />

warum? Was habe ich falsch gemacht?», murmelte er. «Spitzenmanschetten<br />

müssen ordentlich gezupft sein.» Dann betrachtete<br />

er das lindgrüne Taftkleid <strong>der</strong> Schwester und die frischen, dunkelroten<br />

Rosen, die den Reifrock dekorierten; Wilhelmines Haar war<br />

hochgesteckt und ebenfalls mit frischen roten Rosen geschmückt.<br />

Sie hielt sich kerzengerade, und einem plötzlichen Impuls folgend<br />

fl üsterte er: «Du siehst aus wie eine Königin.»<br />

«Sei still, Fritzchen, sieh nur, jetzt kommen die Barken.»<br />

Die Anwesenden sahen gespannt zum Fluss, und als die Kirchenglocken<br />

Berlins den Mittag einläuteten, legte die erste Barke an,<br />

und Zar Peter I., gefolgt von seiner Gattin, ging an Land.


Sophie Dorothea betrachtete den großen, kräftigen Mann, <strong>der</strong><br />

in einen schlichten, hochgeschlossenen grünen Jagdrock gekleidet<br />

war, ihre Augen wan<strong>der</strong>ten von <strong>der</strong> dichten, brünetten, schulterlangen<br />

Haarmähne zu den verwegen blitzenden dunkelbraunen<br />

Augen unter den buschigen Brauen und von dort zu dem Oberlippenbärtchen<br />

über den vollen, sinnlichen Lippen. Sie rechnete nach,<br />

dass <strong>der</strong> Zar ungefähr Mitte vierzig war, sie dachte daran, dass man<br />

ihn Peter den Großen nannte, und als er näherkam, spürte sie, wie<br />

angenehme Schauer sie durchrieselten, genau wie bei seinem Besuch<br />

im Jahre 1712. Er ist zwar ein Barbar, dachte sie, aber er ist<br />

irgendwie ein … ein Vollblutmann, dieser Mann wäre eine Sünde<br />

wert, die Stallmagd ist zu beneiden, dass sie legal sein Lager teilen<br />

darf; was um alles in <strong>der</strong> Welt fasziniert ihn an diesem kleinen,<br />

gedrungenen, dicken Weibsbild? Ihre braune Haut wirkt vulgär,<br />

sie ist keine Dame und wird ihre nie<strong>der</strong>e Herkunft nie verleugnen<br />

können.<br />

<strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine betrachteten erstaunt und fasziniert<br />

das Kleid <strong>der</strong> Zarin, das mit Silber und Straßenkot überzogen war.<br />

Auf <strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>seite des Rockes bildeten Diamanten die Form des<br />

russischen Doppeladlers, und überall waren Orden und kleine Bil<strong>der</strong><br />

befestigt, die laut klirrten, als sie nun den kurzen Weg von <strong>der</strong><br />

Barke zu ihren Gastgebern ging.<br />

«Sie bimmelt wie eine Glocke», wisperte <strong>Friedrich</strong> seiner Schwester<br />

zu, und diese presste die Lippen fest aufeinan<strong>der</strong>, um ihr Lachen<br />

zu unterdrücken.<br />

«Was sind das für komische Bil<strong>der</strong>?», wisperte <strong>Friedrich</strong> erneut.<br />

«Es sind Heiligenbil<strong>der</strong>; die Russen verehren, ebenso wie bei uns<br />

die Katholiken, ihre Heiligen. Das Gewand sieht aus, als habe sie es<br />

bei einer Trödlerin gekauft.»<br />

Der Zar schritt auf <strong>Friedrich</strong> Wilhelm zu und umarmte ihn<br />

spontan: «Lieber Bru<strong>der</strong> <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, ich freue mich, dass<br />

wir uns endlich wie<strong>der</strong> einmal sehen.»<br />

«Lieber Bru<strong>der</strong> Peter, ich bin glücklich über deinen Besuch», und<br />

er drückte den Zaren gerührt an sich.<br />

«Mein Bru<strong>der</strong>, wir dürfen die Königin nicht vergessen», und<br />

<strong>der</strong> Zar verbeugte sich schwungvoll vor Sophie Dorothea, die ihn<br />

wohlwollend anlächelte.<br />

107


«Majestät, ich bin glücklich, dass ich wie<strong>der</strong> einmal in Berlin<br />

weile, Berlin, das Athen an <strong>der</strong> Spree!»<br />

«Das Athen an <strong>der</strong> Spree gibt es nicht mehr, aus Athen an <strong>der</strong><br />

Spree ist inzwischen Sparta an <strong>der</strong> Spree geworden.»<br />

«Majestät, ob Athen o<strong>der</strong> Sparta, das ist doch gleichgültig, beide<br />

Städte haben in <strong>der</strong> Antike eine bedeutende Rolle gespielt, Athen<br />

hat den Geist <strong>der</strong> Menschen gebildet, Sparta war bekannt für seine<br />

Krieger, in Berlin verschmelzen Athen und Sparta vielleicht eines<br />

Tages harmonisch», und zur Zarin: «Knie nie<strong>der</strong> vor <strong>der</strong> preußischen<br />

Königin!»<br />

Katharina versank in einem tiefen Knicks und wagte nicht, die<br />

Augen zu Sophie Dorothea zu erheben.<br />

Diese musterte die Zarin von oben herab und machte keine Anstalten,<br />

den Gast vom Boden zu erheben und zu umarmen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm beobachtete verärgert das Benehmen <strong>der</strong> Gattin,<br />

trat kurz entschlossen zu Katharina, reichte ihr die Hand und<br />

sagte: «Seien Sie herzlich willkommen an meinem Hof, fühlen Sie<br />

sich wie zu Hause.»<br />

Die Zarin erhob sich, errötete etwas, knickste und sagte in gebrochenem<br />

Französisch: «Ich danke Euer Majestät, Sie sind zu gütig.»<br />

In diesem Augenblick bemerkte <strong>der</strong> Zar <strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine<br />

und ging zu den Geschwistern.<br />

Er hob Wilhelmines Gesicht zu sich empor und sagte lächelnd:<br />

«Ah, meine kleine Freundin von vor fünf Jahren, wie alt bist du<br />

jetzt?»<br />

«Am 3. Juli werde ich acht Jahre.»<br />

«Acht Jahre, du bist groß für dein Alter, du bist schon eine richtige<br />

kleine Dame.»<br />

Wilhelmine errötete vor Freude und sah verlegen zu Boden.<br />

Der Zar umschloss ihr Gesicht mit seinen Händen und küsste sie<br />

sanft auf die Stirn, die Wangen und auf den Mund.<br />

In diesem Augenblick stieß Wilhelmine ihn zurück und schrie:<br />

«Nein, küssen Sie mich nicht, Sie entehren mich!»<br />

Peter trat verblüfft einen Schritt zurück, und dann lachte er<br />

schallend.<br />

«Habt ihr gehört», rief er den Umstehenden zu, «die Prinzessin<br />

meint, ich entehre sie! Ist das nicht kurios!»<br />

108


Nun begann ein allgemeines Gelächter, und Wilhelmine sah befremdet,<br />

dass auch ihre Eltern lachten.<br />

<strong>Friedrich</strong> verstand das Wort «entehren» nicht, aber er spürte,<br />

dass die Schwester sich vor dem Zaren ängstigte, und kurz entschlossen<br />

stellte er sich vor sie, sah dem Zaren fest in die Augen<br />

und sagte: «Ich bitte Sie, küssen Sie meine Schwester nicht noch<br />

einmal.»<br />

Das Gelächter verstummte, und das Gesicht des Zaren wurde auf<br />

einmal ernst und nachdenklich.<br />

Er ging zu <strong>Friedrich</strong>, strich ihm liebevoll über die Locken und<br />

sagte: «Wie rasch die Jahre vergehen – als ich dich vor fünf Jahren<br />

sah, lagst du noch in <strong>der</strong> Wiege. Du hast wohl keine Angst vor<br />

mir?»<br />

«Ich habe keine Angst vor Ihnen, und ich werde meine Schwester<br />

immer beschützen.»<br />

Der Zar betrachtete einen Moment die großen blauen Augen, die<br />

ihn herausfor<strong>der</strong>nd anfunkelten, strich dem Kind erneut über die<br />

Haare und sagte zu <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Lieber Bru<strong>der</strong>, ich beneide<br />

dich um deinen Sohn und Erben, fünf Jahre, das ist ein Alter, wo<br />

man sein Kind noch lieben kann. Ich hoffe, dass dein Sohn sich so<br />

entwickelt, wie man es sich als Vater wünscht, und dass dir meine<br />

Erfahrungen mit meinem Thronerben erspart bleiben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah verlegen um sich und erwi<strong>der</strong>te zögernd:<br />

«Lieber Bru<strong>der</strong>, ich hoffe, dass dein Sohn irgendwann nach Russland<br />

zurückkehrt»; er sah hilfl os zu seiner Gattin, und Sophie Dorothea<br />

verstand den Blick, neigte sich zur Zarin und sagte: «Ich<br />

möchte Ihnen Ihre Räume in meinem Schloss zeigen.»<br />

In diesem Augenblick verfärbte sich das Gesicht des Zaren rot vor<br />

Wut, und er schrie: «Mein Sohn Alexej, <strong>der</strong> Zarewitsch, wird nach<br />

Russland zurückkehren! Graf Tolstoi, mein Gesandter am kaiserlichen<br />

Hof, bearbeitet den Zarewitsch seit dem verfl ossenen Herbst, Tolstoi<br />

ist ein hervorragen<strong>der</strong> Diplomat, mein Sohn wird irgendwann nach<br />

Russland zurückkehren und dann, das schwöre ich, dann werde ich<br />

ihn wie einen Hochverräter behandeln, er ist dann nicht mehr mein<br />

Sohn, son<strong>der</strong>n nur noch einer meiner Untertanen, ich werde ihm nicht<br />

als Vater begegnen, son<strong>der</strong>n als Zar, ich werde ihn vor Gericht stellen,<br />

und wenn er nicht aussagen will, werde ich ihn foltern lassen!»<br />

109


«Nein!», rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Mein Bru<strong>der</strong>, bedenke, er ist<br />

dein Sohn!»<br />

«Er hat es nicht an<strong>der</strong>s verdient, er ist ein Hochverräter!»<br />

Nach diesen Worten senkte sich für einen Augenblick Stille über<br />

die Anwesenden.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete den Zaren und dachte über das Wort «Zarewitsch»<br />

nach.<br />

Inzwischen war das russische Gefolge an Land gegangen, und<br />

Sophie Dorothea beobachtete erstaunt ungefähr dreihun<strong>der</strong>t Damen,<br />

<strong>der</strong>en jede ein Kind auf dem Arm trug. Sie sah, dass die Damen<br />

teils kostbar, teils schlicht gekleidet waren, die Kin<strong>der</strong> indes<br />

trugen alle Klei<strong>der</strong> aus Samt, Seide, Silber- o<strong>der</strong> Goldbrokat.<br />

Sie winkte eine Russin zu sich, die ein Kleid aus brauner Seide<br />

trug, betrachtete angewi<strong>der</strong>t die dicke weiße Pu<strong>der</strong>schicht auf dem<br />

Gesicht und die grellrot geschminkten Lippen und fragte: «Ist es<br />

Ihr Kind, Madame?»<br />

Die Russin knickste und antwortete in gebrochenem Französisch:<br />

«Es ist mein Kind, Majestät, <strong>der</strong> Zar ist <strong>der</strong> Vater, er hat geruht,<br />

mir dieses Kind zu schenken.»<br />

Sophie Dorothea wich einen Schritt zurück, betrachtete die Frauen<br />

und dachte: Er präsentiert uns seine Bastarde, er ist unmöglich.<br />

Der Zar legte den Arm um <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und sagte: «Diese<br />

Damen gehören zum Gefolge meiner Frau, es sind Hofdamen,<br />

Kammerjungfern, Köchinnen, Wäscherinnen, und die Kin<strong>der</strong>,<br />

nun, das sind meine Kin<strong>der</strong>, Russland ist ein weites Land, dort<br />

haben viele Menschen Platz; wenn ich mein Land wirtschaftlich<br />

entwickeln will, benötige ich Menschen, Menschen sind <strong>der</strong> größte<br />

Reichtum.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete die Kin<strong>der</strong> und erwi<strong>der</strong>te: ,,Du<br />

hast recht, Peter, auch für mich sind Menschen <strong>der</strong> größte Reichtum.»<br />

Peter lächelte: ,,Nun, mein Bru<strong>der</strong>, wie gefällt dir diese Art <strong>der</strong><br />

Bevölkerungspolitik?<br />

Soweit ich es beobachten konnte, gibt es an deinem Hof viele<br />

hübsche junge Damen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte den Zaren einen Augenblick verblüfft<br />

an und erwi<strong>der</strong>te leicht gereizt: «Die Hofdamen interessieren mich<br />

110


nicht, ich werde meiner Frau immer treu bleiben, das ist meine<br />

christliche Pfl icht, überdies gibt es an<strong>der</strong>e Wege, um die Bevölkerungszahl<br />

zu erhöhen. Ich zeige dir jetzt Monbijou, wo du mit<br />

deinem Gefolge wohnen wirst.»<br />

Während sie, gefolgt von Sophie Dorothea und <strong>der</strong> Zarin, langsam<br />

zum Schloss gingen, sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Ich habe<br />

überlegt, wie ich deinen Aufenthalt in Berlin abwechslungsreich<br />

gestalten kann. Du und deine Frau, ihr werdet euch wahrscheinlich<br />

etwas von <strong>der</strong> Reise erholen wollen, dann begeben wir uns in das<br />

Berliner Stadtschloss, wo wir ausgiebig tafeln, und am Abend bist<br />

du mein Gast im Tabakskollegium.»<br />

Peter blieb stehen und sah den preußischen König erstaunt an:<br />

«Du hast das Tabakskollegium deines Vaters beibehalten?»<br />

«Ja, in verän<strong>der</strong>ter Form: Frauen haben keinen Zutritt, du wirst<br />

also nicht erleben, dass Sophia Dorothea meine Pfeife stopft wie<br />

meine Stiefmutter bei meinem Vater, an meinem Kollegium nehmen<br />

fast nur Offi ziere teil und mein Hofnarr, <strong>der</strong> Professor Gundling.<br />

Du wirst ihn heute nicht erleben, weil er seit einigen Tagen<br />

krank ist.»<br />

«Nun, mein Beichtvater, Abt Sotof, ist gleichzeitig mein Hofnarr,<br />

er kann uns unterhalten.»<br />

Es entstand eine Pause, und dann sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Es<br />

wi<strong>der</strong>strebt mir, einen Abt als Narren zu sehen, überdies ist er dein<br />

Beichtvater, es wird auch ohne ihn lustig werden.»<br />

«Gut, dann kann er sich nach Herzenslust betrinken.»<br />

«Morgen zeige ich dir, wie Berlin sich verän<strong>der</strong>t hat, es ist seit<br />

meinem Regierungsantritt viel gebaut worden; du wirst das Münzkabinett<br />

sehen und die Sammlung antiker Statuen, und am Abend<br />

gibt Ilgen ein Bankett mit anschließendem Ball. Übermorgen lasse<br />

ich mein Potsdamer Leibbataillon vor dir exerzieren, es ist schade,<br />

dass du die jährliche große Truppenschau in Berlin und Potsdam<br />

nicht erlebst, aber sie musste aus verschiedenen Gründen in diesem<br />

Jahr bereits im Mai stattfi nden. Aber …»<br />

Er schwieg einen Moment, lächelte und fuhr fort: «In Potsdam<br />

zeige ich dir meine Bevölkerungspolitik. Am Abend gibt Grumbkow<br />

ein Bankett mit anschließendem Ball. Man speist in Berlin<br />

am besten bei Grumbkow, seine Tafel wird sich biegen unter den<br />

111


kulinarischen Leckerbissen: frischer Spargel, Austern in Hülle und<br />

Fülle, alter Rheinwein, süffi ger Tokaier, lass dich überraschen.»<br />

«Was höre ich, mein Freund? Jeden Abend fi ndet ein Ball statt?<br />

Seit wann liebst du Bälle?»<br />

«Ich verabscheue die Tanzerei wie eh und je, aber ich weiß, dass du<br />

gerne tanzt, und da du mein Gast bist, fi nden also Bälle statt.»<br />

Nach <strong>der</strong> Abendtafel bei <strong>der</strong> preußischen Königin kehrte die Zarin<br />

nach Monbijou zurück, Sophie Dorothea begab sich mit ihren Damen,<br />

<strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine in den Salon und sank erleichtert<br />

auf ihren Lehnsessel.<br />

«Gott sei Dank», und sie fächelte sich Luft zu, «das habe ich<br />

überstanden, ein Glück, dass die Russin fort ist. Allerdings – ich<br />

darf nicht an Monbijou denken … mon Dieu, das Benehmen des<br />

Zaren an <strong>der</strong> Mittagstafel war unmöglich, was auf seinem Teller<br />

übrigblieb, hat er <strong>der</strong> Fürstin Gallicin an den Kopf geworfen. Damit<br />

nicht genug, ließ er sie zu sich kommen und ohrfeigte sie, mon<br />

Dieu, ich sehe, wie er nach <strong>der</strong> Tabagie volltrunken nach Monbijou<br />

kommt und die Fensterscheiben zerschlägt. Während <strong>der</strong> Tafel hat<br />

er nach jedem Trinkspruch sein Glas an die Wand geworfen, ich<br />

möchte nicht wissen, wie viele Kristallgläser fehlen; er mag ein<br />

großer Fürst sein, aber irgendwie ist er immer noch ein Barbar.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete seine Mutter, wartete, bis sie sich beruhigte,<br />

und fragte: «Mama, warum hat <strong>der</strong> Zar die Fürstin geohrfeigt?»<br />

Sophie Dorothea erwi<strong>der</strong>te: «Das ist eine traurige Geschichte,<br />

mon bijou. Die Fürstin war an einer Verschwörung gegen den<br />

Zaren beteiligt, dieses Komplott wurde rechtzeitig entdeckt, und<br />

<strong>der</strong> Zar ließ sie auspeitschen, bis sie halb wahnsinnig wurde. Sie<br />

musste am Hof bleiben, damit er seine Launen an ihr auslassen<br />

kann.»<br />

«Mama, ich habe gesehen, wie die Kutscher ihre Pferde peitschen<br />

– das musste die Fürstin erdulden? Wenn ich König bin, werde<br />

ich so etwas verbieten.»<br />

Sophie Dorothea strich dem Sohn über die Locken: «In Russland<br />

ist alles an<strong>der</strong>s, mein Kind.»<br />

«Mama, was ist ein Zarewitsch?»<br />

«In Russland nennt man den Thronfolger Zarewitsch. Jedes eu-<br />

112


opäische Land hat einen Namen für den Thronfolger, in Deutschland<br />

sagt man Kronprinz, Erbprinz, Kurprinz, in Frankreich nennt<br />

man den Thronfolger Dauphin, in Spanien Infant.»<br />

«Warum ist <strong>der</strong> Zar wütend auf seinen Sohn?»<br />

«Das ist eine weitere traurige Geschichte, Fritzchen, ich will<br />

versuchen, es dir zu erklären. Russland ist wirtschaftlich und kulturell<br />

eines <strong>der</strong> rückständigsten Län<strong>der</strong> Europas. Peter <strong>der</strong> Große<br />

versucht seit seinem Regierungsantritt, das Land wirtschaftlich<br />

weiterzuentwickeln, und führte verschiedene Reformen durch,<br />

die vom Adel und <strong>der</strong> Geistlichkeit kritisiert und nur wi<strong>der</strong>willig<br />

akzeptiert werden; <strong>der</strong> Zar hat also Gegner im eigenen Land, die<br />

immer wie<strong>der</strong> versuchen, ihn zu stürzen. Als <strong>der</strong> Zarewitsch volljährig<br />

war, versuchte diese Opposition, ihn für sich zu gewinnen,<br />

was nicht weiter schwierig war, weil das Verhältnis zwischen Peter<br />

und seinem Sohn schon lange gespannt ist. So bildete sich im Laufe<br />

<strong>der</strong> Jahre eine Partei des Kronprinzen am russischen Hof, dann gab<br />

es eine Verschwörung gegen den Zaren, die rechtzeitig aufgedeckt<br />

wurde, die Verschwörer wurden hingerichtet, dem Zarewitsch gelang<br />

die Flucht, und <strong>der</strong> Wiener Hof gewährte ihm Asyl. Ich hoffe,<br />

dass Alexej so klug ist und in Wien bleibt, du hast ja gehört, wie <strong>der</strong><br />

Zar ihn behandeln wird, wenn er zurückkehrt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte und fragte dann vorsichtig: «Was bedeutet<br />

‹foltern›?»<br />

«Wenn ein Mensch gefoltert wird, Fritzchen, dann muss er starke<br />

körperliche Schmerzen erdulden, man hofft, dass er nach <strong>der</strong> Folterung<br />

ein Geständnis ablegt. Häufi g entsprechen diese Geständnisse<br />

nicht <strong>der</strong> Wahrheit, aber die Angeklagten gestehen nach <strong>der</strong> Folter<br />

meistens alles, was man von ihnen hören will, weil sie die Schmerzen<br />

nicht mehr ertragen können.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah seine Mutter an und fragte dann ängstlich: «Lässt<br />

<strong>der</strong> Papa auch Menschen foltern?»<br />

«Ja und nein. Bis jetzt hat er die Folter verboten; allerdings gab es<br />

bis jetzt auch keinen Grund für diese Torturen. Aber ich glaube, einen<br />

Hochverräter würde er auch foltern lassen, und seine Soldaten straft<br />

er hart: Wenn jemand versucht zu desertieren und <strong>der</strong> Fluchtversuch<br />

misslingt, dann muss <strong>der</strong> Deserteur durch die Gasse laufen.»<br />

«Was ist das, ‹die Gasse›?»<br />

113


Sophie Dorothea seufzte: «Mon bijou, das erkläre ich dir später,<br />

wir sollten uns jetzt über angenehmere Dinge unterhalten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> schwieg gehorsam, und einen Augenblick lang sprach<br />

niemand ein Wort.<br />

Dann sagte Frau von Kamecke: «Majestät, glauben Sie, dass <strong>der</strong><br />

Zar seinen Sohn wirklich foltern lässt, wenn er nach Russland zurückkehrt?»<br />

Sophie Dorothea erwi<strong>der</strong>te vorsichtig: «Ich weiß nicht, ob ich<br />

den Zaren richtig einschätze, aber auf mich wirkt er wie eine Doppelnatur:<br />

Einerseits versucht er alles, um Russland wirtschaftlich<br />

und kulturell zu entwickeln, an<strong>der</strong>erseits ist er ein Despot, ein<br />

Menschenleben gilt ihm nichts. Ich fürchte, dass er Alexej nicht<br />

nur foltern, son<strong>der</strong>n auch hinrichten lässt, nicht nur weil Alexej an<br />

<strong>der</strong> Verschwörung beteiligt war, son<strong>der</strong>n weil er seinen Sohn hasst,<br />

und er hasst ihn, weil Alexej sich nicht so entwickelte, wie er als<br />

Vater es wünschte.»<br />

«Wenn er seinen Sohn wirklich opfert», sagte Frau von Kamecke,<br />

«dann muss er mit <strong>der</strong> göttlichen Rache rechnen. Er sollte sich<br />

an Philipp II. von Spanien erinnern, <strong>der</strong> ließ seinen Sohn töten,<br />

und man erinnert sich nur mit Grausen an ihn.»<br />

Als die Potsdamer Kirchenglocken den Mittag einläuteten, verließ<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Leibbataillon im Gleichschritt den ehemaligen<br />

Lustgarten hinter dem Stadtschloss, <strong>der</strong> als Exerzierplatz genutzt<br />

wurde.<br />

«Nun», fragte <strong>der</strong> König den Zaren, «wie gefallen dir meine Soldaten?»<br />

«Ich bin tief beeindruckt, <strong>der</strong> Gleichschritt, das exakte Laden<br />

und Feuern <strong>der</strong> Musketen, so etwas habe ich noch nicht erlebt.»<br />

«Der Gleichschritt und <strong>der</strong> eiserne Ladestock sind eine Erfi ndung<br />

meines Freundes Leopold, aber ich will dir noch etwas zeigen», er<br />

winkte einem <strong>der</strong> Offi ziere, und es dauerte nicht lange, da erschienen<br />

ungefähr hun<strong>der</strong>t junge Frauen auf dem Platz, und jede trug<br />

einen Säugling im Arm.<br />

Der Zar betrachtete einen Augenblick wohlgefällig die Versammlung,<br />

dann lächelte er und fragte: «Mein Bru<strong>der</strong>, sind das<br />

deine Kin<strong>der</strong>?»<br />

114


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lachte: «Nein, du weißt doch, dass ich meiner<br />

Frau treu bin; die Väter dieser Kin<strong>der</strong> sind meine Soldaten. Viele<br />

können es sich fi nanziell nicht leisten, eine Familie zu gründen, aber<br />

man kann deshalb nicht von ihnen verlangen, dass sie wie Mönche<br />

leben. Ich habe nichts dagegen, dass sie zu einer Frau eine feste<br />

Beziehung pfl egen; wenn diese Frauen schwanger werden, so ist<br />

das in Preußen keine Schande, sie werden geachtet wie Gattinnen<br />

und bekommen eine staatliche Unterstützung, schließlich tragen<br />

sie zur Vermehrung <strong>der</strong> Bevölkerung bei. Ich plane die Errichtung<br />

eines eigenen Hauses für diese Kin<strong>der</strong>, wo sie erzogen werden und<br />

ein Handwerk lernen. Die Strafe für Kindsmör<strong>der</strong>innen habe ich<br />

allerdings inzwischen verschärft.<br />

Bis vor kurzem wurden sie in einen Le<strong>der</strong>sack gesteckt und ertränkt,<br />

jetzt müssen sie diesen Sack selbst nähen, und erst dann wird<br />

das Urteil vollstreckt. Ich akzeptiere es, dass eine ledige Frau ein Kind<br />

bekommt, Menschen sind für mich <strong>der</strong> größte Reichtum. Aber Kindsmör<strong>der</strong>innen<br />

werden in meinem Staat unbarmherzig bestraft.»<br />

«Ich bin deiner Meinung», erwi<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Zar, und dann ritten sie<br />

am Marstall vorbei zu dem neuen Viertel in Potsdam.<br />

In einer Seitenstraße hielt Peter sein Pferd an und betrachtete<br />

verzückt die ockerfarbenen Häuser, über <strong>der</strong>en erstem Stock eine<br />

Mansarde errichtet war.<br />

«Mein Bru<strong>der</strong>, diese Häuser erinnern mich an Holland, sie sind<br />

so einheitlich und sauber.»<br />

«Hier wohnen Handwerker und kleine Händler. Sie sind verpfl<br />

ichtet, meinen Soldaten Quartier zu gewähren. Die Soldaten<br />

wohnen kostenlos in <strong>der</strong> Giebelstube, <strong>der</strong> Hausbesitzer muss für<br />

Kerzenlicht und Brennholz sorgen, seine Frau kümmert sich um<br />

das Bettzeug, reinigt die Stube und kocht eine warme Mahlzeit;<br />

die Lebensmittel kauft <strong>der</strong> Soldat vom Sold, und <strong>der</strong> Hausbesitzer<br />

bekommt für seine Dienstleistungen ein geringes Entgelt. Es ist<br />

eine Übergangslösung, was die Unterbringung <strong>der</strong> Soldaten betrifft.<br />

Ich möchte irgendwann große Häuser bauen, wo sie wohnen<br />

können, aber lei<strong>der</strong> erschwert <strong>der</strong> sumpfi ge Untergrund in Potsdam<br />

das Bauen, und ich möchte auch genügend Handwerker hier<br />

ansiedeln, bevor ich die Soldatenhäuser baue. Und jetzt zeige ich<br />

dir meinen Garten.»<br />

115


Sie ritten nach Nordwesten und erreichten bald eine Wiesenlandschaft.<br />

Peter zügelte sein Pferd und sah sich staunend um: «Mein Bru<strong>der</strong>,<br />

wäre dies nicht ein geeigneter Platz, um Lustschlösser zu bauen?<br />

Dort vorne, die ansteigenden Terrassen, was wird dort angepfl<br />

anzt?»<br />

«Es ist ein Versuch, dort werden Weinreben gezüchtet. Was<br />

weitere Schlösser betrifft, verspüre ich kein Bedürfnis zu bauen;<br />

ich besitze genug Schlösser, die gepfl egt werden müssen und Geld<br />

kosten. Unter meiner Regierung wird nur praktisch gebaut: Bürgerhäuser,<br />

Schulhäuser, Soldatenhäuser, Kirchen, das sind die Gebäude,<br />

die in meinem Staat notwendig sind.»<br />

Sie ritten weiter, und nach kurzer Zeit hielt <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

vor einem hölzernen Zaun. Sie stiegen ab, banden die Pferde an den<br />

Zaun und gingen zu dem Haus des Gärtners.<br />

Unterwegs blieb Peter öfter stehen und betrachtete staunend die<br />

Obstbäume, die Beerensträucher, die Gemüsebeete und die hohen<br />

Stangen, wo Bohnen und Hopfen sich emporrankten.<br />

«Das ist mein Garten Marly», erklärte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «es ist<br />

ein Küchengarten, hier wachsen Erdbeeren, Mangold, Pastinaken,<br />

Petersilie, Möhren, Rhabarber.»<br />

Er ging mit Peter zu einem Ziehbrunnen und sagte: «Es gibt hier<br />

noch eine Kegelbahn, ein kleines Fachwerkhaus und Schießstände<br />

für die Armbrustschützen. Im Sommer, wenn ich Zeit habe, fahre<br />

ich mit meiner Familie am Samstag- o<strong>der</strong> Sonntagnachmittag nach<br />

Marly und dann vergnüge ich mich mit Scheibenschießen o<strong>der</strong> dem<br />

Kegelspiel. Am Abend gibt es eine einfache kalte Mahlzeit: geräucherten<br />

Fisch, Wurst, Schinken, Salat, Käse, Brot, Butter, Bier und<br />

Wein. Wenn es dunkel wird, fahren wir nach Berlin o<strong>der</strong> Potsdam<br />

zurück.»<br />

«An so einem Ort würde ich auch gerne meine Sommerabende<br />

verbringen», erwi<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Zar. Dann gingen sie zu dem Gärtnerhaus.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm klopfte, und als die Gärtnersfrau öffnete<br />

und den König sah, knickste sie und sagte unsicher: «Euer Majestät,<br />

willkommen in Marly, aber man hat Sie nicht gemeldet, mit<br />

Verlaub, ich bin auf Ihren Besuch nicht vorbereitet, ich bitte um<br />

Vergebung, Majestät …»<br />

116


«Es ist nicht weiter wichtig», unterbrach <strong>Friedrich</strong> Wilhelm die<br />

Frau, «mein Freund, <strong>der</strong> Zar, und ich, wir erwarten kein Bankett,<br />

son<strong>der</strong>n eine einfache Mahlzeit. Kann Sie etwas auftischen?»<br />

«Selbstverständlich, Majestät, was möchten Euer Majestät und<br />

<strong>der</strong> Zar trinken?»<br />

Sie knickste vor Peter und erhob sich leicht errötend.<br />

«Wir haben Durst und trinken Bier.»<br />

«Darf ich Euer Majestät in mein bescheidenes Haus bitten?»<br />

«Danke, ich sitze lieber im Freien, in <strong>der</strong> Sonne.»<br />

Während die Frau in die Küche eilte, setzten sich die beiden<br />

Männer auf die hölzerne Bank, die vor <strong>der</strong> Hauswand stand, und<br />

streckten die Beine behaglich unter dem Tisch aus.<br />

Der Zar blinzelte in die Sonne und sagte nach einer Weile: «Die<br />

Parade war wirklich beeindruckend, aber ich verstehe immer noch<br />

nicht, warum du so viel Wert auf große Männer legst.»<br />

«Das versteht ganz Europa nicht. Es gibt zwei einfache Gründe:<br />

große Menschen, egal ob Mann o<strong>der</strong> Frau, symbolisieren für mich<br />

Kraft und Gesundheit. Während meiner ersten Inspektionsreisen<br />

durch Ostpreußen war ich stets von neuem entsetzt, wenn ich in<br />

den Dörfern die kleinen, halb verkrüppelten Menschengestalten<br />

sah; ich versuche auch, meine großen Soldaten mit hochgewachsenen<br />

Frauen zu verheiraten, weil ein solches Paar wahrscheinlich<br />

auch große Kin<strong>der</strong> zeugen wird. Der zweite Grund ist mehr militärisch:<br />

du hast die langen Musketen gesehen – ein hochgewachsener<br />

Mann kann sie schneller laden und folglich schneller schießen.»<br />

Peter überlegte und erwi<strong>der</strong>te: «Das verstehe ich, aber warum<br />

unterhältst du eine so große Armee? In Berlin und Potsdam wimmelt<br />

es von Soldaten und Offi zieren, sie beherrschen das Stadtbild!<br />

Ich will nicht indiskret sein, aber wie stark ist deine Armee inzwischen?»<br />

«Das Heer meines Vaters war ungefähr 25 000 Mann stark, inzwischen<br />

sind es annähernd 50 000 Mann, darunter 12 000 Mann<br />

Kavallerie und 3 000 Mann Artillerie, das ist natürlich viel bei einer<br />

Einwohnerzahl von ungefähr 1 750 000 Menschen, aber ungefähr<br />

dreißig Prozent meiner Soldaten habe ich aus dem Ausland angeworben,<br />

und in meinem Land habe ich die gewaltsame Rekrutenwerbung<br />

inzwischen verboten, weil es zu viele Deserteure gab. In meinem<br />

117


Staat wird nur <strong>der</strong> zum Militärdienst verpfl ichtet, <strong>der</strong> keinen Beruf<br />

erlernt hat o<strong>der</strong> sich gegen ein Handgeld freiwillig verpfl ichtet. – Du<br />

willst wissen, warum ich mir eine große Armee leiste?»<br />

Er schob die Bierkrüge zur Seite und sagte: «Diese Tischplatte<br />

ist Mitteleuropa, mein Staat besteht aus Flicken und Fetzen. Im<br />

Osten siehst du das Königreich Preußen – um dorthin zu gelangen,<br />

muss ich durch polnisches Territorium reisen; in <strong>der</strong> Mitte<br />

siehst du die Mark Brandenburg, die inzwischen bis Hinterpommern<br />

im Osten und Magdeburg im Südwesten reicht, dann gibt<br />

es noch die rheinisch-westfälischen Län<strong>der</strong> Kleve, Minden, Lingen<br />

und Tecklenburg. Mein Staat besitzt keine natürlichen Grenzen<br />

wie zum Beispiel Frankreich, mein Staat kann also problemlos von<br />

feindlichen Truppen angegriffen werden. Ich benötige ein schlagkräftiges<br />

Heer, um meine Stellung in Mitteleuropa zu sichern, und<br />

beim Aufbau meiner Armee denke ich nicht an irgendwelche Eroberungen,<br />

son<strong>der</strong>n an die Unabhängigkeit und die Souveränität<br />

meines Staates. Wie ich zu sagen pfl ege: «Wenn man in <strong>der</strong> Welt<br />

was will dirigieren, es gewiss die Fe<strong>der</strong> nicht machet, wenn es nicht<br />

mit kompletter Armee soutiniert wird.» Abgesehen davon kurbelt<br />

<strong>der</strong> Aufbau <strong>der</strong> Armee die Wirtschaft an: ein Heer benötigt Tuch,<br />

Munition, Häuser, das bedeutet Arbeit für viele Handwerker, die<br />

Soldaten geben den Sold für ihren persönlichen Bedarf aus, das bedeutet<br />

Einkommen für die Kaufl eute. Seit meinem Regierungsantritt<br />

gibt es unzählige neue Manufakturen – Splitgerber & Daum,<br />

um nur ein Beispiel zu nennen, haben in Potsdam und Spandau<br />

eine Gewehrfabrik gegründet –, <strong>der</strong> Aufbau meiner Armee und <strong>der</strong><br />

wirtschaftliche Aufbau meines Staates, das ist ein harmonisches<br />

Zusammenspiel, Armee und Wirtschaft ergänzen sich und bilden<br />

eine Einheit.»<br />

Der Zar schwieg einen Moment und erwi<strong>der</strong>te: «Der wirtschaftliche<br />

Aufbau ist auch mein Ziel für Russland. Was die Grenzen betrifft<br />

und feindliche Angriffe, so ist meine Situation unproblematischer:<br />

Auch ich besitze, abgesehen von <strong>der</strong> Ostsee, keine natürlichen<br />

Grenzen, aber wer in Russland einmarschiert, muss damit rechnen,<br />

dass ihm die Weite des Landes zum Verhängnis wird. Meine Truppen<br />

stellen sich nicht zur Schlacht, sie locken den Angreifer in das<br />

Land hinein, immer tiefer, irgendwann verliert er die Orientierung,<br />

118


irgendwann wird er ein Opfer <strong>der</strong> Jahreszeit: Im Sommer kann es bei<br />

uns heftig regnen, dann sind die Wege aufgeweicht und unpassierbar;<br />

es kann auch trocken sein, dann herrscht eine Hitze, die den Boden<br />

versengt und die Bäche austrocknet, so dass <strong>der</strong> Feind kein Wasser<br />

fi ndet. Je<strong>der</strong> Feldherr, <strong>der</strong> künftig einen Angriff auf Russland plant,<br />

sollte genau den Feldzug Karls XII. studieren, <strong>der</strong> bei Poltawa besiegt<br />

wurde.»<br />

Er blinzelte erneut in die Sonne und fragte nach einer Weile:<br />

«Der Gleichschritt deiner Soldaten ist faszinierend, aber warum ist<br />

dieser Gleichschritt für dich so wichtig?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte, trank einen Schluck Bier und sagte:<br />

«Der eiserne Ladestock und <strong>der</strong> Gleichschritt sind eine Idee meines<br />

Freundes Leopold. Die hölzernen Ladestöcke sind oft durchgebrochen<br />

und haben die Schießerei unnötig verzögert, deswegen <strong>der</strong><br />

eiserne Ladestock; <strong>der</strong> Gleichschritt indes hat eine taktische Bedeutung,<br />

ich will versuchen, es dir zu erklären: Während des Spanischen<br />

Erbfolgekrieges lernte ich Leopold kennen und hörte von<br />

ihm zum ersten Mal das Wort ‹Lineartaktik›, er sagte auch, dass<br />

eine Armee für diese Taktik gedrillt werden müsse.<br />

In <strong>der</strong> Schlacht bei Malplaquet verstand ich, was er mit ‹Lineartaktik›<br />

meint: In <strong>der</strong> Vergangenheit prallten die Heere in wildem<br />

Durcheinan<strong>der</strong> zusammen, bei Malplaquet marschierten sie als<br />

feuerspeiende Linien über das Schlachtfeld – dies bedeutet, dass<br />

Feuer und Bewegung miteinan<strong>der</strong> kombiniert werden müssen; das<br />

Feuer muss marschieren, und dies ist nur möglich, wenn die Waffen<br />

mit äußerster Präzision gehandhabt werden. Die Lineartaktik<br />

ist ein stetiger Wechsel von geschlossener Salve und geschlossenem<br />

Vorrücken.<br />

Meine Grenadiere benötigen achtzehn Handgriffe, um die Bajonettfl<br />

inte feuerbereit zu machen. Zur Abgabe des Feuers werden<br />

vier Glie<strong>der</strong> formiert: Das erste kniet nie<strong>der</strong>, das zweite schießt im<br />

Stehen, das dritte tritt in die Lücke des zweiten, so dass alle drei<br />

freie Schussbahnen haben. Dann treten die Männer des vierten<br />

Gliedes zwischen die Reihen des ersten, das mit Laden beschäftigt<br />

ist. Dieser Wechsel muss sehr rasch gehen, dadurch entfallen die<br />

gefährlichen Feuerpausen beim Laden <strong>der</strong> Gewehre. Früher wurden<br />

diese Pausen durch das Werfen von Handgranaten überbrückt.<br />

119


Der Sieg hängt von einer Massierung des Salvenfeuers ab, und<br />

dies setzt Bewegungsabläufe voraus, die exakt funktionieren, einige<br />

hun<strong>der</strong>t Soldaten müssen zum gleichen Zeitpunkt die gleichen<br />

Handlungen ausführen, dies ist nur möglich, wenn die Soldaten<br />

jeden Tag mehrere Stunden gedrillt werden: Laden, Feuern, Marschieren<br />

muss ihnen in Fleisch und Blut übergehen. Meine Soldaten<br />

schießen inzwischen alle acht o<strong>der</strong> neun Sekunden, das ist faktisch<br />

ein Dauerfeuer für den Gegner.»<br />

Der Zar sah nachdenklich vor sich hin und sagte dann langsam:<br />

«Während meiner Reise von Holland hierher hörte ich überall spöttische<br />

Bemerkungen über deine Armee, sie sei nur eine Wachparade,<br />

das Exerzieren sei gekünstelt und eine Spielerei, aber ich glaube<br />

inzwischen, dass es keine Spielerei, son<strong>der</strong>n bitterer Ernst ist.»<br />

In diesem Augenblick kam die Gärtnersfrau, legte ein weißes<br />

Leinentuch auf den Tisch und brachte nacheinan<strong>der</strong> zinnerne Teller,<br />

Bestecke und Becher, weiße Leinenservietten, dunkles Roggenbrot,<br />

Butter, eine Flasche Rheinwein, einen Teller mit geräuchertem<br />

Schinken, schließlich stellte sie eine Platte mit Spargel und<br />

eine Schüssel mit zerlassener Butter auf den Tisch.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete genießerisch die Speisen und<br />

sagte: «Gütiger Himmel, das ist ja ein Festmahl.»<br />

Die Gärtnersfrau knickste: «Majestät, diesen Spargel hat mein<br />

Mann heute gestochen, es ist <strong>der</strong> letzte Spargel in diesem Sommer,<br />

und Weißwein schmeckt zum Spargel besser als Bier, ich wünsche<br />

guten Appetit.»<br />

Sie verschwand, und die Männer bedienten sich mit Spargel und<br />

Schinken und schmausten eine Weile still vor sich hin.<br />

Dann wischte <strong>der</strong> Zar mit <strong>der</strong> Serviette über seinen Mund,<br />

trank einen großen Schluck Wein und sagte: «Seit <strong>der</strong> Flucht<br />

meines Sohnes aus Russland habe ich über eine Än<strong>der</strong>ung des<br />

Erbfolgerechts nachgedacht, und ich bin inzwischen fest entschlossen,<br />

die Erbfolge zu än<strong>der</strong>n. Ich werde die Primogenitur<br />

abschaffen – ich und meine Nachfolger werden künftig entscheiden,<br />

wer von ihren Kin<strong>der</strong>n die Krone erbt, <strong>der</strong> Sohn o<strong>der</strong> die<br />

Tochter. Es ist nicht richtig, dass immer <strong>der</strong> Erstgeborene erbt,<br />

er ist vielleicht nicht fähig, gut zu regieren, ein jüngerer Bru<strong>der</strong><br />

o<strong>der</strong> eine jüngere Schwester können begabter sein; auch eine<br />

120


Zarinwitwe kann regieren, solange <strong>der</strong> Nachfolger noch min<strong>der</strong>jährig<br />

ist.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ließ die Gabel sinken und sah den Zaren erstaunt<br />

an: «Willst du Alexej wirklich von <strong>der</strong> Thronfolge ausschließen?»<br />

«Ja, mein Sohn hat mich enttäuscht, er ist zu weich, steht unter<br />

dem Einfl uss <strong>der</strong> Geistlichkeit, er interessiert sich nicht für militärische<br />

Dinge, er ist zu passiv, er wird ein Land wie Russland<br />

nie regieren können, in diesem Land muss man hart durchgreifen,<br />

wenn man es voranbringen will. Ich hoffe, dass Katharina mir<br />

noch Söhne schenkt, und wenn diese Hoffnung sich nicht erfüllt,<br />

so ist es nicht weiter tragisch, ich habe eine Tochter, Elisabeth, sie<br />

wird im Dezember acht Jahre alt, sie ist intelligent, ich kann sie mir<br />

als Zarin vorstellen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm erwi<strong>der</strong>te: «Mein Freund, Frauen können<br />

nicht regieren.»<br />

«In <strong>der</strong> Vergangenheit gibt es Beispiele, dass Frauen regieren<br />

können: Elisabeth I. von England, Kleopatra in Ägypten, und es<br />

gibt Frauen, die erfolgreich eine Regentschaft für einen min<strong>der</strong>jährigen<br />

Sohn geführt haben.»<br />

«Es sind Ausnahmen, und sie bestätigen die Regel, dass eine Frau<br />

nicht regieren kann.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte <strong>der</strong> Zar: «Ich werde in meinem<br />

Reich die Primogenitur abschaffen, und ich rate dir, darüber nachzudenken,<br />

ob du nicht meinem Beispiel folgen willst. Du hast zwei<br />

Söhne, vielleicht hast du in einigen Jahren vier o<strong>der</strong> noch mehr<br />

Söhne; wäre es nicht angebracht, ihre Entwicklung zu beobachten<br />

und die Krone dem Sohn zu vererben, den du für fähig erachtest,<br />

gut zu regieren?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm überlegte: «Es wi<strong>der</strong>strebt mir, die Primogenitur<br />

anzutasten. Bei den Hohenzollern war stets <strong>der</strong> älteste Sohn<br />

gleichzeitig Erbe, überdies gibt es ein juristisches Problem: <strong>der</strong><br />

Kronprinz in Preußen ist gleichzeitig <strong>der</strong> Kurprinz von Brandenburg.<br />

In Preußen bin ich autonom, aber als Kurfürst müsste ich die<br />

Abschaffung <strong>der</strong> Primogenitur in Wien beantragen, und das Reich<br />

müsste meinen Entschluss bestätigen, das ist ein langwieriges juristisches<br />

Verfahren, überdies gibt es für mich keine Veranlassung,<br />

121


die Erbfolge zu än<strong>der</strong>n, das Fritzchen entwickelt sich zu meiner<br />

vollen Zufriedenheit.»<br />

Der Zar seufzte: «Lieber Freund, ich hoffe und wünsche, dass<br />

dein ältester Sohn dir nur Freude bereitet.»<br />

122


6<br />

Einige Tage nach <strong>der</strong> Abreise des Zaren saß <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

im Schulzimmer des Kronprinzen und verfolgte aufmerksam Duhans<br />

Rechenunterricht. Hin und wie<strong>der</strong> nickte er zufrieden, und<br />

als es elf Uhr schlug, sagte er: «Eine Aufgabe noch, Monsieur Duhan,<br />

das genügt.»<br />

Der Lehrer und <strong>Friedrich</strong> atmeten erleichtert auf, und Duhan<br />

fuhr fort: «Königliche Hoheit, was ergibt zwei plus zwei mal vier<br />

minus acht geteilt durch vier?»<br />

«Das ergibt zwei», antwortete <strong>Friedrich</strong>, ohne zu zögern.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stand auf, ging zu dem Sohn, strich ihm über<br />

das Haar und sagte: «Das war sehr gut, Fritzchen», und zu Duhan:<br />

«Ich bin mit Ihrem Unterricht vollkommen zufrieden. Jetzt möchte<br />

ich noch überprüfen, was mein Sohn über die Geschichte des Staates<br />

weiß, über den er einmal herrschen wird», und zu <strong>Friedrich</strong>:<br />

«Wann sind die Hohenzollern in den Besitz des Herzogtums Preußen<br />

gekommen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> dachte einen Augenblick nach und erwi<strong>der</strong>te: «Im Jahre<br />

1618 fi el <strong>der</strong> östliche Teil des Herzogtums Preußen, das unter polnischer<br />

Lehenshoheit stand, durch Erbverträge an die Hohenzollern.<br />

Mein Urgroßvater, <strong>der</strong> Große Kurfürst, erreichte in zwei Verträgen<br />

anno 1656 und anno 1660 die Aufhebung <strong>der</strong> polnischen Lehenshoheit<br />

und glie<strong>der</strong>te Preußen in seinen Staat ein. Im Jahre 1700 schloss mein<br />

Großvater mit dem Kaiser einen Vertrag, worin Preußen als Königreich<br />

anerkannt wurde. Am Tag vor <strong>der</strong> Krönung stiftete mein Großvater<br />

den schwarzen Adlerorden mit <strong>der</strong> Inschrift ‹Suum cuique›.»<br />

«Aha, aber sage mir, warum konnte dein Großvater sich in Königsberg<br />

zum König in Preußen krönen – als Kurfürst von Brandenburg<br />

war er doch Reichsfürst?»<br />

«Preußen gehört nicht zum Reich, deswegen konnte er dort König<br />

werden, ebenso wie mein an<strong>der</strong>er Großvater, <strong>der</strong> Kurfürst von<br />

Hannover, König von England werden konnte.»<br />

Bei <strong>Friedrich</strong>s letzten Worten fl og ein Schatten über des Königs<br />

Gesicht, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.<br />

123


«Eine letzte Frage, Fritzchen: Warum bin ich König in Preußen<br />

und nicht König von Preußen?»<br />

«Sie regieren nur im östlichen Teil Preußens, Papa, Westpreußen<br />

gehört zu Polen.»<br />

«Richtig. Angenommen, ich würde eines Tages in den Besitz<br />

Westpreußens kommen, dann könnte ich mich König von Preußen<br />

nennen, aber dies wird nie <strong>der</strong> Fall sein, dann müsste ich nämlich<br />

Polen angreifen, und ich hasse Angriffskriege.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm das Zimmer verließ, sahen <strong>Friedrich</strong> und<br />

Duhan einan<strong>der</strong> erleichtert an: «Königliche Hoheit, Sie können<br />

sich jetzt zehn Minuten ausruhen, und dann werden Sie lernen, bis<br />

hun<strong>der</strong>t zu zählen, es wird höchste Zeit.»<br />

Am 27. August standen vor dem Berliner Schloss im morgendlichen<br />

Zwielicht ungefähr fünfzig Kutschen und Gepäckwagen. Die<br />

Kutscher unterhielten sich und riefen einan<strong>der</strong> <strong>der</strong>be Scherzworte<br />

zu, während die Lakaien Koffer und Kisten zu den Gepäckwagen<br />

schleppten.<br />

Als es sechs Uhr schlug, erschien das Königspaar, gefolgt von<br />

den beiden ältesten Kin<strong>der</strong>n und einigen Hofl euten.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm half Sophie Dorothea beim Einsteigen und<br />

übersah das verdrießliche Gesicht seiner Frau.<br />

Sie blickte den Gatten durch das geöffnete Wagenfenster missmutig<br />

an und fragte: «Wie lange werden wir nach dem Hubertustag<br />

noch in Wusterhausen bleiben?»<br />

«Ich weiß es noch nicht, es hängt vom Wetter ab und …», er zögerte<br />

etwas, «und von <strong>der</strong> außenpolitischen Entwicklung.»<br />

«Mon Dieu, die außenpolitische Entwicklung – als Sie mir neulich<br />

von diesem Clement erzählten, sagte mir mein Gefühl sofort,<br />

dass er ein Betrüger ist, und mein Vater und mein Bru<strong>der</strong> schrieben<br />

Ihnen, dass sie we<strong>der</strong> mit Wien noch mit Dresden über ein<br />

Bündnis gegen Sie verhandeln.»<br />

«Die Briefe aus England sind Wind; Wind und blauer Dunst.<br />

Mein Gefühl sagt mir, dass Clement ein ehrenwerter Mann ist,<br />

ein Betrüger würde nie bei Roloff wohnen und sich mit religiösen<br />

Fragen beschäftigen.»<br />

«Das ist bestimmt eine geschickte Tarnung.»<br />

124


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm spürte, wie Wut in ihm hochstieg, aber er beherrschte<br />

sich und sagte nur: «Ich wünsche Ihnen eine angenehme<br />

Fahrt nach Wusterhausen, liebe Frau», und ging zur nächsten Kutsche,<br />

worin seine Kin<strong>der</strong> und ihre Erzieherinnen saßen.<br />

«Mon Dieu», sagte Sophie Dorothea zu Frau von Kamecke, die<br />

inzwischen eingestiegen war, «was für ein schrecklicher Sommer!<br />

Ich konnte nur drei Wochen in Monbijou verbringen, weil die Renovierung<br />

des Schlosses so lange dauerte, und jetzt stehen mir<br />

mindestens zehn Wochen in diesem grauenhaften Wusterhausen<br />

bevor.»<br />

«Majestät, die Russen haben gewiss wie die Barbaren in Ihrem<br />

Schloss gehaust, aber es wird Jahre dauern, bis <strong>der</strong> Zar uns wie<strong>der</strong><br />

besucht.»<br />

«Ich lege keinen Wert auf weitere Besuche <strong>der</strong> Russen. Haben<br />

wir genügend Bargeld? Es ist unglaublich, dass ich dem König für<br />

das erlegte Wild, das er mir überlässt, Pulver und Blei bezahlen<br />

muss.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stand an <strong>der</strong> Kutsche seiner Kin<strong>der</strong>, und seine<br />

Augen wan<strong>der</strong>ten von Fräulein Leti zu Madame de Roucoulles und<br />

zu Wilhelmine, dann betrachtete er seinen Sohn und sagte: ,,Dies<br />

ist dein erster Aufenthalt in Wusterhausen, Fritzchen, bei unserer<br />

Ankunft erwartet dich eine Überraschung, ich wünsche eine angenehme<br />

Fahrt.»<br />

Er ging zu seiner eigenen Kutsche zurück, wo bereits Grumbkow<br />

saß und Akten ordnete, und während die Wagen Berlin in südöstlicher<br />

Richtung verließen, las <strong>der</strong> König die eingegangene Post.<br />

Plötzlich lachte er schallend und rief: ,,Allmählich werden wir<br />

Herr über die Wildschweinplage: Im letzten Januar und Februar<br />

wurden 1084 Wildschweine erlegt, je<strong>der</strong> Bürger hat meinen Befehl<br />

befolgt und ein Schwein gekauft für drei bis sechs Taler, sogar die<br />

Juden habe ich dazu gezwungen, und was haben die Juden mit den<br />

Schweinen gemacht? Was meinen Sie, Grumbkow?»<br />

«Ich weiß es nicht, Majestät.»<br />

«Sie werden es nicht glauben, die Juden haben die Schweine, weil<br />

es unreines Fleisch ist, an die Hospitäler verschenkt, das ist das<br />

achte Weltwun<strong>der</strong>, die Juden verschenken etwas und bereichern<br />

sich nicht.»<br />

125


Die Kutschen fuhren durch das Stadttor und holperten über<br />

staubige Sandwege.<br />

Plötzlich tauchte ein Eilkurier auf und überreichte dem König<br />

zwei Briefe durch das geöffnete Wagenfenster.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah das Siegel des Prinzen Eugen und sagte<br />

zu dem Kurier: «Reite Er neben meinem Wagen», dann schloss er<br />

das Fenster und öffnete die Briefe.<br />

«Grumbkow, hören Sie, Prinz Eugen hat Belgrad erobert und die<br />

Türken endgültig aus Europa vertrieben!»<br />

Er las den zweiten Brief und legte ihn nachdenklich zur Seite.<br />

Grumbkow beobachtete die Miene des Königs und wartete ab.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg, bis sie die tiefen Wäl<strong>der</strong> erreichten,<br />

dann sagte er leise: «Prinz Eugen warnt mich vor Clement, er<br />

schreibt, <strong>der</strong> Mann sei ein Hochstapler, und die Briefe, die er mir<br />

übergab, seien gefälscht. Meine Frau glaubt ebenfalls, dass er ein<br />

Hochstapler ist, aber ich bin von seiner Aufrichtigkeit überzeugt.»<br />

Er schwieg einen Moment, dann sah er Grumbkow an: «Sie wollten<br />

sich über Clement erkundigen, was wissen Sie?»<br />

Der Minister hüstelte und antwortete zögernd: «Meine Erkundigungen<br />

haben nicht viel ergeben: Clement reiste als Sekretär des<br />

Prinzen Ragozy durch Europa, war an vielen Höfen, und man vermutet,<br />

dass er von hoher Abstammung ist. Als ich ihn im Frühjahr<br />

sah, erinnerte er mich an jemanden, dann sah ich das Bild des Herzogs<br />

von Orléans im Berliner Schloss und fand, dass Clement dem<br />

Herzog ähnelt. Ilgen glaubt, dass Clement dem König von Dänemark<br />

ähnelt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm überlegte: «Diese Ähnlichkeiten sind Wind;<br />

Wind und blauer Dunst – Clement hat mich we<strong>der</strong> an den Herzog<br />

noch an den König erinnert, ich warte jetzt ab, was Dresden<br />

auf meinen Brief antwortet, und dann treffe ich weitere Entscheidungen.»<br />

Er vertiefte sich erneut in die Post und sagte nach einer Weile:<br />

«Ich bin davon überzeugt, dass Clement kein Betrüger ist, ich werde<br />

von Wusterhausen aus meinem Freund Leopold schreiben und<br />

ihn um seine Meinung bitten.»<br />

Als die Kutschen den Schlossplatz verließen und langsam über<br />

das Kopfsteinpfl aster rumpelten, sahen <strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine<br />

126


aus den offenen Wagenfenstern und winkten den Einwohnern<br />

zu.<br />

Die Berliner blieben stehen, als sie die Königskin<strong>der</strong> sahen,<br />

und riefen: «Es lebe <strong>der</strong> Kronprinz, es lebe die Prinzessin Wilhelmine!»<br />

«Ich freue mich für dich, Fritzchen», sagte Wilhelmine nach einer<br />

Weile, «du bist schon jetzt bei deinen künftigen Untertanen<br />

beliebt.»<br />

Fräulein Leti musterte Wilhelmine einen Augenblick, dann<br />

gähnte sie laut, sank in die Polster zurück, schloss die Augen und<br />

schlief ein.<br />

Madame de Roucoulles betrachtete aufmerksam die Straßen und<br />

sagte: «Mon Dieu, es ist für mich immer noch unglaublich, wie<br />

Berlin sich seit meiner Ankunft vor über dreißig Jahren verän<strong>der</strong>t<br />

hat», und zu den Geschwistern: «Ich war entsetzt, als ich damals in<br />

Berlin eintraf. Ich kam aus Paris, dort waren die Straßen gepfl astert,<br />

und es gab überall Straßenlaternen, in Berlin hingegen – nun,<br />

es gab einige Laternen an den größeren Plätzen, aber <strong>der</strong> Straßenschmutz<br />

war einfach unglaublich, je<strong>der</strong> Einwohner schüttete seine<br />

Küchenabfälle und den Inhalt <strong>der</strong> Nachttöpfe auf die ungepfl asterten<br />

Straßen, wo laut quiekend Schweine herumliefen und ihre<br />

Schnauzen im Schlamm <strong>der</strong> Gassen wühlten. Es war unmöglich,<br />

in eleganten Klei<strong>der</strong>n trocken und sauber zum Schloss zu kommen,<br />

wenn Hoffeste stattfanden, und die Straßenjungen grölten immer<br />

laut, wenn reiche Bürger auf Stelzen über die Straßen stakten, um<br />

ihre Kleidung vor dem stinkenden Straßenschlamm zu schützen,<br />

<strong>der</strong> bis zur halben Wade reichte.<br />

Ihr Großvater liebte die Repräsentation, er wollte Berlin zu<br />

einer schönen Residenzstadt ausbauen, so verpfl ichtete er jeden<br />

Hausbesitzer, die Straße vor dem Haus bis zur Mitte pfl astern zu<br />

lassen, er untersagte das Mästen von Schweinen in <strong>der</strong> Stadt und<br />

ließ überall Laternen aufstellen; dann begann er mit dem Ausbau<br />

von Berlin. Beim Regierungsantritt Ihres Großvaters bestand die<br />

Stadt aus drei Bezirken: <strong>Friedrich</strong>swer<strong>der</strong>, Dorotheenstadt mit <strong>der</strong><br />

breiten Straße ‹Unter den Linden› und <strong>der</strong> <strong>Friedrich</strong>sstadt, die Ihr<br />

Großvater weiter ausbaute; er ließ auch das prächtige Zeughaus<br />

errichten und die Schlossbrücke, er för<strong>der</strong>te die Künste und die<br />

127


Wissenschaften. Andreas Schlüter baute das Berliner Schloss aus,<br />

im Juli 1700 wurde die Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften gegründet,<br />

und er ernannte Leibniz zum ersten Präsidenten dieser Akademie.<br />

Ihre Großmutter, die Königin Sophie Charlotte, war mit<br />

Leibniz befreundet und hat seine Ernennung durchgesetzt, ja, das<br />

war Ihr Großvater.»<br />

<strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine schwiegen einen Augenblick, dann<br />

sagte <strong>Friedrich</strong>: «Ich habe Bil<strong>der</strong> von meinem Urgroßvater und<br />

meinem Großvater gesehen: Mein Urgroßvater trägt seine Haare<br />

offen und ungepu<strong>der</strong>t, mein Großvater trägt eine riesige Perücke –<br />

warum? Papa trägt auch keine Lockenperücke!»<br />

Madame de Roucoulles überlegte einen Augenblick und erwi<strong>der</strong>te:<br />

«Königliche Hoheit, Ihr Vater liebt ein bescheidenes Leben,<br />

deswegen kleidet er sich einfach, Ihr Großvater liebte den Prunk,<br />

das ist ein Grund für die große Perücke, die damals auch modisch<br />

war, überdies wollte er seinen Buckel verbergen – die Amme ließ<br />

ihn fallen, verschwieg aber den Unfall, und erst als er sieben Jahre<br />

alt war, wurde die Rückgratverkrümmung entdeckt. Er versuchte<br />

mit <strong>der</strong> Perücke und aufwendiger Kleidung, seine Missbildung zu<br />

verbergen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> fragte: «Warum hat mein Urgroßvater den Straßenschmutz<br />

nicht beseitigt, er ist doch <strong>der</strong> ‹Große Kurfürst›?!»<br />

«Königliche Hoheit, als Ihr Urgroßvater anno 1640 Kurfürst<br />

von Brandenburg wurde, da herrschte Krieg in Mitteleuropa. Ihr<br />

Urgroßvater musste sein Land gegen brandschatzende und plün<strong>der</strong>nde<br />

Heere verteidigen: Anno 1648 war endlich Frieden, Ihr Urgroßvater<br />

begann mit dem Wie<strong>der</strong>aufbau Brandenburgs, und er<br />

versuchte mit seiner Bündnispolitik, die Existenz seines Staates zu<br />

sichern, so blieb wenig Zeit für die Verschönerung Berlins. Er starb<br />

anno 1688, und ich bin überzeugt, dass er, hätte er länger gelebt,<br />

seine Residenzstadt ausgebaut und für Reinlichkeit in den Straßen<br />

gesorgt hätte.»<br />

Die Kutsche rumpelte durch das Stadttor und Madame de Roucoulles<br />

lehnte sich zurück und schloss die Augen.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah aus dem Fenster, während Wilhelmine sich in ihre<br />

englische Grammatik vertiefte.<br />

Nach einer Weile sagte er: «Wilhelmine, welche Überraschung<br />

128


wartet in Wusterhausen auf mich, kannst du dir denken, was es<br />

ist?»<br />

Sie sah von dem Buch auf und erwi<strong>der</strong>te: «Ich weiß es nicht,<br />

Fritzchen.»<br />

Sie sah hinaus in die Landschaft, seufzte und sagte: «Ich<br />

wünschte, wir wären bereits auf dem Rückweg.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah seine Schwester erstaunt an: «Lebst du nicht gern<br />

in Papas Jagdschloss?»<br />

«Ich hasse Wusterhausen.»<br />

«Das hast du mir noch nie gesagt.»<br />

«Fritzchen, alle, die Papa im Herbst nach diesem sogenannten<br />

Schloss begleiten, reden ungern über den Aufenthalt, auch Mama,<br />

sie ist immer glücklich, wenn wir Wusterhausen wie<strong>der</strong> verlassen.»<br />

«Warum?»<br />

Wilhelmine erwi<strong>der</strong>te: «Das Jagdschloss ist klein, man wohnt<br />

sehr eng zusammen, <strong>der</strong> größte Raum ist im Erdgeschoss und wird<br />

von Papa als Tabagie genutzt; daneben bewohnt er zwei Zimmer.<br />

Im ersten Stock bewohnt Mama zwei große Zimmer, ansonsten<br />

gibt es dort nur Kammern. Eine Kammer muss für zwei Hofl eute<br />

reichen, die Dienerschaft ist in den Dachkammern untergebracht,<br />

dann gibt es noch einige Gästezimmer in den Wirtschaftsgebäuden.<br />

Es gibt dort keinen Park, noch nicht einmal einen Garten, wo<br />

man spazieren könnte, hinter dem Schloss beginnt <strong>der</strong> Wald. Du<br />

kannst dir sicherlich vorstellen, wie langweilig <strong>der</strong> Aufenthalt in<br />

Wusterhausen ist. Mama verbringt den ganzen Tag in ihren Räumen<br />

und wartet, dass Papa von <strong>der</strong> Jagd zurückkehrt.»<br />

«Wie verbringst du den Tag?»<br />

«Am Vormittag werde ich von <strong>der</strong> Leti unterrichtet, am Nachmittag<br />

bin ich bei Mama. Papa geht fast jeden Tag auf die Jagd, und<br />

man weiß nie, wann er zurückkehrt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> dachte eine Weile nach, dann sagte er: «Ich weiß jetzt, womit<br />

Papa mich überraschen will: Ich darf ihn auf die Jagd begleiten.»<br />

«Nein, Fritzchen, für die Jagd bist du noch zu jung, du musst erst<br />

reiten lernen; wenn du zwölf o<strong>der</strong> dreizehn Jahre bist, wird Papa<br />

dich mitnehmen. Abgesehen von <strong>der</strong> Langeweile sind die Mahlzeiten<br />

in diesem Jagdschloss schrecklich: wir essen im Freien, weil<br />

129


es keinen großen Speisesaal gibt, und wenn es regnet, wird ein Zelt<br />

errichtet. Es gibt oft Eintopfgerichte, nur am Sonntag delikates<br />

Wildbret.»<br />

<strong>Friedrich</strong> dachte nach und fragte dann: «Fahren wir jedes Jahr<br />

nach Wusterhausen?»<br />

«Ja, wir verlassen Berlin immer am 27. August und kehren<br />

Mitte o<strong>der</strong> Ende November zurück, das hängt von <strong>der</strong> Witterung<br />

ab. Es gibt dort auch Unterhaltung, zum Beispiel die Reiherbeize.<br />

Dann kommen Falkoniere aus Holland mit ihren Jagdfalken, und<br />

wir fahren zum Schmöckwitzer Wer<strong>der</strong>, das ist eine verschilfte,<br />

morastige Flusshalbinsel, auf <strong>der</strong> die Reiher ihre Reviere und<br />

Brutstätten haben. Wenn die Reiher aufsteigen, lässt man die<br />

Falken los, diese zwingen die Reiher zu Boden und halten sie<br />

fest, bis die Falkoniere erscheinen. Die gefangenen Reiher werden<br />

zu Mama und Papa gebracht, dann wird ihnen ein kupferner<br />

Ring um den Hals gelegt, und dann entlässt man sie wie<strong>der</strong><br />

in die Freiheit. Gegen Mittag wird ein großes Feuer entzündet,<br />

dann speist man und vergnügt sich mit Ballspielen. Dann gibt<br />

es noch zwei weitere Feste, nämlich den Jahrestag <strong>der</strong> Schlacht<br />

bei Malplaquet am 11. September und das Hubertusfest am 3.<br />

November. Bereits am frühen Morgen treffen die geladenen Offi<br />

ziere ein. Sie gehen auf die Jagd, und wenn sie am Spätnachmittag<br />

zurückkehren, fl ießen Wein und Bier in Strömen, Papa<br />

trinkt auf Mama, den Kaiser o<strong>der</strong> das Reich, nach dem Abendessen<br />

zieht Mama sich mit ihren Damen zurück, dann geht es erst<br />

richtig los: Ich habe beobachtet, wie Papa mit seinen Offi zieren<br />

unter lautem Gesang im Hof herumtanzte. Papa ist nicht nur im<br />

Herbst in Wusterhausen, er ist stets dort, wenn er sich einige<br />

Tage erholen will.»<br />

Am Nachmittag erreichten sie Wusterhausen. <strong>Friedrich</strong> kletterte<br />

aus dem Wagen und lief über die staubige Dorfstraße zum<br />

Schloss. Vor einem tiefen Graben, in dem sich schwarzes Wasser<br />

staute, blieb er stehen. Er machte einige Schritte zurück, weil <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>ige Geruch des Wassers ihn kaum atmen ließ, und hielt sich<br />

die Nase zu.<br />

Er musterte die zwei spitzgiebeligen, weißen Schlossfl ügel, in <strong>der</strong>en<br />

Mitte sich ein run<strong>der</strong>, schiefergedeckter Turm erhob. Er zähl-<br />

130


te drei Stockwerke, dann wan<strong>der</strong>ten seine Augen von den kleinen<br />

quadratischen Fenstern zu dem Gittertor, und er sah, dass hier zwei<br />

weiße und zwei schwarze Adler und zwei schwarzbraune Bären angebunden<br />

waren, im Schlosshof erblickte er einen Ziehbrunnen,<br />

rechts und links vom Schloss sah er die Wirtschaftsgebäude und<br />

hinter ihnen einen schier endlosen Mischwald.<br />

Er spürte, dass er sich hier nie wohl fühlen würde.<br />

In diesem Augenblick trat Madame de Roucoulles zu ihm und<br />

fragte: «Königliche Hoheit, wie gefällt Ihnen das Jagdschloss Ihres<br />

Vaters?»<br />

«Das ist doch kein Schloss, das ist nur ein großes Haus, und es<br />

gefällt mir überhaupt nicht.»<br />

«Königliche Hoheit, es ist ein Schloss; gewiss, es ist nicht königlich,<br />

es ähnelt mehr den Schlössern <strong>der</strong> Junker, aber es ist <strong>der</strong> liebste<br />

Aufenthalt Seiner Majestät, Sie dürfen Ihrem Vater nie sagen,<br />

dass es Ihnen hier nicht gefällt, es würde ihn kränken. Sie wollen<br />

Ihrem Vater doch nur Freude bereiten?»<br />

«Ja, Madame.»<br />

Da trat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm neben seinen Sohn, zog ihn an sich,<br />

strich ihm über die Locken und sagte: «Willkommen in Wusterhausen,<br />

Fritzchen. Hier verbringe ich immer einige erholsame<br />

Wochen mit meiner Familie. Mein Vater schenkte mir dieses Anwesen,<br />

als ich zehn Jahre alt war, und außerdem schenkte er mir<br />

eine Kompanie Kadetten, das waren zwar nur einfache Bauernjungen<br />

aus den umliegenden Dörfern, aber mein Vater sorgte für<br />

Uniformen und Holzgewehre. In je<strong>der</strong> freien Minute habe ich die<br />

jungen Burschen exerziert, einige versuchten, sich zu drücken,<br />

verbargen sich in Heuschobern o<strong>der</strong> Pferdeställen, aber ich habe<br />

sie immer aufgestöbert. Du bist erst fünf Jahre, aber ich wünsche,<br />

dass du schon jetzt mit dem Exerzieren anfängst.» Er gab einem<br />

jungen Offi zier ein Zeichen, dieser verließ den Schlosshof und<br />

kehrte nach wenigen Minuten an <strong>der</strong> Spitze einer Kadettenkompanie<br />

zurück.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete erstaunt die kleinen Jungen, die in Zehnerreihen<br />

und im Gleichschritt in den Hof marschierten, sich –<br />

eine Reihe nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en – aufstellten und das Gewehr präsentierten.<br />

131


Er musterte die blauen Röcke, die langen roten Westen, die weißen<br />

Gamaschen und die schwarzen klobigen Schuhe mit dem erhöhten<br />

Absatz, dann wan<strong>der</strong>ten seine Augen zu <strong>der</strong> hohen Grenadiersmütze,<br />

in <strong>der</strong>en Mitte ein goldener Stern prangte.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte zufrieden: «Ich freue mich, Fritzchen,<br />

dass du dich für die Uniform meiner Soldaten interessierst;<br />

es ist die Uniform <strong>der</strong> Grenadiere meines Leibregiments, auf <strong>der</strong><br />

Mütze steht im Vor<strong>der</strong>schild meine neu eingeführte Devise ‹SEM-<br />

PER TALIS›, es ist das Motto für die Kampfmoral und die Standfestigkeit<br />

<strong>der</strong> Truppe. Der Stern, das Mützenwappenzeichen, ist <strong>der</strong><br />

Stern vom Schwarzen Adlerorden, den dein seliger Großvater kurz<br />

vor seiner Königskrönung stiftete, er trägt die Umschrift ‹SUUM<br />

CUIQUE›.<br />

Deine Kompanie besteht aus 131 kleinen Junkern, sie sind fünf<br />

bis sieben Jahre alt, und ich habe sie sorgfältig aus verschiedenen<br />

Kadettenanstalten ausgewählt. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit werde ich sie zahlenmäßig<br />

zu einem Bataillon verstärken.<br />

Der offi zielle Titel deiner Kompanie lautet: ‹Kompanie <strong>der</strong> Kronprinzlichen<br />

Kadetten›. Ab morgen wirst du sie täglich exerzieren<br />

und die gleiche Uniform tragen; wenn ich dich beför<strong>der</strong>e, wird sich<br />

deine Uniform natürlich än<strong>der</strong>n. Eine Beför<strong>der</strong>ung setzt selbstverständlich<br />

gute Leistungen voraus.»<br />

Er winkte dem jungen Offi zier, <strong>der</strong> ihm ein Dokument überreichte,<br />

und sagte feierlich zu <strong>Friedrich</strong>: «Mein Sohn, hiermit ernenne<br />

ich dich zum Fähnrich, Fähnrich <strong>Friedrich</strong> von Hohenzollern.<br />

Ich selbst habe es nur bis zum Oberst gebracht, ich hoffe, dass<br />

ich dich eines Tages zum General ernennen kann.»<br />

Er gab <strong>Friedrich</strong> die Urkunde, und das Kind presste sie an sich<br />

und stammelte: «Vielen Dank, Papa, aber ich weiß nicht, wie man<br />

exerziert.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lachte, strich dem Sohn über die Locken und<br />

sagte gutgelaunt: «Keine Sorge, du wirst es lernen», er winkte den<br />

jungen Offi zier herbei und stellte ihn vor: «Mein Sohn, dieser<br />

junge Mann ist <strong>der</strong> Kadettenunteroffi zier Christoph <strong>Friedrich</strong> von<br />

Rentzell, er ist siebzehn Jahre alt und wird dich einexerzieren, in<br />

einigen Wochen kannst du hoffentlich selbst kommandieren. Du<br />

wirst ab morgen die 54 Bewegungen des preußischen Exerzier-<br />

132


eglements lernen, am Vormittag wirst du wie üblich von deiner<br />

Gouvernante und Duhan unterrichtet, von zwei bis drei Uhr wirst<br />

du exerzieren.»<br />

Er gab Rentzell ein Zeichen, dieser trat vor die Kadetten und rief:<br />

«Ab morgen wird Seine Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz, Fähnrich<br />

<strong>Friedrich</strong> von Hohenzollern, euch kommandieren, es lebe <strong>der</strong><br />

Kronprinz!»<br />

«Es lebe <strong>der</strong> Kronprinz!», riefen die kleinen Jungen.<br />

<strong>Friedrich</strong> presste immer noch die Urkunde an sich und betrachtete<br />

verwirrt seine Kompanie.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat zu dem Sohn und zog ihn an sich: «Nun,<br />

Fritzchen, du sagst nichts, freust du dich nicht über deine Soldaten?»<br />

Er sah seinen Vater unsicher an und sagte leise: «Ich freue mich,<br />

Papa, doch es ist alles so neu für mich, ich, ich weiß nicht, ob ich<br />

kommandieren kann.»<br />

«Du wirst es lernen, mein Sohn, nur Mut.»<br />

In diesem Augenblick gab Sophie Dorothea ihren Damen ein<br />

Zeichen und begab sich in das Schloss zu ihrem Appartement.<br />

«Es ist unglaublich», sagte sie zu Frau von Kamecke, «<strong>der</strong> Kronprinz<br />

ist erst fünf Jahre und muss dieses abartige Exerzieren lernen.<br />

Mon Dieu, er ist noch ein Kind, ein Kind will spielen und<br />

nicht das preußische Exerzierreglement lernen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete gutgelaunt die Offi ziere und Hofbeamten<br />

und rief: «Meine Herren, morgen eröffnen wir die Saison<br />

mit <strong>der</strong> Jagd auf Rebhühner, wir reiten wie üblich zur Feldmark<br />

Machnow. In <strong>der</strong> letzten Saison habe ich pro Tag zweihun<strong>der</strong>t Rebhühner<br />

erlegt, ich hoffe, dass ich in diesem Herbst die Zahl steigern<br />

kann.»<br />

Er nahm <strong>Friedrich</strong>s Hand und ging mit ihm über eine Brücke in<br />

den Hof.<br />

Dort blieb er stehen und sagte: «Fritzchen, du darfst den Adlern<br />

und den Bären nicht zu nahe kommen, sie können gefährlich werden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die Tiere und presste sich ängstlich an<br />

den Vater. Sie gingen in das Schloss, stiegen eine hölzerne Wendeltreppe<br />

hinauf bis zum ersten Stock, dann öffnete <strong>Friedrich</strong><br />

133


Wilhelm eine Tür und sagte: «Hier wirst du wohnen, wenn wir<br />

in Wusterhausen weilen, in <strong>der</strong> Kammer nebenan schläft deine<br />

Gouvernante. Ich lasse dich jetzt allein, damit du dich an deine<br />

neue Umgebung gewöhnst, wir sehen uns an <strong>der</strong> Abendtafel. Dein<br />

Schulzimmer ist im Erdgeschoss in einem Raum neben dem Tabakskollegium.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die kahlen, weißgekalkten Wände, die dunklen<br />

Eichenbalken an <strong>der</strong> Decke, das schmale Bett aus Fichtenholz,<br />

worin ein Strohsack lag, seine Augen wan<strong>der</strong>ten zu dem Tisch und<br />

dem Stuhl neben dem Fenster, er sah den Schrank, die Truhe, einen<br />

Schemel, und an einer Wand erblickte er einige Regale und atmete<br />

erleichtert auf: Hier konnte er seine Bücher unterbringen.<br />

Er stieg auf den Fußschemel vor dem Fenster, sah hinunter in<br />

den Hof, beobachtete die Diener, die emsig Koffer und Kisten in das<br />

Schloss schleppten, dann sah er sich erneut in seinem Zimmer um,<br />

setzte sich auf das Bett und begann zu weinen.<br />

In diesem Augenblick betrat Madame de Roucoulles das Zimmer<br />

und blieb bestürzt stehen, als sie ihren Zögling sah.<br />

«Königliche Hoheit, ist etwas passiert? Warum weinen Sie?»<br />

«Ich möchte nicht hier bleiben, Madame, im Berliner Schloss und<br />

im Potsdamer Schloss ist es viel schöner! Dort habe ich ein großes<br />

Appartement, hier bewohne ich nur dieses kleine Zimmer.»<br />

Madame de Roucoulles setzte sich neben ihn und erwi<strong>der</strong>te:<br />

«Königliche Hoheit, Sie müssen hier bleiben, in diesem Jagdschloss<br />

weilt Seine Majestät am liebsten; es ist doch nur für wenige Wochen,<br />

dann kehren wir nach Berlin zurück. In einigen Jahren begleiten<br />

Sie Ihren Vater auf die Jagd, dann wird es Ihnen hier besser<br />

gefallen. Folgen Sie mir, ich möchte Ihnen etwas zeigen.»<br />

Sie gingen hinunter und an dem Ziehbrunnen vorbei zu einer<br />

großen Linde.<br />

«Sehen Sie, Königliche Hoheit, unter diesem prachtvollen Baum<br />

wird jeden Tag für vierundzwanzig Personen gedeckt. Es ist wun<strong>der</strong>voll,<br />

unter dem blauen Himmel zu speisen, es schmeckt alles<br />

viel besser als in einem Saal, bei den Mahlzeiten in Wusterhausen<br />

herrscht immer eine gelöste Stimmung, man vergisst die täglichen<br />

Sorgen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die Linde, dann sah er sich im Hof um und<br />

134


sagte: «Im Berliner Schloss gibt es mehrere Höfe, dort habe ich genügend<br />

Platz zum Spielen, in Potsdam und Monbijou ebenfalls; wo<br />

soll ich hier spielen? Es gibt noch nicht einmal einen Garten.»<br />

Madame de Roucoulles erwi<strong>der</strong>te: «Sie könnten im Dorf Wusterhausen<br />

auf dem Platz vor <strong>der</strong> Kirche mit gleichaltrigen Bauernjungen<br />

spielen wie seinerzeit Ihr Vater, er hat von klein auf den<br />

Kontakt zu seinen künftigen Untertanen gesucht, das ist wichtig<br />

für einen Kronprinzen! Sie müssen das einfache Volk und seine<br />

Sorgen so früh wie möglich kennenlernen. Ihr Vater ist bestimmt<br />

einverstanden, wenn Sie mit den Bauernjungen spielen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte einen Augenblick, dann strahlten seine Augen<br />

und er rief: «Das ist eine gute Idee, Madame! Ich bin <strong>der</strong> Kronprinz,<br />

und die Dorfjungen müssen mir gehorchen; ich werde befehlen,<br />

was gespielt wird.»<br />

Als es zehn Uhr schlug, saß Wilhelmine vor ihrem Frisiertisch und<br />

ließ sich von ihrer Amme die Haare bürsten, wobei sie hin und<br />

wie<strong>der</strong> herzhaft gähnte.<br />

«Ich könnte im Stehen schlafen, liebe Mermann, das war ein<br />

anstrengen<strong>der</strong> Tag, und <strong>der</strong> Höhepunkt war diese grauenhafte<br />

Abendtafel: Erbsen mit Speck und geräuchertem Schweinebauch.<br />

An einem warmen Sommerabend könnte man wahrhaftig delikater<br />

speisen, hoffentlich gibt es morgen gebratene Rebhühner.»<br />

In diesem Augenblick betrat Fräulein Leti das Zimmer. Wilhelmine<br />

erschrak, als sie die Erzieherin im Spiegel sah, und drehte<br />

sich vorsichtig herum.<br />

Die Leti ging zum Frisiertisch, musterte die Amme abfällig<br />

und sagte: «Ich möchte mit <strong>der</strong> Prinzessin unter vier Augen sprechen.»<br />

Die Amme knickste verängstigt und eilte hinaus.<br />

Die Erzieherin trat vor Wilhelmine, musterte sie einen Augenblick<br />

mit spöttischen Augen und sagte: «Stehen Sie auf!»<br />

Das kleine Mädchen erhob sich zitternd, und dann ohrfeigte die<br />

Erzieherin sie einige Sekunden lang.<br />

Es dauerte eine Weile, bis Wilhelmine sich von den Schlägen<br />

erholte, dann fragte sie schüchtern: «Was habe ich falsch gemacht,<br />

Madame?»<br />

135


Die Erzieherin lächelte hämisch: «Was für eine Frage, Königliche<br />

Hoheit. Sie dachten wohl, dass ich während <strong>der</strong> Fahrt schlafen würde.<br />

Ich habe nicht geschlafen, son<strong>der</strong>n genau gehört, was Sie dem<br />

Kronprinzen über Wusterhausen erzählten. Sie sollten sich schämen,<br />

das Lieblingsschloss Seiner Majestät so negativ zu schil<strong>der</strong>n.<br />

Seine Majestät liebt Sie und hat eine hohe Meinung von Ihnen,<br />

Seine Majestät wird zornig werden, wenn ich sage, wie ungern Sie<br />

in Wusterhausen weilen.»<br />

Wilhelmine erschrak und rief: «Nein, bitte, Madame, erzählen<br />

Sie dem König nicht, was ich gesagt habe, bitte, ich bitte Sie darum,<br />

Madame!»<br />

Die Erzieherin betrachtete ihren Zögling mit Genugtuung und<br />

erwi<strong>der</strong>te: «Ich werde Ihren Wunsch erfüllen, Königliche Hoheit,<br />

aber nur unter einer Bedingung: Sie werden mir künftig alles berichten,<br />

worüber Ihre Eltern sich unterhalten, sofern Sie Zeugin<br />

dieser Gespräche sind.»<br />

Wilhelmine starrte ihre Erzieherin entsetzt an: «Nein, das kann<br />

ich nicht, ich bin keine Spionin, nein, nein!»<br />

«Nun gut, Königliche Hoheit, dann werde ich Seiner Majestät<br />

sagen, dass Sie Wusterhausen hassen.»<br />

«Nein, bitte, ich werde Ihnen alles erzählen, bitte!»<br />

«Ich wusste, dass Sie vernünftig sind.» Sie ging zur Tür, drehte<br />

sich noch einmal um und sagte: «Königliche Hoheit, Sie werden<br />

nicht den Herzog von Gloucester heiraten, son<strong>der</strong>n den Erbprinzen<br />

von Schwedt, das ist ein Wunsch Ihres Vaters. Überdies ist <strong>der</strong> Erbprinz<br />

für Sie eine bessere Partie.»<br />

Sie rauschte hinaus, und Wilhelmine sah ihr einige Sekunden<br />

lang fassungslos nach. Dann sank sie auf ihr Bett, begann zu weinen<br />

und dachte immer wie<strong>der</strong>: Warum soll ich nicht Königin von<br />

England werden, warum soll ich einen einfachen Markgrafen heiraten?<br />

136


7<br />

Am frühen Nachmittag des folgenden Tages saß Sophie Dorothea<br />

mit einigen Damen in ihrem Wohnraum und legte Patiencen. Nach<br />

einer Weile schob sie die Karten zusammen und sagte: «Genug für<br />

heute. Keine einzige Patience ist aufgegangen, das ist ein schlechtes<br />

Zeichen – wahrscheinlich werden wir bis weit in den November hinein<br />

in Wusterhausen bleiben. Ich verstehe immer noch nicht, was<br />

den König an dieser Raubritterburg fasziniert; er könnte auch von<br />

Potsdam aus auf die Jagd gehen, dort gibt es ebenso viele Wäl<strong>der</strong> wie<br />

hier in dieser Einöde.»<br />

Sie nahm die Karten, mischte sie gereizt, verteilte sie und sagte:<br />

«Spielen wir, sonst werde ich noch verrückt vor Langeweile. Allerdings<br />

kann ich heute nur um Kaffeebohnen spielen, es ist Monatsende<br />

und ich möchte mein Budget nicht überziehen, weil ich nicht<br />

weiß, wie viel ich Seiner Majestät für die Munition zahlen muss.»<br />

Madame de Roucoulles beobachtete die Königin und sagte: «Mit<br />

Verlaub, Majestät, ich weiß, warum Wusterhausen das Lieblingsschloss<br />

des Königs ist.»<br />

Sophie Dorothea sah die Hugenottin fragend an, und diese erwi<strong>der</strong>te:<br />

«Anno 1698 schenkte <strong>der</strong> selige König <strong>Friedrich</strong> I. seinem<br />

Sohn Wusterhausen und gewährte ihm eine selbständige Hofhaltung<br />

von 26 000 Talern jährlich; im Jahre 1701, als <strong>der</strong> Kurprinz<br />

auch Kronprinz in Preußen wurde, erhöhte er die Summe auf<br />

36 000 Taler. Der Prinz sparte wie besessen und konnte anno 1704<br />

ungefähr 23 000 Taler für das Schloss und die Landmiliz ausgeben,<br />

das war fast die Hälfte seines Privatvermögens, das damals ungefähr<br />

50 000 Taler betrug.<br />

Anno 1704 wurde Seine Majestät für volljährig erklärt und begann,<br />

Wusterhausen zu einem kleinen Staat auszubauen, das Anwesen<br />

wurde so organisiert, wie Seine Majestät sich die Organisation<br />

seines künftigen Reiches vorstellte. In Wusterhausen erprobte er<br />

das Zusammenspiel von Armee und Wirtschaft, und er erprobte es<br />

erfolgreich: Wusterhausen wurde während <strong>der</strong> folgenden Jahre ein<br />

Mustergut, das Einkommen dieses Anwesens stieg jährlich, während<br />

137


<strong>der</strong> Staat des seligen Königs immer mehr in Schulden versank. Nach<br />

dem Regierungsantritt übertrug Seine Majestät das Modell von Wusterhausen<br />

auf den ganzen Staat, und bis jetzt war Seine Majestät<br />

erfolgreich, soweit ich es beurteilen kann. Seine Majestät hat mich<br />

seinerzeit genau über seine Pläne bezüglich Wusterhausen unterrichtet<br />

und auch über seine Pläne bezüglich des ganzen Landes.»<br />

Sophie Dorothea legte die Karten zur Seite und musterte die Hugenottin:<br />

«Ich glaube Ihnen, Madame, aber warum müssen meine<br />

Kin<strong>der</strong> und ich jedes Jahr im Spätsommer den König hierher begleiten?»<br />

«Majestät, <strong>der</strong> König liebt seine Familie. Da er viel unterwegs<br />

ist in seinem Reich, möchte er einige Wochen im Jahr mit seiner<br />

Familie verbringen.»<br />

«Nun gut, aber er ist seit dem frühen Morgen auf <strong>der</strong> Jagd, niemand<br />

weiß, wann er zurückkehrt, die Familie spielt in Wusterhausen<br />

doch nur eine Nebenrolle.»<br />

Sie nahm die Karten auf und wollte weiterspielen, als ein Diener<br />

erschien: «Majestät, Seine Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrat das Zimmer, präsentierte das Gewehr und sagte:<br />

«Der Fähnrich <strong>Friedrich</strong> von Hohenzollern meldet sich zurück.»<br />

Sophie Dorothea betrachtete die großen, strahlenden Augen des<br />

Sohnes und seine geröteten Wangen, dann stand sie auf, ging zu<br />

ihm und sagte: «Das Exerzieren hat dir wohl gefallen?»<br />

«Ja, Mama, es ist ein wun<strong>der</strong>volles Spiel – ich habe Befehle erteilt,<br />

und die Kadetten haben meine Befehle befolgt.»<br />

Sophie Dorothea lächelte: «Nun, das ist auch richtig, du bist <strong>der</strong><br />

künftige preußische König, dem man gehorchen muss.»<br />

«Mama, jetzt werde ich mit den Dorfjungen spielen und ihnen<br />

zeigen, wie man exerziert.»<br />

Sophie Dorothea starrte ihren Sohn einen Augenblick fassungslos<br />

an, und dann sagte sie in einem Ton, <strong>der</strong> keinen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

duldete: «Du wirst hier nicht mit den Dorfjungen spielen, das ist<br />

kein Umgang für den künftigen preußischen König, du wirst nur<br />

mit den kleinen Junkern verkehren, das ist die angemessene Gesellschaft<br />

für einen Kronprinzen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> antwortete zögernd: «Ja, Mama, die Kadetten sind meine<br />

künftigen Offi ziere.»<br />

138


Sie nahm seine Mütze und das Gewehr, legte beides achtlos auf<br />

einen Stuhl, strich ihm über die Locken und sagte: «Dein Vater<br />

kriecht in den Ställen und Scheunen <strong>der</strong> Bauern herum, er liebt<br />

es, sich mit dem einfachen Volk zu unterhalten. Das ist vielleicht<br />

eine Eigenart <strong>der</strong> Hohenzollern, aber du bist ein halber Welfe, die<br />

Welfen haben immer auf eine gewisse Distanz zum Volk geachtet,<br />

ein Fürst pfl egt keinen vertraulichen Umgang mit Bauern, Handwerkern<br />

o<strong>der</strong> Kaufl euten, ein Fürst pfl egt den Kontakt zum alteingesessenen<br />

Adel.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah seine Mutter unsicher an und antwortete: «Papa<br />

hätte bestimmt nichts dagegen, wenn ich mit den Dorfjungen<br />

spiele.»<br />

«Die Meinung deines Vaters ist völlig unwichtig, du bleibst jetzt<br />

hier und leistest uns Gesellschaft. Du bist doch immer gerne bei<br />

mir, nicht wahr?»<br />

«Ja, Mama, in Ihren Räumen ist es immer warm und hell, im<br />

Winter sind immer viele Kerzen angezündet.»<br />

Sophie Dorothea lächelte: «Ich weiß, dass du dich bei mir am<br />

wohlsten fühlst, das Soldatenspiel ist gut und schön, aber denke<br />

daran, dass es im Leben wichtigere Dinge gibt. Du und deine<br />

Schwester, ihr könntet uns jetzt mit Musik unterhalten.»<br />

<strong>Friedrich</strong>s Augen strahlten, und er rief: «Sehr gerne, Mama!<br />

Was sollen wir spielen?»<br />

«Das überlasse ich euch.»<br />

Wilhelmine sprang auf: «Ich hole Principessa, Fritzchen.»<br />

«Wer ist das?», fragte die Königin verwun<strong>der</strong>t.<br />

«Wir haben meiner Laute den Namen Principe gegeben, und die<br />

Flöte meines Bru<strong>der</strong>s heißt Principessa.»<br />

Während die Geschwister ein französisches Volkslied spielten,<br />

wurde es im Hof plötzlich unruhig, man hörte laute Männerstimmen<br />

und das Klappern von Pferdehufen.<br />

Sophie Dorothea trat an eines <strong>der</strong> geöffneten Fenster und rief:<br />

«Mon Dieu, <strong>der</strong> König! Meine Damen, rasch, in spätestens einer<br />

halben Stunde müssen wir zur Tafel umgekleidet sein. Man muss<br />

sofort den Koch benachrichtigen, <strong>der</strong> König wird wütend, wenn<br />

nicht spätestens eine halbe Stunde nach seiner Rückkehr die Speisen<br />

aufgetragen werden – mein Gott, ich werde hier noch wahnsin-<br />

139


nig! Den ganzen Tag langweilt man sich, und bei <strong>der</strong> Rückkehr des<br />

Königs bricht jedes Mal eine unerträgliche Unruhe aus.»<br />

Während die Damen fl uchtartig das Zimmer verließen, näherten<br />

sich rasche Schritte <strong>der</strong> Tür, und dann stürmte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

in den Raum, umarmte lachend die Gattin und rief: «Heute<br />

hat mich das Jagdglück begleitet! Liebe Frau, ich habe dreihun<strong>der</strong>t<br />

Rebhühner erlegt, im vergangenen Jahr waren es am ersten Jagdtag<br />

nur zweihun<strong>der</strong>t Rebhühner.»<br />

In diesem Augenblick sah er seine Kin<strong>der</strong> mit den Instrumenten,<br />

trat zu <strong>Friedrich</strong>, nahm die Flöte und sagte ernst: «Ich hoffe, dass<br />

du ordentlich exerziert hast.»<br />

«Ja, Papa, es gefällt mir.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm legte die Flöte zur Seite und hob das Gesicht<br />

des Sohnes zu sich empor: «Es ist eine große Freude für mich, Fritzchen,<br />

dass du gerne ein tüchtiger Soldat werden möchtest. Weidenmann<br />

ist inzwischen eingetroffen, nach <strong>der</strong> Tafel wird er anfangen,<br />

dich in deiner Uniform zu malen.»<br />

Er setzte dem Sohn die Mütze auf, gab ihm das Gewehr und<br />

kommandierte: «Strammstehen, halte den Rücken gerade, präsentiere<br />

das Gewehr, sieh mir in die Augen, ja, so ist es gut, so gefällst<br />

du mir, Fritzchen.»<br />

Sophie Dorotheas Augen wan<strong>der</strong>ten zwischen Vater und<br />

Sohn hin und her, und im Stillen dachte sie: Ich muss <strong>Friedrich</strong>s<br />

Erziehung beeinflussen, ich muss – sonst wird er wie sein<br />

Vater.<br />

Wilhelmine presste die Laute an sich und dachte: Gott sei Dank<br />

war die Leti anwesend und hat gehört, was geredet wurde, und was<br />

Papa eben gesagt hat, ist harmlos, das kann sie wissen. Aber wie<br />

soll das weitergehen?<br />

Sie verspürte Angst, eilte in ihr Zimmer und warf sich weinend<br />

auf das Bett.<br />

Einige Wochen später, am Nachmittag des 2. November, saßen Ilgen,<br />

Grumbkow und Creutz auf <strong>der</strong> Terrasse des Jagdschlosses und<br />

warteten auf den Fürsten Leopold, <strong>der</strong> beim König weilte. Die drei<br />

Herren schwiegen und genossen die milde Herbstsonne. Endlich<br />

erschien <strong>der</strong> Dessauer und sank müde auf einen Stuhl. Die Herren<br />

140


ichteten sich etwas auf, versuchten, in <strong>der</strong> Miene des Fürsten zu<br />

lesen, und warteten ab.<br />

Nach einer Weile sah <strong>der</strong> Dessauer auf und sagte resigniert:<br />

«Seit meiner Ankunft am Vormittag versuche ich, den König davon<br />

zu überzeugen, dass Clement ein Schwindler und Hochstapler<br />

ist; vergebens, er vertraut diesem Mann, er glaubt an den Inhalt<br />

<strong>der</strong> Briefe, die Clement ihm während <strong>der</strong> vergangenen Wochen zugespielt<br />

hat, er will ihn sogar zum Legationsrat ernennen. Der König<br />

bat mich vor einigen Wochen, meine fähigsten Offi ziere unter<br />

dem Vorwand <strong>der</strong> Werbung nach Österreich, Sachsen und Polen<br />

zu schicken und sich diskret nach <strong>der</strong> Zahl und dem Zustand <strong>der</strong><br />

dortigen Truppen zu erkundigen. Von einer Aufrüstung unserer<br />

Nachbarn gegen Preußen kann keine Rede sein, aber <strong>der</strong> König<br />

glaubt den Berichten <strong>der</strong> Offi ziere nicht.»<br />

Er schwieg und sah bekümmert vor sich hin.<br />

«Seine Majestät glaubt auch nicht den Berichten unserer Gesandten»,<br />

sagte Ilgen, «ich weiß nicht, wo dies hinführen wird, bei<br />

unseren Nachbarn machen wir uns allmählich lächerlich, und die<br />

Situation im Lande ist in den letzten Wochen unerträglich geworden,<br />

<strong>der</strong> König schläft nur noch bewaffnet, die Wachen wurden<br />

auch hier verstärkt, und es wurden etliche Leute verhaftet: Baron<br />

Heidkam, Herr von Lehmann, <strong>der</strong> Kriegssekretär Bube – wie soll<br />

das weitergehen?»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte Grumbkow: «Man darf nicht<br />

vergessen, dass die Herren Heidkam, Lehmann und Bube von dem<br />

großen Höfl ingssturz betroffen wurden beim Regierungsantritt<br />

Seiner Majestät. Sie gehören zur oppositionellen Partei im Lande,<br />

ebenso wie die Alvensleben, die Bernstorff und die Schulenburgs.<br />

Bleibt die Frage, ob diese Opposition Verbindung zu Clement hatte.<br />

Ich will damit sagen: Es gibt in diesem Staat Leute, die dem König<br />

feindlich gesinnt sind.»<br />

«Die innenpolitische Opposition ist ein Problem für sich», sagte<br />

Creutz, «es geht jetzt vor allem darum, den Betrüger Clement zu<br />

entlarven, er übt inzwischen einen Einfl uss auf den König aus, <strong>der</strong><br />

beängstigend ist; was uns fehlt, ist ein überzeugen<strong>der</strong> Beweis, dass<br />

er ein Betrüger ist.»<br />

In diesem Augenblick betrat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm die Terrasse, und<br />

141


die Herren erschraken, als sie sein aschfahles Gesicht sahen. Er<br />

sank auf einen Stuhl und starrte auf den Steinfußboden. Nach einer<br />

Weile trat Leopold zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter:<br />

«Fühlen Sie sich nicht wohl?»<br />

Da sah <strong>der</strong> König auf und sagte leise: «Vor einigen Minuten erhielt<br />

ich die Nachricht, dass Clement Preußen in westlicher Richtung<br />

verlassen hat, er ist bereits im Ausland. Warum lässt er mich<br />

im Stich?»<br />

Die Herren schwiegen überrascht. Dann sagte Leopold vorsichtig:<br />

«Wahrscheinlich ist ihm <strong>der</strong> Boden unter den Füßen zu heiß<br />

geworden.»<br />

Da sprang <strong>der</strong> König auf und schrie: «Nein, niemals, ich vertraue<br />

diesem Mann!»<br />

Er ging nervös auf und ab, und allmählich senkte sich eine bleierne<br />

Stille über die Terrasse.<br />

Nach einer Weile sagte Leopold: «Es wird kühl, wir sollten in das<br />

Schloss gehen.»<br />

Da erschien ein Diener und meldete einen sächsischen Kurier.<br />

Der Kurier überreichte dem König einen Umschlag, <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm betrachtete fl üchtig das Siegel des sächsischen Kurfürsten<br />

und las dessen Brief. Dann öffnete er das beigefügte Schreiben, las<br />

und erstarrte.<br />

«Nein», sagte er nach einer Weile, «nein, das kann nicht sein,<br />

diesen Brief habe ich nie an den Kurfürsten geschrieben, dieser<br />

Brief ist eine Fälschung, aber –», er betrachtete die Schriftzüge, «es<br />

ist meine Handschrift, aber ich weiß, dass ich diesen Brief nie geschrieben<br />

habe.»<br />

Die Herren sahen einan<strong>der</strong> an, dann trat Ilgen vor den König:<br />

«Majestät, ist dies nicht <strong>der</strong> Beweis, dass Clement ein Betrüger ist?<br />

Er hat diesen Brief geschrieben, und nicht nur diesen, son<strong>der</strong>n auch<br />

alle an<strong>der</strong>en.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte auf das Papier und murmelte: «Ich<br />

verstehe nicht, wie es möglich ist, dass ein Mensch verschiedene<br />

Handschriften beherrscht!»<br />

«Majestät», antwortete Grumbkow, «dieses Geheimnis wird sich<br />

aufklären, wenn Sie Clement in Ihrer Gewalt haben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete lange den Brief, dann sagte er lei-<br />

142


se: «Der Brief ist eine Fälschung, Clement ist gefl ohen … meine<br />

Herren, ich glaube, Sie haben recht, er ist ein Betrüger.»<br />

Er lief auf <strong>der</strong> Terrasse auf und ab; plötzlich blieb er stehen und<br />

schrie: «Ich habe diesem Mann vertraut – und er? Er hat mich<br />

zum Narren gehalten, mich betrogen, er hat mein Vertrauen missbraucht!<br />

Er soll dafür büßen, das schwöre ich. Meine Werber werden<br />

ihn fi nden – und dann, dann locke ich ihn nach Preußen zurück,<br />

und er wird des Hochverrats angeklagt!»<br />

Er eilte hinweg in sein Arbeitszimmer, sank auf einen Stuhl und<br />

begann zu weinen.<br />

«Ich habe ihm vertraut», fl üsterte er, «er wirkte ehrenhaft; ich<br />

bin noch nie von einem Menschen so enttäuscht worden.»<br />

143


144<br />

8<br />

Ein Jahr später betrat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm den Salon seiner Gattin<br />

im Berliner Schloss, schickte die anwesenden Damen hinaus,<br />

betrachtete dann Sophie Dorothea und sagte lächelnd: «Merkwürdig<br />

– wie kommt es, dass man Ihre Schwangerschaft nicht bemerkt?<br />

Sie sind immerhin im sechsten Monat!»<br />

«Nun, meine Gar<strong>der</strong>obe ist so geschnei<strong>der</strong>t, dass vorn ein<br />

schmales Einsatzteil eine schlanke Taille vortäuscht, an <strong>der</strong> Seite<br />

werden alle Klei<strong>der</strong> erweitert, so kann man eine Schwangerschaft<br />

kaschieren.»<br />

«Warum wollen Frauen unbedingt eine Schwangerschaft verbergen?<br />

Menschen sind <strong>der</strong> größte Reichtum eines Landes!»<br />

Er setzte sich, schwieg einen Augenblick und sagte dann: «Vorhin<br />

erhielt ich die Nachricht, dass Clement auf preußischem Gebiet<br />

ist und sofort an <strong>der</strong> Grenze verhaftet wurde. Als ich erfuhr,<br />

dass er in Den Haag weilte, habe ich den Prediger Roloff und den<br />

Oberst Forestier zu ihm geschickt, beide haben ihn zur Rückkehr<br />

nach Preußen überredet; er wird vor Gericht gestellt werden, man<br />

wird ihn des Hochverrats anklagen und zum Tod verurteilen, er<br />

wird gehenkt werden, und wenn er die Aussage verweigert, wird<br />

man ihn mit glühenden Eisen foltern.»<br />

«Nein», rief Sophie Dorothea, «es ist entsetzlich, ersparen Sie<br />

ihm die Folterung!»<br />

«Das liegt bei Clement, aber mein Grundsatz ist, dass die Gerechtigkeit<br />

nicht aus <strong>der</strong> Welt kommen darf.»<br />

Er schwieg und sagte nach einer Weile: «Ich bin nicht hier, um<br />

mit Ihnen über Clement zu reden, son<strong>der</strong>n über die künftige Erziehung<br />

Fritzchens.»<br />

Sophie Dorothea merkte, dass ihr Herz anfi ng zu klopfen, und<br />

sagte leise: «Wie wollen Sie meinen Sohn erziehen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging auf und ab, überlegte und sagte: «Ab<br />

seinem siebten Geburtstag wird er von Männern erzogen. Ich<br />

habe zwei Offi ziere ausgewählt, die hervorragende Soldaten sind,<br />

General Finck und Oberst Kalckstein. Finck ist zwar schon sechzig


Jahre alt, aber er entstammt einer alten Familie, die seit <strong>der</strong> Zeit<br />

des Deutschen Ritterordens in Preußen ansässig ist; er hat sich<br />

während <strong>der</strong> letzten Kriege mehrfach ausgezeichnet, er hat mich<br />

als Oberhofmeister nach den Nie<strong>der</strong>landen begleitet und war einer<br />

<strong>der</strong> Helden bei Malplaquet. Er ist <strong>der</strong> Gouverneur meines Sohnes.<br />

Kalckstein ist <strong>der</strong> Untergouverneur, er zählt sechsunddreißig Jahre,<br />

hat sich bei Malplaquet ebenso bewährt wie vor einigen Jahren<br />

bei <strong>der</strong> Belagerung von Stralsund. Ich hoffe, dass ein älterer und<br />

ein jüngerer Erzieher sich positiv auf meinen Sohn auswirken,<br />

Finck besitzt die nötige Lebenserfahrung, Kalckstein den jugendlichen<br />

Elan.»<br />

Er ging auf und ab, blieb dann vor Sophie Dorothea stehen und<br />

fuhr fort: «Ich habe noch einmal die Instruktion gelesen, die Danckelmann<br />

damals für meine Erziehung ausarbeitete, es war die typische<br />

europäische Prinzenerziehung <strong>der</strong> Zeit: <strong>der</strong> Prinz soll nach<br />

Ruhm und Ehre streben, er muss Latein lernen, weil es die Diplomatensprache<br />

sei, und so weiter.<br />

Ich überlegte, was ein Kind, das in Preußen zum König bestimmt<br />

ist, lernen muss. Mein Sohn muss vor allem lernen, König in Preußen<br />

in unserer Zeit zu werden.<br />

Die Prinzen in an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n, die Dauphins und die Infanten<br />

haben Zeit zum Studium <strong>der</strong> Weltgeschichte, zum Lernen <strong>der</strong> lateinischen<br />

Sprache, zum Studium <strong>der</strong> klassischen antiken Autoren;<br />

<strong>der</strong> künftige preußische König hingegen hat für diese Studien keine<br />

Zeit, er muss von seinem Thron heruntersteigen, das alltägliche<br />

Leben seiner Untertanen kennenlernen und sich <strong>der</strong> Regierungsarbeit<br />

widmen.»<br />

Er schwieg, und Sophie Dorothea nahm ihren Fächer und bewegte<br />

ihn langsam hin und her, um ihre innere Unruhe zu bekämpfen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm fuhr fort: «Die Gouverneure müssen meinen<br />

Sohn vor allem lehren, Gott zu fürchten und zu achten, dies ist<br />

das einzige Mittel, um die absolute Gewalt des Monarchen zu beschränken.<br />

Stolz und Hochmut dürfen sich im Charakter meines<br />

Sohnes nicht ausbreiten, für einen Fürsten ist nichts schädlicher als<br />

Schmeicheleien, allen, die zu meinem Sohn kommen, müssen die<br />

Gouverneure die Schmeicheleien verbieten.<br />

145


Sie sollen meinem Sohn vor Opern und Komödien Abscheu einfl<br />

ößen, das ist lie<strong>der</strong>liches Zeug und taugt nichts im Leben. Mein<br />

Sohn soll mit körperlichen Übungen wie Reiten und Fechten gestärkt<br />

werden, damit er nicht verweichlicht; er darf natürlich auch<br />

nicht damit überanstrengt werden. Vor allem aber müssen die<br />

Gouverneure ihm die Liebe zum Soldatenstand einprägen, schließlich,<br />

und das ist ebenso wichtig: Mein Sohn soll zum Respekt vor<br />

den Eltern erzogen werden, dieser Respekt darf aber nicht sklavisch<br />

sein.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg einen Moment und fuhr fort: «Ich<br />

wünsche, dass <strong>der</strong> Kronprinz mich nicht als Vater empfi ndet, son<strong>der</strong>n<br />

als seinen älteren Bru<strong>der</strong>. Ist er ungezogen, so sollen die Gouverneure<br />

es Ihnen sagen, aber nicht mir; er soll vor Ihnen Angst<br />

haben, aber nicht vor mir.»<br />

Sophie Dorothea glaubte, nicht richtig zu hören.<br />

«Wie bitte? Mein Kind soll vor mir Angst haben? Wie stellen Sie<br />

sich das vor? Mein Kind soll Vertrauen zu mir haben! Eines sage<br />

ich Ihnen jetzt schon: Ich werde meinen Sohn so erziehen, dass er<br />

nie Angst vor mir hat.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete die Gattin und erwi<strong>der</strong>te: «Gut,<br />

ich überlasse es Ihnen, wie streng Sie meinen Sohn erziehen; was<br />

mich betrifft, so wünsche ich, dass er mich als den älteren Bru<strong>der</strong><br />

empfi ndet.<br />

Die Gouverneure dürfen meinen Sohn nicht allein lassen, einer<br />

von beiden muss stets bei ihm sein, auch während <strong>der</strong> Nacht.<br />

Sie müssen mir eine Liste <strong>der</strong> Personen vorlegen, die mit meinem<br />

Sohn verkehren dürfen. Wenn er in die Pubertät kommt, müssen<br />

sie ihn von Frauen fernhalten. Was die Religion betrifft, so darf er<br />

nie etwas über Calvins Prädestinationslehre erfahren, sie ist für<br />

den Staat gefährlich, weil sie die Verantwortlichkeit <strong>der</strong> Untertanen<br />

aufhebt. Die Gouverneure sollen ihn auch dazu erziehen, sparsam<br />

zu wirtschaften. Was die Geistesbildung betrifft, so genügt<br />

es, wenn mein Sohn die deutsche und die französische Sprache<br />

beherrscht, er soll die Geschichte <strong>der</strong> letzten hun<strong>der</strong>t Jahre kennen,<br />

vor allem aber muss er Mathematik und Ökonomie lernen.<br />

Das Erlernen <strong>der</strong> lateinischen Sprache ist überfl üssig, und ich will<br />

auch nicht, dass mir einer davon spricht, auch die Kenntnis <strong>der</strong> An-<br />

146


tike ist unnützer Ballast, ein Regiment ist ein Regiment und keine<br />

Legion, ein Hauptmann ist ein Hauptmann und kein Centurio, für<br />

Oberst gibt es überhaupt kein Wort, und die Griechen und Römer<br />

hatten auch keine Feldmarschälle. Latein ist nutzloser Ballast, <strong>der</strong><br />

den Geist behin<strong>der</strong>t.»<br />

Sophie Dorothea sah den Gatten einen Augenblick fassungslos<br />

an, dann rief sie empört: «Wie bitte? Mein Sohn soll we<strong>der</strong> die<br />

lateinische Sprache lernen noch sich mit <strong>der</strong> Antike beschäftigen?<br />

Ein gebildeter Fürst muss Latein beherrschen und sich in <strong>der</strong> Antike<br />

auskennen! In Griechenland stand die Wiege <strong>der</strong> abendländischen<br />

Kultur.»<br />

«Liebe Frau», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> Wilhelm gereizt, «<strong>der</strong> künftige<br />

preußische König muss vor allem lernen, wie man einen Staat gut<br />

regiert, Latein und Antike, das ist Wind; Wind und blauer Dunst.<br />

Der Lateinunterricht war für mich eine Quälerei, die ich meinem<br />

Sohn ersparen möchte.»<br />

Sophie Dorothea betrachtete den Gatten, dachte im Stillen, dass<br />

es im Moment aussichtslos war, ihn umzustimmen, lächelte und<br />

fragte: «Wird Duhan meinen Sohn auch künftig unterrichten?»<br />

«Selbstverständlich, ich bin sehr zufrieden mit ihm.»<br />

Sie atmete erleichtert auf.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm fuhr fort: «Ich möchte meinem Sohn nicht<br />

nur den Lateinunterricht ersparen, son<strong>der</strong>n auch an<strong>der</strong>e Umstände,<br />

die ich seinerzeit als Qual empfand; nämlich gewisse pädagogische<br />

Zeremonien. Als anno 95 mein Gouverneur Graf Dohna seine Urkunde<br />

erhielt, musste <strong>der</strong> gesamte Hof sich eine endlose Rede des<br />

Staatsministers Fuchs anhören; dieser Firlefanz entfällt, ebenso<br />

die Examen, die ich hin und wie<strong>der</strong> vor meinem Vater und dem<br />

versammelten Hof ablegen musste: sie dauerten zwei Tage, und<br />

mein Vater belohnte mich dann stets mit Dukaten, aber ich wusste,<br />

dass meine Erzieher mir immer Aufgaben stellten, bei denen ich<br />

glänzte. Ich werde meinem Sohn diese Vorführungen ersparen,<br />

seine Kenntnisse werden jeden Samstag überprüft, und wenn er<br />

faul war und nichts gelernt hat, wird er am Nachmittag nicht spielen,<br />

son<strong>der</strong>n repetieren. Sein täglicher Stundenplan muss auch geän<strong>der</strong>t<br />

werden, daran arbeite ich noch. Eines steht bereits fest: Er<br />

wird an den Wochentagen um sechs Uhr, am Sonntag um sieben<br />

147


Uhr geweckt, dann muss er hurtig, ohne sich noch einmal umzudrehen,<br />

aufstehen, vor dem Bett nie<strong>der</strong>knien und das Morgengebet<br />

sprechen. Gebet, Waschen, Anziehen und Frühstück müssen in<br />

fünfzehn Minuten erledigt sein.»<br />

In diesem Augenblick schlug die Uhr die volle Stunde, und<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm beugte sich hastig über die Hände <strong>der</strong> Gattin:<br />

«Entschuldigen Sie mich, <strong>der</strong> kaiserliche Gesandte wartet.»<br />

Er eilte hinaus, und Sophie Dorothea atmete auf, dann dachte sie<br />

über die Erziehung des Kronprinzen nach und sagte leise: «Fünfzehn<br />

Minuten für Gebet, Waschen, Ankleiden und Frühstück …<br />

das arme Kind.»<br />

Sie befahl, Duhan zu holen. «Willkommen, Monsieur Duhan,<br />

ich bin glücklich, dass Sie auch künftig meinen Sohn unterrichten<br />

werden, es gibt allerdings ein Problem: Der König wünscht o<strong>der</strong><br />

befi ehlt, dass <strong>der</strong> Kronprinz die lateinische Sprache nicht lernt,<br />

auch über die Antike soll er nicht informiert werden – das ist unglaublich,<br />

zur Bildung eines Fürsten gehören Latein und die Antike.<br />

Wissen Sie einen Ausweg?»<br />

«Ich bin Ihrer Meinung, Majestät, aber es ist schwierig, diese<br />

Anordnung zu übergehen, weil Seine Majestät den Lehrstoff überprüft,<br />

ich will es Ihnen an einem Beispiel zeigen: Euer Majestät<br />

kennen das ‹Theatrum Europaeum›, jene Sammlung von Folianten<br />

mit Karten, Plänen und Bil<strong>der</strong>n, die die Weltereignisse seit 1617<br />

darstellen. Es ist schwierig, sich in diesem Werk zu orientieren, und<br />

man verliert leicht den Überblick. Ich bat Seine Majestät, mir zu erlauben,<br />

die wichtigsten Ereignisse zusammenzustellen, und schlug<br />

vor, den Prinzen nur die Namen berühmter Personen, wichtiger<br />

Schlachten und den Wortlaut <strong>der</strong> wichtigsten Friedensverträge<br />

auswendig lernen zu lassen. Der König schrieb an den Rand meines<br />

Briefes, <strong>der</strong> Prinz müsse über alle Ereignisse informiert werden<br />

und er müsse alles auswendig lernen, weil dies das Gedächtnis stärke.<br />

Ich werde diesen Befehl Seiner Majestät schwerlich umgehen<br />

können. Was nun die Antike betrifft, so schmerzt es mich, dass<br />

Seine Königliche Hoheit von ihr ferngehalten werden soll – lassen<br />

Sie mich nachdenken.»<br />

Er ging zum Fenster, sah hinunter in den Hof, und nach einer<br />

Weile trat er zu Sophie Dorothea und sagte lächelnd: «Die Lösung<br />

148


des Problems ist ganz einfach, Majestät: Ich werde Seiner Königlichen<br />

Hoheit Fénelons ‹Telemach› geben. Der Prinz kann das Buch<br />

während seiner Musestunden lesen, und während des Unterrichts<br />

werde ich mich mit ihm über den Inhalt unterhalten.»<br />

«Ihre Idee ist wun<strong>der</strong>bar!», rief Sophie Dorothea. «Der König<br />

wird mit dieser Lektüre einverstanden sein, ich weiß, dass er als<br />

Kind gern den ‹Telemach› gelesen und sich mit seiner Mutter über<br />

die einzelnen Kapitel unterhalten hat.»<br />

Duhan überlegte: «Fénelons Buch ist die richtige Lektüre für<br />

einen künftigen König, dort wird genau erläutert, wie ein guter<br />

König regieren soll, außerdem wird in fast jedem Kapitel auf ein<br />

Ereignis <strong>der</strong> griechischen Mythologie hingewiesen. Ich würde dem<br />

Prinzen die Sagen erzählen, so erfährt er den Verlauf des Trojanischen<br />

Krieges, die Irrfahrten des Odysseus, die Familientragödie<br />

in Agamemnons Haus nach seiner Rückkehr aus Troja, er lernt<br />

Herkules kennen, die Geschichte von Ödipus, die Geschichte von<br />

Orpheus und Eurydike, er lernt die griechische Götterwelt kennen<br />

– allerdings verwendet Fénelon die römischen Götternamen. Nun,<br />

ich werde Seiner Königlichen Hoheit sagen, dass <strong>der</strong> römische Göttervater<br />

Jupiter von den Griechen Zeus genannt wurde, und die<br />

römische Minerva war bei den Griechen Pallas Athene.»<br />

Er schwieg einen Moment und fuhr fort: «Ja, ‹Die Erlebnisse des<br />

Telemach›, das ist die richtige Lektüre. Vom Trojanischen Krieg<br />

und den Irrfahrten des Odysseus ist es nur ein winziger Schritt zu<br />

Homer, und von dort ist es nur ein Schritt zur Poetik des Aristoteles.»<br />

Sophie Dorothea lächelte: «Informieren Sie meinen Sohn eingehend<br />

über Athen, er muss wissen, dass es außer Sparta noch an<strong>der</strong>e<br />

Vorbil<strong>der</strong> gibt, das alltägliche Leben zu gestalten.»<br />

«Der Lateinunterricht», fuhr Duhan fort, «ist schwieriger zu realisieren,<br />

ich sehe nur eine Lösung: Seine Königliche Hoheit ist <strong>der</strong><br />

Erbe eines Kurfürstentums, er muss irgendwann die Goldene Bulle<br />

lesen, das Grundgesetz des Heiligen Römischen Reiches Deutscher<br />

Nation. Sie ist in <strong>der</strong> lateinischen Sprache verfasst – es wäre eine<br />

Möglichkeit, den Kronprinzen auf diesem Umweg mit den Grundlagen<br />

dieser Sprache vertraut zu machen; <strong>der</strong> König hat bestimmt<br />

keinerlei Einwendungen, wenn sein Sohn sich mit <strong>der</strong> Goldenen<br />

149


Bulle beschäftigt, schließlich ist er einer <strong>der</strong> loyalsten Reichsfürsten.»<br />

Er überlegte einen Augenblick und fuhr fort: «Der Lateinunterricht<br />

kann sofort beginnen, für den Telemach ist Seine Königliche<br />

Hoheit noch zu jung, ich werde ihm das Buch geben, wenn er ungefähr<br />

zehn Jahre zählt, dann ist er alt genug, um es zu verstehen.»<br />

Er schwieg einige Sekunden und fuhr vorsichtig fort: «Seine Majestät<br />

hat den Hofprediger Andreä zum Religionslehrer des Prinzen<br />

bestimmt, mit Verlaub, ich halte diese Wahl für wenig glücklich.»<br />

Sophie Dorothea sah Duhan erstaunt an: «Der Religionsunterricht<br />

ist doch nicht so wichtig.»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät, aber ich bin an<strong>der</strong>er Meinung.<br />

Der König legt Wert darauf, dass sein Sohn ein gläubiger<br />

Christ wird. Ich befürchte, dass dies Andreä nicht gelingt, und<br />

wenn <strong>der</strong> Prinz keinen Zugang zum christlichen Glauben fi ndet,<br />

könnte dies zu Spannungen zwischen Vater und Sohn führen.<br />

Daraus kann ein erbitterter und langwieriger Streit entstehen,<br />

und das kann böse enden. Denken Sie nur an den Konfl ikt zwischen<br />

dem Zaren und seinem Sohn, im Sommer wurde <strong>der</strong> Zarewitsch<br />

zu Tode gefoltert.»<br />

Sophie Dorothea sah Duhan erstaunt an: «Sie können den König<br />

nicht mit dem Zaren vergleichen – mein Gatte liebt seine Familie,<br />

er würde seine Kin<strong>der</strong> nie grausam behandeln!»<br />

«Sie haben recht, Majestät, aber ein intelligentes, aufgewecktes<br />

Kind wie <strong>der</strong> Kronprinz muss behutsam und umsichtig zur Religionslehre<br />

geführt werden: man muss mit <strong>der</strong> Religionsgeschichte<br />

anfangen, ihm Ursprung und Wesen aller Religionen erklären und<br />

ihm dann allmählich die christliche Lehre beibringen. Ich kenne<br />

Andreä, er wird den Prinzen Psalmen und Bibelstücke auswendig<br />

lernen lassen, und ich befürchte, dass diese sture Paukerei jedes<br />

Interesse des Prinzen an religiösen Fragen im Keim erstickt. Das ist<br />

noch nicht alles: Andreä ist ein Anhänger <strong>der</strong> Prädestinationslehre,<br />

die Seine Majestät bekanntlich verabscheut, <strong>der</strong> Prediger Roloff<br />

wäre eine bessere Wahl gewesen, warum hat Seine Majestät ihn<br />

nicht zum Lehrer bestimmt?»<br />

«Es könnte mit <strong>der</strong> Clement-Affäre zusammenhängen, aber<br />

150


Sie sollten sich keine Sorgen machen, son<strong>der</strong>n die Entwicklung in<br />

Ruhe abwarten.»<br />

Einige Wochen später betrat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm unangemeldet das<br />

Arbeitszimmer des Kommandanten <strong>der</strong> Spandauer Festung.<br />

Der Kommandant sprang erschreckt auf, schlug die Hacken zusammen,<br />

nahm Haltung an und rief: «Zu Befehl, Majestät, Euer<br />

Majestät wollen die Festung inspizieren?»<br />

«Nein, ich möchte Clement sprechen, allein, unter vier Augen.»<br />

Der Kommandant sah den König einen Augenblick verblüfft an,<br />

da trat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm vor ihn und rief ungeduldig: «Worauf<br />

warten Sie? Cito, cito!»<br />

«Zu Befehl, Majestät.»<br />

Er eilte hinaus und kehrte nach einigen Minuten mit dem Gefangenen<br />

und einem Wachsoldaten zurück.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete nachdenklich das blasse Gesicht<br />

Clements, die feuchten Haarsträhnen, die an <strong>der</strong> hohen Stirn<br />

klebten, die eisernen Fesseln an den schmalen Handgelenken, und<br />

sagte zu dem Soldaten: «Nehme Er die Fesseln ab, ich möchte mit<br />

dem Baron allein sprechen.»<br />

Als <strong>der</strong> Kommandant und <strong>der</strong> Soldat gegangen waren, trat er vor<br />

Clement, betrachtete ihn ernst und sagte: «Ich war bei den Verhören<br />

nicht anwesend, weil … weil es für mich zu schmerzlich war,<br />

einen Mann zu sehen, <strong>der</strong> mein Vertrauen missbraucht hat. Wer<br />

sind Sie wirklich? Sie haben es bei den Verhören gesagt, aber es<br />

klingt so abenteuerlich.»<br />

«Ich habe nur die Wahrheit gesagt, Majestät. Ich weiß nicht, wer<br />

ich bin und wer meine Eltern waren, ich erinnere mich nur, dass ich<br />

von einem Waisenhaus zum an<strong>der</strong>en gebracht wurde, darunter waren<br />

auch vornehme Knabenkonvikte, zuletzt kam ich in eine Klosterschule;<br />

dort lernte ich, alte, kostbare Schriften, die vom Zerfall<br />

bedroht waren, in je<strong>der</strong> Letter nachzumalen. Im Kloster nannte<br />

man mich Clementius. Hin und wie<strong>der</strong> kamen fremde Männer<br />

in langen dunklen Reisemänteln, betrachteten zwei Miniaturporträts,<br />

die die Mönche ihnen gaben, leuchteten mir ins Gesicht und<br />

sagten: ‹Nein, er ist es nicht.› Die Mönche beteuerten stets, ich sei<br />

<strong>der</strong>, den sie suchten, aber es war stets vergeblich. Der Prinz Ragozy<br />

151


freundete sich mit mir an, später war ich sein Sekretär und musste<br />

Handschriften für ihn fälschen. Er zeigte mir die Porträts des<br />

Herzogs von Orléans und des Königs von Dänemark, und ich fand,<br />

dass ich beiden ähnlich sah. Von jenem Augenblick an glaubte ich,<br />

ein Bastard aus einem großen Hause zu sein. Da in jenen Jahren<br />

in vielen europäischen Fürstentümern die Thronfolge umstritten<br />

war, hielt ich die Augen offen während <strong>der</strong> Reisen, auf denen ich<br />

den Prinzen begleitete.»<br />

«Warum mussten Sie für den Prinzen Handschriften fälschen?»<br />

«Er wollte wissen, was an den Höfen Europas passierte, wer<br />

gegen wen intrigierte, ich war sein Sekretär und sein Spion; sein<br />

Auftraggeber war <strong>der</strong> Wiener Hof.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm erschrak, ging im Zimmer auf und ab, blieb<br />

plötzlich stehen und fragte: «Warum haben Sie gefälschte Briefe<br />

geschrieben?»<br />

«Warum? Weil ich Macht und Einfl uss wollte. Ich habe die europäischen<br />

Höfe beobachtet und gewann die Überzeugung, dass ich<br />

als Fürst handeln konnte, wenn ich gefälschte Briefe zirkulieren<br />

ließ. Ich schrieb als Wahrheit, was ich ahnte. Ich kam nach Preußen,<br />

weil ich Sie als aufrichtigen Fürsten bewun<strong>der</strong>te, und ich trat<br />

zu Ihrem Glauben über, um Ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Die<br />

gefälschten Briefe sollten Sie warnen, sie sind ein Spiegelbild <strong>der</strong><br />

Stimmung Europas, es gab zwar keine Verschwörung gegen Sie,<br />

aber es gibt eine Opposition im Lande gegen Sie, und in Dresden<br />

und Wien betrachtet man den Aufschwung Preußens sehr misstrauisch.<br />

Ich verließ Ihr Land, weil ich den Verwirrungen, die meine<br />

Briefe auslösten, entkommen wollte.»<br />

«Ihre Briefe haben Europa an den Rand des Krieges getrieben,<br />

und die Bevollmächtigten aus Dresden und Wien erklärten, das<br />

Gericht, das über Sie urteilt, sei ein Son<strong>der</strong>gericht und könne die<br />

Anerkennung des Reiches nur erhalten, wenn es die Halsgerichtsordnung<br />

Kaiser Karls V. übernehme. Der Kaiser verlangt Ihre Auslieferung,<br />

um Sie in Wien lebendig pfählen zu lassen.»<br />

Er schwieg einen Moment und fuhr fort: «Ich werde Sie nicht<br />

ausliefern, aber ich werde Sie auch nicht begnadigen, die Gerechtigkeit<br />

hat Vorrang, ich werde Ihr Urteil mil<strong>der</strong>n: Sie werden nicht<br />

152


lebend vom Galgen abgeschnitten und lebendig gevierteilt – Sie<br />

werden sofort zum Tode gebracht. Heidkam und Lehmann, die<br />

Verbindung zu Ihnen hatten, sind ebenfalls zum Tod verurteilt,<br />

Bube starb inzwischen an einem Schlaganfall.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte Clement: «Majestät, meine<br />

Briefe waren zwar gefälscht, aber sie enthalten die innere Wahrheit<br />

Europas; glauben Sie mir, <strong>der</strong> Wiener Hof ist Ihr Erzfeind, seien Sie<br />

misstrauisch gegenüber allen Äußerungen und eventuellen Zusicherungen<br />

aus Wien.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Augen ruhten sekundenlang auf Clement,<br />

dann sagte er: «Ich danke Ihnen für den Rat, aber mein Vertrauen<br />

gehört nach wie vor dem Kaiser, ich bin davon überzeugt, dass er<br />

einen loyalen Reichsfürsten nie hintergehen wird. Leben Sie wohl<br />

und beten Sie zu Gott, wenn Ihre letzte Stunde naht.»<br />

Er eilte hinaus an die frische Luft, atmete tief durch und fl üsterte:<br />

«Clement hat recht, meine Nachbarn und <strong>der</strong> Kaiser beobachten<br />

misstrauisch die Entwicklung Preußens, aber sie müssen Preußen<br />

nicht fürchten, meine Armee soll das Land nur verteidigen. Meine<br />

Armee wird nie einen an<strong>der</strong>en Staat angreifen.»<br />

Am frühen Abend des 24. Dezember gingen <strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine<br />

schweigend durch die spärlich erleuchteten Gänge und<br />

Galerien des Berliner Schlosses zum Appartement <strong>der</strong> Königin.<br />

<strong>Friedrich</strong> trug seine Fähnrichsuniform, Wilhelmine war in blauen<br />

Samt gekleidet, dessen Farbe mit dem Rock des Bru<strong>der</strong>s harmonierte.<br />

Ihr Haar war zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt und<br />

mit weißen Christrosen geschmückt. Nach einer Weile sagte sie:<br />

«Ich freue mich, dass ich heute repräsentieren darf, hoffentlich ist<br />

Mama mit mir zufrieden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die Schwester.<br />

«Für mich siehst du immer aus wie eine Königin. – Ich bin gespannt,<br />

was das Christkind gebracht hat, hoffentlich sind es viele<br />

spannende Bücher und neue Noten, hoffentlich liegen auf meinem<br />

süßen Teller viele Lebkuchen und Marzipankonfekt und nicht so<br />

viele Äpfel und Nüsse wie im letzten Jahr.»<br />

«Äpfel und Nüsse sind billiger.» Sie blieb stehen, sah den Bru<strong>der</strong><br />

ernst an und sagte: «Fritzchen, im Januar wirst du sieben Jahre alt,<br />

153


du bist dann ein großer Junge, <strong>der</strong> nicht mehr von einer Gouvernante,<br />

son<strong>der</strong>n von zwei Gouverneuren erzogen wird. Ein großer<br />

Junge glaubt nicht mehr an das Christkind.»<br />

Er sah sie erstaunt an: «Das verstehe ich nicht.»<br />

«Fritzchen, die Geschenke, die du nachher siehst, hat nicht das<br />

Christkind gebracht, Mama und Papa haben sie gekauft. Man erzählt<br />

den kleinen Kin<strong>der</strong>n diese Geschichte vom Christkind, weil<br />

sie noch nicht verstehen, warum wir das Weihnachtsfest feiern.<br />

Wir feiern die Geburt von Jesus Christus, weil er die Menschen<br />

von ihren Sünden erlöst. Du bist jetzt alt genug, um das zu verstehen.»<br />

Er erwi<strong>der</strong>te: «Ja, das verstehe ich, das Christkind ist ein Märchen<br />

für kleine Kin<strong>der</strong>.»<br />

Sie gingen weiter, dann öffnete sich die Flügeltür, und ein Diener<br />

rief: «Seine Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz, Ihre Königliche<br />

Hoheit, Prinzessin Wilhelmine.»<br />

Sie betraten den Salon und blieben eine Weile stehen, um sich an<br />

das Licht <strong>der</strong> unzähligen brennenden Kerzen zu gewöhnen.<br />

In <strong>der</strong> Mitte des Raumes stand ein langer Tisch, auf dem eine<br />

Decke von weißem Damast lag, die mit Tannengrün geschmückt<br />

war. Sie atmeten den Tannenduft ein, <strong>der</strong> die üblichen Gerüche von<br />

Pu<strong>der</strong>, Parfüm und Schweiß überdeckte.<br />

Sie betrachteten die Geschenke auf dem Tisch und die anwesenden<br />

Personen: Der König stand an einem Fenster, hielt den fast zweijährigen<br />

Wilhelm auf dem Arm und hauchte Blumen in die vereisten<br />

Fensterscheiben, die Königin saß vor dem Kaminfeuer und war von<br />

einigen Hofdamen und den beiden jüngeren Töchtern umgeben,<br />

<strong>der</strong> vierjährigen Frie<strong>der</strong>ike Luise und <strong>der</strong> fast dreijährigen Philippine<br />

Charlotte. Die Geschwister betrachteten fl üchtig die Ehepaare<br />

Grumbkow und Creutz, und die Offi ziere und strafften sich, als <strong>der</strong><br />

König sich umdrehte, den kleinen Wilhelm <strong>der</strong> Amme gab und zur<br />

Mitte des Salons ging.<br />

In diesem Augenblick schlug es sechs Uhr, und die Glocken <strong>der</strong><br />

Berliner Kirchen begannen zu läuten.<br />

Die Unterhaltung verstummte, und alle lauschten dem Glockengeläut.<br />

Als <strong>der</strong> letzte Ton verklungen war, sah <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

sich in <strong>der</strong> Runde um und sagte: «Meine liebe Frau, meine lieben<br />

154


Kin<strong>der</strong>, meine Damen und Herren, soeben haben die Glocken das<br />

Weihnachtsfest eingeläutet. Ich will keine lange Rede halten, ich<br />

wünsche allen Anwesenden ein harmonisches, besinnliches Fest.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: «Bevor die Kin<strong>der</strong><br />

ihre Geschenke auspacken, werden Fritz und Wilhelmine einige<br />

Weihnachtslie<strong>der</strong> spielen. Nach <strong>der</strong> Bescherung erwartet uns eine<br />

üppige Weihnachtstafel: frische Austern und Trüffeln, gebackener<br />

Karpfen, Wildbret, Wildgefl ügel und als Dessert Marzipantorte.»<br />

Er nickte <strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine zu, und die Geschwister<br />

gingen zum Notenpult, nahmen ihre Instrumente und begannen<br />

zu musizieren.<br />

Die Gespräche verstummten, und die Anwesenden hörten zunächst<br />

etwas gelangweilt, nach einigen Minuten aufmerksam zu.<br />

«Die Kin<strong>der</strong> spielen erstaunlich gut», sagte Grumbkow leise zu<br />

seiner Gattin.<br />

Nach einer Weile verklang das Lautenspiel, und die Flöte beherrschte<br />

den Raum. Frau von Kamecke neigte sich zur Königin<br />

und fl üsterte: «Majestät, ich glaube, <strong>der</strong> Kronprinz besitzt eine hervorragende<br />

musikalische Begabung, er spielt … er spielt göttlich.»<br />

Sophie Dorothea lächelte und erwi<strong>der</strong>te: «Ich hoffe, dass er seine<br />

musikalischen Talente an diesem spartanischen Hof entfalten<br />

kann und auch als König genügend Muße hat, um dieses Talent zu<br />

pfl egen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm beobachtete die verträumten Augen des Sohnes,<br />

die sich völlig auf die Noten konzentrierten, und spürte nach einer<br />

Weile, dass <strong>Friedrich</strong> mit <strong>der</strong> Musik verschmolz.<br />

Er fühlte plötzlich, dass <strong>der</strong> Sohn sich von ihm entfernte; in diesem<br />

Augenblick begann wie<strong>der</strong> das Lautenspiel, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

genoss erneut die Musik. Als <strong>der</strong> letzte Ton verklungen war,<br />

klatschten die Damen und Herren Beifall, und die Königin sah mit<br />

Genugtuung, dass <strong>der</strong> Gatte am längsten Beifall spendete.<br />

Dann ging <strong>der</strong> König zu dem Gabentisch und sagte: «Meine lieben<br />

Kin<strong>der</strong>, ich habe noch eine Überraschung für euch: Das Jahr<br />

1718 ist für das Haus Hohenzollern ein kleines Jubiläumsjahr,<br />

denn vor zweihun<strong>der</strong>tfünfundsiebzig Jahren, am 31. Juli 1443,<br />

155


legte Kurfürst <strong>Friedrich</strong> II. den Grundstein zu dem Schloss, in dem<br />

wir heute wohnen.»<br />

Er gab einem <strong>der</strong> Diener ein Zeichen, und nach wenigen Minuten<br />

schleppten zwei Lakaien ein Bauwerk in den Salon und stellten<br />

es in <strong>der</strong> Mitte des Zimmers auf.<br />

«Mon Dieu», rief eine <strong>der</strong> Hofdamen, «das Berliner Schloss – es<br />

besteht aus Lebkuchen, ein Lebkuchenschloss!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Sie haben recht, Madame, das<br />

Schloss besteht aus Lebkuchen, die meine Kin<strong>der</strong> während <strong>der</strong><br />

Weihnachtstage essen können.»<br />

Er trat zu dem Schloss, winkte die Kin<strong>der</strong> herbei und sagte: «Betrachtet<br />

es genau, bevor ihr anfangt, es aufzuessen», und zu <strong>Friedrich</strong><br />

und Wilhelmine: «Was ist auffällig an unserem Schloss?»<br />

<strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine gingen langsam um die Nachbildung<br />

herum, dann sagte <strong>Friedrich</strong>: «Das Schloss ist so … so ohne Einheit.»<br />

«Du hast recht, das Schloss wurde von mehreren Generationen<br />

erbaut, und deswegen seht ihr verschiedene Bauteile. Der sogenannte<br />

‹Grüne Hut› ist <strong>der</strong> älteste Teil, er war ein Turm <strong>der</strong> Stadtmauer.<br />

Und hier seht ihr den Schlüterhof; dieser Baumeister hat<br />

das Schloss wesentlich erweitert.»<br />

In diesem Moment trat Sophie Dorothea zu den Kin<strong>der</strong>n und<br />

sagte: «Der Exerzierplatz war unter eurem Großvater ein Lustgarten<br />

mit Blumenrabatten und Springbrunnen.»<br />

Die Kin<strong>der</strong> betrachteten das Gebäude, und dann fragte Frie<strong>der</strong>ike<br />

Luise: «Papa, dürfen wir jetzt anfangen, das Schloss zu essen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Du willst das Schloss bereits jetzt<br />

zerstören?»<br />

«Nein», rief <strong>Friedrich</strong>, «dieses Schloss darf nicht zerstört werden!»<br />

Die kleinen Mädchen sahen den König bittend an, er überlegte<br />

und erwi<strong>der</strong>te: «Ich habe euch, meinen Kin<strong>der</strong>n, dieses Schloss geschenkt,<br />

ihr könnt entscheiden, wann ihr es zerstört.»<br />

Sophie Dorothea sah ihre jüngeren Töchter streng an und<br />

sagte: «Euer ältester Bru<strong>der</strong> wünscht, dass dieses Schloss erhalten<br />

bleibt; ihr müsst beizeiten lernen, sich seinen Wünschen zu<br />

fügen, weil er <strong>der</strong> künftige König und das künftige Familienoberhaupt<br />

ist.»<br />

156


Die kleinen Mädchen sahen die Königin verängstigt an und antworteten<br />

kleinlaut: «Ja, Mama.»<br />

<strong>Friedrich</strong> winkte die Lakaien herbei und sagte: «Bringt das Schloss<br />

in das Vorzimmer meines Appartements und stellt es dort auf.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Mein Sohn, ich sehe, dass du schon<br />

befehlen kannst, aber kannst du auch gehorchen?»<br />

«Ja, Papa.»<br />

«Dann ist alles in Ordnung, komm jetzt und betrachte deine Geschenke.»<br />

Er nahm die Hand des Sohnes, führte ihn zum Gabentisch und<br />

sagte: «Dies alles hat dir das Christkind gebracht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die Bleisoldaten mit ihren Gewehren, die<br />

Trommeln, Fahnen und Standarten und die kleinen Kanonen, die<br />

man abfeuern konnte.<br />

Er war enttäuscht und dachte: Dies alles habe ich schon letztes<br />

Weihnachtsfest bekommen – wo sind die Bücher, die neuen Notenhefte?<br />

«Du schweigst, Fritzchen, freust du dich nicht über die Geschenke,<br />

die das Christkind gebracht hat?»<br />

Er sah seinen Vater an und erwi<strong>der</strong>te: «Ich freue mich, Papa,<br />

aber die Geschenke hat nicht das Christkind gebracht. Sie haben<br />

alles gekauft.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah seinen Sohn einen Augenblick verblüfft<br />

an, dann lachte er und sagte: «Das ist richtig, woher weißt du, dass<br />

ich die Geschenke besorgt habe?»<br />

«Wilhelmine hat es mir erzählt.»<br />

«So so, deine große Schwester hat dich aufgeklärt.»<br />

Er streichelte die Locken des Sohnes und sagte langsam: «Deine<br />

Schwester hat die Wahrheit gesagt: Die Geschenke, die Kin<strong>der</strong> an<br />

Weihnachten erhalten, sind von den Eltern; du wirst im Januar sieben<br />

Jahre alt, es ist wahrscheinlich Zeit, dass du nicht mehr an das<br />

Christkind glaubst; aber dies bedeutet auch, dass du anfängst, deine<br />

Unschuld zu verlieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Vater erstaunt an: «Das verstehe ich nicht,<br />

Papa.»<br />

«Denke nicht darüber nach, Fritzchen, in zehn Jahren wirst du<br />

verstehen, was ich gesagt habe. Spiele nun mit den Soldaten.»<br />

157


<strong>Friedrich</strong> betrachtete gehorsam die Soldaten, nahm einen, stellte<br />

ihn wie<strong>der</strong> hin, nahm eine <strong>der</strong> Kanonen, stellte sie ebenfalls wie<strong>der</strong><br />

auf ihren Platz und fragte sich, was er mit ihnen spielen sollte.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging zu Wilhelmine, die entzückt einen<br />

Schmuck aus Bernstein betrachtete; sie berührte mit einem Finger<br />

die Kette, die Brosche und die Ohrringe, dann streifte sie das Armband<br />

über ihr Handgelenk und betrachtete die silberne Fassung <strong>der</strong><br />

Schmuckstücke.<br />

«Mein Kind», sagte <strong>der</strong> König, «habe ich das richtige Geschenk<br />

für Sie gewählt?»<br />

Wilhelmine zuckte zusammen, dann strahlte sie ihren Vater an:<br />

«Ja, Papa, vielen Dank für den Schmuck.»<br />

«Liebes Kind, <strong>der</strong> Bernstein ist das Gold <strong>der</strong> Ostsee. Ich kann<br />

Ihnen im Augenblick nur Bernstein schenken, aber wenn Sie einmal<br />

heiraten, werde ich so wohlhabend sein, dass ich Ihnen alle<br />

Edelsteine in Goldfassung schenken kann.»<br />

Er ging weiter zu den jüngeren Kin<strong>der</strong>n und beobachtete, dass<br />

Frie<strong>der</strong>ike Luise ihre neue Puppe im Arm wiegte, Philippine Charlotte<br />

ließ die bunten Murmeln durch das Zimmer rollen und lief lachend<br />

hinter ihnen her, <strong>der</strong> kleine Wilhelm betrachtete einen Ball,<br />

warf ihn hoch und versuchte, ihn aufzufangen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging zu Sophie Dorothea, nahm einen Teller<br />

mit Lebkuchen und sagte: «Ich bin glücklich, dass wir einen so harmonischen<br />

Weihnachtsabend erleben.»<br />

Er aß genüsslich einen Lebkuchen, und als er einen zweiten verspeisen<br />

wollte, erschien Wilhelmine, knickste vor <strong>der</strong> Königin und<br />

sagte: «Mama, ich danke Ihnen für Shakespeares Werke, eine Ausgabe<br />

in englischer Sprache, ich bin überwältigt.»<br />

Sophie Dorothea lächelte: «Nun, ich hoffe, dass Sie alles gelesen<br />

haben, bis Ihr Großvater uns besucht. Ich erwarte, dass Sie sich<br />

mit den englischen Gästen geistreich über den größten englischen<br />

Dichter unterhalten können.»<br />

«Ja, Mama», sie ging wie<strong>der</strong> zu dem Gabentisch, und <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm sagte leise zu seiner Gattin: «Sie glauben immer noch an<br />

die englische Heirat?»<br />

«Ja, jetzt mehr denn je, <strong>der</strong> König von Schweden ist vor einigen<br />

Tagen verstorben.»<br />

158


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg, ging zu seinem jüngeren Sohn, warf<br />

ihm den Ball zu und verdrängte den Gedanken an die Heiratspläne<br />

<strong>der</strong> Gattin.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete das militärische Spielzeug und entdeckte<br />

plötzlich ein Buch und Notenbücher unter den Geschenken.<br />

Er nahm das Buch, sagte leise «Die Fabeln von La Fontaine» und<br />

begann, das Inhaltsverzeichnis zu lesen.<br />

In diesem Augenblick sah <strong>Friedrich</strong> Wilhelm zu seinem ältesten<br />

Sohn, beobachtete, wie er eine Seite nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en umblätterte,<br />

hin und wie<strong>der</strong> las, und plötzlich sagte er leise zu sich selbst: «Ist<br />

dieses Kind mein Sohn?»<br />

Er verdrängte den Gedanken und warf dem kleinen Wilhelm erneut<br />

den Ball zu.<br />

<strong>Friedrich</strong> nahm einen Lebkuchen und aß genüsslich, während<br />

er eine Fabel las. Als er ein Stück Marzipan nahm, legte sich eine<br />

Hand auf seine Schulter, und als er sich umdrehte, sah er Wilhelmine.<br />

«Fritzchen, du darfst jetzt nicht dauernd Süßigkeiten essen, es<br />

könnte dir nicht bekommen, denke daran, dass du nachher bei <strong>der</strong><br />

Abendtafel als Kronprinz Repräsentationspfl ichten hast.»<br />

Sie nahm den Teller und gab ihn einem Lakaien: «Bringe Er dies<br />

in das Appartement Seiner Königlichen Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah seine Schwester erstaunt an und erwi<strong>der</strong>te: «Du<br />

hast recht.»<br />

Er legte das Buch zur Seite, nahm das oberste Notenheft und<br />

sagte zu Wilhelmine: «Die Psalmen von Marot»; er blätterte in<br />

dem Heft, dann ging er zu dem Notenpult, legte die Psalmen hin,<br />

nahm seine Flöte und begann, das erste Lied zu spielen.<br />

Nach einigen Sekunden verstummte die Unterhaltung, und alle<br />

lauschten dem Flötenspiel.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm legte den Ball zur Seite, beobachtete seinen<br />

ältesten Sohn und fühlte, dass dieser im Augenblick in einer Welt<br />

lebte, zu <strong>der</strong> er, <strong>der</strong> Vater, keinen Schlüssel besaß. Er ging zu dem<br />

Gabentisch, betrachtete die Zinnsoldaten und spürte zum ersten<br />

Mal einen ganz feinen Stich von Enttäuschung über den Kronprinzen.<br />

159


3. Kapitel


162<br />

l<br />

An einem Abend im Januar 1719 stand <strong>Friedrich</strong> in seinem<br />

Schlafzimmer vor dem hochfl ackernden Kaminfeuer und betrachtete<br />

nachdenklich die Flammen.<br />

«Morgen ist <strong>der</strong> 24. Januar», sagte er leise, «an diesem Tag werde<br />

ich sieben Jahre alt, sieben Jahre.»<br />

Er ging zum Fenster, hauchte Gucklöcher in die vereisten Scheiben<br />

und sagte erneut: «Sieben Jahre.»<br />

Seine Augen suchten nach den Sternen, und als er sie nicht erkennen<br />

konnte, öffnete er das Fenster, wich vor <strong>der</strong> kalten Luft<br />

unwillkürlich einen Schritt zurück, dann beugte er sich hinaus,<br />

atmete die Winterluft ein, betrachtete den Vollmond und den sternenklaren<br />

Himmel, und als er den Abendstern sah, sagte er: «Sieben<br />

Jahre. Ab morgen werde ich wie ein Erwachsener behandelt,<br />

das weiß ich seit einigen Tagen. Madame de Roucoulles hat mir erklärt,<br />

dass meine Eltern mich ab morgen mit ‹Sie› anreden werden,<br />

und ich darf bei den Gesprächen <strong>der</strong> Erwachsenen anwesend sein,<br />

ich werde nicht mehr aus dem Zimmer geschickt, wenn ich etwas<br />

nicht hören soll.»<br />

Er schloss das Fenster, weil er fröstelte, ging zurück zum Kamin<br />

und starrte in die Flammen.<br />

Einige Minuten später betrat Madame de Roucoulles mit einer<br />

Kammerfrau und zwei Dienern, die ein Bett trugen, das Zimmer.<br />

«Lege Sie noch Holz nach», sagte sie zu <strong>der</strong> Kammerfrau, und<br />

zu den Dienern: «Stellt das Bett an die Wand, gegenüber vom Bett<br />

Seiner Königlichen Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete erstaunt die Kammerfrau und die Diener,<br />

und als sie das Zimmer verließen, fragte er seine Gouvernante:<br />

«Wer soll in dem Bett schlafen? Warum wird so gut geheizt? Ich<br />

habe im Winter in meinem Appartement immer gefroren.»<br />

Madame de Roucoulles betrachtete ihren Zögling einige Sekunden<br />

lang, unterdrückte mühsam die aufsteigenden Tränen und<br />

erwi<strong>der</strong>te: «Königliche Hoheit, sprechen Sie jetzt Ihr Nachtgebet,<br />

dann werde ich Ihnen alles erklären.»


<strong>Friedrich</strong> kniete vor dem Bett, faltete die Hände und sagte langsam:<br />

«Lieber Gott, kannst alles geben, gib auch, was ich bitte nun:<br />

Schütze diese Nacht mein Leben, lass mich sanft und sicher ruhen.<br />

Sieh auch von dem Himmel nie<strong>der</strong> auf die lieben Eltern mein, lass<br />

mich alle Morgen wie<strong>der</strong> fröhlich und Dir dankbar sein. Amen.»<br />

Er kletterte in sein Bett und sah die Gouvernante erwartungsvoll<br />

an. Madame de Roucoulles überlegte einen Augenblick und sagte<br />

zögernd: «Königliche Hoheit, ich habe Ihnen gestern gesagt, dass<br />

von nun an zwei Gouverneure Ihre Erziehung leiten werden. Dies<br />

ist <strong>der</strong> letzte Abend, den ich bei Ihnen verbringen darf, deswegen<br />

habe ich Ihr Zimmer noch einmal ordentlich heizen lassen; ab morgen<br />

beginnt für Sie ein neuer Lebensabschnitt: Sie werden ab jetzt<br />

nur noch von Männern umgeben sein, und ich befürchte, dass Ihr<br />

Zimmer dann nicht mehr warm ist. In dem Bett gegenüber wird<br />

immer einer <strong>der</strong> Gouverneure schlafen, Seine Majestät wünscht,<br />

dass Sie während <strong>der</strong> Nacht nicht allein sind.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte seine Gouvernante fassungslos an: «Madame,<br />

Sie werden nicht mehr bei mir sein? Sie verlassen mich?» «Ich verlasse<br />

Sie nicht, ich werde Sie nur nicht mehr erziehen. Aber wenn<br />

Sie einen Kummer haben, können Sie immer zu mir kommen, ich<br />

werde auch künftig im Schloss wohnen, im Appartement Ihrer<br />

jüngeren Schwestern.»<br />

Sie stand auf, ging in ihr Zimmer nebenan und kehrte mit einem<br />

Bogen Papier zurück.<br />

«Seine Majestät hat Ihren Tagesplan an den Wochentagen und<br />

am Sonntag neu geregelt, die Gouverneure baten mich, Sie heute<br />

darüber zu informieren. Sie wollen Ihnen den Schreck ersparen,<br />

wenn Sie morgen bereits um sechs Uhr von Ihrem neuen Kammerdiener<br />

geweckt werden. Ihr Kammerdiener ist ein Sohn des<br />

Hofbarbiers, er ist zwanzig Jahre alt und ein freundlicher junger<br />

Mann.»<br />

Sie nahm den Bogen Papier und begann laut zu lesen: «Der Tagesablauf<br />

an den Wochentagen: Wecken um sechs Uhr. Der Prinz<br />

darf sich im Bett nicht nochmals umwenden, er muss hurtig und sogleich<br />

aufstehen, alsdann nie<strong>der</strong>knien, sein Morgengebet sprechen,<br />

sich dann geschwind ankleiden, Gesicht und Hände waschen, aber<br />

nicht mit Seife, seinen Frisiermantel anlegen und sich frisieren las-<br />

163


sen, aber ohne Pu<strong>der</strong>. Während des Frisierens soll er sein Frühstück<br />

einnehmen. Um halb sieben treten <strong>der</strong> Lehrer und die Dienerschaft<br />

ein. Verlesung des großen Gebetes und eines Kapitels aus <strong>der</strong> Bibel,<br />

Gesang eines Kirchenliedes. Von sieben bis halb elf Uhr Unterricht.<br />

Darauf wäscht <strong>der</strong> Prinz sich geschwinde Gesicht und Hände, nur<br />

diese mit Seife, lässt sich pu<strong>der</strong>n, zieht seinen Rock an und geht zum<br />

König, bei dem er von elf bis zwei Uhr bleibt. Dann nehmen die<br />

Stunden ihren Fortgang bis fünf Uhr. Bis zum Schlafengehen hat<br />

<strong>der</strong> Prinz frei und kann tun, was er will, wenn es nur nicht gegen<br />

Gott ist.<br />

Der Tagesablauf an den Sonntagen: Am Sonntag muss <strong>der</strong> Prinz<br />

um sieben Uhr aufstehen. Dann muss er vor seinem Bett auf die<br />

Knie und laut dieses Gebet sprechen: ‹Herrgott, heiliger Vater! Ich<br />

danke Dir von Herzen, dass Du mich diese Nacht so gnädiglich<br />

bewahret hast! Mache mich geschickt zu Deinem heiligen Willen,<br />

und dass ich nichts möge heute, auch alle meine Lebtage tun, was<br />

mich von Dir scheiden kann, um unseres Herrn Jesu, meines Seligmachers<br />

willen! Amen!›<br />

Nach dem Gebet muss <strong>der</strong> Prinz sich geschwinde und hurtig<br />

waschen, pu<strong>der</strong>n und ankleiden. Für Gebet und Toilette werden<br />

fünfzehn Minuten gewährt, das Frühstück darf nur sieben Minuten<br />

dauern; dann treten <strong>der</strong> Lehrer und die Dienerschaft ein.<br />

Alle knien nie<strong>der</strong>, um das große Gebet zu sprechen, dann hören sie<br />

einen Abschnitt aus <strong>der</strong> Bibel und singen ein Kirchenlied. Das alles<br />

in dreiundzwanzig Minuten. Darauf liest <strong>der</strong> Lehrer das Evangelium<br />

des Sonntags vor, legt es kurz aus und lässt den Prinzen<br />

den Katechismus aufsagen. Hiernach wird <strong>der</strong> Prinz zum König<br />

geführt, mit dem er zur Kirche geht und zu Mittag isst. Den Rest<br />

des Sonntags hat er frei. Der Nachmittag ist vor Fritzen. Um halb<br />

zehn Uhr abends sagt er seinem Vater gute Nacht, kehrt in sein<br />

Zimmer zurück, kleidet sich sehr geschwind aus, wäscht sich die<br />

Hände; <strong>der</strong> Lehrer liest ein Gebet und singt ein Kirchenlied, wobei<br />

die ganze Dienerschaft wie<strong>der</strong> zugegen ist. Um halb elf muss <strong>der</strong><br />

Prinz im Bett liegen.»<br />

Madame de Roucoulles legte den Bogen Papier zur Seite und<br />

sagte leise: «Königliche Hoheit, bis zu Ihrer Konfi rmation, also<br />

während <strong>der</strong> kommenden acht Jahre, wird dies Ihr Tagesablauf<br />

164


sein. Nach <strong>der</strong> Konfi rmation ist Ihr Unterricht beendet, dann wird<br />

<strong>der</strong> König weitere Entscheidungen treffen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> schwieg einige Minuten, dann sagte er: «Ich muss<br />

jetzt den ganzen Tag lernen wie Wilhelmine, das ist nicht weiter<br />

schlimm, mit Monsieur Duhan macht das Lernen Spaß; aber warum<br />

muss ich mich ständig während des Tages waschen, warum<br />

muss ich am Sonntag so viel beten und Kirchenlie<strong>der</strong> singen? Ich<br />

werde Papas Wünsche erfüllen, aber …»<br />

Er schwieg und sah nachdenklich vor sich hin.<br />

«Königliche Hoheit, Sie werden sich bestimmt rasch an den neuen<br />

Tagesablauf gewöhnen; Sie wissen doch, dass Sie ab jetzt wie ein<br />

Erwachsener behandelt werden, die Erwachsenen müssen vor allem<br />

während des Tages ihre Pfl ichten erfüllen und dürfen sich erst am<br />

Abend Muße gönnen. Es ist schon spät, soll ich Ihnen noch etwas<br />

vorlesen o<strong>der</strong> ein Lied singen?»<br />

«Madame, erzählen Sie mir noch einmal die Geschichte meiner<br />

Geburt.»<br />

«Königliche Hoheit, diese Geschichte habe ich Ihnen schon so<br />

oft erzählt.»<br />

«Bitte, Madame, es ist das letzte Mal, die Gouverneure erzählen<br />

mir bestimmt nicht, was sich am 24. Januar 1712 ereignete.»<br />

Madame de Roucoulles lächelte: «Nun, Königliche Hoheit, <strong>der</strong><br />

24. Januar 1712 war ein eiskalter Wintertag. Sie wurden zwischen<br />

elf und zwölf Uhr geboren. Ihr Großvater, König <strong>Friedrich</strong> I., erfuhr<br />

die Neuigkeit auf dem Weg zur Mittagstafel. Er begab sich<br />

sofort zu Ihrer Mutter, um sie zu beglückwünschen, und befahl,<br />

dass Sie eine Woche später, am 31. Januar, getauft werden sollten,<br />

weil <strong>der</strong> Januar <strong>der</strong> Krönungsmonat war und er es als gutes Omen<br />

sah, dass Sie im Januar geboren wurden. Er bestimmte auch, dass<br />

Sie seinen Namen <strong>Friedrich</strong> tragen sollten. Ihr Geburtstag und Ihr<br />

Tauftag waren Sonntage, auch dies deutete er als günstige Vorzeichen.<br />

Ihre Geburt wurde mit 101 Salutschüssen <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

verkündet, und am Nachmittag hing Ihr Großvater Ihnen<br />

den Schwarzen Adlerorden um. Ihre Taufe war prachtvoll, und<br />

die mächtigsten Fürsten Europas zählten zu Ihren Paten: Kaiser<br />

Karl VI., Zar Peter <strong>der</strong> Große von Russland, die Generalstaaten<br />

<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lande, <strong>der</strong> Kanton Bern, <strong>der</strong> Kurfürst von Hannover,<br />

165


die Herzogin von Braunschweig und die Herzoginmutter von Mecklenburg;<br />

sie erschienen nicht persönlich, son<strong>der</strong>n schickten Gesandte<br />

mit Gevatterbriefen. Sie trugen bei <strong>der</strong> Taufe eine Krone<br />

und einen Krönungsmantel aus Silberbrokat, <strong>der</strong> mit Diamanten<br />

besetzt war. Die Schleppe wurde von sechs Gräfi nnen getragen.<br />

Ihr Großvater hielt Sie über das goldene Taufbecken, das unter<br />

einem Baldachin aus Goldstickerei stand. Die goldenen Quasten<br />

des Baldachins trugen königlich-preußische Kammerherren. Am<br />

Abend gab es im Schloss ein Bankett mit Ball, und für die Berliner<br />

wurden auf den Plätzen <strong>der</strong> Stadt Ochsen am Spieß gebraten und<br />

kostenlos Wein ausgeschenkt.»<br />

Sie schwieg und betrachtete <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> inzwischen eingeschlafen<br />

war.<br />

«Ich wünsche dir eine glückliche Zukunft, mein Kind», sagte<br />

sie leise, schraubte den Docht <strong>der</strong> Lampe niedriger und verließ das<br />

Zimmer.<br />

Am nächsten Morgen erwachte <strong>Friedrich</strong>, als die Bettvorhänge<br />

zurückgezogen wurden und eine laute Stimme rief: «Königliche<br />

Hoheit, es ist sechs Uhr, Sie müssen jetzt aufstehen!»<br />

<strong>Friedrich</strong> öffnete mühsam die Augen und sah einen mittelgroßen,<br />

schlanken jungen Mann, <strong>der</strong> ihn anlächelte. Er gähnte, schloss<br />

die Augen wie<strong>der</strong>, seufzte wohlig und rollte sich auf die an<strong>der</strong>e Seite.<br />

Eine Sekunde später spürte er eine Hand auf seiner Schulter und<br />

hörte im Halbschlaf die gleiche Stimme: «Königliche Hoheit, Sie<br />

müssen jetzt aufstehen; ich würde Sie noch schlafen lassen, aber es<br />

ist ein Befehl Seiner Majestät. Sie dürfen sich im Bett nicht noch<br />

einmal umdrehen, Sie müssen sofort aufstehen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> rollte sich in die Mitte des Bettes, öffnete langsam die<br />

Augen, blinzelte in das schwach erleuchtete Zimmer, betrachtete<br />

den jungen Mann, und langsam erinnerte er sich an seinen künftigen<br />

Tagesplan.<br />

Er richtete sich langsam auf und fragte: «Ist Er mein neuer Kammerdiener?»<br />

«Zu Befehl, Königliche Hoheit, mein Name ist Sternemann, ich<br />

bin <strong>der</strong> Sohn des Hofbarbiers. Erlauben Sie, dass ich Ihnen untertänigst<br />

alles Gute wünsche für Ihr neues Lebensjahr.»<br />

166


«Danke.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah sich um und sagte: «Es ist noch dunkel, <strong>der</strong> Tag ist<br />

noch nicht angebrochen.»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Königliche Hoheit, aber in einer halben<br />

Stunde werden Monsieur Duhan und Ihre Dienerschaft hier<br />

eintreten, Sie müssen jetzt beten, sich rasch waschen und ankleiden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> seufzte, kletterte aus dem Bett, schlüpfte in die Pantoffeln,<br />

kniete vor dem Bett nie<strong>der</strong>, faltete die Hände und murmelte<br />

schlaftrunken: «Wie fröhlich bin ich aufgewacht, wie hab ich geschlafen<br />

so sanft die Nacht! Hab Dank, Du Vater im Himmel mein,<br />

dass Du hast wollen bei mir sein. Behüte mich auch diesen Tag,<br />

dass mir kein Leid geschehen mag. Amen.»<br />

Während er sich frierend Gesicht und Hände mit kaltem Wasser<br />

wusch, fragte <strong>der</strong> Diener: «Was wünschen Eure Königliche Hoheit<br />

als Getränk? Kaffee, Tee o<strong>der</strong> heiße Milch?»<br />

<strong>Friedrich</strong> legte das Handtuch zur Seite und sah Sternemann erstaunt<br />

an: «Ich bin noch nie gefragt worden, was ich zum Frühstück<br />

trinken möchte, aber wenn ich die Wahl habe …», er überlegte eine<br />

Sekunde und sagte: «Meine Mama trinkt immer Schokolade; ich<br />

möchte Schokolade trinken.»<br />

«Schokolade? Ich bitte um Vergebung, Königliche Hoheit, aber<br />

Schokolade zum Frühstück ist ein Privileg Ihrer Majestät, nur die<br />

Königin darf am Morgen Schokolade zu sich nehmen, dieses Getränk<br />

ist nämlich sehr teuer, Königliche Hoheit.»<br />

«Ich verstehe, Mama hat als Königin eine beson<strong>der</strong>e Stellung am<br />

Hof, nun, dann trinke ich Tee, in England wird am Morgen Tee getrunken,<br />

und da ich einmal eine englische Prinzessin heirate, muss<br />

ich mich schon jetzt an die englische Lebensart gewöhnen.»<br />

Während er sich ankleidete, wurden ein Kännchen Tee und eine<br />

Scheibe Roggenbrot gebracht, die dünn mit Butter und Honig bestrichen<br />

war.<br />

«Sie müssen sich beeilen, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> verschlang die Brotscheibe, stürzte den Tee hinunter<br />

und sagte: «Ich bin noch hungrig. Meine Gouvernante hat immer<br />

Weißbrot zum Frühstück servieren lassen, und ich durfte davon<br />

essen, bis ich satt war.»<br />

167


«Königliche Hoheit; Seine Majestät ist <strong>der</strong> Meinung, dass Ihr<br />

Magen nicht überlastet sein soll, damit Sie dem Unterricht besser<br />

folgen können.»<br />

«Nun ja, wenn es ein Befehl von Papa ist … bürsten Sie jetzt<br />

meine Locken.»<br />

«Königliche Hoheit, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen<br />

soll …»<br />

In diesem Augenblick näherten sich Schritte <strong>der</strong> Tür, dann standen<br />

<strong>der</strong> König und <strong>der</strong> Hofbarbier Sternemann im Zimmer. <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm eilte zu seinem Sohn, umarmte und küsste ihn auf<br />

die Stirn und sagte: «Ich gratuliere dir von ganzem Herzen zu deinem<br />

siebten Geburtstag, Fritz; du bist jetzt ein großer Junge, und<br />

<strong>der</strong> Name Fritzchen passt nicht mehr zu dir. Du weißt bereits, dass<br />

du ab jetzt von Offi zieren erzogen wirst, ich wünsche und erwarte,<br />

dass ich für dich ab jetzt nicht mehr <strong>der</strong> Vater bin, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

Freund o<strong>der</strong> <strong>der</strong> ältere Bru<strong>der</strong>. Ich werde dich auch künftig mit Du<br />

anreden, die Anrede Sie würde uns einan<strong>der</strong> entfremden. Wenn du<br />

Kummer hast, so vertraue ihn mir an, und wir werden gemeinsam<br />

eine Lösung fi nden. Bist du damit einverstanden?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah seinen Vater an und antwortete leise: «Ja, Papa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm strahlte: «Abgemacht, Fritz, wir sind von nun<br />

an Freunde und Brü<strong>der</strong>. Ich wünsche, dass aus dir ein tüchtiger Soldat<br />

und Offi zier wird, <strong>der</strong> seine Armee über alles liebt, dies fängt bei<br />

<strong>der</strong> äußeren Erscheinung an. Sternemann wird deine Haare jetzt so<br />

schneiden, dass man sie zu einem kurzen Zopf schwänzen kann; lange<br />

Locken sind eines preußischen Offi ziers unwürdig, sie lassen ihn<br />

weibisch und französisch aussehen. Los Sternemann, an die Arbeit,<br />

ich habe nicht viel Zeit!»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak und sah zu Boden. Meine schönen Locken, dachte<br />

er und versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.<br />

Sternemann verbeugte sich vor ihm und sagte: «Königliche Hoheit,<br />

bitte, setzen Sie sich auf diesen Stuhl.»<br />

<strong>Friedrich</strong> gehorchte und beobachtete ängstlich, wie Sternemann<br />

einen schwarzen Kasten öffnete, Kamm und Schere nahm und vor<br />

ihn trat. Der Barbier betrachtete die seitlichen Locken und stutzte,<br />

als er sah, wie die großen Augen des Kronprinzen sich allmählich<br />

mit Tränen füllten.<br />

168


Nein, dachte er, dieses Kind ist zu bedauern, jeden Morgen wird <strong>der</strong><br />

Prinz um sechs Uhr geweckt, und <strong>der</strong> Tag ist nach Minuten eingeteilt,<br />

nein, ich kann und will ihm die Locken nicht abschneiden.<br />

Er legte Kamm und Schere langsam wie<strong>der</strong> in den Kasten und<br />

betrachtete prüfend die übrigen Instrumente.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm beobachtete den Barbier und wurde ungeduldig.<br />

«Na los, was zögert Er? Cito, cito!»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät, ich weiß nicht, ob ich die<br />

richtige Schere mitgebracht habe», und er nahm eine Schere nach<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en in die Hand, betrachtete sie und legte sie wie<strong>der</strong> zurück.<br />

«Zum Donnerwetter», schrie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «so beeile Er<br />

sich doch, ich habe wenig Zeit! Mein Gott, die Räte kommen um<br />

sieben Uhr, und ich muss noch verschiedene Akten lesen, beeile Er<br />

sich!»<br />

Er verließ im Sturmschritt das Zimmer, Sternemann atmete<br />

auf.<br />

Er nahm die erste Schere, trat zu <strong>Friedrich</strong> und sagte leise: «Sie<br />

müssen nichts befürchten, Königliche Hoheit, ich weiß, wie Ihnen<br />

zumute ist. Ich kämme jetzt Ihre Seitenhaare nach dem Hinterkopf<br />

und schneide nur ab, was unbedingt notwendig ist, so können Sie<br />

Ihre Haare in den Mußestunden weiterhin offen tragen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> schluckte seine Tränen hinunter und lächelte den Barbier<br />

an: «Vielen Dank, das werde ich Ihm nie vergessen.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> um elf Uhr das Arbeitszimmer seines Vaters betrat,<br />

sah er zwei Herren und ahnte instinktiv, dass diese Männer ihn<br />

künftig erziehen würden.<br />

«Nun, Fritz», rief <strong>der</strong> König, «diese Herren werden dich ab jetzt<br />

zum künftigen preußischen König formen: General Finck, Graf<br />

von Finckenstein, und Oberst von Kalckstein.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die große, füllige Gestalt des Generals, das<br />

rundliche Gesicht, die gütigen Augen, dann wan<strong>der</strong>te sein Blick<br />

zu <strong>der</strong> großen, schlanken Gestalt Kalcksteins, <strong>der</strong> ihn freundlich<br />

anblickte, und er spürte, dass er vor diesen Männern keine Angst<br />

haben musste.<br />

«Meine Herren», sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «Sie werden künftig<br />

169


Tag und Nacht bei dem Kronprinzen verbringen. Lassen Sie mich<br />

jetzt allein mit meinem Sohn.»<br />

Er ging zu <strong>Friedrich</strong> und betrachtete zufrieden die Zopffrisur:<br />

«Sternemann hat gut gearbeitet, nun, Fritz, heute ist dein Geburtstag,<br />

und es wartet ein Geschenk auf dich.»<br />

Er nahm die Hand des Sohnes, ging mit ihm zu einem großen<br />

Saal, öffnete die Tür und sagte: «Das ist mein Geschenk: Ich habe<br />

hier ein kleines Zeughaus für dich einrichten lassen, wo du in deiner<br />

freien Zeit nach Herzenslust mit Waffen und Soldaten spielen<br />

kannst.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrat zögernd den Saal, betrachtete die Kanonen und<br />

Standarten, die Zinnsoldaten, die teils als Infanterie, teils als Kavallerie<br />

aufgebaut waren, und dachte: Er hat mir doch schon an<br />

Weihnachten Soldaten und Kanonen geschenkt, und jetzt wie<strong>der</strong><br />

Soldaten und Kanonen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Du bist so still, Fritz, freust du dich<br />

nicht?»<br />

«Ich freue mich sehr, Papa, vielen Dank, Papa.»<br />

«Ich wusste, dass dies das richtige Geschenk für dich ist.»<br />

Sie gingen zurück zum Arbeitszimmer, <strong>Friedrich</strong> Wilhelm stellte<br />

einen Schemel auf die an<strong>der</strong>e Seite des Schreibtisches, von wo aus er<br />

den Sohn beobachten konnte, und sagte: «Hier wirst du jetzt immer<br />

sitzen; in den Stunden, die du hier verbringst, sollst du lernen, wie<br />

man einen Staat regiert. Jetzt muss ich dir noch etwas zu deinem<br />

künftigen Leben sagen: Du bekommst ab jetzt ein monatliches Taschengeld<br />

von dreißig Talern, an deinem zwölften Geburtstag wird<br />

dieser Betrag auf fünfzig Taler erhöht. Du kannst dieses Geld ausgeben,<br />

wofür du willst, aber ich wünsche, dass du sämtliche Ausgaben<br />

notierst. Auch ich habe als Kind ein Buch über meine Ausgaben geführt,<br />

und zwar aus eigenem Antrieb; das ist <strong>der</strong> einzige Weg, um<br />

zu lernen, wie man eine begrenzte Summe einteilt.»<br />

Er setzte sich an den Schreibtisch, entnahm einer Schublade ein<br />

Heft und gab es <strong>Friedrich</strong>.<br />

«Du wirst mir dieses Heft jeden Montag vorlegen. Nun zum Exerzieren:<br />

Von April bis Juni und während <strong>der</strong> Wochen in Wusterhausen<br />

wirst du jeden Tag von zwei bis drei Uhr deine Kompanie<br />

exerzieren. Wenn du alt genug bist, um mich auf die Jagd zu be-<br />

170


gleiten, entfällt das Exerzieren in Wusterhausen. Dein Unterricht<br />

endet auch während <strong>der</strong> Exerziermonate um fünf Uhr. Eine Stunde<br />

Unterricht in Geographie o<strong>der</strong> Geschichte weniger ist unwichtig,<br />

zu viel Gelehrsamkeit belastet den Kopf nur unnötig, du sollst auf<br />

das praktische Leben und das Amt des preußischen Königs vorbereitet<br />

werden. Ab heute wirst du das Tabakskollegium kennenlernen,<br />

das heißt, wenn wir zusammen in einem Schloss weilen, wirst<br />

du nach <strong>der</strong> Abendtafel bei <strong>der</strong> Mama in das Kollegium kommen,<br />

einige Minuten verweilen und mir eine gute Nacht wünschen; in<br />

einigen Jahren wirst du regelmäßig an dieser Runde teilnehmen.<br />

Nun zu deinem Unterricht, <strong>der</strong> erweitert wird: Rentzell, mit<br />

dem du dich ja gut verstehst, wird dich lehren, wie man reitet und<br />

schießt; Ingenieurmajor Senning erteilt dir Elementarunterricht<br />

in den militärischen Wissenschaften, und <strong>der</strong> Kadettfechtmeister<br />

Pantzendorf erteilt dir Fechtunterricht.<br />

Die schönen Künste dürfen natürlich nicht vernachlässigt werden:<br />

Pesne ist dein Zeichenlehrer, und <strong>der</strong> Domorganist Heine wird<br />

dich in Musik unterrichten.»<br />

In diesem Augenblick strahlten <strong>Friedrich</strong>s Augen zum ersten<br />

Mal an jenem Vormittag. «Musikunterricht, Papa? Das ist wun<strong>der</strong>voll,<br />

ich danke Ihnen!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lehnte sich zurück, musterte den Sohn und<br />

sagte langsam: «Ich habe nichts gegen dein Flötenspiel, es hört<br />

sich angenehm an, aber es ist in meinen Augen immer noch Wind;<br />

Wind und blauer Dunst. Eine Flöte klingt immer verspielt, unernst<br />

wie die Laute von Wilhelmine, es ist kein Instrument für ernste<br />

Musik wie die Orgel o<strong>der</strong> das Klavier o<strong>der</strong> meinetwegen die Geige.<br />

Du wirst bei Heine das Klavierspiel und die Kompositionslehre<br />

erlernen, das ist wenigstens eine ernsthafte Beschäftigung mit <strong>der</strong><br />

Musik. Hast du noch Fragen?»<br />

«Nein, Papa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg einen Augenblick, dann sagte er: «Was<br />

deinen Unterricht betrifft, so erspare ich dir die langweilige lateinische<br />

Sprache, Latein ist unnütz und würde dir nur den Kopf vernebeln,<br />

diese Sprache ist Wind und blauer Dunst. Ich musste seinerzeit<br />

auf Befehl meines Vaters Latein lernen, und es war eine Quälerei. Ich<br />

habe verboten, dich diese Sprache zu lehren.»<br />

171


«Ja, Papa.» Latein, dachte er, ob ich Duhan bitte, mich in Latein<br />

zu unterrichten?<br />

Er beobachtete, wie <strong>der</strong> Vater die eingegangenen Briefe durchsah,<br />

und dachte über die Neuerungen in seinem Leben nach. Das<br />

Ausgabenbuch? Nun ja, Wilhelmine muss ihre Ausgaben auch notieren.<br />

Reiten, Schießen und Fechten? Das muss ich als künftiger<br />

König natürlich beherrschen. Der Musikunterricht? Das Erlernen<br />

eines weiteren Instrumentes ist nützlich, ebenso die Kompositionslehre.<br />

Das Tabakskollegium? Ich weiß inzwischen, wie wichtig die<br />

Tabagie für Papa ist, aber in Mamas Salon wird darüber nur gespöttelt,<br />

da bin ich gespannt.<br />

Mein Gott, ist das etwa meine künftige Arbeit als König? Ich<br />

sitze am Schreibtisch und lese irgendwelche Briefe? Mein Großvater<br />

hat als König an<strong>der</strong>s gelebt, das weiß ich von Mama.<br />

In diesem Augenblick sah <strong>Friedrich</strong> Wilhelm auf und sagte:<br />

«Höre, Fritz: Der Agent in Kopenhagen, Iwatyhoff, bittet um Zulage.<br />

Ich antworte: Der Schurke will Zulage haben – auf den Buckel<br />

soll er sie haben. Du musst Petitionen immer überprüfen, ob sie<br />

gerechtfertigt sind, und alle Anfragen knapp und präzise beantworten.»<br />

Nach einer Weile schmunzelte er und sagte: «Jetzt geht es um<br />

die Rekrutenkasse. Merke dir: Wer etwas werden will, ein Amt<br />

o<strong>der</strong> ein Privileg begehrt, den mache ich diskret darauf aufmerksam,<br />

dass die Rekrutenkasse einen Zuschuss nötig hat. Hier zwei<br />

Beispiele: Ein gewisser Schwanhäuser in Reppen bietet fünfzehn<br />

Taler, wenn er dafür zum Ratsmitglied von Reppen ernannt wird;<br />

meine Antwort: Er soll vierzig Taler zahlen.<br />

Eine Zollkontrollstelle in Crossen fragt an, welchen von mehreren<br />

Bewerbern sie einstellen soll; meine Antwort: Wer sechshun<strong>der</strong>t<br />

Taler o<strong>der</strong> mehr zahlt, soll die Stelle haben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete seinen Vater, <strong>der</strong> Bemerkungen auf die<br />

Briefe schrieb, und nach einer Weile fragte er vorsichtig: «Papa,<br />

muss ein König den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen? Ich weiß<br />

von Mama, dass mein Großvater nie am Schreibtisch gesessen<br />

hat.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah auf, legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite, lehnte sich<br />

zurück und antwortete langsam: «Höre, Fritz, dein Großvater hat<br />

172


die Regierung seinen Ministern überlassen, er liebte nicht nur den<br />

Prunk, er liebte es auch, sein Königsamt zu zelebrieren: er erhob<br />

sich bei Tagesanbruch, um seine Königswürde viele Stunden genießen<br />

zu können.<br />

Nach dem Erwachen empfi ng er seine Minister zum Vortrag,<br />

dann ging er in den Staatsrat. Um zwölf Uhr erscholl das erste Zeichen<br />

zur Mittagstafel, das zweite Zeichen erklang, wenn sich <strong>der</strong><br />

Hof versammelte. Dann schritt dein Großvater in den Speisesaal,<br />

überreichte Hut und Stock dem Kammerherrn vom Dienst, deine<br />

Großmutter überreichte dem Kammerherrn Handschuhe und Fächer.<br />

Zwei Junker präsentierten in silbernen Becken Waschwasser,<br />

dazu Servietten. Der Oberhofmarschall stieß seinen Stock auf den<br />

Boden, und alle verneigten sich. Ein Page sprach das Tischgebet,<br />

worauf deine Großeltern sich in ihren Sesseln nie<strong>der</strong>ließen. Der<br />

Vorschnei<strong>der</strong> kostete die Speisen und bediente deine Großeltern mit<br />

umständlicher Feierlichkeit.<br />

Wünschte dein Großvater zu trinken, so sagte er es dem Pagen<br />

und dieser dem diensttuenden Junker, <strong>der</strong> vom Büffet das Gewünschte<br />

auf einem goldenen Tablett servierte. Der Kammerherr<br />

musste zuerst kosten, bevor er das Getränk einschenkte. Nach <strong>der</strong><br />

Tafel zog <strong>der</strong> Hof sich zurück, bis dein Großvater befahl, dass man<br />

ausfahren solle. War das Wetter schlecht, führte dein Großvater<br />

deine Großmutter in ihre Räume, wo man Mittagsruhe hielt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg, sah nachdenklich auf die Schreibtischplatte,<br />

dann sagte er: «Fritz, dein Großvater hat versucht, aus<br />

seinem Hof ein zweites Versailles zu machen, <strong>der</strong> französische Hof<br />

war sein Vorbild; dieser Hof ist für alle deutschen Fürsten immer<br />

noch ein Vorbild, aber für das junge Königreich Preußen darf er<br />

kein Vorbild sein, weil Preußen zu arm ist. Ich kann mir kein umständliches<br />

Hofzeremoniell leisten, wenn ich meinen Staat wirtschaftlich<br />

aufbauen will. Die höfi schen Zeremonien deines Großvaters<br />

sind überfl üssiger Plun<strong>der</strong>, <strong>der</strong> preußische König muss nach<br />

dem Aufstehen anfangen, sich um die Regierungsgeschäfte zu<br />

kümmern, es ist die einzige Möglichkeit, diesen Staat zu erhalten<br />

und aufzubauen, deswegen verbringe ich viele Stunden des Tages<br />

am Schreibtisch, ich will über jedes Detail in meinem Land informiert<br />

sein. Verstehst du, was ich meine?»<br />

173


<strong>Friedrich</strong> sann einen Augenblick nach und antwortete: «Ja,<br />

Papa.»<br />

Er beobachtete seinen Vater beim Aktenstudium und dachte im<br />

Stillen: Wenn ich König bin, werde ich nicht den ganzen Tag am<br />

Schreibtisch verbringen, das ist viel zu langweilig. Ich werde aufstehen,<br />

wann es mir beliebt, auf Gebet und Waschen verzichten,<br />

ich werde zum Frühstück heiße Schokolade trinken und so viel<br />

Weißbrot essen, wie ich mag, dann exerziere ich meine Soldaten<br />

eine Stunde, danach lese ich und spiele Flöte bis zur Mittagstafel.<br />

Anschließend ruhe ich, dann reite ich aus, und am Abend fi ndet ein<br />

Konzert statt o<strong>der</strong> ein Bankett o<strong>der</strong> ein Ball.<br />

Er zuckte zusammen, als er die Stimme des Vaters hörte: «Komm,<br />

Fritz, es ist Zeit für die Mittagstafel. Wilhelmine wird die Mama<br />

ab heute an <strong>der</strong> Tafel vertreten, bis die Mama die Wochenstube<br />

verlassen kann.»<br />

«Wann kommt die neue kleine Schwester, Papa?»<br />

«Das weiß ich nicht, heute o<strong>der</strong> morgen o<strong>der</strong> übermorgen, das<br />

liegt in Gottes Hand. Aber ich hoffe, dass du einen Bru<strong>der</strong> bekommst,<br />

das ist eine erneute Sicherung <strong>der</strong> Erbfolge.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Vater erstaunt an: «Die Erbfolge ist doch gesichert,<br />

ich bin <strong>der</strong> künftige König, das sagt Mama jeden Tag.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah seinen Ältesten nachdenklich an und erwi<strong>der</strong>te<br />

langsam: «Du bist <strong>der</strong> Thronerbe, aber … nun ja, das Leben<br />

… das Leben ist bunt, das Leben liegt in Gottes Hand.»<br />

Nach <strong>der</strong> Abendtafel begleitete Kalckstein seinen Zögling zum<br />

Tabakskollegium. <strong>Friedrich</strong> beobachtete erstaunt, dass <strong>der</strong> Gouverneur<br />

einfach die Türe öffnete und mit ihm hineinging. Er blieb<br />

nach wenigen Schritten stehen, weil <strong>der</strong> Tabaksqualm und <strong>der</strong><br />

Bierdunst ihm fast den Atem raubten.<br />

Kalckstein wandte sich um: «Königliche Hoheit, ist etwas nicht<br />

in Ordnung? Kommen Sie, ich bringe Sie jetzt zu Seiner Majestät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> folgte langsam dem Gouverneur und sah sich angewi<strong>der</strong>t<br />

um: Er betrachtete die rauchenden Offi ziere, die laut redeten<br />

und lachten, dann sah er seinen Vater, <strong>der</strong> mit einem vollen Bierkrug<br />

aus dem Nebenraum kam, sich setzte, sein Glas füllte und<br />

eine neue Pfeife anzündete.<br />

174


Als er <strong>Friedrich</strong> sah, strahlten seine Augen glücklich, und er rief:<br />

«Meine Herren, heute weilt mein Sohn, <strong>der</strong> Kronprinz, zum ersten<br />

Mal in unserer Runde, heute sind es nur wenige Minuten, weil er<br />

mir eine gute Nacht wünschen will – in einigen Jahren wird er<br />

regelmäßig mit uns die Abende verbringen, er wird trinken, rauchen,<br />

sich mit uns unterhalten, wie es sich für den künftigen preußischen<br />

König ziemt.»<br />

Nein, dachte <strong>Friedrich</strong> verzweifelt, ich will meine freie Zeit nicht<br />

hier verbringen, was hat Papa gesagt? In einigen Jahren? Nun, das<br />

ist noch eine lange Zeit.<br />

Er ging zu seinem Vater und sagte leise: «Es gibt hier keinen<br />

Türsteher, man hat mich nicht gemeldet, das ist nicht üblich.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm begann schallend zu lachen und schlug gutgelaunt<br />

mit <strong>der</strong> Faust auf den Tisch: «Haben Sie das gehört, meine<br />

Herren?», und zu <strong>Friedrich</strong>: «Höre, Fritz, im Tabakskollegium gibt<br />

es keine überfl üssigen höfi schen Zeremonien, man steht nicht auf,<br />

wenn du o<strong>der</strong> ich den Raum betreten, hier bist du nicht <strong>der</strong> Kronprinz,<br />

son<strong>der</strong>n nur ein Offi zier wie die an<strong>der</strong>en Offi ziere», und zu<br />

den Anwesenden: «Meine Herren, wir trinken jetzt auf das Wohl<br />

des Fähnrichs <strong>Friedrich</strong> von Hohenzollern!»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah, wie die Gläser fast gleichzeitig erhoben wurden,<br />

er hörte die Worte «Auf das Wohl des Fähnrichs <strong>Friedrich</strong> von Hohenzollern!»<br />

und spürte nur den Wunsch, möglichst rasch diesen<br />

Raum verlassen zu können.<br />

«Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Papa.»<br />

«Wie, du willst uns schon wie<strong>der</strong> verlassen? Nein, jetzt wirst du<br />

einen Schluck Bier trinken und ein Stück Tilsiter Käse essen, das<br />

ist eine preußische Delikatesse.»<br />

Er stand auf, führte <strong>Friedrich</strong> in den Nebenraum, legte eine<br />

Scheibe Brot und zwei große Stücke Butter und Käse auf einen<br />

Teller und sagte: «Im Tabakskollegium musst du dich selbst bedienen.»<br />

Dann gingen sie zurück.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm bestrich das Brot mit Butter, belegte es mit<br />

Käse und reichte es dem Sohn.<br />

<strong>Friedrich</strong> würgte lustlos das Käsebrot hinunter, dann reichte<br />

ihm <strong>der</strong> Vater das Glas und sagte: «Probiere das Bier, es wird in<br />

Köpenick gebraut.»<br />

175


<strong>Friedrich</strong> trank einen Schluck und sagte: «Das Bier schmeckt bitter.»<br />

«Du wirst dich daran gewöhnen, mein Sohn.»<br />

«Wo bleibt Gundling?!», rief einer <strong>der</strong> Offi ziere.<br />

«Er schläft wahrscheinlich noch seinen Rausch von gestern<br />

aus.»<br />

In diesem Augenblick fl og die Tür auf, und ein mittelgroßer,<br />

rundlicher Mann betrat leicht schwankend den Raum. Seine<br />

rechte Hand umklammerte eine leere Weinfl asche, und <strong>Friedrich</strong><br />

sah erstaunt, dass <strong>der</strong> Mann keine Uniform trug, son<strong>der</strong>n einen<br />

goldbetressten, schmutzigen roten Rock, eine schwarze Kniehose,<br />

schwarze Strümpfe und schwarze Samtschuhe. Auf dem Kopf<br />

prangte eine gelbliche, schulterlange Lockenperücke.<br />

Der König und die Offi ziere trommelten zur Begrüßung mit<br />

den Fäusten auf den Tisch, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm rief gutgelaunt:<br />

«Willkommen, Herr Oberzeremonienmeister! Ich sehe, dass Sie<br />

sich wie<strong>der</strong> in meinem Weinkeller bedient haben, nun ja, ich habe<br />

es Ihnen erlaubt, weil Sie an meinem Hof eine Son<strong>der</strong>stellung haben<br />

– wissen Sie, welche?»<br />

Gundling verbeugte sich und lächelte geschmeichelt: «Ge … Gewiss<br />

Majestät, ich … ich bin Ihr Oberhofzeremonienmeister.»<br />

Die Anwesenden lachten grölend, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm rief:<br />

«Sie sind vor allem mein Hofnarr, trinken wir auf das Wohl des Hofnarren!»,<br />

und zu einem <strong>der</strong> jüngeren Offi ziere: «Schenken Sie dem<br />

Professor ein Glas Bier ein, er selbst ist nicht mehr dazu fähig.»<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete erstaunt und leicht angewi<strong>der</strong>t, wie Gundling<br />

rasch hintereinan<strong>der</strong> drei Gläser Bier leerte, sich mit dem<br />

Handrücken über den Mund wischte und rülpste.<br />

«Mehr», lallte er, «mehr Bier!»<br />

Während <strong>der</strong> jüngere Offi zier Bier nachschenkte, sagte <strong>der</strong> Dessauer<br />

leise zu Grumbkow: «Während <strong>der</strong> letzten Wochen ist er oft<br />

halb betrunken zu uns gekommen und konnte nicht mehr aus den<br />

Zeitungen vorlesen, wie soll das weitergehen! Ich fand es immer<br />

amüsant, wenn er ausländische Zeitungsartikel kommentierte.»<br />

«Gewiss, aber er liebt den Alkohol zu sehr, er wird als Trunkenbold<br />

enden. Den König scheint diese Entwicklung zu amüsieren, er<br />

sorgt stets dafür, dass Gundling volltrunken das Tabakskollegium<br />

176


verlässt; gestern habe ich beobachtet, dass er, als wir aufbrachen,<br />

alle halbvollen Gläser und Flaschen leerte, er ist inzwischen eine<br />

Kreatur des Königs geworden. Sollen wir das än<strong>der</strong>n?»<br />

«Meine Herren», rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «unser Oberzeremonienmeister<br />

verdient es, beför<strong>der</strong>t zu werden, weil er uns so gut<br />

amüsiert. Ich ernenne ihn deswegen zum Geheimen Oberappellationsrat,<br />

trinken wir auf sein Wohl!»<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete entsetzt, dass Gundling drei weitere Gläser<br />

Bier leerte und dass seine Augen allmählich glasig die Gesellschaft<br />

anstarrten.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte Gundling halb spöttisch, halb verächtlich<br />

und sagte: «Ein Hofnarr soll seinen Fürsten unterhalten<br />

und amüsieren. Da Gundling nur noch betrunken ist, muss ich ihn<br />

amüsieren; man könnte ihm einen Bären in sein Bett legen und die<br />

beiden für die Nacht in das Zimmer einschließen; die Vor<strong>der</strong>tatzen<br />

des Bären müssten natürlich verstümmelt sein, schließlich wollen<br />

wir unseren Narren am Leben erhalten.»<br />

Ein junger Offi zier sprang auf, schlug die Hacken zusammen,<br />

stand stramm und rief: «Euer Majestät, das ist eine wun<strong>der</strong>bare Idee.<br />

An einem <strong>der</strong> kommenden Abende werden wir dem Professor einen<br />

Bären in sein Bett legen. Auf das Wohl des Königs!»<br />

Er hob sein Glas und trank einen tiefen Schluck.<br />

«Auf das Wohl des Kaisers!», riefen die übrigen Offi ziere und<br />

leerten ihre Gläser.<br />

«Auf das Wohl des Kaisers!», rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «es lebe<br />

Germania teutscher Nation, ein Hundsfott, <strong>der</strong>‘s nicht von Herzen<br />

meint!»<br />

<strong>Friedrich</strong> berührte die Hand seines Vaters und sagte: «Papa …»<br />

In diesem Augenblick schrie Gundling: «Dieser Staat ist zum<br />

Kotzen, hier gedeihen we<strong>der</strong> Künste noch Wissenschaften, in diesem<br />

Staat gilt nur die Uniform, es ist zum Kotzen!»<br />

Er taumelte hinaus, ein junger Offi zier sprang auf und rief:<br />

«Majestät, das ist eine Beleidigung Eurer Majestät, und es ist eine<br />

Beleidigung meines Standes, ich bin stolz darauf, ein preußischer<br />

Offi zier sein zu dürfen!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lachte: «Beruhigen Sie sich, Gundling ist betrunken<br />

und weiß nicht, was er redet.»<br />

177


<strong>Friedrich</strong> berührte erneut die Hand des Vaters: «Papa, ich wünsche<br />

Ihnen eine gute Nacht, es ist schon spät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm strich dem Sohn über das Haar: «Du hast<br />

recht, du musst jetzt schlafen, gute Nacht, Fritz.»<br />

Er küsste ihn auf die Stirn, und <strong>Friedrich</strong> atmete erleichtert auf,<br />

als er, begleitet von Kalckstein, das Zimmer verließ.<br />

Vor <strong>der</strong> Tür sah <strong>Friedrich</strong>, dass Gundling neben einem beigen<br />

Brei auf dem Boden lag. Der Brei verströmte einen säuerlichen Geruch,<br />

und <strong>Friedrich</strong> verspürte bei dem Anblick einen Anfl ug von<br />

Übelkeit.<br />

«Ich glaube, ich muss mich übergeben», stammelte er und sah<br />

den Gouverneur hilfl os an.<br />

«Sehen Sie weg, Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Professor ist immer betrunken,<br />

folgen Sie mir.»<br />

Er nahm <strong>Friedrich</strong>s Hand, und während sie in den zweiten Stock<br />

gingen, sagte Kalckstein: «Königliche Hoheit, Sie haben noch genügend<br />

Zeit, um im Zeughaussaal mit den Soldaten zu spielen.»<br />

«Ich möchte jetzt nicht mit Soldaten spielen, ich will mich mit<br />

Wilhelmine unterhalten.»<br />

Kalckstein blieb stehen, betrachtete <strong>Friedrich</strong> und sagte: «Königliche<br />

Hoheit, Seine Majestät würde es begrüßen, wenn Sie jetzt mit<br />

den Soldaten spielten, Seine Majestät hat Ihnen die Soldaten zum<br />

Geburtstag geschenkt.»<br />

«Ich weiß, aber ich möchte mich jetzt lieber mit meiner Schwester<br />

unterhalten.»<br />

Kalckstein zögerte einen Augenblick, dann sagte er: «Wie Sie<br />

wünschen, Königliche Hoheit.»<br />

Er begleitete <strong>Friedrich</strong> zu Wilhelmines Appartement und ging<br />

dann nachdenklich zum Schlafzimmer seines Zöglings.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> das Schlafgemach seiner Schwester betrat, legte<br />

Wilhelmine ihr Buch zur Seite, lief dem Bru<strong>der</strong> entgegen, umarmte<br />

ihn und rief: «Ich freue mich, dass wir uns heute noch einmal<br />

sehen! Wie war es in <strong>der</strong> Tabagie?»<br />

Er ging zu <strong>der</strong> hölzernen Bank, setzte sich, holte tief Luft und<br />

antwortete: «Es war entsetzlich. Dieser Geruch von Tabak und Bier<br />

ist wi<strong>der</strong>lich, das Bier schmeckt bitter, aber am schlimmsten war<br />

<strong>der</strong> Professor Gundling, er hat sich erbrochen, und er fi ndet Pa-<br />

178


pas Staat zum Kotzen, aber das ist noch nicht alles: Ich habe den<br />

Eindruck, dass Papa und die Offi ziere sich über ihn lustig machen.<br />

Dieser Gundling ist wi<strong>der</strong>lich, aber ich empfand Mitleid, als ich ihn<br />

vor <strong>der</strong> Tabagie liegen sah. Wilhelmine, ich darf nicht daran denken,<br />

dass ich jetzt jeden Abend in die Tabagie muss, um Papa eine<br />

gute Nacht zu wünschen, und irgendwann muss ich den ganzen<br />

Abend in <strong>der</strong> Tabagie verbringen.»<br />

Wilhelmine nahm die Hände des Bru<strong>der</strong>s: «Denke nicht darüber<br />

nach, Fritzchen. Papa reist oft durch unseren Staat, es sind wahrscheinlich<br />

nur wenige Abende, die du in <strong>der</strong> Tabagie verbringen<br />

musst. Erzähle mir von den Gouverneuren, sind sie streng?»<br />

<strong>Friedrich</strong> erwi<strong>der</strong>te: «Das weiß ich noch nicht, bis jetzt waren sie<br />

freundlich, und den Grafen Finck empfi nde ich als einen gütigen<br />

Großvater, aber mein Tageslauf ist nach Minuten geregelt, es ist<br />

entsetzlich; aber ich werde mich daran gewöhnen, weil es ein Befehl<br />

von Papa ist.»<br />

Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinan<strong>der</strong>, dann sah <strong>Friedrich</strong><br />

zur Uhr und sprang auf: «Gute Nacht, Wilhelmine, ich muss<br />

jetzt gehen.»<br />

Als er sein Schlafzimmer betrat, sah er Kalckstein an <strong>der</strong> Schwelle<br />

des Raumes stehen, den Madame de Roucoulles bewohnt hatte. Er<br />

ging zu dem Erzieher, betrachtete das Zimmer, in dem nur noch ein<br />

Tisch und ein Stuhl standen, und unterdrückte die aufsteigenden<br />

Tränen.<br />

Kalckstein wandte sich um und sagte: «Königliche Hoheit, in<br />

dieser Woche werde ich bei Ihnen schlafen, in <strong>der</strong> kommenden<br />

Woche Graf Finck, wir werden uns wöchentlich abwechseln. Seine<br />

Majestät ist damit einverstanden, dass Sie das Zimmer Ihrer Gouvernante<br />

als Wohnraum benutzen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Erzieher erstaunt an, ging in das Zimmer und<br />

sah sich um.<br />

«Ist das wahr? Ich bekomme einen eigenen Wohnraum? Der<br />

Tisch und <strong>der</strong> Stuhl genügen mir, aber ich benötige ein Schreibpult<br />

und Regale an den Wänden für meine Bücher.»<br />

«Ich werde alles nach Ihren Wünschen arrangieren, Königliche<br />

Hoheit.»<br />

179


<strong>Friedrich</strong> ging in die Mitte des Zimmers, sah sich um, ging zum<br />

Kamin, sah, dass eine Öllampe darin stand, dann setzte er sich vor<br />

den Kamin und begann zu träumen: Er sah an den Wänden Regale,<br />

die bis zur Decke reichten, und auf den Regalen standen Bücher;<br />

er durchlebte die Stunden nach dem Unterricht, er ging in dieses<br />

Zimmer, wählte ein Buch und las bis zur Abendtafel, anschließend<br />

folgte die schreckliche Tabagie, dann kehrte er in sein Zimmer zurück<br />

und las erneut o<strong>der</strong> spielte Flöte, bis es Zeit war, sich zur Ruhe<br />

zu begeben …<br />

Er stand auf, ging zu Kalckstein und sagte: «Dieses Zimmer gehört<br />

mir, niemand darf es betreten, nur Wilhelmine und <strong>der</strong> Diener,<br />

<strong>der</strong> es reinigt.»<br />

Der Erzieher sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Wie Sie wünschen,<br />

Königliche Hoheit. Ich lasse Sie jetzt einen Augenblick allein, Ihr<br />

Kammerdiener wird Ihnen beim Entkleiden behilfl ich sein, dann<br />

sprechen wir gemeinsam das Nachtgebet.»<br />

Er begab sich zu Finck, sank seufzend auf einen Stuhl und sagte:<br />

«Ich fürchte, die Erziehung des Prinzen wird schwierig werden.»<br />

Der General sah den Oberst erstaunt an: «Ich verstehe Sie nicht,<br />

<strong>der</strong> Prinz ist ein nettes, höfl iches Kind, das ist mein Eindruck nach<br />

dem ersten Tag.»<br />

«Sie haben recht, aber …», er zögerte und fuhr fort: «Der Prinz<br />

weiß genau, was er will; in seiner Freizeit wird er sein eigenes Leben<br />

führen. Ein Beispiel: Nach <strong>der</strong> Tabagie ermunterte ich ihn,<br />

noch eine Weile mit den Zinnsoldaten zu spielen; er lehnte meinen<br />

Vorschlag ab, weil er noch bei seiner Schwester weilen wollte.»<br />

«Ich verstehe Sie nicht, am Hof ist es bekannt, dass die beiden<br />

ältesten Kin<strong>der</strong> des Königs sich gut verstehen, es ist völlig natürlich,<br />

dass <strong>der</strong> Prinz die letzten Stunden des Tages bei <strong>der</strong> Schwester<br />

verbringen will.»<br />

Kalckstein stand auf, ging hin und her und sagte nach einer Weile:<br />

«Sie wissen, dass wir den Prinzen zu einem guten Soldaten erziehen<br />

sollen, wir sollen ihm Liebe zum Soldatenstand einfl ößen.<br />

Wie soll dies gelingen, wenn <strong>der</strong> Prinz es ablehnt, mit den Soldaten<br />

zu spielen, die <strong>der</strong> König ihm zum Geburtstag schenkte? Ich wäre<br />

als Kind vor Freude in die Luft gesprungen, wenn mein Vater mir<br />

so viele Soldaten und Kanonen als Spielzeug geschenkt hätte.»<br />

180


«Wir sollten die Entwicklung des Prinzen in Ruhe beobachten<br />

und nur eingreifen, wenn es nötig ist. Denken Sie immer daran,<br />

dass wir den künftigen preußischen König erziehen, und <strong>der</strong> künftige<br />

König muss nicht mit Gewalt zu einem Ebenbild des Vaters<br />

erzogen werden, wenn er von Natur aus an<strong>der</strong>e Anlagen hat. Wir<br />

müssen natürlich die Instruktionen des Königs befolgen, aber wir<br />

dürfen die individuellen Eigenschaften des Prinzen nicht unterdrücken.<br />

Ich bin ein alter Mann und das Leben hat mich manches<br />

gelehrt.»<br />

Kalckstein betrachtete den General und erwi<strong>der</strong>te: «Vielleicht<br />

haben Sie recht, aber ich weiß schon jetzt, dass diese Erziehungsmethode<br />

zum Konfl ikt führen wird.»<br />

181


182<br />

2<br />

Ein Jahr später, am 25. Januar 1720, saß Sophie Dorothea in ihrem<br />

Salon im Berliner Schloss und legte Patiencen.<br />

Einige Hofdamen weilten bei ihr und unterhielten sich halblaut:<br />

«Gott sei Dank ist <strong>der</strong> Januar bald vorüber. Ich mag diesen Monat<br />

nicht, er ist so unendlich lang, man hat den Eindruck, als ob <strong>der</strong><br />

Winter nie enden würde.»<br />

«Ein sonniger, klarer Wintertag ist ebenso angenehm wie ein<br />

warmer Tag im Juli, aber die Sonne versteckt sich schon seit Tagen<br />

und es wird nicht richtig hell, es ist erst Nachmittag und wird<br />

schon wie<strong>der</strong> dämmerig.»<br />

Sophie Dorothea schob die Karten zur Seite und sagte missmutig:<br />

«Genug für heute, das war die zehnte Patience, die nicht<br />

aufgegangen ist. Ich glaube, dies ist ein schlechtes Omen. Ich bete<br />

jeden Abend zu Gott, dass mein zehntes Kind ein Sohn wird, die<br />

Hohenzollern benötigen dringend einen zweiten Sohn: Seit Wilhelms<br />

Tod im vergangenen August ruht die Erbfolge wie<strong>der</strong> nur<br />

auf zwei Augen. Warum gibt es keine Möglichkeit, das Geschlecht<br />

eines Kindes schon während <strong>der</strong> Schwangerschaft zu erkennen?»<br />

Eine Hofdame in mittleren Jahren beugte sich etwas vor und<br />

sagte: «Mit Verlaub, Majestät, die Hebammen behaupten, es gäbe<br />

Indizien, das Geschlecht eines Kindes schon während <strong>der</strong> Schwangerschaft<br />

zu erkennen: Wenn eine Frau sich wohl fühlt und keine<br />

Beschwerden hat, so erwartet sie eine Tochter, im an<strong>der</strong>en Fall<br />

kann sie mit einem Sohn rechnen.»<br />

Sophie Dorothea musterte die große, schlanke Gestalt, das<br />

schmale, fein geschnittene Gesicht, die weißgepu<strong>der</strong>ten Haare, die<br />

zu einer schlichten Frisur aufgesteckt waren, und antwortete ungeduldig:<br />

«Was Schwangerschaften betrifft, so sollten Sie schweigen,<br />

Fräulein von Sonsfeld, Sie sind we<strong>der</strong> Gattin noch Mutter;<br />

und was die Hebammen betrifft, so reden die dummes Zeug.<br />

Während meiner letzten Schwangerschaft fühlte ich mich neun<br />

Monate lang elend, und dann habe ich doch eine Tochter zur Welt<br />

gebracht.»


In diesem Augenblick betrat ein Diener das Zimmer und rief:<br />

«Ihre Königliche Hoheit, Prinzessin Sophie Dorothea.»<br />

Die Amme stellte das Kind vorsichtig auf den Teppich, nahm das<br />

Gängelband und führte das kleine Mädchen langsam zur Königin.<br />

«Sie kann laufen!», rief Sophie Dorothea überrascht. «Mon Dieu,<br />

meine Damen, sehen Sie, das Kind läuft!»<br />

Die Amme knickste: «Majestät, Ihre Königliche Hoheit kann seit<br />

gestern laufen.»<br />

Sophie Dorothea umarmte die Tochter und sagte: «Welche Überraschung,<br />

du läufst, heute wirst du ein Jahr alt.»<br />

Sie hob das runde Kin<strong>der</strong>gesicht zu sich empor und betrachtete es<br />

eine Weile nachdenklich: «Du trägst meinen Namen, und ich hoffe,<br />

dass du so wirst wie ich. Du bist immer so still, deine Schwestern<br />

sind lebhafter.»<br />

«Majestät», sagte Frau von Kamecke, «erfüllt es Sie nicht täglich<br />

von neuem mit Stolz und Freude, dass Seine Majestät darauf bestand,<br />

dass diese Prinzessin Ihren Namen tragen soll?»<br />

«Gewiss, aber Sie vergessen, dass Seine Majestät es abgelehnt<br />

hat, dass die neue Kirche in Spandau Sophie-Dorotheen-Kirche genannt<br />

wird. Der König sagte, diese Ehre komme keinem Menschen<br />

fürstlichen Geblütes zu, vor Gott seien auch Fürsten nur sündige<br />

Menschen»; und zu <strong>der</strong> Amme: «Sie können jetzt gehen.»<br />

Während <strong>der</strong> folgenden Minuten war <strong>der</strong> Salon von einer gespannten<br />

Stille erfüllt.<br />

Schließlich brach Frau von Kamecke das Schweigen und fragte:<br />

«Wissen Sie schon, Majestät, welchen Namen Ihr zehntes Kind tragen<br />

wird?»<br />

«Ja. Im Juli wird <strong>der</strong> Friedensvertrag mit Schweden unterzeichnet,<br />

<strong>der</strong> uns die O<strong>der</strong>mündung sichert, und da mein Kind im gleichen<br />

Monat zur Welt kommt, so haben Seine Majestät und ich<br />

beschlossen, ihm einen schwedischen Namen zu geben, entwe<strong>der</strong><br />

Gustav Adolf o<strong>der</strong> Ulrike, nach <strong>der</strong> jetzigen schwedischen Königin.»<br />

In diesem Augenblick rief <strong>der</strong> Diener: «Seine Königliche Hoheit<br />

<strong>der</strong> Kronprinz, Kapitän <strong>Friedrich</strong> von Hohenzollern.»<br />

«Kapitän?!», riefen die Damen. «Mon Dieu, Seine Königliche<br />

Hoheit ist beför<strong>der</strong>t worden!»<br />

183


<strong>Friedrich</strong> ging zu seiner Mutter, beugte sich über ihre Hand, und<br />

Sophie Dorothea zog ihn an sich und küsste ihn auf die Stirn und<br />

den Mund.<br />

«Mon bijou, ich bin stolz über Ihre Beför<strong>der</strong>ung.»<br />

Dann musterte sie die gepu<strong>der</strong>te Zopffrisur, seufzte und sagte:<br />

«Ich verstehe nicht, warum <strong>der</strong> König Ihnen nicht erlaubt, die<br />

Haare offen zu tragen. Sie haben so schöne Locken.»<br />

«Beim Exerzieren ist es praktischer, wenn die Haare zu einem<br />

Zopf gebunden sind, aber Sie haben recht, Mama, während des Unterrichtes<br />

und an <strong>der</strong> Tafel würde ich sie auch lieber offen tragen;<br />

aber Papa erlaubt es nun einmal nicht.»<br />

«Nun, er ist oft nicht am Hof, dann könnten Sie in meinen Gemächern<br />

die Haare offen tragen, er würde es bestimmt nicht erfahren,<br />

weil meine Damen verschwiegen sind.»<br />

«Ich werde darüber nachdenken, Mama.»<br />

«Wann wurden Sie zum Kapitän beför<strong>der</strong>t, Königliche Hoheit?»<br />

«Gestern überreichte Papa mir die Urkunde, es war sein Geburtstagsgeschenk,<br />

na ja, und dann schenkte er mir wie<strong>der</strong> Zinnsoldaten<br />

und Kanonen für den Zeughaussaal.»<br />

«Jetzt im Winter spielen Sie dort oft während Ihrer Mußestunden,<br />

nicht wahr?»<br />

«Nein, ich exerziere zwar gern, aber mit Kanonen und Zinnsoldaten<br />

zu spielen ist langweilig.»<br />

«Wie meinen Sie das, Königliche Hoheit?»<br />

<strong>Friedrich</strong> antwortete: «Wenn ich meine Kompanie exerziere,<br />

dann beobachte ich, dass sie von Woche zu Woche Fortschritte<br />

macht, die Handgriffe beim Laden des Gewehrs, beim Anlegen<br />

und Feuern werden immer rascher und exakter; beim Exerzieren<br />

kann ich eine Entwicklung beobachten, außerdem gehorchen alle<br />

meinem Kommando, und ich kommandiere gern. Die Zinnsoldaten<br />

hingegen sind leblos, dort kann man nichts bewegen, sie entwickeln<br />

sich nicht, deswegen ist das Spiel mit ihnen langweilig. Verstehen<br />

Sie, was ich meine?»<br />

Frau von Kamecke schwieg erstaunt, betrachtete <strong>Friedrich</strong> nachdenklich<br />

und erwi<strong>der</strong>te: «Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen,<br />

Königliche Hoheit.»<br />

Sophie Dorothea streichelte <strong>Friedrich</strong>s Wangen und sagte lä-<br />

184


chelnd: «Ich habe noch eine Überraschung für Sie, mon bijou: Wilhelmine<br />

wird heute wie<strong>der</strong> unter uns weilen, sie ist inzwischen<br />

völlig gesund.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte seine Mutter an und stammelte nach einigen<br />

Sekunden: «Wilhelmine … sie ist wie<strong>der</strong> gesund …»<br />

Fräulein von Sonsfeld rief: «Majestät, ich vermag es nicht zu glauben!<br />

Die Prinzessin ist wie<strong>der</strong> völlig gesund? Mon Dieu, wie viele<br />

Krankheiten hat das arme Kind seit dem vergangenen August durchlitten,<br />

erst die Ruhr, die in Berlin wie die Pest wütete und auch den<br />

Prinzen Wilhelm tötete – sogar Seine Majestät wäre beinahe dieser<br />

Krankheit erlegen. Dann bekam die Prinzessin die Gelbsucht und<br />

zuletzt Scharlach, es ist wirklich ein Wun<strong>der</strong>, dass sie diese Krankheiten<br />

überlebt hat, man muss Gott jeden Tag dafür danken.»<br />

Sophie Dorothea fächelte sich gereizt Luft zu und erwi<strong>der</strong>te<br />

scharf: «Ich fi nde es nicht sehr taktvoll, dass Sie mich an den Tod<br />

des Prinzen erinnern.»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät, ich wollte Sie nicht kränken.»<br />

In diesem Augenblick rief <strong>der</strong> Diener: «Ihre Königliche Hoheit,<br />

Prinzessin Wilhelmine.»<br />

Die Hofdamen und <strong>Friedrich</strong> sahen neugierig zur Tür, und als<br />

Wilhelmine lächelnd und erhobenen Hauptes den Salon betrat, lief<br />

<strong>Friedrich</strong> auf die Schwester zu und umarmte sie stürmisch.<br />

«Wilhelmine, wie lange habe ich dich nicht gesehen, ich bin so<br />

glücklich, dass du wie<strong>der</strong> gesund bist.»<br />

Er trat einen Schritt zurück, betrachtete die Schwester und rief<br />

erstaunt: «Mon Dieu, du bist gekleidet wie eine erwachsene Dame,<br />

du trägst die Courschleppe!»<br />

Er betrachtete das weinrote Samtkleid und den am Boden nachschleppenden<br />

Saum und sagte: «Du siehst so elegant aus.»<br />

Frau von Kamecke neigte sich zur Königin: «Majestät, Ihre Tochter<br />

sieht bezaubernd aus, und dies ist nur die zeremonielle Hofkleidung<br />

– wenn sie irgendwann die Grande Parure trägt, werden alle<br />

jungen Kavaliere nur Augen für Ihre Königliche Hoheit haben.»<br />

Sophie Dorothea musterte die Tochter und rief: «Mon Dieu, wie<br />

sehen Sie aus! Das ist meiner Treu eine stattliche Figur! Sie sehen<br />

auf ein Haar einer Zwergin gleich.»<br />

185


Wilhelmine starrte die Königin an und bekämpfte die aufsteigenden<br />

Tränen.<br />

Sophie Dorothea fächelte sich gereizt Luft zu und fragte in<br />

scharfem Ton: «Wer hat Ihnen erlaubt, bereits jetzt die Courschleppe<br />

anzulegen?»<br />

Wilhelmine holte tief Luft und antwortete leise: «Papa hat es<br />

mir erlaubt. Als er erfuhr, dass ich wie<strong>der</strong> gesunden würde, kam<br />

er zu mir und sagte: ‹Ich will Ihnen eine Freude machen, was immer<br />

Sie verlangen, sollen Sie haben.› Ich bat ihn um die Erlaubnis,<br />

die Kin<strong>der</strong>klei<strong>der</strong> ablegen zu dürfen. Er lachte und erwi<strong>der</strong>te:<br />

‹Nun denn, es sei Ihnen gewährt, und ich verspreche Ihnen, dass<br />

Sie nicht mehr im kurzen Kleide erscheinen sollen.›»<br />

Sophie Dorothea richtete sich etwas auf und rief: «Ich höre wohl<br />

nicht recht! Sie erbitten von Ihrem Vater eine Gunst? Es ist unglaublich,<br />

das werde ich nicht dulden! Sie werden ab sofort nur mir<br />

gehorchen! Wenn Sie sich künftig an den König wenden, um etwas<br />

zu erbitten, so können Sie meines Zornes gewiss sein! Sie sollen<br />

mich lieben, nicht den König!»<br />

Wilhelmine sah ihre Mutter ängstlich an und stammelte: «Ich<br />

werde Ihnen stets gehorchen, Mama.»<br />

«Ich hoffe, dass Sie Ihr Wort halten. Setzen Sie sich.»<br />

Während Wilhelmine sich auf den Schemel neben <strong>Friedrich</strong><br />

setzte, sah sie, dass Fräulein von Sonsfeld ihr zulächelte; sie spürte,<br />

dass diese Hofdame ihre Situation verstand. Sie lächelte zurück<br />

und versuchte, die mütterliche Kritik zu vergessen. Einige Minuten<br />

lang sprach niemand ein Wort, schließlich unterbrach Frau<br />

von Kamecke das ungemütliche Schweigen: «Majestät, ich vermag<br />

es immer noch nicht zu glauben, dass wir durch den Vertrag mit<br />

Schweden Stettin und Vorpommern zwischen O<strong>der</strong> und Peene und<br />

die Inseln Usedom und Wollin erhalten.»<br />

«Der König hat zwei Millionen Taler dafür bezahlt.»<br />

«Zwei Millionen Taler! Können wir uns das leisten?»<br />

Sophie Dorothea richtete sich etwas auf: «In Preußen wird seit<br />

sieben Jahren eisern gespart, folglich können wir zwei Millionen<br />

Taler für den Erwerb von zusätzlichen Territorien ausgeben;<br />

wahrscheinlich könnten wir noch mehr ausgeben, für die Hofhaltung<br />

zum Beispiel, bisher habe ich allerdings noch nichts davon<br />

186


emerkt. An <strong>der</strong> Tafel werden nach wie vor Erbsen mit Speck serviert,<br />

und es fi nden we<strong>der</strong> Bälle noch Konzerte statt. Ich habe den<br />

Eindruck, dass es mit Preußen wirtschaftlich aufwärtsgeht, nur am<br />

Hof merkt man nichts davon.»<br />

Fräulein von Sonsfeld betrachtete die Königin und sagte nach einer<br />

Weile: «Mit Verlaub, Majestät, <strong>der</strong> König versucht, das gesellschaftliche<br />

Leben in Berlin zu erneuern, denken Sie an den starken<br />

Mann Eggenberg und an die Assembleen während <strong>der</strong> Wintermonate.»<br />

Sophie Dorothea musterte die Hofdame von oben bis unten und<br />

erwi<strong>der</strong>te kühl: «Ich staune über Ihren … nun, über Ihren einfachen<br />

Geschmack.<br />

Wer ist dieser Eggenberg? Ein Seiltänzer, Zauberkünstler, Schauspieler<br />

und Jongleur. Seine körperlichen Kräfte sind zwar erstaunlich,<br />

angeblich kann er mit einer Hand eine Kanone hochstemmen,<br />

auf <strong>der</strong> ein Tambour mit seiner Trommel sitzt, und er kann die Kanone<br />

so lange halten, bis <strong>der</strong> Trommler einen Krug Bier getrunken<br />

hat, aber das sind doch nur Vergnügungen für das einfache Volk.<br />

Die Assembleen sollen die höfi schen Feste meines Schwiegervaters<br />

ersetzen, das ist einfach lächerlich. Der König hat diese Assembleen<br />

verordnet, weil er kein Geld ausgeben möchte. Der Adel und<br />

die wohlhabenden Bürger veranstalten <strong>der</strong> Reihe nach an den Winterabenden<br />

Gesellschaften und laden Seine Majestät und mich stets<br />

dazu ein. Ich empfi nde es als Zumutung, meine Abende bei einem<br />

Junker o<strong>der</strong> einem schlichten Bürger zu verbringen. Der Adel begibt<br />

sich zum Fürsten, nicht umgekehrt, und <strong>der</strong> gesellschaftliche<br />

Verkehr mit den Bürgern ist einfach dégoûtant. Gott sei Dank blieben<br />

mir diese Assembleen bisher erspart. Im vergangenen Winter<br />

habe ich meine Abwesenheit von diesen Abendgesellschaften mit<br />

Schwangerschaft und Wochenbett begründet, in diesem Winter<br />

bleibe ich ebenfalls wegen meiner Schwangerschaft fern, im kommenden<br />

Winter, nun, auch da wird es einen Grund für meine Abwesenheit<br />

geben.»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät, aber <strong>der</strong> König ist zu je<strong>der</strong><br />

Abendgesellschaft gegangen, hin und wie<strong>der</strong> war ich auch anwesend,<br />

<strong>der</strong> König hat diese Gesellschaften genossen: er plau<strong>der</strong>te mit<br />

den Gästen, rauchte seine Pfeife, beobachtete die tanzenden jungen<br />

187


Leute und achtete darauf, dass die jungen Herren sich den jungen<br />

Damen nicht unschicklich näherten.»<br />

Sophie Dorothea begann zu lachen und rief: «Mon Dieu, diese<br />

Soireen sind wahrhaftig langweilig! Eine Abendgesellschaft ist<br />

doch nur interessant, wenn man beobachten kann, wie die jungen<br />

Leute versuchen, zarte Bande zu knüpfen, aber, nun ja, <strong>der</strong> Geschmack<br />

des Königs ist einfach und unkultiviert, ich habe mich<br />

inzwischen damit abgefunden.»<br />

Die Hofdamen sahen einan<strong>der</strong> verlegen an und schwiegen.<br />

Sophie Dorothea zog <strong>Friedrich</strong> an sich: «Mon bijou, eines Tages<br />

werden Sie König sein, und ich hoffe, dass unter Ihrer Regierung<br />

<strong>der</strong> preußische Hof wie<strong>der</strong> zu einem Hof wird wie zu den Lebzeiten<br />

Ihres Großvaters: Damals gab es Bälle, Bankette, Konzerte, es war<br />

eine Lust, am Berliner Hof zu leben. Nach meiner Hochzeit am<br />

14. November 1706 ordnete Ihr Großvater an, dass die Feste bis<br />

Weihnachen dauern sollten. Die Provinzen mussten für den Bedarf<br />

<strong>der</strong> königlichen Tafel sorgen: Ostpreußen lieferte 150 Mastochsen,<br />

die übrigen Provinzen Kälber, Hühner, Puten, Gänse, Enten und<br />

Tauben. Für Ihren Vater war seine eigene Hochzeit zu verschwen<strong>der</strong>isch,<br />

manchmal denke ich, er ist nicht nur sparsam, son<strong>der</strong>n<br />

geizig.»<br />

Sie schwieg eine Weile, dann sah sie die Damen an und sagte:<br />

«Das Leben des Königs hing letzten Sommer an einem seidenen<br />

Faden; angenommen, <strong>der</strong> Kronprinz wäre jetzt König, dann wäre<br />

<strong>der</strong> Hof bestimmt kultivierter, es gäbe Bankette, Bälle, Konzerte»,<br />

und zu <strong>Friedrich</strong>: «Sie würden bestimmt eine Hofhaltung haben<br />

wollen wie Ihr Großvater?»<br />

«Ja, Mama, an <strong>der</strong> Tafel würde für jeden Silbergeschirr gedeckt<br />

sein, alle Räume im Schloss würden mit Teppichen und Vorhängen<br />

an den Fenstern ausgestattet sein, es gäbe Bälle, Bankette und<br />

Konzerte.»<br />

Sophie Dorothea sah sich triumphierend in <strong>der</strong> Runde um: «Sie<br />

haben es gehört, meine Damen, unter dem künftigen preußischen<br />

König wird <strong>der</strong> Berliner Hof wie<strong>der</strong> zu einem kultivierten Hof<br />

werden, dann wird nicht mehr geknausert und gespart wie heute.<br />

Meine Damen, es lebe <strong>der</strong> künftige preußische König!»<br />

«Es lebe <strong>der</strong> künftige preußische König!»<br />

188


Dann sahen die Damen einan<strong>der</strong> verlegen an, und Fräulein von<br />

Sonsfeld fragte Frau von Kamecke leise: «Hat Ihre Majestät keine<br />

Angst, dass <strong>der</strong> König erfährt, was hier geredet wird?»<br />

«Wir sind doch alle verschwiegen, und selbst wenn <strong>der</strong> König etwas<br />

erfährt, so gelingt es Ihrer Majestät bestimmt, sich irgendwie<br />

zu verteidigen. Abgesehen davon weiß <strong>der</strong> König, dass er nicht beliebt<br />

ist, we<strong>der</strong> beim Adel noch bei den Bürgern; vielleicht mögen<br />

Handwerker und Bauern ihn. Sogar in seiner Armee ist er nicht<br />

überall beliebt, <strong>der</strong> beste Beweis sind die täglichen Versuche zu desertieren.»<br />

«Nun, ich kann verstehen, dass ein Fürst bei den Untertanen<br />

nicht beliebt ist, aber unser König wird von <strong>der</strong> eigenen Familie abgelehnt,<br />

das fi nde ich entsetzlich und traurig, weil <strong>der</strong> König seine<br />

Familie liebt.»<br />

«Wen meinen Sie mit ‹Familie›? Die Kin<strong>der</strong> sind noch zu klein,<br />

um zu verstehen, was die Königin meint.»<br />

Fräulein von Sonsfeld betrachtete verstohlen Wilhelmine und<br />

<strong>Friedrich</strong> und fl üsterte: «Der Kronprinz und Prinzessin Wilhelmine<br />

sind alt genug, um die Kritik <strong>der</strong> Königin am König zu verstehen.»<br />

Sophie Dorothea musterte Wilhelmines Kleid und rief nach einer<br />

Weile: «Verlassen Sie den Raum, legen Sie dieses entsetzliche<br />

Kleid ab, ich erwarte, dass Sie an <strong>der</strong> Abendtafel gekleidet sind, wie<br />

es sich für ein zehnjähriges Mädchen schickt.»<br />

Wilhelmine errötete, sprang auf, knickste, raffte die Schleppe<br />

und eilte hinaus.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah <strong>der</strong> Schwester nach, dann lächelte er die Königin<br />

an: «Mama, erlauben Sie, dass ich mich zurückziehe? Ich muss für<br />

morgen noch französische Verse auswendig lernen.»<br />

«Selbstverständlich, mon bijou, französische Verse sind immer<br />

wichtig.»<br />

<strong>Friedrich</strong> eilte zum Appartement <strong>der</strong> Schwester, und als er ihr<br />

Schlafzimmer betrat, sah er sie weinend auf dem Bett liegen. Er<br />

ging langsam zu ihr und berührte sie vorsichtig an <strong>der</strong> Schulter:<br />

«Wilhelmine, bitte, weine nicht, Mama hat es nicht so gemeint.»<br />

Sie setzte sich auf, trocknete die Tränen und sah den Bru<strong>der</strong> einen<br />

Augenblick nachdenklich an, dann umarmte sie ihn und sagte<br />

189


leise: «Fritzchen, Mama ist nicht über das Kleid ärgerlich, sie ist<br />

wütend, weil Papa mir einen Wunsch erfüllt hat.»<br />

Sie stand auf, strich das Kleid glatt, ging im Zimmer auf und ab,<br />

dann setzte sie sich auf das Bett, zog den Bru<strong>der</strong> neben sich und<br />

sagte zögernd: «Vorhin spürte ich zum ersten Mal, dass Mama unseren<br />

Papa nicht mag. Ich bin inzwischen daran gewöhnt, dass sie<br />

sich vor ihren Damen über ihn beklagt, sie fi ndet ihn unkultiviert,<br />

sie hasst seine Sparsamkeit und so weiter.»<br />

Sie schwieg und fl üsterte nach einer Weile: «Fritzchen, vorhin<br />

hatte ich den Eindruck, dass sie auf seinen Tod wartet, vielleicht<br />

hoffte sie im vergangenen Sommer, dass er stirbt und du König<br />

wirst; unsere Eltern verstehen sich nicht, das ist schlimm. Papa war<br />

im vergangenen Sommer so gut zu mir: An meinem Geburtstag<br />

hat er ein kleines Fest arrangiert mit einem Ball am Abend, und<br />

während seiner Krankheit wollte er mich den ganzen Tag bei sich<br />

haben. Ich durfte neben seinem Bett sitzen, was nicht beson<strong>der</strong>s<br />

angenehm war, die Fenster blieben geschlossen, und im Kamin<br />

brannte ein Feuer, mitten im Sommer. Papa ist gut zu seinen Kin<strong>der</strong>n<br />

– ich verstehe Mama und verstehe sie auch wie<strong>der</strong> nicht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> erwi<strong>der</strong>te: «Auch ich habe den Eindruck, dass unsere<br />

Eltern sich nicht verstehen, aber ich kann Mamas Gefühle nachempfi<br />

nden; ich erlebe Papa an<strong>der</strong>s als du. Ich verbringe täglich einige<br />

Stunden in seinem Arbeitszimmer, mon Dieu, da erlebt man<br />

allerhand. Wenn er mit einem Minister unzufrieden ist, brüllt er<br />

ihn an, manchmal verprügelt er ihn sogar, stelle dir vor, er prügelt<br />

einen Minister! Bisher hat er mich nicht gescholten o<strong>der</strong> geprügelt,<br />

aber ich glaube, er mag es nicht, wenn ich lese o<strong>der</strong> musiziere. Was<br />

mich betrifft, so betrete ich sein Arbeitszimmer seit einigen Wochen<br />

mit einer unbestimmten Angst, die ich nicht verstehe.»<br />

190


3<br />

Schwarze Regenwolken hingen seit dem frühen Morgen drohend<br />

über <strong>der</strong> kleinen Stadt Küstrin an <strong>der</strong> O<strong>der</strong>. Die Einwohner<br />

sahen hin und wie<strong>der</strong> prüfend zum Himmel, aber <strong>der</strong> erwartete<br />

Regen blieb aus.<br />

Am späten Nachmittag liefen einige halbwüchsige Jungen durch<br />

die Straßen und riefen: «Soeben ist <strong>der</strong> König angekommen, er inspiziert<br />

jetzt die Festung!»<br />

«Der König? Man erzählt, er prügelt jeden Untertanen, den er<br />

sieht.»<br />

Die Küstriner sahen einan<strong>der</strong> erschrocken und unsicher an, eilten<br />

in ihre Häuser und verriegelten die Eingangstüren.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging an den Festungsmauern entlang und betrachtete<br />

sie prüfend. Grumbkow und General von Lepel, <strong>der</strong> Kommandant<br />

<strong>der</strong> Festung, folgten in einiger Entfernung.<br />

Plötzlich blieb Grumbkow stehen, sah zum wolkenverhangenen<br />

Himmel auf und sagte: «Es ist erst Anfang Oktober, dieser Monat<br />

ist <strong>der</strong> angenehmste Herbstmonat, weil die Sonne die Landschaft<br />

noch einmal erwärmt, aber bis jetzt merkt man nichts von einem<br />

goldenen Oktober; ich fühle mich wie im November, in diesem<br />

Monat lastet ein trüber und grauer Nebel über dem Leben.»<br />

«Ich empfi nde ebenso, <strong>der</strong> November stimmt mich immer melancholisch,<br />

weil in diesem Monat die Natur langsam stirbt. Die<br />

Bäume verlieren ihre letzten Blätter und dann gefriert die Erde. Im<br />

Dezember beginnt <strong>der</strong> Winter, dann vereisen die Straßen; Flüsse<br />

und Seen frieren zu, und <strong>der</strong> Schnee bedeckt die Landschaft wie<br />

ein Leichentuch. In Berlin mag <strong>der</strong> Winter erträglich sein, dort<br />

kann man zu Bällen und Soireen gehen.»<br />

«Sie täuschen sich, das gesellschaftliche Leben in Berlin ist während<br />

des Winters nicht beson<strong>der</strong>s aufregend. Beim Adel und den<br />

wohlhabenden bürgerlichen Familien fi nden zwar Soireen statt,<br />

aber es fehlt <strong>der</strong> französische Esprit; die Gespräche sind langweilig,<br />

<strong>der</strong> Adel interessiert sich nur für die militärischen Beför<strong>der</strong>ungen,<br />

191


und die wohlhabenden Bürger reden nur über die Möglichkeiten,<br />

ihr Vermögen zu vergrößern.»<br />

Der Kommandant lächelte: «Was meinen Sie, wie langweilig es<br />

im Winter in Küstrin ist: Wir können auf <strong>der</strong> O<strong>der</strong> Schlittschuh<br />

laufen o<strong>der</strong> mit dem Schlitten durch die verschneite Landschaft<br />

fahren, das sind unsere Vergnügungen, mehr nicht. Wenn es dunkel<br />

wird, zieht man sich in sein Haus zurück, und Soireen sind hier<br />

völlig unbekannt.»<br />

In diesem Moment trat <strong>der</strong> König vor den Kommandanten: «Ich<br />

bin sehr zufrieden mit dem Zustand <strong>der</strong> Festungsmauern, zeigen<br />

Sie mir jetzt die Räume, wo die Strafgefangenen untergebracht<br />

sind.»<br />

Während sie über den Hof gingen, sagte <strong>der</strong> Kommandant leise<br />

zu Grumbkow: «Ist es wahr, was man hört? Der Domänen-Kammerrat<br />

von Schlubhut wurde in Königsberg vor dem Schloss öffentlich<br />

gehenkt?»<br />

«Ja, diese Hinrichtung wird den König bei den Junkern noch unbeliebter<br />

machen, und die Berliner Salons haben Gesprächsstoff für<br />

den ganzen Winter. Schlubhut entstammt dem ältesten Adel und<br />

ist mit dem Grafen Truchsess von Waldburg verwandt. Ich begreife<br />

nicht, dass <strong>der</strong> König ihn hat hängen lassen. Seine Verbrechen waren<br />

Geldunterschlagungen und Brutalität gegenüber den Armen,<br />

das kommt täglich in allen Staaten <strong>der</strong> Welt vor. Nun, das Kriminalgericht<br />

in Berlin konnte ihm seine Vergehen beweisen und<br />

verurteilte ihn zu mehreren Jahren Festungshaft. Der König bestätigte<br />

das Urteil nicht – dies ist immer ein schlechtes Omen. Er<br />

beschloss, während seiner nächsten Reise nach Ostpreußen eine<br />

endgültige Entscheidung in Königsberg zu treffen. Schlubhut wird<br />

vorgeführt, und <strong>der</strong> König kündigt ihm an, er habe den Galgen<br />

verdient. Schlubhut erwi<strong>der</strong>t trotzig, es sei nicht Brauch, einen<br />

Junker aufhängen zu lassen, zumal er bereit sei, die veruntreuten<br />

Gel<strong>der</strong> zu ersetzen.<br />

‹Ich will Ihr schelmisches Geld nicht haben!›, schreit <strong>der</strong> König<br />

und befi ehlt, ihn abzuführen.<br />

In <strong>der</strong> Nacht lässt er vor <strong>der</strong> Domänenkammer einen Galgen errichten.<br />

Am nächsten Tag, einem Sonntag, ist ganz Königsberg in<br />

Aufruhr, man hört überall rufen: ‹Ein unerhörter Gewaltakt, eine<br />

192


Verurteilung ohne Urteil, eine Verurteilung trotz eines Urteils!›<br />

Die Familie bittet den König um Milde, sie wendet sich sogar an<br />

den Hofprediger, und dieser wählt für seine Predigt den Text: Übet<br />

Barmherzigkeit, damit ihr auch Barmherzigkeit fi ndet.»<br />

Grumbkow schwieg einen Moment nachdenklich und fuhr fort:<br />

«Der König weint während <strong>der</strong> Predigt. Am nächsten Tag beruft er<br />

die Domänenkammer in das Sitzungszimmer und lässt Schlubhut<br />

vor den Augen <strong>der</strong> Räte am Galgen aufknüpfen.»<br />

Der Kommandant blieb abrupt stehen und sah Grumbkow einige<br />

Sekunden verblüfft an, dann ging er weiter und sagte langsam:<br />

«Der König besitzt Mut, er hat seine Prinzipien und ist bereit,<br />

Konventionen zu ignorieren. Es imponiert mir, dass er, was<br />

Vergehen betrifft, keinen Unterschied zwischen einem Bürger und<br />

einem Junker macht, für ihn sind vor dem Gesetz alle Untertanen<br />

gleich. In <strong>der</strong> Armee befolgt er das gleiche Prinzip: Ein Offi zier<br />

wird genauso bestraft wie ein Rekrut, wenn er zum Beispiel einem<br />

Vorgesetzten den Gehorsam verweigert.»<br />

«In <strong>der</strong> Armee ist absoluter Gehorsam lebensnotwendig, ich bin<br />

selbst Soldat und habe die Schlacht bei Malplaquet und die Belagerung<br />

Stralsunds miterlebt, ein Sieg hängt auch vom Gehorsam <strong>der</strong><br />

Truppe ab; aber Schlubhut war ziviler Beamter, und ich fi nde, <strong>der</strong><br />

König hätte seine Standeszugehörigkeit berücksichtigen müssen.<br />

Wo kommen wir denn hin, wenn in Preußen die Junker für irgendwelche<br />

alltäglichen Vergehen, und etwas an<strong>der</strong>es ist eine Unterschlagung<br />

von Gel<strong>der</strong>n nicht, wenn sie dafür betraft werden! Und<br />

die brutale Behandlung <strong>der</strong> Armen, gütiger Himmel, das ist die<br />

gottgewollte Ordnung in einem Staat, es gibt eben nun mal Arme<br />

und Reiche, und es wird sie immer geben.»<br />

«Ich fi nde es bemerkenswert, dass <strong>der</strong> König bei <strong>der</strong> Rechtsprechung<br />

keinen Unterschied macht zwischen Adel, Bürgern, Handwerkern<br />

und Bauern.»<br />

Sie betraten den Trakt, wo Gefangene untergebracht wurden,<br />

und ein Soldat öffnete die Tür zur ersten Zelle.<br />

«Mit Verlaub, Majestät, im Augenblick sind keine Gefangenen<br />

in <strong>der</strong> Festung.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrat den kleinen Raum und sah sich um: Ein<br />

schmales Bett mit einer Strohsackmatratze stand an einer Wand,<br />

193


gegenüber erblickte er einen Tisch und einen Stuhl, daneben eine<br />

Truhe, er betrachtete das kleine Talglicht auf dem Tisch, die Blechschüssel<br />

und den irdenen Krug, dann ging er zum Fenster, überprüfte<br />

die Festigkeit <strong>der</strong> vier Eisenstäbe und sagte zu dem Kommandanten:<br />

«Ich bin zufrieden mit <strong>der</strong> Einrichtung; das Fenster ist<br />

so vergittert, dass ein Fluchtversuch unmöglich ist, das Mobiliar<br />

genügt, und ich freue mich, dass Sie billiges Fichtenholz verwendet<br />

haben.»<br />

Er ging einige Schritte durch den Raum, und als die Holzdielen<br />

leise knarrten, blieb er stehen und sagte: «Ein Fußboden aus Holz<br />

ist gefährlich: Die Gefangenen können Löcher bohren und so einen<br />

Kontakt zur Außenwelt herstellen. Ein Steinfußboden wäre besser,<br />

aber im Augenblick habe ich kein Geld, um in allen Festungen neue<br />

Fußböden legen zu lassen – das heißt, ich hätte das Geld, aber ich<br />

benötige es für wichtigere Dinge.»<br />

«Euer Majestät können unbesorgt sein, kein Gefangener hat je<br />

versucht, die Holzböden zu durchbohren.»<br />

Sie gingen weiter, <strong>Friedrich</strong> Wilhelm inspizierte jede Zelle, und<br />

plötzlich stand er vor einer Tür, die höher war als die übrigen.<br />

«Mit Verlaub, Majestät, dieses Zimmer ist stets abgeschlossen.»<br />

Der Kommandant öffnete den Raum, und als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

die Türschwelle überschritt, blieb er stehen und sah sich verblüfft<br />

um: Seine Augen wan<strong>der</strong>ten von dem Teppich zu den Vorhängen<br />

am Fenster, er ging zu dem breiten Himmelbett, betrachtete die<br />

roten Samtvorhänge, die weichen Kissen und die dicke Bettdecke,<br />

dann ging er weiter zu dem Tisch, auf dem ein zinnerner Kerzenleuchter<br />

stand, er betrachtete den Stuhl, den Schemel, die Truhe,<br />

den Schrank, die Bücherborde an den Wänden, dann ging er weiter<br />

zu einem kleinen Tisch, betrachtete die Waschschüssel und den<br />

Krug und fragte: «Was ist das für ein Zimmer? Die Möbel sind aus<br />

Eichenholz, das Waschgeschirr aus Zinn – wer wohnt hier? Ist das<br />

Zimmer für den König reserviert, falls er in <strong>der</strong> Festung übernachten<br />

will?»<br />

«Ja und nein, Majestät. Sie können selbstverständlich hier übernachten,<br />

aber es gibt in <strong>der</strong> Festung noch ein separates Appartement<br />

für Euer Majestät. Dieser Raum ist für hochrangige Gefangene<br />

reserviert, deswegen ist er besser ausgestattet als die Zellen.»<br />

194


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte den Kommandanten an, und dieser<br />

wich einen Schritt zurück, als er sah, dass sich auf <strong>der</strong> Stirn die<br />

Zornfalte bildete.<br />

«Sind Sie verrückt geworden?!», schrie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Ich<br />

höre wohl nicht recht – hochrangige Gefangene, was soll <strong>der</strong> Unsinn?<br />

In meinem Staat sind alle Gefangenen gleich, ich kenne keinen<br />

Unterschied zwischen Edelmann, Bürger o<strong>der</strong> Bauer. Wer ein<br />

Verbrechen begeht, ist ein Verbrecher! Sie schaffen diesen Plun<strong>der</strong><br />

sofort weg und möblieren dieses Zimmer wie die übrigen Zellen!»<br />

Der Kommandant schlug die Hacken zusammen, versuchte<br />

strammzustehen und antwortete mit zittern<strong>der</strong> Stimme: «Selbstverständlich,<br />

Majestät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah hinunter in den Hof und fragte: «Wie<br />

wird dieser Hof genutzt? Es ist anscheinend kein Wirtschaftshof.»<br />

«Majestät», antwortete <strong>der</strong> Kommandant zögernd, «dies ist ein<br />

Ort für Hinrichtungen.»<br />

«Das verstehe ich nicht, Hinrichtungen fi nden doch außerhalb<br />

<strong>der</strong> Festung statt.»<br />

«Gewiss, Majestät, aber es gibt Hinrichtungen, bei denen es besser<br />

ist, wenn das Volk nicht zusieht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Kommandanten erstaunt an: «Das<br />

verstehe ich nicht, jede Hinrichtung ist doch für das Volk ein Schauspiel;<br />

aber ich respektiere Ihre Entscheidung, wo Sie wen hinrichten<br />

lassen. Ich bin mit dem Zustand <strong>der</strong> Festung sehr zufrieden,<br />

und das luxuriöse Zimmer werden Sie in eine einfache Zelle verwandeln»,<br />

und zu Grumbkow: «Wir reisen sofort weiter, wir haben<br />

noch einige Inspektionen vor uns. Heute ist <strong>der</strong> 6. Oktober, und ich<br />

möchte übermorgen wie<strong>der</strong> in Berlin sein.»<br />

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und ein staubbedeckter<br />

Kurier stolperte ins Zimmer.<br />

«Majestät, ein Brief des Obersten von Kalckstein.»<br />

«Gütiger Himmel, ist <strong>der</strong> Kronprinz krank?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm öffnete hastig das Schreiben, überfl og den Inhalt<br />

und atmete erleichtert auf.<br />

«Gott sei Dank, mein Sohn ist gesund, er hat mir einen Brief<br />

geschrieben, hören Sie, meine Herren: ‹Mein lieber Papa,<br />

ich wünsche von Grund des Herzens, dass mein lieber Papa möge<br />

195


gesund und vergnügt auf <strong>der</strong> Reise gewesen sein, auch sich ferner<br />

allezeit wohl befi nden. Mein lieber Papa ist dabei so gnädig<br />

und behalte mich doch allezeit lieb, und gönne mir bald die große<br />

Freude, Ihn wie<strong>der</strong> hier zu sehen. Ich bin zu Köpenick gewesen;<br />

meine Kompanie hat nicht allein alle Handgriffe sehr gut gemacht,<br />

son<strong>der</strong>n auch so gut gefeuert, dass es unmöglich besser sein kann.<br />

Meinem lieben Papa übersende ich hierbei ganz untertänigst die<br />

Liste von meiner Kompanie. Ich wie<strong>der</strong>hole meinen herzlichen<br />

Wunsch, dass Gott meinen lieben Papa bald wie<strong>der</strong> gesund zu uns<br />

bringen möge, empfehle mich nochmalen zu seiner beständigen<br />

Gnade und Liebe und bin dafür lebenslang mit allem untertänigsten<br />

und kindlichen Respekt …›»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm legte das Schreiben auf den Tisch und sagte:<br />

«Meine Herren, dieser Brief erfreut den Vater, aber <strong>der</strong> Kronprinz<br />

hat noch mehr geschrieben, und darüber freue ich mich als König,<br />

hören Sie: ‹Lebensweise eines Prinzen von hoher Geburt, 4.10.1720.<br />

Er soll das Herz auf dem rechten Fleck haben, reformierte Religion,<br />

Gott fürchten, nicht wie die, die es ums Geld tun, nicht um<br />

<strong>der</strong> Welt willen. Er soll Vater und Mutter lieben und dankbar sein.<br />

Er soll Gott von ganzem Herzen lieben, denn wenn man ihn liebt,<br />

tut man alles, um ihm Freude zu machen. Er soll nicht lange Gebete<br />

machen, wie die Pharisäer – ein kleines. Er soll Jesus Christus<br />

dankbar sein für seine Güte, dass er sich für uns arme Sün<strong>der</strong><br />

hat kreuzigen lassen. Er soll dem reformierten Glauben nie untreu<br />

werden und in seinen Krankheiten denken, dass Gott sie uns geschickt<br />

hätte, um uns zu erinnern, dass wir Sün<strong>der</strong> sind. Er soll<br />

nicht denken, ich bin nicht krank, ich kann Gott wi<strong>der</strong>stehen, er<br />

soll immer denken: Ich bin ein Sün<strong>der</strong>.<br />

Er soll nichts zu sehr lieben, soll artig und höfl ich sein, mit allen<br />

Leuten reden, wenn man Gutes tun kann und tut‘s nicht, so ist‘s<br />

Sünde. Er soll die Zehn Gebote halten, nicht stehlen, sich nicht befl<br />

ecken und immer denken: Alles, was ich Gutes tue, kommt von<br />

Gott. Er soll an nichts Böses denken: Alles Böse, was uns einfällt,<br />

das kommt vom Teufel. Er soll an eine Bibelstelle denken, welche<br />

heißt: Seid nüchtern und wachet, denn euer Wi<strong>der</strong>sacher, <strong>der</strong> Teufel,<br />

geht umher wie ein brüllen<strong>der</strong> Löwe und suchet, welchen er<br />

verschlinge. Dem wi<strong>der</strong>stehet fest im Glauben, <strong>Friedrich</strong>.›»<br />

196


Der König strahlte und sagte: «Oberst von Kalckstein hat diesen<br />

Aufsatz kommentiert, hören Sie: ‹Zu bemerken ist, dass Seine<br />

Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz von Preußen, dies am 4. Oktober<br />

früh aus eigenem Antrieb geschrieben hat, ohne irgendwann<br />

seine Absicht mitzuteilen, im Alter von acht Jahren, acht Monaten<br />

und elf Tagen. Ich versichere, keinen Buchstaben hinzugefügt o<strong>der</strong><br />

fortgelassen zu haben.›»<br />

Grumbkow und <strong>der</strong> Kommandant sahen einan<strong>der</strong> erstaunt an,<br />

und Grumbkow rief: «Majestät, ich beglückwünsche Sie zu Ihrem<br />

Nachfolger!»<br />

Ich muss den Prinzen im Auge behalten, überlegte er, und mich<br />

ihm zur rechten Zeit nähern.<br />

«Majestät», rief <strong>der</strong> Kommandant, «dieser Aufsatz ist ungewöhnlich<br />

für ein achtjähriges Kind! Seine Königliche Hoheit denkt<br />

schon jetzt über seine künftigen Pfl ichten nach; was mich erstaunt,<br />

ist, dass <strong>der</strong> Erzieher Seine Königliche Hoheit Kronprinz von Preußen<br />

nennt statt Kronprinz in Preußen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte vergnügt: «Nun, dies ist ein Beweis,<br />

dass sich aus meinen Län<strong>der</strong>eien im Bewusstsein <strong>der</strong> Untertanen<br />

allmählich <strong>der</strong> Staat Preußen entwickelt. Meine Herren, ich habe<br />

einen würdigen Sohn und Nachfolger!»<br />

Er verließ das Zimmer, bestieg mit Grumbkow die Kutsche,<br />

und während sie durch die Stadt fuhren, betrachtete <strong>der</strong> Minister<br />

die menschenleeren Straßen und spürte, dass ein merkwürdiges<br />

Gefühl ihn ergriff; es war eine Mischung aus Unbehagen<br />

und Angst. Er streifte den König mit einem Seitenblick und sah,<br />

dass dieser den Aufsatz des Prinzen las, er blickte durch das Wagenfenster,<br />

beobachtete, dass von <strong>der</strong> O<strong>der</strong> Nebel aufstieg, <strong>der</strong><br />

sich langsam über die Landschaft breitete, und dann sank er zurück<br />

in die Polster <strong>der</strong> Kutsche, die in den dunklen Herbstabend<br />

fuhr.<br />

Am Vormittag des 8. Oktober hielt die Kutsche des Königs vor<br />

dem Berliner Schloss. <strong>Friedrich</strong> Wilhelm kletterte eilig hinaus und<br />

sagte zu Grumbkow: «Ich muss sofort den Kronprinzen sehen und<br />

ihn umarmen.»<br />

Er eilte hinauf zu den Gemächern seiner Kin<strong>der</strong>, und als er die<br />

197


Stimmen von kleinen Mädchen hörte, blieb er kurz stehen, dann<br />

betrat er das Appartement seiner Töchter.<br />

Mademoiselle de Montbail saß im Erker, beugte sich über ihren<br />

Stickrahmen und sah hin und wie<strong>der</strong> zu den zwei kleinen Mädchen,<br />

die mit Puppen spielten.<br />

Die Jahre vergehen, dachte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, Charlotte wird<br />

im nächsten Frühjahr fünf und Sophie vollendet im Januar ihr<br />

zweites Jahr.<br />

«Guten Tag, Kin<strong>der</strong>!», rief er.<br />

Charlotte sprang auf, lief zu dem Vater und strahlte ihn an.<br />

«Guten Tag, Papa, ich freue mich, dass Sie wie<strong>der</strong> bei uns sind.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm hob die Kleine hoch und küsste sie auf den<br />

Mund.<br />

«Meine dulle Lotte, ich bin auch froh, wie<strong>der</strong> bei meiner Familie<br />

zu sein.»<br />

«Ich habe einen neuen Namen, Papa, man ruft mich jetzt ‹Sanssouci›.»<br />

«Sanssouci? Das bedeutet ‹Sorgenfrei›!»<br />

In diesem Augenblick trat die Erzieherin zu Vater und Tochter:<br />

«Mit Verlaub, Majestät, es war meine Idee. Ihre Königliche Hoheit<br />

ist immer lustig und gutgelaunt, da habe ich mir erlaubt, sie ‹Sanssouci›<br />

zu rufen. Ihre Majestät ist damit einverstanden.»<br />

«Sanssouci, ein hübscher Name, aber für mich bleibst du meine<br />

dulle Lotte.»<br />

Er wandte sich zu Sophie, <strong>der</strong>en Augen ihn anschauten: «Na,<br />

meine Kleine, willst du mich nicht begrüßen?»<br />

Das Kind trippelte zu ihm, sah ihn ernst an und sagte leise: «Guten<br />

Tag, Papa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm setzte Charlotte auf den Boden, hob die jüngere<br />

Schwester hoch und küsste sie.<br />

«Sophie hat auch einen neuen Namen, Papa, wir rufen sie ‹Tobise›.»<br />

«Tobise? Wer hat denn diesen Namen erfunden?»<br />

«Mit Verlaub, Majestät, das weiß ich nicht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Nun, während meiner Abwesenheit<br />

hat sich in meiner Familie allerhand ereignet.»<br />

Er ließ Sophie zu Boden gleiten, ging zu <strong>der</strong> Wiege, die neben<br />

198


dem Erker stand, betrachtete eine Weile das schlafende Kind, dann<br />

kniff er den Säugling in die Wangen. Das Kind erwachte und lächelte<br />

ihn an. <strong>Friedrich</strong> Wilhelm hob das Kind aus <strong>der</strong> Wiege und<br />

ging im Zimmer auf und ab.<br />

«Meine kleine Ulrike, du wirst mit jedem Tag hübscher. Weißt<br />

du, was ich am 25. Juli, es war <strong>der</strong> Tag nach deiner Geburt, meinem<br />

Freund Leopold geschrieben habe?<br />

‹Gestern ist wie<strong>der</strong> eine auf die Welt gekommen. Ich werde ein<br />

Kloster anlegen; da können Euer Liebden auch Nonnichen furnieren.<br />

O<strong>der</strong> man muss sie versaufen o<strong>der</strong> Nonnen daraus machen;<br />

Männer kriegen sie nicht alle.›<br />

Heute verstehe ich nicht mehr, wie ich so etwas schreiben konnte.<br />

Du wirst bestimmt heiraten, und ich werde deinen Gatten mit<br />

beson<strong>der</strong>er Sorgfalt auswählen, er muss unbedingt deiner würdig<br />

sein. So, und jetzt gehe ich zu deinem Bru<strong>der</strong>, dem künftigen König,<br />

um ihn zu umarmen.»<br />

Er legte das Kind in die Wiege und eilte aus dem Zimmer.<br />

Als er den Vorraum von <strong>Friedrich</strong>s Appartement betrat, hörte er<br />

die helle Kin<strong>der</strong>stimme des Sohnes: «Mensa, mensae.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stutzte, blieb einen Augenblick stehen, dann<br />

hörte er erneut die Stimme des Sohnes: «Dominus, domini.»<br />

«Mensa, dominus», murmelte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «lateinische<br />

Worte, lernt er etwa Latein?»<br />

Er spürte, wie Wut in ihm hochkochte, rannte zur Tür, riss sie<br />

auf, stürmte in das Zimmer und schrie: «Aufhören, sofort aufhören!»<br />

<strong>Friedrich</strong> und Duhan sprangen erschrocken auf, als sie den König<br />

sahen, Duhan straffte sich und legte mit zitternden Händen<br />

die lateinische Grammatik auf den Tisch, <strong>Friedrich</strong> sah den Vater<br />

unsicher an und spürte, wie Angst in ihm hochstieg und ihm fast<br />

die Kehle zuschnürte.<br />

Der König trat zu dem Kronprinzen und fragte barsch: «Was<br />

machst du da?»<br />

<strong>Friedrich</strong> trat einen Schritt zurück und antwortete leise: «Papa,<br />

ich dekliniere mensa, mensae.»<br />

In diesem Augenblick trat Duhan zu <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und<br />

sagte mit fester Stimme: «Ich bitte um Vergebung, Majestät, aber<br />

199


Seine Königliche Hoheit ist auch Kurprinz von Brandenburg, und<br />

als künftiger Kurfürst muss er wissen, was in <strong>der</strong> ‹Goldenen Bulle›<br />

steht. Dieses Dokument ist in <strong>der</strong> lateinischen Sprache abgefasst,<br />

deswegen unterrichte ich Seine Königliche Hoheit in dieser alten<br />

Sprache. Der Prinz wird natürlich nicht die Werke <strong>der</strong> antiken<br />

Dichter lesen, ich lehre ihn nur die Grammatik, damit er die ‹Goldene<br />

Bulle› lesen und verstehen kann.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte den Lehrer für den Bruchteil einer Sekunde<br />

an, dann verfärbte sich sein Gesicht dunkelrot vor Wut, seine<br />

rechte Hand packte das Spitzenjabot des Lehrers und er brüllte:<br />

«Sie sind ein Schurke! Habe ich den Lateinunterricht nicht verboten?<br />

Sie wagen es, meine Befehle zu missachten! Sie können den<br />

Inhalt <strong>der</strong> Bulle meinem Sohn auch in <strong>der</strong> deutschen o<strong>der</strong> französischen<br />

Sprache beibringen – Latein, es ist unglaublich!»<br />

Er ließ den Lehrer los, hob seinen Stock, und als Duhan in das<br />

Nebenzimmer fl üchtete, folgte er ihm, ergriff ihn und schlug mit<br />

dem Stock auf seinen Rücken ein.<br />

<strong>Friedrich</strong> verfolgte ängstlich den Wortwechsel zwischen Vater<br />

und Lehrer, und als beide im Nebenzimmer waren, kroch er zitternd<br />

unter den Tisch.<br />

«Lieber Gott», fl üsterte er, «bitte lass Papa nicht zurückkehren;<br />

wenn er mich fi ndet, dann …»<br />

Er schwieg, weil er vor Furcht nicht mehr sprechen konnte, er<br />

spürte, dass sein Herz wild klopfte, er horchte ängstlich auf die Geräusche,<br />

die aus dem Nebenzimmer an sein Ohr drangen: «Schurke,<br />

Sie sind ein Schurke!»<br />

Plötzlich wurde es still, <strong>Friedrich</strong> atmete erleichtert auf, lauschte,<br />

ob <strong>der</strong> Vater das Appartement verließ, und hörte entsetzt, dass<br />

er in das Zimmer zurückkehrte. Er kroch unter dem Tisch noch<br />

etwas näher an die Wand, aber fast im gleichen Augenblick bückte<br />

sich <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und zerrte den Sohn hervor.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Vater unsicher an und senkte die Augen.<br />

Der König riss das Gesicht des Kronprinzen empor und schrie:<br />

«Sieh mir gefälligst in die Augen! Du weißt doch, dass ich den Lateinunterricht<br />

verboten habe?»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete schwer: «Ja, Papa.»<br />

«Als Duhan begann, dich in Latein zu unterrichten, hättest du mir<br />

200


diese Befehlsverweigerung melden müssen, wie es sich für einen anständigen<br />

Soldaten ziemt. Warum hast du es nicht getan?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah zu Boden und stammelte: «Ich … ich weiß es<br />

nicht.»<br />

«Was sagst du?», brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und riss das Kin<strong>der</strong>gesicht<br />

erneut empor.<br />

«Du lügst! Du weißt genau, warum du mir den Lateinunterricht<br />

verschwiegen hast. Antworte! Das ist ein Befehl!»<br />

Da begann <strong>Friedrich</strong>, leise vor sich hin zu weinen, und fl üsterte:<br />

«Mama wünscht, dass ich in Latein unterrichtet werde, so hat<br />

Monsieur Duhan es mir erzählt, und … muss ich nicht Mamas<br />

Wünsche erfüllen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte den Sohn einen Augenblick fassungslos<br />

an, dann packte er ihn an den Schultern und brüllte: «Das wird<br />

ja immer besser! Meine Familie verweigert mir den Gehorsam! Ich<br />

erwarte absoluten Gehorsam, nicht nur von meinen Untertanen,<br />

son<strong>der</strong>n auch von meiner Familie!»<br />

In diesem Augenblick konnte er seinen Zorn nicht länger bändigen,<br />

er gab dem Sohn mit <strong>der</strong> rechten Hand eine Ohrfeige und<br />

dann mit <strong>der</strong> linken Hand.<br />

<strong>Friedrich</strong> hob schützend die Hände vor das Gesicht, aber <strong>der</strong> König<br />

riss sie hinunter und ohrfeigte den Sohn noch etliche Male.<br />

Als er spürte, dass sein Zorn sich legte, trat er einen Schritt zurück<br />

und schrie: «Komme mir noch einmal mit mensa und du sollst<br />

sehen, wie ich dich zurichte! Wenn du nachher zu mir kommst,<br />

bringst du dein Ausgabenbuch mit, ich will sehen, ob du dein Taschengeld<br />

nicht vergeudest.»<br />

Er stürmte aus dem Zimmer und eilte zum Appartement <strong>der</strong><br />

Gattin. <strong>Friedrich</strong> sank auf den Stuhl und begann, bitterlich zu weinen.<br />

Nach einer Weile betrat Duhan das Zimmer und blieb bestürzt<br />

stehen, als er den weinenden Kronprinzen sah. Er ging zu ihm und<br />

berührte vorsichtig seine Schulter: «Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah auf, wischte mit dem rechten Handrücken die Tränen<br />

weg, und als er in die gütigen Augen des Lehrers blickte, beruhigte<br />

er sich allmählich.<br />

Ich werde ihm nicht sagen, dass Papa mich geschlagen hat, über-<br />

201


legte er, das muss niemand wissen, auch Mama nicht, ich werde es<br />

nur Wilhelmine erzählen.<br />

Duhan betrachtete <strong>Friedrich</strong> und dachte im Stillen: Der König<br />

hat den Prinzen körperlich gezüchtigt, er hat ihn verprügelt, gütiger<br />

Himmel, mit Schlägen und Ohrfeigen wird er das sensible<br />

Kind von sich wegtreiben. Wie kann ich dies verhin<strong>der</strong>n? Ich weiß<br />

es nicht, die Charaktere von Vater und Sohn sind zu verschieden.<br />

«Ich bitte um Vergebung, Königliche Hoheit, es ist meine Schuld,<br />

ich habe den Befehl des Königs missachtet, aber ich war fest davon<br />

überzeugt, dass die ‹Goldene Bulle› den Lateinunterricht rechtfertigen<br />

würde.» Er zögerte und fragte: «War es … war es schlimm,<br />

Königliche Hoheit?»<br />

«Wie man es nimmt, Papa hat sehr geschimpft, aber er hat Sie<br />

verprügelt, das … das ist entsetzlich.»<br />

«Das ist nicht so wichtig, Königliche Hoheit, Seine Majestät prügelt<br />

jeden Untertanen irgendwann, sogar hohe Staatsbeamte bekommen<br />

den Stock zu spüren. Vor einigen Monaten verurteilte das<br />

Kriminalkollegium in Berlin einen ‹Langen Kerl› zum Tode, weil er<br />

6 000 Taler gestohlen hatte. Der Oberst Dönhoff, zu dessen Regiment<br />

<strong>der</strong> Soldat gehörte, protestierte, allerdings vergeblich, weil in<br />

ganz Europa Diebstahl mit dem Tode bestraft wird.<br />

Daraufhin ließ Seine Majestät die Justizbeamten in das Schloss<br />

kommen, schrie sie an, schlug einigen die Köpfe blutig und verfolgte<br />

sie mit geschwungenem Stock durch die Flure des Schlosses,<br />

über die große Freitreppe bis zum ehemaligen Lustgarten. Sie sind<br />

im Amt geblieben, weil Seine Majestät nicht nachtragend o<strong>der</strong><br />

rachsüchtig ist, Seine Majestät handelt immer jäh und aus dem<br />

Augenblick heraus in blin<strong>der</strong> Wut. Sie sollten sich dies für die Zukunft<br />

merken, Königliche Hoheit. Seine Majestät hat sich bei dem<br />

geschil<strong>der</strong>ten Fall einfach darüber geärgert, dass einem seiner Soldaten<br />

seiner Meinung nach ein Unrecht angetan wurde. Seine Majestät<br />

hat übrigens befohlen, dass ich Sie auch künftig unterrichte,<br />

darüber bin ich sehr froh, Königliche Hoheit, allerdings: mit dem<br />

Latein sollten wir besser aufhören.»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete erleichtert auf: «Ich bin glücklich, dass Sie mein<br />

Lehrer bleiben, und was das Latein betrifft, nun, vielleicht habe ich<br />

als König Zeit, es zu erlernen.»<br />

202


Duhan lächelte: «Ja, vielleicht haben Sie als König Zeit für Latein.<br />

Es ist wohl angebracht, den Unterricht jetzt zu beenden, erholen Sie<br />

sich, Königliche Hoheit, bevor Sie zu Seiner Majestät gehen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> trat zum Fenster und sah gedankenverloren hinunter<br />

in den Hof.<br />

«Papa hat mich geschlagen», sagte er leise, «an meinem siebten<br />

Geburtstag wollte er nicht mehr mein Vater sein, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Freund<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> ältere Bru<strong>der</strong>, aber ein Freund schlägt seinen Freund nicht.<br />

Und <strong>der</strong> ältere Bru<strong>der</strong>? Ich würde mich mit einem jüngeren Bru<strong>der</strong><br />

vielleicht raufen, aber ich würde ihn nie schlagen; Tadel: ja, aber<br />

keine Ohrfeigen … Papa ist <strong>der</strong> Vater geblieben, er benimmt sich<br />

wie ein Vater. Ob er mich noch öfter schlagen wird?»<br />

Er ging in den Raum neben seinem Schlafzimmer, nahm die Flöte,<br />

setzte sich auf einen Stuhl und begann, ein französisches Volkslied<br />

zu spielen, nach einer Weile variierte er die Melodie, dann versuchte<br />

er eine Variation in Moll, und als ihm dies gelang, fühlte er<br />

sich für einen Augenblick glücklich und unbeschwert.<br />

Sophie Dorothea und ihre Damen zuckten zusammen, als die<br />

Tür des Salons aufgerissen wurde und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm hineinstürmte.<br />

Er blieb in <strong>der</strong> Mitte des Zimmers stehen und starrte die<br />

Gattin hasserfüllt an.<br />

Sophie Dorothea stand auf und sah den König unsicher an: «Mon<br />

Dieu, was ist passiert?»<br />

«Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen. Meine Damen,<br />

verlassen Sie das Zimmer, cito, cito.»<br />

Er sah Sophie Dorothea an und versuchte, sich zu beherrschen,<br />

aber <strong>der</strong> Zorn überkam ihn erneut, und er schrie: «Wie können Sie<br />

es wagen, meine Befehle zu missachten? Sie wissen genau, dass ich<br />

verboten habe, den Kronprinzen in Latein zu unterrichten! Vorhin<br />

entdeckte ich zufällig, dass Duhan ihn diese Sprache, die niemand<br />

mehr spricht, die total überfl üssig ist, lehrt und damit kostbare Zeit<br />

verschwendet! Ich weiß inzwischen, dass Sie Duhan zu diesem Unsinn<br />

angestiftet haben! Merken Sie sich ein für alle Mal: Ich kümmere<br />

mich nicht um die Erziehung unserer Töchter, das haben wir<br />

so vereinbart, und ich erwarte und verlange, dass Sie sich nicht in<br />

die Erziehung unserer Söhne einmischen, das gilt beson<strong>der</strong>s für die<br />

Erziehung des Kronprinzen!»<br />

203


«In welchem Ton reden Sie mit mir? Ich mische mich nicht in<br />

die Erziehung meines Sohnes ein, ich versuche nur zu verhin<strong>der</strong>n,<br />

dass sein geistiger Horizont sich auf Soldaten und Landwirtschaft<br />

beschränkt. Ein König muss Latein beherrschen, das gehört zu seiner<br />

Bildung.»<br />

«Bildung, Bildung! Ich höre immer nur Bildung! Ich pfeife auf<br />

diese sogenannte Bildung, das ist alles Wind und blauer Dunst!<br />

Der künftige preußische König muss vor allem wissen, wie Land<br />

urbar gemacht wird, wie dieses Land besiedelt werden kann, wie<br />

die Wirtschaft angekurbelt wird und so weiter und so weiter. Der<br />

Kronprinz muss lernen, wie man sich als König um jedes Detail<br />

kümmert!»<br />

Er schwieg, atmete tief durch und fuhr ruhiger fort: «Ich baue<br />

einen Staat auf, und ich will, dass dieser Staat sich in Europa behauptet;<br />

dies ist nur möglich, wenn <strong>der</strong> Kronprinz fähig ist, mein<br />

Werk fortzuführen und zu vollenden. Seine Erziehung ist diesem<br />

Ziel geweiht, und ich sage Ihnen, ich werde ihn zu einem fähigen<br />

König erziehen, notfalls mit Gewalt. Irgendwelche Flausen werde<br />

ich aus seinem Kopf vertreiben, wenn es nicht an<strong>der</strong>s geht: mit<br />

körperlicher Züchtigung. Ich habe ihm vorhin einige Ohrfeigen<br />

verpasst, und Duhan hat meinen Stock auf seinem Rücken gespürt,<br />

künftig wird es keinen Lateinunterricht mehr geben.»<br />

«Wie bitte? Sie haben meinen Sohn geschlagen? Das arme Kind,<br />

wie können Sie nur so brutal sein?»<br />

Sie begann zu weinen, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm spürte, dass er<br />

unsicher wurde beim Anblick <strong>der</strong> Tränen.<br />

«Liebe Frau, ich bin nicht brutal, ich verhalte mich wie alle Väter<br />

in diesem Land, ich züchtige meinen Sohn, wenn es notwendig<br />

ist.»<br />

Er eilte hinaus, und Sophie Dorothea klingelte nach ihrer Kammerfrau<br />

und sank weinend auf ihren Sessel.<br />

«Liebe Ramen, mein Riechfl äschchen, ich glaube, ich werde ohnmächtig.<br />

Mon Dieu, <strong>der</strong> König hat den Kronprinzen geschlagen.»<br />

«Majestät, mein Gott, das ist ja entsetzlich.»<br />

Was wird Eversmann zu dieser Neuigkeit sagen, überlegte sie,<br />

dann holte sie das Riechfl äschchen.<br />

204


Als es elf Uhr schlug, betrat <strong>Friedrich</strong> zögernd das Arbeitszimmer<br />

des Vaters und überreichte ihm das Ausgabenbuch. <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

las:<br />

Für zwei Farbschachteln: 16 Groschen<br />

Für sechs Pfund Pu<strong>der</strong>: 12 Groschen<br />

Für Schnur zur Peitsche: 4 Groschen<br />

Für Stiefelettenknöpfe: 2 Groschen<br />

Für 12 Ellen Zopfband: 1 Taler, 6 Groschen<br />

Für den Schuhmacher: 1 Groschen<br />

Für Trinkgeld an die königlichen <strong>Knecht</strong>e: 4 Groschen.<br />

Er legte das Buch zur Seite und brummte: «Deine Ausgaben<br />

schreibst du ja sorgfältig auf, ich bin zufrieden; aber wenn meine<br />

Lakaien, Kutscher o<strong>der</strong> <strong>Knecht</strong>e aufwarten, sollen sie nichts dafür<br />

bekommen, denn ich bezahle sie ja schon dafür. Ob du bezahlst<br />

o<strong>der</strong> ich, das ist einerlei.»<br />

Er betrachtete den Sohn einen Augenblick nachdenklich und<br />

fuhr fort: «Du wirst mich ab jetzt hin und wie<strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Mittagstafel<br />

während meiner Stadtrundgänge begleiten, so lernst du<br />

das alltägliche Leben und die Sorgen deiner künftigen Untertanen<br />

kennen, und du lernst, wie man sich mit dem Volk unterhält; das<br />

gezierte, gedrechselte Französisch ist überfl üssig, wenn du mit<br />

einem Handwerker sprichst, die Hugenotten ausgenommen. Ein<br />

Berliner Handwerker spricht Deutsch, um es genauer zu sagen, er<br />

spricht die Berliner Mundart.»<br />

Einige Stunden später gingen <strong>der</strong> König und sein Sohn vom Schloss<br />

zum Gasthof «König von Portugal», <strong>der</strong> gegenüber lag. <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm blieb vor dem Eingang stehen und sagte: «Höre, Fritz, hier,<br />

beim Gastwirt Nicolai, gibt es den besten Grünkohl von Berlin, ich<br />

habe hier schon lange nicht mehr gespeist; einer meiner Generäle,<br />

ein eingefl eischter Junggeselle, hat mich bisher nicht in sein Haus<br />

geladen unter dem Vorwand, dass er keinen eigenen Hausstand hat.<br />

Ich werde ihm einen Wink geben, den er nicht übersehen kann, und<br />

ihm sagen, dass ich gerne einmal wie<strong>der</strong> Grünkohl beim Gastwirt<br />

Nicolai essen würde, ist das nicht eine großartige Idee, Fritz?»<br />

205


<strong>Friedrich</strong> streifte den Vater mit einem scheuen Seitenblick und<br />

antworte leise: «Ja, Papa.»<br />

Mein Gott, dachte er, Papa legt Wert darauf, dass seine Generäle<br />

ihn einladen, das heißt: nein, er lädt sich selbst bei ihnen ein, das<br />

ist … das ist eines Königs unwürdig. Wenn ich König bin, werde<br />

ich mich nie bei den Untertanen selbst einladen.<br />

In diesem Augenblick verließ ein Mann mittleren Alters den<br />

Gasthof, und als er den König sah, ging er zu ihm, verbeugte sich,<br />

sah ihm in die Augen und redete ihn in <strong>der</strong> deutschen Sprache an:<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät, dass ich Sie einfach auf <strong>der</strong><br />

Straße anspreche, aber ich verzweifele allmählich, niemand ist bereit,<br />

mich als Koch einzustellen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete wohlwollend den Mann und sagte<br />

lächelnd: «Erzähle Er frei heraus! Wenn ich Ihm helfen kann, so<br />

helfe ich gern.»<br />

«Majestät, mein Name ist Wilhelm Peeske, von Beruf bin ich<br />

Koch. Ich habe viele Jahre bei <strong>der</strong> Baronin von Brandenstein gearbeitet,<br />

sie starb vor einigen Wochen, und ihr Neffe entließ die gesamte<br />

Dienerschaft. Nun versuchte ich, eine neue Stelle zu fi nden,<br />

bisher ohne Erfolg. Bei <strong>der</strong> Baronin habe ich nur italienisch gekocht,<br />

weil sie diese Küche schätzte. Ich kann natürlich auch französisch<br />

kochen, aber nun bin ich etwas aus <strong>der</strong> Übung, und die italienische<br />

Küche interessiert die Berliner nicht, we<strong>der</strong> die Gastwirte noch die<br />

Kaufl eute o<strong>der</strong> den Adel. Gibt es vielleicht in <strong>der</strong> Schlossküche für<br />

mich eine Arbeit?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm antwortete: «Im Schloss gibt es genügend<br />

Küchenpersonal, überdies bevorzuge ich die deutsche Küche, aber<br />

mein Minister Grumbkow hätte vielleicht Verwendung für Ihn, in<br />

diesem Haus speist man am besten, und <strong>der</strong> Minister ist aufgeschlossen<br />

für neue Gerichte und ausgefallene Arten <strong>der</strong> Zubereitung.<br />

Komme Er morgen um neun Uhr zu mir, dann gebe ich Ihm<br />

ein Empfehlungsschreiben für den Minister.»<br />

Der Mann verbeugte sich etliche Male und stammelte: «Vielen<br />

Dank, Majestät, Euer Majestät sind zu gütig, vielen Dank.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Es ist meine Pfl icht als Landesvater,<br />

meinen Untertanen zu helfen.»<br />

Während sie weitergingen, sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Männer<br />

206


wie dieser Koch gefallen mir, sie treten unbefangen zu mir, sehen<br />

mir offen in die Augen, sprechen Deutsch; lei<strong>der</strong> sind nicht alle<br />

Untertanen so.»<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete erstaunt, dass die Berliner, sobald sie den<br />

König gewahrten, diskret in eine Seitengasse einbogen o<strong>der</strong> in<br />

einem Haus verschwanden.<br />

Es sieht aus, dachte er, als ob die Leute Angst vor Papa haben.<br />

In diesem Augenblick blieb <strong>Friedrich</strong> Wilhelm stehen und betrachtete<br />

missbilligend einen grazilen jungen Mann, <strong>der</strong> in schwarzen<br />

Absatzschuhen auf ihn zutänzelte.<br />

«Geck», brummte <strong>der</strong> König, «das ist <strong>der</strong> Sekretär des sächsischen<br />

Gesandten, Fritz. Der Graf von Manteuffel ist ja ein vernünftiger<br />

Mann, aber sein Sekretär – er äfft nur die Franzosen nach, sieh<br />

nur, wie er gekleidet ist: ein roter Mantel, ein roter Rock mit Goldstickerei;<br />

er könnte ebenso gut einen braunen o<strong>der</strong> schwarzen Rock<br />

tragen, und das Spitzenjabot des Hemdes ist auch zu üppig, und<br />

natürlich ist er geschminkt, wi<strong>der</strong>lich.»<br />

Der Sekretär blieb einige Schritte vor dem König stehen, nahm<br />

den schwarzen Dreispitz vom Kopf, verbeugte sich schwungvoll so<br />

tief wie möglich und sagte dann auf Französisch: «Ich bin Euer<br />

Majestät untertänigster Diener …»<br />

«Höre Er gefälligst auf, Französisch zu parlieren!», brüllte <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm. «Rede Er Deutsch, wie es sich für einen Deutschen<br />

ziemt!»<br />

Der Sekretär zuckte zusammen und stammelte: «Selbstverständlich,<br />

Majestät, ich war auf dem Weg zum Schloss, um diesen Brief<br />

zu übergeben, erlauben Sie, Majestät, dass ich Ihnen das Schreiben<br />

jetzt überreiche.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm öffnete den Brief, überfl og die Zeilen, dann<br />

lächelte er: «Eine Einladung zu einem Bankett, verlockend … allerdings,<br />

übermorgen wollte ich endlich nach Wusterhausen reisen»,<br />

und zu dem Sekretär: «Er kann gehen, ich schicke Seinem Herren<br />

eine Nachricht.»<br />

Er sah nachdenklich vor sich hin, während <strong>der</strong> Sekretär sich verbeugte<br />

und davontänzelte.<br />

«Ein Bankett bei Manteuffel lasse ich mir nicht entgehen, Fritz,<br />

207


man speist dort nicht so delikat wie bei Grumbkow, aber beim sächsischen<br />

Gesandten gibt es immer Austern in Hülle und Fülle. Ich<br />

werde einen Tag später nach Wusterhausen aufbrechen.»<br />

In diesem Augenblick kam ein älterer Mann aus einer Seitengasse,<br />

und <strong>Friedrich</strong> betrachtete erstaunt dessen Kleidung: Er trug<br />

einen langen, schmalen Rock aus grauer Wolle, <strong>der</strong> bis zu den Füßen<br />

reichte, auf <strong>der</strong> Brust prangte ein aufgenähter gelber Fleck aus<br />

Tuch, und <strong>der</strong> Kopf war mit einem gelben Spitzhut bedeckt.<br />

«Papa, <strong>der</strong> Mann ist so merkwürdig angezogen …»<br />

Der Mann starrte für den Bruchteil einer Sekunde den König an,<br />

dann raffte er seinen Rock und lief weg.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm dies sah, schwang er seinen Stock, rannte<br />

hinter dem Mann her, packte ihn am Ärmel, drehte ihn zu sich<br />

herum und schrie: «Warum ist Er weggelaufen?»<br />

Der Mann zitterte und antwortete mit beben<strong>der</strong> Stimme: «Weil<br />

ich mich fercht.»<br />

«Was?», schrie <strong>der</strong> König und prügelte den Rücken des Mannes<br />

mit dem Buchenstock.<br />

«Lieben sollt ihr mich, ihr Canaillen, hört Er, lieben!»<br />

Nach einer Weile gab er sein Opfer frei und atmete tief durch.<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete die Szene aus einiger Entfernung, hörte<br />

den Wortwechsel und ging dann langsam zu seinem Vater.<br />

«Papa, was war das für ein Mann, er ist so … so an<strong>der</strong>s gekleidet.»<br />

«Er ist Jude», brummte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «er trägt die vorgeschriebene<br />

Judentracht. Ich toleriere die Juden in meinem Staat<br />

ebenso wie die Katholiken o<strong>der</strong> die Hugenotten, aber die Juden sind<br />

eine Gruppe für sich; überall ist die Anzahl <strong>der</strong> jüdischen Familien<br />

festgelegt: In Berlin dürfen 152 Familien leben, das sind zurzeit<br />

ungefähr dreitausend Juden, die natürlich Steuern zahlen müssen<br />

wie alle Untertanen.»<br />

«Warum dürfen nur 152 Familien in Berlin leben, Papa?»<br />

«Die Juden bilden einen Staat im Staat, sie unterscheiden sich<br />

durch Religion, Sprache, Sitten und Kleidung von an<strong>der</strong>en Bürgern.<br />

Sie dürfen Handel treiben, aber nur mit Materialien, die<br />

nicht zunftgebunden sind. Ihre berufl ichen Tätigkeiten sind seit<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ten eingeschränkt, Trödelhandel und Geldverleih sind<br />

208


ihnen erlaubt; sie nehmen Wucherzinsen und haben schon manchen<br />

braven Mann dadurch ruiniert. In Geldgeschäften sind sie<br />

skrupellos, wenn du einmal König bist, musst du die Juden genau<br />

beobachten und darauf achten, dass sie fi nanziell nicht zu mächtig<br />

werden, fi nanzielle Macht bedeutet unter Umständen auch Macht<br />

im Staat, behalte die Juden im Auge.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte und erwi<strong>der</strong>te: «Ich habe Sie verstanden,<br />

Papa: Die Juden beuten die an<strong>der</strong>en Bürger fi nanziell aus, das muss<br />

verhin<strong>der</strong>t werden.»<br />

Vor <strong>der</strong> Abendtafel ging <strong>Friedrich</strong> zu Wilhelmine. Als er das Zimmer<br />

betrat, eilte sie zu ihm und umarmte ihn stürmisch. «Fritzchen,<br />

Mama hat mir alles erzählt. Papa hat dich geschlagen, mein<br />

Gott, du tust mir so leid.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah sich vorsichtig um und fragte: «Wo ist die Leti?»<br />

«Sie leistet Mama Gesellschaft.»<br />

«Gott sei Dank, so können wir uns ungestört unterhalten. Er hat<br />

mich furchtbar geohrfeigt, weil ich Latein lernte. Ich weiß, dass er<br />

verboten hat, mich in dieser Sprache zu unterrichten, aber was soll<br />

ich denn machen, wenn Mama anordnet, dass ich Lateinunterricht<br />

erhalte?»<br />

«Hier liegt das Problem, Fritzchen, was Papa befi ehlt, verbietet<br />

Mama, und umgekehrt; damit werden wir leben müssen.»<br />

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinan<strong>der</strong>, dann sagte<br />

<strong>Friedrich</strong>: «Am Nachmittag musste ich Papa auf seinem Rundgang<br />

durch die Stadt begleiten und sah, dass die Berliner versuchten,<br />

eine Begegnung mit ihm zu vermeiden. Sie verschwanden unauffällig<br />

in Seitenstraßen und Häusern, ich glaube, die Leute fürchten<br />

sich vor ihm, und das kann ich verstehen. Papa hat mich heute zum<br />

ersten Mal geschlagen, und jetzt habe ich Angst vor ihm.»<br />

209


210<br />

4<br />

Als <strong>Friedrich</strong> Mitte April 1721 nach dem Unterricht am Spätnachmittag<br />

sein Appartement betrat, wurde er von seinen Erziehern<br />

erwartet.<br />

Er blieb stehen und betrachtete unsicher ihre ernsten Gesichter:<br />

«Wie werden Sie heute Ihre Freizeit verbringen, Königliche Hoheit?»,<br />

fragte Finck.<br />

«Die Königin wünscht, dass ich sie auf einer Spazierfahrt begleite.»<br />

Einige Sekunden lang herrschte Stille im Raum, dann sagte<br />

Kalck stein: «Königliche Hoheit, wäre es nicht besser, wenn Sie sich<br />

nach dem Unterricht körperlich ertüchtigen? Sie reiten und fechten<br />

leidenschaftlich gerne. Warum reiten und fechten Sie nicht mit den<br />

Kadetten? Seine Majestät würde sich bestimmt darüber freuen.»<br />

«Ich weiß, aber ich muss doch auch die Wünsche, ich meine: die<br />

Befehle meiner Mama befolgen, überdies kann ich in meiner Freizeit<br />

tun und lassen, was ich will, wenn es nur nicht gegen Gott ist.»<br />

Kalckstein seufzte unhörbar und sah Finck hilfl os an. Nach einer<br />

Weile sagte dieser lächelnd: «Wie wäre es mit einem Kompromiss,<br />

Königliche Hoheit? Sie könnten die Kutsche Ihrer Majestät<br />

zu Pferd begleiten, so erfüllen Sie die unterschiedlichen Wünsche<br />

Ihrer Eltern.»<br />

<strong>Friedrich</strong>s Augen leuchteten auf: «Das ist eine wun<strong>der</strong>bare<br />

Idee!», und er rannte aus dem Zimmer.<br />

Die Erzieher sahen ihm nach, und dann sagte Kalckstein seufzend:<br />

«Der Prinz ist reizend, aber auch schwer erziehbar.»<br />

«Er ist nicht schwer erziehbar, <strong>der</strong> Grund für unsere Schwierigkeiten<br />

sind die Vorstellungen des Königs, wie sein Sohn einmal<br />

werden soll. Wir könnten ihn vielleicht sogar formen, wie <strong>der</strong> König<br />

es wünscht, wenn die Königin sich nicht ständig indirekt in die<br />

Erziehung einmischen würde. Ich kann verstehen, dass sie ihren<br />

Sohn täglich sehen will, ich habe auch grundsätzlich nichts dagegen,<br />

dass er täglich eine Stunde bei ihr weilt, aber was er im Salon<br />

<strong>der</strong> Königin hört, ist nicht gut für ihn, weil es ihn langsam, aber


sicher in die Opposition zum König treibt. Von meiner Frau weiß<br />

ich, dass die Königin sich jeden Tag im Kreise ihrer Damen über ihr<br />

schweres Los beklagt: Wegen <strong>der</strong> Sparsamkeit des Königs lebe sie<br />

wie eine Dame des Landadels, ja sie lebe sogar noch schlechter als<br />

diese, denn <strong>der</strong> Adel würde Bankette und Bälle veranstalten – sie<br />

müsse wochenlang in diesem entsetzlichen Wusterhausen verbringen,<br />

sie müsse sich vor den ausländischen Gesandten schämen, weil<br />

man am Hof nur Uniformen sehe statt Hofkleidung und so weiter<br />

und so weiter.<br />

Ich kann die Königin verstehen, aber ist es nötig, dass <strong>der</strong> Kronprinz<br />

dies alles hört? Er bekommt so ein Bild von seinem Vater,<br />

das nur halb richtig ist, aber wir können nichts machen, wir sind<br />

hilfl os.»<br />

«Sie haben recht, <strong>der</strong> Prinz wird im Salon <strong>der</strong> Königin gegen den<br />

König beeinfl usst; was mir ebenso viel Sorge bereitet, ist <strong>der</strong> Religionsunterricht.<br />

Wir sollen den Prinzen zu einem guten Christen<br />

erziehen; vor einigen Tagen beklagte sich Andreä bei mir, <strong>der</strong> Prinz<br />

habe schon wie<strong>der</strong> nicht die Psalmen und Bibeltexte auswendiggelernt,<br />

die er ihm gegeben. Nun, ich hätte mich als Junge auch gegen<br />

diese sture Paukerei gesträubt, aber ich kann einem Hofprediger<br />

nicht vorschreiben, wie er den Religionsunterricht inhaltlich gestalten<br />

soll. Ich nahm mir den Prinzen vor, ordnete an, dass er am<br />

kommenden Sonnabendnachmittag nicht lesen, son<strong>der</strong>n Psalmen<br />

lernen müsste, und drohte ihm, falls Andreä sich noch einmal beschwert,<br />

dem König dies mitzuteilen. Aber meine erzieherischen<br />

Maßnahmen lösen natürlich nicht das Grundproblem, nämlich den<br />

künftigen König zu einem guten Christen zu formen.»<br />

Finck ging nachdenklich im Zimmer umher.<br />

«Warten wir ab», sagte er nach einer Weile, «ich weiß, dass meine<br />

Berichte an den König geschönt sind, aber ich sehe im Augenblick<br />

keinen Sinn darin, offen zu sagen, dass <strong>der</strong> Sohn sich an<strong>der</strong>s entwickelt,<br />

als <strong>der</strong> Vater es wünscht. Vielleicht wird ja doch noch irgendwann<br />

ein zweiter <strong>Friedrich</strong> Wilhelm aus ihm.»<br />

<strong>Friedrich</strong> war überrascht, als er den Salon seiner Mutter betrat und<br />

sie allein fand. Sie hielt einen Brief in <strong>der</strong> Hand und sah nachdenklich<br />

zum Fenster.<br />

211


Er ging zögernd zu ihr und fragte: «Wo sind die Damen,<br />

Mama?»<br />

Sophie Dorotheas Augen leuchteten beim Anblick des Sohnes<br />

auf.<br />

«Ich habe sie weggeschickt, mon bijou, wir werden heute auch<br />

keine Spazierfahrt unternehmen, weil ich auf Ihren Vater warte.<br />

Ich muss unter vier Augen etwas mit ihm besprechen. Setzen Sie<br />

sich neben mich.»<br />

O Gott, dachte <strong>Friedrich</strong>, Papa kommt. Wenn er mich hier sieht,<br />

wird er wütend werden.<br />

«Mama, ich stehe lieber, ich habe den ganzen Nachmittag gesessen»,<br />

und er verbarg sich hinter ihrem hohen Lehnstuhl.<br />

Sophie Dorothea achtete nicht weiter auf ihn, sie las erneut den<br />

Brief, und <strong>Friedrich</strong> hörte sie dabei leise sagen: «Dieses unverschämte<br />

Weibsbild, aber jetzt reicht es!»<br />

Einige Minuten später wurde <strong>der</strong> König gemeldet.<br />

«Liebe Frau, was ist mit Wilhelmine?»<br />

«Fräulein Leti muss sofort entlassen werden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah die Gattin erstaunt an: «Warum muss sie<br />

entlassen werden? Sie waren doch bis jetzt zufrieden mit ihr!»<br />

«Nun ja», antwortete Sophie Dorothea zögernd, «sie hat Wilhelmine<br />

streng erzogen, was ich billigte, seit einiger Zeit will sie<br />

die Hofmeisterin meiner Tochter werden, und ich überdenke schon<br />

seit Wochen diese Entscheidung. Wilhelmine ist kein Kind mehr,<br />

son<strong>der</strong>n ein junges Mädchen und in einigen Jahren eine junge<br />

Frau. Die Aufgabe <strong>der</strong> Hofmeisterin ist es, sie auf ihre künftigen<br />

Aufgaben als Gattin und Mutter und regierende Fürstin vorzubereiten,<br />

und ich bezweifele, ob die Leti dafür geeignet ist; sie empfängt<br />

regelmäßig Herrenbesuch, den Oberst Forcade und Herrn<br />

Fourneret.»<br />

Sophie Dorothea schwieg und überlegte: Soll ich ihm sagen, dass<br />

die Leti von seinem Freund Leopold dafür bezahlt wird, dass sie<br />

versucht, Wilhelmine zu einer Heirat mit dem Markgrafen von<br />

Schwedt zu überreden? Soll ich ihm sagen, dass Forcade und Fourneret<br />

ebenfalls von dem Dessauer bezahlt werden? Sie sollen die<br />

Leti aushorchen, was in meinen Gemächern geredet wird. Wenn<br />

ich es ihm sage, wird er wissen wollen, woher ich es weiß. Die Ra-<br />

212


men hat es mir erzählt, und die Ramen weiß es von Eversmann,<br />

und Eversmann weiß es von … nun, Eversmann weiß immer alles.<br />

Ich werde darüber schweigen, es ist besser. «Herrenbesuche», sagte<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «das ziemt sich natürlich nicht für eine Hofmeisterin.»<br />

«Ich habe die Entscheidung bis jetzt aufgeschoben, weil ich befürchtete,<br />

dass die Leti, falls sie nicht Hofmeisterin wird, negative<br />

Nachrichten über Wilhelmine nach England berichten wird. Heute<br />

erhielt ich diesen Brief von <strong>der</strong> Leti, sie schreibt: ‹Ich muss wohl<br />

sehen, dass Eure Majestät nicht gewillt sind, mir die Rechte anzuerkennen,<br />

welche ich beanspruche. Mein Entschluss ist gefasst.<br />

Ich bitte dringend um meine Entlassung. Ich will diesem barbarischen<br />

Lande, in dem ich we<strong>der</strong> Geist noch Vernunft vorgefunden<br />

habe, den Rücken kehren und mein Leben in einer mil<strong>der</strong>en<br />

Gegend beschließen, wo das Verdienst seinen Lohn fi ndet und wo<br />

<strong>der</strong> regierende Herr nicht allerlei nichtsnutzige Offi ziere auszuzeichnen<br />

beliebt, wie es hier <strong>der</strong> Brauch ist, und Leute von Geist<br />

geringschätzt!›»<br />

Sophie Dorothea legte den Brief zur Seite und sagte: «Madame<br />

de Roucoulles …»<br />

«Das ist unerhört!», schrie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Nichtsnutzige<br />

Offi ziere, die Leti hat wohl den Verstand verloren?!»<br />

«Einen Augenblick, ich muss Ihnen noch mehr erzählen: Madame<br />

de Roucoulles war anwesend, als ich den Brief erhielt, und ich<br />

las ihn ihr vor. Sie sagte: ‹Mein Gott, so lassen Sie diese Kreatur<br />

doch gehen, es wäre das größte Glück für die Prinzessin. Das arme<br />

Kind leidet Qualen bei ihr, und ich fürchte, man bringt sie Ihnen<br />

eines Tages mit zerschlagenen Rippen; denn sie wird windelweich<br />

geschlagen und riskiert mit jedem Tag, zum Krüppel zu werden.<br />

Die Mermann wird Euer Majestät besser als alle an<strong>der</strong>en darüber<br />

berichten können.›<br />

Ich befragte die Mermann, und was ich hörte, war entsetzlich:<br />

Die Leti stieß meine Tochter eine Treppe hinunter, sie warf<br />

ihr einen Kerzenleuchter an den Kopf, kurz, sie misshandelte das<br />

Kind.»<br />

Sophie Dorothea schwieg und beobachtete besorgt, wie sich die<br />

Miene des Gatten verfi nsterte.<br />

213


«Es ist unglaublich, was in meinem Hause passiert!», schrie<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Meine Tochter wird misshandelt, und ich<br />

weiß von nichts; die Leti wird noch heute entlassen, das sage ich<br />

ihr persönlich. Soll sie nach England reisen, soll sie über Wilhelmine<br />

erzählen, was ihr beliebt, Ihr Vater, liebe Frau, wird ihren<br />

Berichten über Wilhelmine nicht glauben, die Beziehungen<br />

zwischen unseren Höfen sind so freundschaftlich wie nie zuvor.<br />

Ihr Vater hat dazu beigetragen, dass es zwischen Preußen und<br />

Schweden zu jenem Vertrag kam, <strong>der</strong> Preußen die O<strong>der</strong>mündung<br />

sichert. Die Beziehungen zwischen Preußen und England waren<br />

nie besser.»<br />

Sophie Dorothea horchte auf und fragte vorsichtig: «Sie wären<br />

also bereit, erneut über Wilhelmines Heirat mit dem Herzog von<br />

Gloucester zu verhandeln?»<br />

«Ja, warum nicht? Aber jetzt muss eine Hofmeisterin für Wilhelmine<br />

gewählt werden.»<br />

Er ging nachdenklich auf und ab, Sophie Dorothea beobachtete<br />

den Gatten und sagte nach einer Weile: «Ich wünsche, dass Wilhelmines<br />

künftige Hofmeisterin von Familie ist, sie soll dem ältesten<br />

märkischen Adel entstammen, <strong>der</strong> älteste märkische Adel ist<br />

gerade gut genug, um die künftige Königin von England auf ihre<br />

Aufgaben vorzubereiten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm blieb stehen: «Der älteste märkische Adel …<br />

liebe Frau, ich werde Fräulein von Sonsfeld zur Hofmeisterin ernennen.»<br />

Sophie Dorothea starrte den Gatten einen Augenblick an, dann<br />

rief sie: «Wie bitte? Die Sonsfeld? Das ist ein Scherz. Diese Dame<br />

ist … nun, sie ist eine alte Jungfer von vierzig Jahren, eine ledige<br />

Frau ist unfähig, meine Tochter auf ihre Pfl ichten als Gattin und<br />

Mutter vorzubereiten.»<br />

«Liebe Frau, Fräulein von Sonsfeld entstammt einem vornehmen<br />

Haus, das mit den besten Familien des Landes verwandt ist;<br />

ihre Ahnen zeichneten sich durch ihre Verdienste sowie durch die<br />

hohen Ämter aus, die sie bekleideten; sie war die Hofdame meiner<br />

seligen Mutter, sie ist Ihre Hofdame. Sie hat glänzende Partien<br />

ausgeschlagen, weil sie nie heiraten wollte – was haben Sie gegen<br />

die Dame?»<br />

214


Sophie Dorothea antwortete zögernd: «Ich mag Fräulein von<br />

Sonsfeld nicht, sie ist mir unsympathisch.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah seine Frau erstaunt an: «Das verstehe ich<br />

nicht; überdies sollten bei <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> Erzieher und Hofmeister<br />

unserer Kin<strong>der</strong> nicht unsere persönlichen Gefühle eine Rolle spielen,<br />

son<strong>der</strong>n die Befähigung <strong>der</strong> Damen und Herren für diese Aufgabe.<br />

Fräulein von Sonsfeld wird Wilhelmines Hofmeisterin, das ist mein<br />

letztes Wort in dieser Angelegenheit.»<br />

«Ich füge mich wie immer Ihren Wünschen, aber ich benötige<br />

einen Ersatz für die Dame.»<br />

«Liebe Frau, Sie wissen, dass wir sparen müssen, ich bewillige<br />

Ihnen keinen Ersatz für die Sonsfeld.»<br />

«Wie bitte? Ich soll auf eine Hofdame verzichten? Mein Leben an<br />

diesem Hof ist so bescheiden und kärglich, um nicht zu sagen ärmlich,<br />

und nun soll ich auf eine Hofdame verzichten?»<br />

«Liebe Frau, Sie haben genügend Hofdamen zur Unterhaltung.»<br />

In diesem Augenblick spürte <strong>Friedrich</strong>, dass er niesen musste,<br />

und versuchte vergeblich, den Niesreiz zu unterdrücken.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm zuckte bei dem Geräusch zusammen, ging<br />

rasch zu dem Lehnstuhl und zerrte <strong>Friedrich</strong> hervor.<br />

«Was treibst du dich schon wie<strong>der</strong> im Salon deiner Mutter herum?<br />

Warum tummelst du dich bei dem schönen Wetter nicht mit<br />

deinen Kadetten in <strong>der</strong> Sonne?!», brüllte <strong>der</strong> König, und <strong>Friedrich</strong><br />

beobachtete ängstlich, dass auf <strong>der</strong> Stirn des Vaters die Zorna<strong>der</strong><br />

schwoll.<br />

«Ich bitte Sie», rief Sophie Dorothea, «Sie dürfen meinen Sohn<br />

nicht so anschreien, er ist unschuldig, es war mein Wunsch, dass er<br />

nach dem Unterricht zu mir kommt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte die Gattin an, dann wandte er sich an<br />

<strong>Friedrich</strong> und schrie: ,,Hinaus mit dir!», und während <strong>Friedrich</strong> aus<br />

dem Zimmer rannte, holte <strong>der</strong> König Luft, beruhigte sich allmählich<br />

und brummte unwirsch: «Es gefällt mir nicht, dass Fritz so viel<br />

Zeit bei Ihnen verbringt. Er soll kein verweichlichter, effeminierter<br />

Stubenhocker werden, son<strong>der</strong>n ein kräftiger Mann.»<br />

Er verließ das Zimmer, und Sophie Dorothea klingelte nach <strong>der</strong><br />

Ramen.<br />

«Bringe Sie den Kronprinzen wie<strong>der</strong> her!»<br />

215


Wenig später stürmte <strong>Friedrich</strong> freudestrahlend in den Salon<br />

und in die Arme seiner Mutter.<br />

«Hoffentlich merkt Papa nicht, dass ich wie<strong>der</strong> bei Ihnen bin,<br />

aber er ist jetzt im Tabakskollegium und kommt heute bestimmt<br />

nicht mehr hierher.»<br />

«Ich freue mich, mon bijou, dass wir einmal alleine sind, ohne<br />

Damen. Ist es nicht unerhört, dass Ihr geiziger Vater mir eine Hofdame<br />

wegnimmt?»<br />

«Ja. Wenn ich einmal König bin, werden Sie so viele Hofdamen<br />

haben, wie Sie wünschen. Ich bin froh, dass die Leti, diese grässliche<br />

Schrippe, endlich den Hof verlässt, Wilhelmine hat furchtbar<br />

unter ihr gelitten und musste ihr alles erzählen, worüber in Ihrem<br />

Salon gesprochen wurde, und auch alles, worüber Sie und Papa<br />

sprachen. Wenn Wilhelmine versuchte, sich herauszureden, wurde<br />

sie immer verprügelt.»<br />

«Wie bitte? Wilhelmine musste <strong>der</strong> Leti … mon Dieu, das wird<br />

ja immer besser. Aber was haben Sie eben gesagt? Schrippe? Was<br />

ist das für ein Wort?»<br />

«Das ist Berliner Mundart, so nennt man die schmalen, länglichen<br />

weißen Brötchen, und eine Scheibe Brot mit Butter, Wurst,<br />

Schinken o<strong>der</strong> Käse heißt ‹Stulle›.»<br />

«Schrippe, Stulle, wo haben Sie diese Worte gelernt?»<br />

«Mein Kammerdiener spricht mit den Lakaien Berlinerisch, und<br />

wenn wir nach Wusterhausen aufbrechen, sagt er immer: ‹Ick jraule<br />

mich vor diesem Schloss.›<br />

«Mon Dieu, diese Mundart ist dégoûtant, gewöhnen Sie sich nur<br />

nicht diese Sprache an, ein Prinz und künftiger König spricht Französisch<br />

und nur Französisch.»<br />

«Ja, Mama», er zögerte etwas und fragte dann: «Mama, warum<br />

mögen Sie Fräulein von Sonsfeld nicht? Ich fi nde sie sehr nett.»<br />

Sophie Dorothea schwieg einen Augenblick, dann erwi<strong>der</strong>te sie:<br />

«Wie soll ich es Ihnen erklären, mon chéri? Diese Dame bewun<strong>der</strong>t<br />

Ihren Vater, sie fi ndet alles richtig, was er macht und entscheidet – ich<br />

bin an<strong>der</strong>er Meinung: Gewiss, Preußen hat sich in den letzten Jahren<br />

wirtschaftlich sehr entwickelt, überall wird gebaut; aber an unserem<br />

Hof fehlt <strong>der</strong> Glanz, die Kultur. Ich glaube, Ihr Vater hat außer <strong>der</strong><br />

Bibel kein Buch gelesen, man kann sich mit ihm nicht geistreich un-<br />

216


terhalten. Es mangelt ihm an Esprit, er ist so <strong>der</strong>b, um nicht zu sagen<br />

bäuerisch, das Leben besteht für ihn nur aus Arbeit und Gebet,<br />

und auf meine Wünsche nimmt er überhaupt keine Rücksicht. Ich<br />

würde so gerne auch den Herbst in Monbijou verbringen, stattdessen<br />

muss ich ihn in sein grässliches Jagdschloss begleiten, und so weiter.<br />

Ich befürchte, dass die Sonsfeld Wilhelmine so beeinfl usst, dass Ihre<br />

Schwester sich mir entfremdet und schließlich den König mehr liebt<br />

als mich. Das könnte ich nicht ertragen. Meine Kin<strong>der</strong> sollen mich<br />

lieben, nicht den König, den König kann man nicht lieben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah seine Mutter einen Augenblick an und erwi<strong>der</strong>te<br />

leise: «Sie müssen nichts befürchten, Mama, Wilhelmine und ich,<br />

wir lieben Sie viel, viel mehr als den König.»<br />

Nach dem abendlichen Besuch im Tabakskollegium eilte <strong>Friedrich</strong><br />

zu Wilhelmine.<br />

Sie umarmte ihn stürmisch, presste ihn an sich und rief: «Fritzchen,<br />

ich bin so glücklich, so glücklich wie schon lange nicht mehr.<br />

Die Leti muss unseren Hof sofort verlassen, und vorhin war Fräulein<br />

von Sonsfeld hier und hat sich mit mir über meinen Unterricht<br />

unterhalten. Sie sagte, sie würde mich för<strong>der</strong>n, so weit sie es kann;<br />

ach, sie war so gütig und freundlich, ich habe volles Vertrauen zu<br />

ihr.»<br />

«Papa hat entschieden, dass sie deine Hofmeisterin wird, Mama<br />

dagegen – ich habe das Gespräch zufällig belauscht, sie haben wie<strong>der</strong><br />

einmal gestritten –, Mama bekommt keine neue Hofdame als<br />

Ersatz für die Sonsfeld. Warum ist Papa so geizig? Merkt er nicht,<br />

dass es wegen des Geldes immer wie<strong>der</strong> Streit mit Mama gibt?<br />

Glaubst du, dass an<strong>der</strong>e Eltern sich auch ständig wegen des Geldes<br />

streiten?»<br />

«Vielleicht. Die Streitereien unserer Eltern sind nicht das<br />

Schlimmste, schlimm sind die ständigen Schwangerschaften von<br />

Mama.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah die Schwester erstaunt an: «Das verstehe ich<br />

nicht.»<br />

Wilhelmine zögerte und erwi<strong>der</strong>te leise: «Das Eheleben muss für<br />

Mama entsetzlich sein, <strong>der</strong> ständige Zank mit Papa und dann …<br />

dann eine neue Schwangerschaft.»<br />

217


«Ich verstehe immer noch nicht, wovon du redest.»<br />

«Nun ja, vor einiger Zeit erklärte mir die Mermann, dass ich<br />

nun bald ein junges Mädchen bin, und sie erzählte mir von den<br />

körperlichen Verän<strong>der</strong>ungen, die auf mich zukommen. Bei dieser<br />

Gelegenheit klärte sie mich auch über meine Pfl ichten als Gattin<br />

auf; o Gott, ich darf nicht daran denken: Wenn man mit einem<br />

Mann verheiratet wird, den man nicht liebt, den man vielleicht<br />

verabscheut, und dann, dann … diese ehelichen Pfl ichten.»<br />

«Was sind das denn für Pfl ichten?»<br />

Wilhelmine betrachtete das neugierige Gesicht des Bru<strong>der</strong>s,<br />

überlegte einen Augenblick und antwortete: «Das kann ich dir<br />

nicht sagen, Fritzchen, lass es dir von Kalckstein erklären, er kann<br />

das besser als ich.»<br />

Eine Stunde später lag <strong>Friedrich</strong> in seinem Bett und streifte den<br />

Erzieher, <strong>der</strong> in einem Buch las, mit einem unschlüssigen Seitenblick.<br />

«Ich möchte Sie etwas fragen, Herr von Kalckstein: Was sind<br />

eheliche Pfl ichten?»<br />

Der Erzieher sah überrascht auf und starrte <strong>Friedrich</strong> einen Augenblick<br />

verblüfft an.<br />

«Königliche Hoheit, was geht in Ihnen vor?»<br />

«Meine Schwester meint, Sie könnten es mir erklären.»<br />

Kalckstein zögerte, dann schloss er das Buch, trat zu <strong>Friedrich</strong>s<br />

Bett und sagte in strengem Ton: «Königliche Hoheit, eines Tages<br />

werde ich Ihnen alles erklären, was Sie über eine Ehe wissen müssen.<br />

Es wäre besser, wenn Sie sich mit dem preußischen Exerzierreglement<br />

beschäftigen würden, und jetzt schlafen Sie! Gute Nacht,<br />

Königliche Hoheit.»<br />

Gütiger Himmel, dachte er, das kann ja noch heiter werden: Der<br />

König hat panische Angst, dass <strong>der</strong> Prinz während <strong>der</strong> Pubertät<br />

Kontakt zu Huren bekommt, wie heißt es in <strong>der</strong> Instruktion? – «So<br />

hat sowohl <strong>der</strong> Oberhofmeister als auch <strong>der</strong> Sousgouverneur darauf<br />

vor allen Dingen achtzuhaben, dass solches verhütet werden,<br />

widrigenfalls sie mir beide mit ihren Köpfen dafür haften.»<br />

Einige Tage später sagte Fräulein von Sonsfeld zu Sophie Dorothea:<br />

«Majestät, ich habe das Temperament und den Charakter <strong>der</strong><br />

218


Prinzessin Wilhelmine beobachtet, sie ist außerordentlich schüchtern<br />

und bebt, wenn ich ernst werde. Man muss sie mit großer<br />

Schonung behandeln und ihr Mut machen; sie ist lenksam, und<br />

wenn man an ihr Ehrgefühl appelliert, kann man fast alles bei ihr<br />

erreichen.»<br />

Die Königin musterte die Hofmeisterin von oben bis unten: «Ich<br />

lasse Ihnen bei <strong>der</strong> Erziehung meiner Tochter freie Hand, aber wagen<br />

Sie es nicht, mir Wilhelmine zu entfremden. Sollte ich <strong>der</strong>lei<br />

bemerken, so entlasse ich Sie auf <strong>der</strong> Stelle.»<br />

219


220<br />

5<br />

Ende März 1722 überreichte Duhan nach dem Unterricht <strong>Friedrich</strong><br />

ein Päckchen und sagte geheimnisvoll lächelnd: «Dieses<br />

Buch, Königliche Hoheit, wollte ich Ihnen schon an Ihrem zehnten<br />

Geburtstag schenken, aber <strong>der</strong> Buchhändler konnte es erst<br />

jetzt besorgen, weil es neu gedruckt wurde. Die Nachfrage nach<br />

diesem Roman ist seit über zwanzig Jahren immer noch sehr<br />

groß.»<br />

<strong>Friedrich</strong> entfernte neugierig das Papier und las den Titel: «Die<br />

Erlebnisse des Telemach» von Fénelon.<br />

Er strahlte Duhan an und rief: «Ich danke Ihnen von ganzem<br />

Herzen, ohne Sie würde ich kein einziges Buch besitzen. Von<br />

meinem Taschengeld könnte ich mir zwar hin und wie<strong>der</strong> ein Buch<br />

kaufen, aber ich habe Angst vor Papa. Er wird bestimmt wütend,<br />

wenn er in meinem Ausgabenbuch liest, dass ich Bücher kaufe. Ich<br />

muss immer bei Wilhelmine ausleihen; Gott sei Dank sind Mama<br />

und Fräulein von Sonsfeld dafür, dass meine Schwester viel liest.<br />

Der Titel klingt abenteuerlich!»<br />

Duhan lächelte: «Es ist ein Abenteuerroman. Manche bezeichnen<br />

den Telemach als Heldengedicht, an<strong>der</strong>e behaupten, er sei eine politische<br />

Satire auf die Regierung Ludwigs XIV. und die politischen und<br />

gesellschaftlichen Zustände in Frankreich. Meiner Meinung nach ist<br />

<strong>der</strong> Telemach primär ein Jugendroman, <strong>der</strong> dem Leser eine Menge<br />

Kenntnisse über Sitten, Sagen, Gebräuche und die Geschichte des<br />

Altertums vermittelt. Wissen Sie, wer Telemach war, Königliche<br />

Hoheit?»<br />

«Nein.»<br />

«Nun, zum Inhalt komme ich später, dieser Roman hat nämlich<br />

eine interessante Vorgeschichte: François de Salignac de La Mothe-<br />

Fénelon lebte von 1651 bis 1715. Er war Priester und <strong>der</strong> Erzieher<br />

des im Jahre 1682 geborenen Herzogs von Burgund, des ältesten<br />

Enkels Ludwigs XIV. Man rechnete damit, dass <strong>der</strong> Herzog eines<br />

Tages König von Frankreich werden würde, und dies bedeutete,<br />

dass er zum Herrscher erzogen werden musste.


Fénelon kam auf die Idee, einen spannenden Roman zu schreiben,<br />

<strong>der</strong> seinen Schüler mit dem Altertum vertraut machen und<br />

ihn gleichzeitig lehren sollte, wie ein König zu regieren hat, damit<br />

sein Staat ein blühendes Land mit glücklichen Untertanen wird.<br />

So lernte <strong>der</strong> Herzog, dass ein König sich keine Ruhe gönnen darf.<br />

Sein Leben besteht aus mühevoller Arbeit, für alles muss er die<br />

Verantwortung tragen: für das Gute, das man unterlässt, für das<br />

Böse, das man tut – selbst sein Seelenheil gerät in Gefahr. Im Telemach<br />

entwickelte Fénelon das Bild des idealen Fürsten: fromm, loyal,<br />

friedliebend, sparsam, unempfänglich für dreiste Schmeichelei,<br />

ein Freund <strong>der</strong> Untertanen, ohne sich gemein zu machen.<br />

Ludwig XIV. belohnte den Lehrer zunächst mit einer Abtei,<br />

anno 95 wurde er zum Erzbischof von Cambrai ernannt, erhielt<br />

den Herzogtitel und ein jährliches Einkommen von 150 000 Goldtalern.»<br />

Duhan schwieg und fuhr dann fort: «Fénelon schrieb das<br />

Buch zwischen 93 und 97, er schrieb es nur für den jungen Herzog<br />

und beabsichtigte nicht, den Roman zu veröffentlichen. Sein Sekretär<br />

stahl eine Abschrift des Telemach und verkaufte sie an die<br />

Buchhandlung von Barbin zu Paris, welche den Roman im April 99<br />

herausgab.<br />

Ein Teil des Buches war mit königlicher Erlaubnis bereits gedruckt,<br />

als sich plötzlich herumsprach, dass Fénelon <strong>der</strong> Verfasser<br />

und das Buch eine Satire auf die Politik und die Person des Sonnenkönigs<br />

sei. Der Zorn des Königs war grenzenlos, er verbannte<br />

Fénelon vom Hof, die bereits gedruckten Exemplare wurden vernichtet,<br />

einige allerdings entgingen <strong>der</strong> Obrigkeit, und <strong>der</strong> Buchhändler<br />

Moetjens in Den Haag druckte den Telemach erneut und<br />

schmuggelte Tausende von Exemplaren nach Frankreich ein. Damit<br />

begann <strong>der</strong> Siegeszug dieses Romans durch Europa, er wurde in<br />

fast alle europäische Sprachen übersetzt. Der Herzog von Burgund<br />

pfl egte heimlich den Kontakt zu seinem Lehrer, und man erzählt,<br />

dass er sich vom Hof zurückzog, um sich durch intensive Studien<br />

auf seine künftigen Regierungsaufgaben vorzubereiten. Als sein<br />

Vater 1711 starb und er Dauphin wurde, ruhten die Hoffnungen vieler<br />

Franzosen auf ihm, denn die Kriege des Sonnenkönigs hatten das<br />

Land wirtschaftlich ruiniert, am Hof herrschten Sittenlosigkeit und<br />

Verschwendung, hinzu kam die religiöse Intoleranz des Königs, die<br />

221


unterstützt wurde durch die frömmelnde Madame de Maintenon,<br />

die ehemalige Gouvernante seiner illegitimen Kin<strong>der</strong>; diese Dame<br />

hat er, nach dem Tod <strong>der</strong> Königin, morganatisch geheiratet.»<br />

Duhan lachte leise auf und fuhr fort: «Die Maintenon war übrigens<br />

als junge Frau mit dem Dichter Paul Scarron verheiratet, <strong>der</strong><br />

den berühmten Roman ‹Le Roman comique› schrieb. Lei<strong>der</strong> konnte<br />

er ihn nicht vollenden, weil er starb. Ihre Majestät hat diesen Roman<br />

wahrscheinlich gelesen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> dachte über das nach, was er soeben gehört hatte, dann<br />

fragte er: «Was bedeutet morganatisch?»<br />

«Eine morganatische Verbindung ist eine Ehe, die nicht standesgemäß<br />

ist; die Kin<strong>der</strong> aus solchen Ehen können keine Thronansprüche<br />

geltend machen.<br />

Im Februar 1712 starb <strong>der</strong> Dauphin, nach dem Tod des Sonnenkönigs<br />

im September 1715 wurde sein Urenkel, ein fünfjähriges<br />

Kind, König von Frankreich. Der Regent Philipp von Orléans hat<br />

bis jetzt tolerant regiert, aber im nächsten Jahr endet seine Regentschaft,<br />

wer weiß, was dann aus Frankreich wird. Wahrscheinlich<br />

überlässt <strong>der</strong> junge König die Leitung <strong>der</strong> Staatsgeschäfte dem Kardinal<br />

Fleury, das ist ja schon fast Tradition in diesem Land: Seit<br />

über hun<strong>der</strong>t Jahren bestimmen in Frankreich Kardinäle die Politik,<br />

solange die Könige min<strong>der</strong>jährig sind – Richelieu, Mazarin<br />

und nun wahrscheinlich Fleury.<br />

Um den Telemach besser zu verstehen, skizziere ich Ihnen jetzt<br />

den Hintergrund <strong>der</strong> Geschichte.» Er hielt einen Augenblick inne<br />

und fuhr dann fort: «Telemach ist <strong>der</strong> Sohn des Odysseus, des Königs<br />

von Ithaka. Kurz nach <strong>der</strong> Geburt des Telemach zog Odysseus<br />

mit an<strong>der</strong>en griechischen Königen nach <strong>der</strong> Stadt Troja, um diese<br />

zu erobern. Den Verlauf des Krieges erzähle ich Ihnen irgendwann,<br />

kurz: nach zehn Jahren gelang es den Griechen, dank einer List des<br />

Odysseus, Troja zu erobern.<br />

Dann begaben die Griechen sich auf den Heimweg. Odysseus<br />

irrte, weil er sich mit dem Meeresgott Poseidon verfeindete, zehn<br />

Jahre auf dem Mittelmeer umher und erlebte ein Unglück nach<br />

dem an<strong>der</strong>en.<br />

Telemach ist inzwischen ein junger Mann und muss erleben, dass<br />

seine Mutter Penelope von Freiern bedrängt wird. Diese Männer<br />

222


werben nicht nur um Penelope, son<strong>der</strong>n verprassen auch die Güter<br />

seines Vaters. Er verlässt Ithaka heimlich in Begleitung seines treuen<br />

Dieners Mentor. Der Göttervater Zeus entscheidet, dass sowohl<br />

Odysseus als auch Telemach gesund nach Ithaka zurückkehren. Telemach<br />

soll ein weiser König werden wie sein Vater, deshalb nimmt<br />

Pallas Athene, die eine Tochter des Zeus ist, die Gestalt Mentors an<br />

und bringt den Telemach während seiner Reise in gefährliche Situationen,<br />

aus denen er lernen soll. Sie kritisiert seine Reaktionen<br />

und Verhaltensweisen, erteilt ihm Ratschläge und so weiter. Als<br />

Telemach nach Ithaka zurückkehrt, ist er menschlich gereift und<br />

fähig, als König zu regieren.<br />

Fénelon verwendet im Roman die römischen Götternamen, also<br />

Jupiter statt Zeus, Minerva statt Pallas Athene, Neptun statt Poseidon<br />

und so weiter. Ich gebe Ihnen morgen eine Liste <strong>der</strong> griechischen<br />

und römischen Götternamen. Im Roman fi nden Sie auch hin und<br />

wie<strong>der</strong> Anspielungen auf Ereignisse <strong>der</strong> griechischen Mythologie,<br />

ich erzähle Ihnen gerne den genauen Inhalt <strong>der</strong> einzelnen Sagen.<br />

Wenn Sie den Telemach gelesen haben, gebe ich Ihnen die Epen Homers,<br />

die Ilias und die Odyssee.»<br />

Als Duhan gegangen war, blieb <strong>Friedrich</strong> im Unterrichtszimmer,<br />

schlug das Buch auf und überfl og das Inhaltsverzeichnis: Erstes<br />

Buch. Telemachs Reise nach Pylos und Lacedämon; sein Schiffbruch<br />

an <strong>der</strong> Küste von Sizilien.<br />

Zweites Buch. Telemach in Ägypten …<br />

Fünftes Buch. Telemach auf <strong>der</strong> Insel Kreta …<br />

Vierzehntes Buch. Telemach in <strong>der</strong> Unterwelt …<br />

<strong>Friedrich</strong> sah auf: «Die Unterwelt», fl üsterte er, «was ist das?»<br />

Er las weiter: Siebzehntes Buch. Telemachs Rückkehr nach Salentum.<br />

Seine Liebe zu Antiope. Abreise von Salentum.<br />

Achtzehntes Buch. Mentor erteilt die letzten weisen Lehren und<br />

zeigt sich dann in wahrer Gestalt. Telemach fi ndet seinen Vater bei<br />

Eumäus.<br />

<strong>Friedrich</strong> ging zu <strong>der</strong> Weltkarte, die an <strong>der</strong> Wand hing, suchte<br />

Berlin, und dann wan<strong>der</strong>te sein rechter Zeigefi nger von Berlin<br />

nach Dresden, weiter nach Wien und immer weiter nach Süden,<br />

bis er die Stadt Athen erreichte. Seine Augen wan<strong>der</strong>ten weiter<br />

223


zur Insel Kreta, von dort nach Ithaka, schließlich nach Sizilien und<br />

Ägypten.<br />

«Wie weit ist Athen von Berlin entfernt», sagte er leise, «wie<br />

unendlich weit.»<br />

Er setzte sich an den Tisch und begann zu lesen: «Erstes Buch.<br />

Telemach wird mit Mentor auf die Insel <strong>der</strong> Kalypso verschlagen;<br />

er schil<strong>der</strong>t ihr seine Reise nach Pylos und Lacedämon, seinen<br />

Schiffbruch an <strong>der</strong> Küste von Sizilien, das grausame Vorhaben des<br />

Acestes und die Kämpfe gegen die Bergvölker Siziliens. Er erhält<br />

ein Schiff zur Rückkehr in seine Heimat.»<br />

<strong>Friedrich</strong>s Augen glitten zum Ende <strong>der</strong> Seite und er las das Kleingedruckte:<br />

«Nymphen, zahlreiche untergeordnete Gottheiten,<br />

wohnen auf den Bergen und in Hainen, an Quellen, Flüssen und<br />

Strömen, in Tälern und Grotten. Oft sind sie in <strong>der</strong> Umgebung<br />

höherer Gottheiten, wie <strong>der</strong> Jägerin Artemis; so auch hier.»<br />

Aha, dachte er, gewisse Worte werden erklärt, das ist gut.<br />

Dann begann er zu lesen: «Kalypso konnte sich über die Abreise<br />

des Odysseus nicht trösten. In ihrem Schmerze empfand sie ihre<br />

Unsterblichkeit als Unglück.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah auf.<br />

Warum ist sie unsterblich, dachte er; nun, Duhan wird es mir<br />

erklären. Und er las weiter: «Ihr Gesang ertönte nicht mehr in ihrer<br />

Grotte; die Nymphen, die sie bedienten, wagten nicht, mit ihr zu<br />

sprechen. Oftmals erging sie sich ganz allein auf dem blumigen<br />

Rasen, mit dem ein ewiger Frühling ihre Insel umsäumte; aber<br />

diese trauten Orte, weit davon entfernt, ihren Schmerz zu lin<strong>der</strong>n,<br />

riefen nur den traurigen Gedanken an Odysseus, mit dem sie hier<br />

so oft glücklich gewesen, in ihr Gedächtnis zurück. Oftmals stand<br />

sie regungslos am Gestade des Meeres, netzte es mit ihren Tränen<br />

und sah unverwandt nach <strong>der</strong> Richtung, in welcher das Schiff des<br />

Odysseus die Wogen durchschnitten hatte und ihren Augen entschwunden<br />

war.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah auf.<br />

Das grausame Vorhaben des Acestes, dachte er, das klingt spannend,<br />

und er blätterte die Seiten um, überfl og kurz den Inhalt, bis<br />

er die Stelle fand, die er suchte: «Schon führte man uns zum Grabe<br />

des Anchises; zwei Altäre waren darauf errichtet, das heilige Feuer<br />

224


annte daselbst; schon war das Schwert gezückt, das uns durchbohren<br />

sollte; wie Opfertiere waren wir mit Blumen geschmückt;<br />

in keinem Herzen regte sich Mitleid für uns, es war um uns geschehen.<br />

Da verlangte Mentor ruhig, den König zu sprechen, und<br />

begann also …»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete auf. Mentors Worte werden Telemach retten,<br />

dachte er, und las noch einmal den Anfang.<br />

Er las und las und zuckte zusammen, als er Sternemanns Stimme<br />

hörte: «Königliche Hoheit, es ist Zeit für die Abendtafel.»<br />

Als er später das Tabakskollegium verließ, ging er nicht zu Wilhelmine,<br />

son<strong>der</strong>n setzte sich in seinen Wohnraum und las weiter.<br />

Irgendwann erschien Finck: «Königliche Hoheit, Sie müssen sich<br />

jetzt zur Ruhe begeben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> seufzte und sah den Erzieher mit bettelnden Augen an:<br />

«Kann ich nicht noch fünf Minuten lesen, bitte?»<br />

«Nein, Königliche Hoheit, ich muss Seiner Majestät gehorchen<br />

und mich an die Vorschriften halten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lag noch lange wach und dachte über die griechische<br />

Götterwelt nach und über ihre Beziehung zu den Menschen. Dann<br />

überlegte er, was mit <strong>der</strong> Unterwelt gemeint war.<br />

Unterwelt, dachte er, das klingt geheimnisvoll, ich muss wissen,<br />

was Unterwelt bedeutet.<br />

Er setzte sich vorsichtig auf und lauschte auf die gleichmäßigen<br />

Atemzüge des Erziehers. Plötzlich begann Finck, laut zu schnarchen,<br />

und kurz entschlossen stand <strong>Friedrich</strong> auf, schlüpfte in die Pantoffeln,<br />

zog so leise wie möglich den Schlafrock an und schlich hinüber<br />

in den Wohnraum. Dort entzündete er die Lampe, die noch immer<br />

im Kamin stand, nahm das Buch, hockte sich im Schnei<strong>der</strong>sitz vor<br />

den Kamin und sah einige Sekunden glücklich vor sich hin.<br />

Es gibt nichts Schöneres, dachte er, als heimlich zu lesen.<br />

Er öffnete das Buch, blätterte und las: «Vierzehntes Buch. Telemach<br />

steigt in die Unterwelt hinab. Charon führt ihn über den<br />

Styx. Pluto erlaubt ihm, seinen Vater zu suchen. Er durchwandelt<br />

den Tartarus, wo er die Leiden <strong>der</strong> bösen Könige sieht; darauf begibt<br />

er sich in die elysäischen Fel<strong>der</strong> und fi ndet seinen Urgroßvater<br />

Arcesius. Dieser zeigt ihm die Glückseligkeit, welche die guten Könige<br />

genießen.»<br />

225


Während er eine Seite nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en umblätterte und den<br />

Inhalt mit den Augen verschlang, spürte er, dass sein Herz heftig<br />

zu klopfen begann, je mehr Telemach sich dem Tartarus näherte:<br />

«Ganz in seiner Nähe bemerkte er den fi nsteren Tartarus. Schwarzer<br />

und dicker Rauch entstieg ihm, dessen giftiger Geruch den Lebendigen<br />

zu Tode bringen würde, falls er bis zu ihnen hinauf sich<br />

verbreitete. Dieser Rauch bedeckte einen Feuerstrom und wirbelnde<br />

Flammenwinde, <strong>der</strong>en Toben dem Brausen wil<strong>der</strong> und reißen<strong>der</strong><br />

Flüsse glich, wenn sie von den höchsten Felsen in die tiefsten Abgründe<br />

hinabstürzen, so dass man in dieser schaurigen Gegend<br />

nichts deutlich zu hören vermochte. Telemach wurde insgeheim<br />

von Minerva ermutigt und betrat furchtlos den Abgrund … Endlich<br />

bemerkte Telemach die Könige, die verdammt waren, weil sie<br />

ihre Macht missbraucht hatten …<br />

Doch am meisten war Telemach darüber verwun<strong>der</strong>t, dass er<br />

an diesem Orte düsteren Jammers eine große Zahl von Königen<br />

sah, welche auf Erden für ziemlich gute Könige gehalten wurden.<br />

Sie waren zu den Martern <strong>der</strong> Hölle verdammt worden, weil sie<br />

sich durch gottlose und arglistige Menschen hatten beherrschen<br />

lassen … Die Mehrzahl dieser Könige war we<strong>der</strong> gut noch böse gewesen;<br />

Schwachheit war ihr Hauptfehler …<br />

Hier wohnten alle guten Könige, welche weise über die Menschen<br />

geherrscht hatten …<br />

Telemach näherte sich diesen Königen, welche in duftenden Hainen,<br />

auf grünen, ewig blühenden Wiesen lustwandelten …<br />

So sprach er; und zugleich führte er den Telemach zu dem elfenbeinernen<br />

Tore, durch das man aus dem düsteren Reich des Pluto<br />

in die Oberwelt gelangt …»<br />

<strong>Friedrich</strong> schloss das Buch und sah nachdenklich vor sich hin.<br />

«Die griechische Unterwelt», sagte er leise zu sich selbst, «ist<br />

also ein Totenreich, <strong>der</strong> Tartarus ist die Hölle und die elysäischen<br />

Gefi lde <strong>der</strong> Himmel; merkwürdig, dass man auch im Altertum an<br />

Himmel und Hölle glaubte.»<br />

Drei Tage später sagte <strong>Friedrich</strong> nach dem Unterricht zu Duhan:<br />

«Ich habe den Telemach gelesen, würden Sie mir jetzt bitte Homer<br />

geben?»<br />

226


Der Lehrer starrte <strong>Friedrich</strong> einen Augenblick verblüfft an und<br />

rief: «Wie bitte, Königliche Hoheit? Sie haben das Buch in drei Tagen<br />

gelesen? Wie ist das möglich?»<br />

<strong>Friedrich</strong> errötete und antwortete zögernd: «Nun ja, wenn Finck fest<br />

schlief, stand ich auf und las während <strong>der</strong> Nacht im Nebenzimmer.»<br />

«Gütiger Himmel! Jetzt verstehe ich auch, weshalb Sie während<br />

<strong>der</strong> letzten Tage im Unterricht unkonzentriert waren, Ihnen fehlte<br />

die nötige Nachtruhe. Sie dürfen während <strong>der</strong> Nacht nicht lesen,<br />

das schadet Ihrer Gesundheit.»<br />

«Ich werde mein Bett nicht mehr verlassen», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong><br />

kleinlaut, «in <strong>der</strong> vergangenen Nacht hätte Finck beinahe etwas gemerkt.<br />

Er bekam einen Hustenanfall, wachte auf, hörte mich nicht<br />

atmen, betastete anscheinend mein Bett, und als er mich nicht<br />

fand, rief er: ‹Königliche Hoheit, wo sind Sie?›<br />

Ich eilte zu meinem Bett und antwortete, ich hätte austreten<br />

müssen. Er glaubte mir. Ich darf nicht daran denken, was passiert<br />

wäre, hätte er mich im Nebenraum entdeckt, er hätte bestimmt<br />

dem König berichtet und dann … dann, ich wäre bestimmt hart<br />

bestraft worden.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte <strong>Friedrich</strong>: «Ich bin begeistert<br />

vom Telemach, und ich werde die Passagen, in denen Telemach erfährt,<br />

wie ein guter König regiert, auswendig lernen.»<br />

Er fuhr nachdenklich fort: «In diesem Buch habe ich eine an<strong>der</strong>e<br />

Welt kennengelernt, eine Welt ohne Winter und Kälte, eine<br />

Welt, wo es immer sonnig und warm ist, und die Religion ist<br />

viel interessanter: Es gibt Götter, Halbgötter, die Götter nähern<br />

sich den Menschen, aber, und das ist merkwürdig, die Menschen<br />

haben Furcht vor den Göttern, sie trachten danach, sie nicht zu<br />

erzürnen, und bringen Opfer, und es gibt einen Himmel und<br />

eine Hölle, wie im christlichen Glauben – wie kommt dies?»<br />

Duhan erwi<strong>der</strong>te: «Irgendwann glaubten die Menschen, dass es<br />

überirdische Wesen gibt, die ihr Tun beobachten und die man durch<br />

Opfer gnädig stimmen muss. Irgendwann glaubten die Menschen,<br />

dass es ein Leben nach dem Tod gibt, ein Leben, in dem schlechte<br />

Taten bestraft und gute Taten belohnt werden.<br />

Es entstanden im Laufe <strong>der</strong> Zeit verschiedene Religionen, die aber<br />

gewisse Gemeinsamkeiten entwickelten: die Hoffnung auf die Hil-<br />

227


fe des Gottes o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Götter, die Furcht vor ihnen, <strong>der</strong> Versuch, sie<br />

gnädig zu stimmen, schließlich die Vorstellung, wie das Leben nach<br />

dem Tod sein könnte, also die Idee vom Tartarus und den elysäischen<br />

Gefi lden bei den Griechen, die Idee von Himmel und Hölle bei den<br />

Christen. Im Altertum schufen die Menschen sich Bil<strong>der</strong> von den Göttern;<br />

allmählich verschwanden diese Bil<strong>der</strong>, und für uns ist Gott heute<br />

ein abstrakter Begriff, ein Wesen, das wir uns bildlich nicht vorstellen<br />

können, aber für die Christen ist Jesus Christus, <strong>der</strong> Sohn Gottes, ein<br />

Bild, an das sie sich wenden können. Die Katholiken beten außerdem<br />

zu ihren Heiligen und <strong>der</strong> Jungfrau Maria, für die Moslems ist <strong>der</strong><br />

Prophet Mohammed die Verbindung zu Allah; verstehen Sie, was ich<br />

Ihnen sagen will? In allen Religionen gibt es gewisse Übereinstimmungen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte lange und antwortete: «Meinen Sie, dass alle<br />

Religionen den gleichen Wert besitzen, dass es keine Rangunterschiede<br />

gibt?»<br />

«So ist es, Königliche Hoheit, und seit fast vierzig Jahren werden<br />

in Preußen alle Religionen toleriert.»<br />

«Ich werde dem Beispiel meiner Vorfahren folgen, Monsieur<br />

Duhan.»<br />

Der Lehrer lächelte: «Ihr Unterricht endet nach Ihrer Konfi rmation<br />

im Frühjahr 27. Dann habe ich Zeit und Muße, um Ihnen eine<br />

Bibliothek aufzubauen, wo Sie Bücher zu allen Wissensgebieten unserer<br />

Zeit fi nden werden. Sie sollten die Jahre bis zu Ihrer Thronbesteigung<br />

nutzen, um sich so viel Wissen wie möglich anzueignen.<br />

Ich kann Sie im Augenblick nur das lehren, was <strong>der</strong> Lehrplan Seiner<br />

Majestät mir vorschreibt, und dies ist nicht viel. Ihre künftige<br />

Bibliothek muss natürlich außerhalb des Schlosses untergebracht<br />

werden, weil Seine Majestät Bücher nicht mag, um es vorsichtig<br />

auszudrücken. Einige <strong>der</strong> Bücher müssten Sie natürlich kaufen,<br />

und weil Seine Majestät Ihre Ausgaben überprüft, müssten Sie bei<br />

den Banken einen Kredit aufnehmen, aber das ist kein Problem,<br />

jede Bank gewährt Ihnen wahrscheinlich einen unbegrenzten Kredit<br />

mit akzeptablen Zinsen. Gehen Sie nie zu den Juden, wenn Sie<br />

Geld benötigen, die Juden verlangen Wucherzinsen. Morgen gebe<br />

ich Ihnen den Homer, sie sollten zunächst die Ilias und dann die<br />

Odyssee lesen.»<br />

228


Er überlegte und fuhr fort: ,,Homer wendet in beiden Dichtungen<br />

ein Kunstmittel an, das die Jahrhun<strong>der</strong>te überlebt hat: Er<br />

schil<strong>der</strong>t keine langdauernde Chronik von Begebenheiten, son<strong>der</strong>n<br />

eine überschaubare Handlung, so dass sich das Interesse auf die<br />

Figuren und <strong>der</strong>en entscheidende Taten richtet; in <strong>der</strong> Ilias stellt<br />

Homer den Vorkämpfer <strong>der</strong> Hellenen, nämlich Achilleus dar; fast<br />

zehn Jahre tobt schon <strong>der</strong> Krieg; seine Ursachen erwähnt das Epos<br />

hie und da im Verlauf einer Handlung, die 51 Tage umfasst, von<br />

denen wie<strong>der</strong>um nur einige als Höhepunkte des Geschehens ausführlich<br />

behandelt werden. Auch die Odyssee beginnt erst kurz vor<br />

dem Ende <strong>der</strong> Handlung, die sich ja auch über zehn Jahre erstreckt,<br />

dieses Verfahren <strong>der</strong> eingeschalteten Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

wurde zum epischen Gesetz für eine weitverzweigte Kette von<br />

Ereignissen.»<br />

Ungefähr einen Monat später ritten <strong>der</strong> König und <strong>Friedrich</strong> an<br />

einem Nachmittag durch die Straßen Potsdams. Die Soldaten und<br />

Bürger, die ihnen begegneten, blieben stehen und riefen: «Es lebe<br />

<strong>der</strong> König! Es lebe <strong>der</strong> Kronprinz!»<br />

Papa ist in Potsdam anscheinend beliebter als in Berlin, dachte<br />

<strong>Friedrich</strong> nach einer Weile, nun, er weilt hier auch öfter als in Berlin.<br />

Plötzlich zügelte <strong>der</strong> König sein Pferd vor einer Baustelle und<br />

sagte: «Sieh, Fritz, hier wurde vor einem Monat <strong>der</strong> Grundstein<br />

für eine Gewehrfabrik gelegt, künftig werden hier die Infanteriegewehre<br />

und die Kavalleriepistolen hergestellt, das ist ein weiterer<br />

wichtiger Schritt, um von Importwaren unabhängig zu werden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete fl üchtig die Grundmauern und dann wan<strong>der</strong>ten<br />

seine Gedanken wie<strong>der</strong> nach Troja, und er sah Priamos vor<br />

sich, den greisen König <strong>der</strong> Trojaner, wie er in <strong>der</strong> Nacht den griechischen<br />

Helden Achilleus aufsuchte und ihn um den Leichnam<br />

seines Sohnes Hektor bat, <strong>der</strong> dem Griechen im Zweikampf unterlegen<br />

war.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm wartete einige Sekunden lang auf eine Reaktion<br />

des Sohnes, dann betrachtete er dessen Gesicht und stutzte.<br />

Hört er mir überhaupt zu, dachte er verärgert, seine Gedanken<br />

weilen irgendwo, aber nicht bei <strong>der</strong> Gewehrfabrik.<br />

Sie ritten schweigend durch die Straßen des neuen Stadtviertels,<br />

das sich östlich des Schlosses erstreckte, und vor einer groß-<br />

229


en unbebauten Fläche hielt <strong>der</strong> König erneut an und sagte: «Höre,<br />

Fritz, hier möchte ich in einigen Jahren holländische Handwerker<br />

ansiedeln, und damit sie sich heimisch fühlen, werde ich die Häuser<br />

so bauen lassen, wie es in Holland üblich ist, nämlich aus rotem<br />

Backstein und mit einem Schweifgiebel. Dieses Holländische<br />

Viertel soll <strong>der</strong> architektonische Edelstein Potsdams werden. Was<br />

sagst du zu meinen Plänen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen, betrachtete die unbebaute Fläche<br />

und murmelte: «Was soll ich dazu sagen?»<br />

Der König spürte, wie <strong>der</strong> Zorn in ihm hochkochte, und schrie:<br />

«Zum Donnerwetter, für was interessierst du dich überhaupt? Meine<br />

Pläne für Potsdam – das ist das wirkliche Leben! Deine Bücher,<br />

deine Flöte, das sind nur Wind und blauer Dunst!»<br />

Sie ritten schweigend weiter, und nach einer Weile hielt <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm vor einer Weinhandlung, sie saßen ab und betraten<br />

den Laden.<br />

Wagenführ sah überrascht auf, als er den König erblickte, verbeugte<br />

sich und rief: «Majestät, Königliche Hoheit, es ist für mich<br />

eine Ehre, dass Sie mein bescheidenes Haus aufsuchen!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete die Regale mit den Flaschen, sah zufrieden,<br />

dass die Weine übersichtlich nach den verschiedenen Anbaugebieten<br />

geordnet waren, ging in den kleinen Nebenraum, wo Tische und<br />

Stühle standen, und fragte erstaunt: «Was ist dies? Eine Schenke?»<br />

«Nein, Majestät, es ist eine sogenannte Probierstube; die Kunden<br />

können hier gegen ein geringes Entgelt den Wein kosten, den<br />

sie kaufen möchten, man kann sich hier auch länger aufhalten und<br />

eine Kleinigkeit essen. Brot, Butter, Schinken, Wurst und Käse<br />

habe ich immer vorrätig, natürlich nur gegen Bezahlung.»<br />

«Eine gute Idee. Nun, Er hat die Weinhandlung seit Anfang des<br />

Jahres; ist Er mit den Einkünften zufrieden, ich meine, macht Er<br />

ein Plus?»<br />

Wagenführ strahlte: «Ja, Majestät, meine Kunden kommen nicht<br />

nur aus Berlin o<strong>der</strong> Potsdam, son<strong>der</strong>n auch aus <strong>der</strong> weiteren Umgebung,<br />

ich verkaufe nur Weine aus den deutschen Anbaugebieten,<br />

aber aus allen Anbaugebieten. Vor einigen Tagen kam eine Lieferung<br />

aus <strong>der</strong> Gegend um Würzburg, darf ich Euer Majestät ein<br />

Glas anbieten? Dieser Wein hat ein beson<strong>der</strong>es Aroma.»<br />

230


Er schenkte ein, reichte dem König das Glas und fragte: «Darf<br />

Seine Königliche Hoheit auch Wein trinken?»<br />

«Gewiss, mein Sohn trinkt im Tabakskollegium Bier und ist inzwischen<br />

etwas an den Alkohol gewöhnt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> trank einen Schluck und sah erstaunt auf.<br />

Der Wein schmeckt viel kräftiger als <strong>der</strong> Rheinwein an unserer<br />

Tafel, dachte er.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm leerte sein Glas in wenigen Zügen, atmete<br />

tief durch und rief: «Donnerwetter, dieser Wein ist schwerer als<br />

<strong>der</strong> Rheinwein, er schmeckt … mir fehlen die Worte, er schmeckt<br />

an<strong>der</strong>s als die Weine von <strong>der</strong> Mosel und dem Rhein.»<br />

Wagenführ lächelte: «Der Wein schmeckt erdig, Majestät, er ist<br />

schwerer als die an<strong>der</strong>en Weine.»<br />

Er schenkte dem König ein zweites Glas ein, und während <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm genießerisch einen Schluck nach dem an<strong>der</strong>en trank,<br />

sagte er: «Er kann fünf Dutzend Flaschen in das Schloss schicken,<br />

dieser Wein wird bei beson<strong>der</strong>en Anlässen serviert.»<br />

«Darf ich Euer Majestät die Flaschen schenken?»<br />

«Selbstverständlich!», rief <strong>der</strong> König gutgelaunt. «Delikatessen,<br />

auch fl üssige Delikatessen, sind mir stets willkommen. Ich freue<br />

mich, dass Er nur deutsche Weine verkauft und nicht die sündhaft<br />

teuren Weine aus Frankreich – übrigens, Er soll sich nicht wun<strong>der</strong>n,<br />

wenn er künftig Verbrecher in französischen Klei<strong>der</strong>n zum<br />

Richtplatz gehen sieht, ich habe kürzlich angeordnet, dass Verbrecher<br />

französische Klei<strong>der</strong> tragen sollen, wenn sie hingerichtet<br />

werden. Ich hoffe, dass meine Untertanen dadurch einen Abscheu<br />

vor den Franzosen und ihrer Lebensweise bekommen. Ich wünsche<br />

Ihm Glück bei Seinen Geschäften, aber als Weinhändler hat Er hier<br />

in Potsdam bis jetzt keine Konkurrenz: Seine Kameraden brauen<br />

alle Bier, es gibt inzwischen sechzehn hauptberufl iche Brauer. Ich<br />

schätze, dass die Zahl <strong>der</strong> nebenberufl ichen Brauer … nun, sie ist<br />

weitaus höher, und das Bier meiner anno 16 gegründeten ‹Königsbrauerei›<br />

wird qualitativ immer besser.»<br />

Beim Verlassen <strong>der</strong> Weinhandlung streifte <strong>Friedrich</strong> den Vater<br />

mit einem scheuen Seitenblick.<br />

Wie sehr muss er Frankreich hassen, überlegte er, dass er Verbrecher<br />

bei ihrer Hinrichtung französische Klei<strong>der</strong> tragen lässt.<br />

231


Warum hasst er Frankreich? Dieses Land ist das kultivierteste in<br />

Europa.<br />

Sie ritten weiter, und auf dem Marktplatz hielt <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

an und beobachtete den Stockmeister, <strong>der</strong> im Gewölbe <strong>der</strong><br />

Wache die Ruten schnitt.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete nachdenklich den hölzernen Esel mit den<br />

harten, schmerzenden Kanten, <strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Wache stand, und die<br />

Säule, die sich nur wenige Schritte entfernt emporreckte.<br />

Die Soldaten, dachte er schau<strong>der</strong>nd, müssen für kleine Vergehen<br />

stundenlang auf dem Esel reiten, bei größeren Vergehen müssen<br />

sie stundenlang gefesselt an <strong>der</strong> Säule hängen. Ist das wirklich notwendig?<br />

In diesem Augenblick marschierten ungefähr zweihun<strong>der</strong>t Soldaten<br />

auf und stellten sich so, dass sie eine Gasse bildeten. Der<br />

Stockmeister verteilte die Ruten, dann wurde ein Soldat, dessen<br />

Oberkörper nur mit einem Hemd bekleidet war, zum Stockmeister<br />

geführt.<br />

Die Potsdamer liefen zum Marktplatz und betrachteten schweigend<br />

den Spießrutenlauf.<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete, wie <strong>der</strong> Soldat vom Stockmeister langsam<br />

durch die Gasse seiner Kameraden getrieben wurde, er sah, wie<br />

je<strong>der</strong> Soldat die Rute auf den Rücken des Delinquenten schlug, er<br />

hörte, dass <strong>der</strong> Delinquent nach einer Weile stöhnte. Als er vom<br />

Stockmeister durch die Gasse zurückgetrieben wurde, schrie er<br />

laut auf vor Schmerzen, und nach einer Weile sah <strong>Friedrich</strong> entsetzt,<br />

dass die Soldaten ihrem Kameraden das zerfetzte Hemd vom<br />

geschundenen Rücken rissen, er sah das geronnene Blut wie kleine<br />

Lappen am Rücken hängen, er sah, wie die Ruten weiter auf<br />

den Rücken schlugen, und dann sah er den König an: «Papa, bitte,<br />

befehlen Sie, dass die Soldaten ihren Kameraden nicht weiter<br />

schlagen, mein Gott, sehen Sie, sein Rücken … er ist eine einzige<br />

Blutlache.»<br />

In diesem Augenblick stürzte <strong>der</strong> Soldat tot zu Boden.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm wendete sein Pferd, musterte den Sohn und<br />

sagte: «Fritz, ich weiß, dass <strong>der</strong> Spießrutenlauf zu den härtesten<br />

Strafen zählt, aber diese Strafe ist die einzige Möglichkeit, um eine<br />

Armee zu disziplinieren; trotzdem desertieren täglich Soldaten.<br />

232


Ich weiß, dass es eine grausame Strafe ist, aber ich weiß, dass die<br />

Matrosen auf den englischen Schiffen bei dem geringsten Vergehen<br />

noch grausamer bestraft werden.»<br />

«Warum, Papa? Es muss doch noch an<strong>der</strong>e Möglichkeiten geben,<br />

um die Soldaten zu disziplinieren? Wenn ich König bin, werde ich<br />

den Spießrutenlauf verbieten!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Sohn überrascht an und erwi<strong>der</strong>te:<br />

«Wenn du König bist, wirst du bald merken, dass drakonische Strafen<br />

unerlässlich sind, damit in einem Staat Ruhe und Ordnung<br />

herrschen.»<br />

Er schwieg und sagte nach einer Weile leise: «Ich denke schon<br />

seit geraumer Zeit darüber nach, was in deinem Kopf vorgeht.»<br />

233


234<br />

6<br />

Ende Juli 1723 saß <strong>Friedrich</strong> Wilhelm in seinem Arbeitszimmer<br />

im Potsdamer Schloss und las die eingegangene Post. Als <strong>der</strong> Nachmittag<br />

allmählich in den Abend überging, sah er zur Uhr und freute<br />

sich auf das Tabakskollegium.<br />

Hin und wie<strong>der</strong> wan<strong>der</strong>ten seine Augen zu <strong>der</strong> Wiege, die links<br />

neben ihm stand, und er betrachtete liebevoll das schlafende Kind.<br />

Irgendwann öffnete <strong>der</strong> Säugling die Augen und begann zu wimmern.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stand sofort auf, nahm das Kind auf den<br />

Arm, ging mit ihm auf und ab und sagte: «Was ist, August Wilhelm?<br />

Bist du schon wie<strong>der</strong> hungrig? Das ist unmöglich, deine<br />

Amme hat dich vorhin gestillt, du willst wahrscheinlich, dass ich<br />

dich herumtrage; nun gut, ich trage dich gern herum. Weißt du,<br />

dass du in wenigen Tagen, am 8. August, ein Jahr alt bist? Ein Jahr,<br />

die Zeit vergeht so rasch, ein Jahr.»<br />

Das Kind lächelte den Vater an, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm legte den<br />

Sohn wie<strong>der</strong> in die Wiege und vertiefte sich erneut in die Post.<br />

Wenige Minuten später trat ein Diener diskret in das Zimmer und<br />

sagte: «Majestät, verzeihen Sie die Störung, aber soeben ist Ihre<br />

Majestät angekommen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah irritiert auf, und im gleichen Augenblick<br />

rauschte Sophie Dorothea freudestrahlend in das Arbeitszimmer.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stand auf, umarmte die Gattin, dann trat er<br />

einen Schritt zurück, betrachtete sie und sagte: «Hat es Ihnen in<br />

Herrenhausen nicht mehr gefallen? Das prunkvolle Schloss mit<br />

den weitläufi gen Parkanlagen und <strong>der</strong> Hof Ihres Vaters sind doch<br />

mehr nach Ihrem Geschmack als <strong>der</strong> schlichte Berliner Hof.»<br />

Sie sahen sich einen Augenblick an, dann trat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

zu <strong>der</strong> Gattin und betrachtete ihre strahlenden Augen: «Sie wirken<br />

so glücklich, so habe ich Sie seit vielen Jahren nicht erlebt.»<br />

«Ja, ich bin glücklich, ich bin seit langer Zeit endlich einmal<br />

glücklich. Ich habe meinen Vater überredet, nach Berlin zu kommen,<br />

um seine Enkelkin<strong>der</strong>, also vor allem Fritz und Wilhelmine,<br />

kennenzulernen. Er wird Anfang Oktober hier eintreffen, deswe-


gen bin ich früher als geplant abgereist, um seinen Empfang vorzubereiten.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm langsam:<br />

«Ihr Vater ist also endlich bereit, seine Enkelkin<strong>der</strong> zu sehen? Es ist<br />

auch höchste Zeit. Ich empfand es als Demütigung, dass während<br />

<strong>der</strong> vergangenen Monate immer wie<strong>der</strong> Damen aus Hannover auftauchten,<br />

um Wilhelmine zu begutachten; das arme Kind musste<br />

sich vor ihnen ausziehen, damit sie mit eigenen Augen sahen, dass<br />

sie nicht verwachsen ist.»<br />

«Mon Dieu, die Leti hat in London lauter Lügen über Wilhelmine<br />

erzählt, die mein Vater glaubte, aber er ist jetzt bereit, sich<br />

unsere Tochter anzusehen, das allein ist jetzt wichtig, und wir<br />

müssen ihn gebührend empfangen. Mein Vater ist inzwischen gebrechlich,<br />

deswegen bitte ich Sie, ihn im Charlottenburger Schloss<br />

wohnen zu lassen. Die Räume des Königs liegen im Erdgeschoss, er<br />

muss dort keine Treppen steigen; ich weiß, was das Schloss Ihrer<br />

seligen Mutter Ihnen bedeutet, aber vielleicht könnte mein Vater<br />

dort wohnen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm überlegte einen Augenblick: «Nun gut, er<br />

kann dort wohnen.»<br />

«Ich danke Ihnen, aber ich habe noch weitere Bitten: Wir werden<br />

mit meinem Vater über Wilhelmines Heirat sprechen. Er soll nicht<br />

denken, dass wir an ihrer Mitgift sparen, deshalb bitte ich Sie, an<br />

<strong>der</strong> Tafel für alle Anwesenden das Silbergeschirr decken zu lassen.<br />

Es sind nur wenige Tage, und das Silber wird während dieser<br />

Zeit bestimmt nicht ruiniert werden. Bedenken Sie: Sie empfangen<br />

nicht nur Ihren Schwiegervater, son<strong>der</strong>n auch den König von England,<br />

da müssen wir schon etwas mehr repräsentieren als sonst.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging im Zimmer auf und ab und brummte<br />

nach einer Weile: «Na schön, Ihr Vater soll von Silbertellern speisen.»<br />

Sophie Dorothea atmete auf und fuhr fort: «Die Speisen müssen<br />

natürlich zu dem Silbergeschirr passen, ich denke dabei an Austern.<br />

Sie lieben doch Austern? Trüffeln und Wildbret passen ebenfalls<br />

zu dem silbernen Geschirr.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg und Sophie Dorothea beobachtete<br />

besorgt, wie die Miene des Gatten sich allmählich verfi nsterte.<br />

235


«Austern», brummte er, «Trüffeln, Wildbret, haben Sie noch<br />

weitere Wünsche? Austern und Trüffeln sind zu teuer, über Wildbret<br />

kann man reden – da fällt mir ein, wenn er Anfang Oktober<br />

kommt, muss ich den Urlaub in Wusterhausen vorzeitig abbrechen,<br />

das ist ein Opfer für mich.»<br />

«Ich weiß, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen für dieses<br />

Opfer, aber ich empfange meinen Vater und möchte, dass er sich bei<br />

uns wohl fühlt.»<br />

«Ich respektiere Ihre Gefühle, aber hat er dafür gesorgt, dass ich<br />

mich bei meinen Besuchen in Hannover bei ihm wohl fühlte? Er hat<br />

mir Roastbeef vorgesetzt, das nur halb gebraten war und auf dem<br />

Teller blutete, ich habe es gegessen, weil ich ein höfl icher Mensch<br />

bin. An meinem Hof werden Erbsen mit Speck und Eisbein serviert.<br />

Ihr Vater wird sich mit <strong>der</strong> Verpfl egung arrangieren müssen.»<br />

Das Ehepaar sah sich eine Weile schweigend an, und dann<br />

brummte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Ich werde versuchen, einen Kompromiss<br />

zu fi nden, was die Speisen betrifft.»<br />

Sophie Dorothea atmete erneut auf: «Ich danke Ihnen. Unsere<br />

beiden ältesten Kin<strong>der</strong> müssen natürlich auf den Besuch ihres<br />

Großvaters vorbereitet werden: Wilhelmine wird ab sofort zusätzlich<br />

eine weitere Stunde in Englisch unterrichtet, und <strong>Friedrich</strong>s<br />

Verbeugungen müssen noch eleganter werden.»<br />

«Verbeugungen, das ist Wind und blauer Dunst. Fritz wird vor<br />

seinem Großvater seine Kadetten vorführen, das bedeutet, dass er<br />

sie ab jetzt täglich exerziert.»<br />

Sophie Dorothea überhörte die letzten Worte des Gatten und<br />

erwi<strong>der</strong>te: «Ich muss jetzt zu meinen Kin<strong>der</strong>n und ihnen die Neuigkeit<br />

mitteilen.»<br />

«Die Kin<strong>der</strong> weilen in Berlin, ich habe nur August Wilhelm bei<br />

mir.»<br />

Sophie Dorothea starrte den Gatten einen Augenblick fassungslos<br />

an: «Wie bitte? Sie haben nur August Wilhelm … er ist doch<br />

noch so klein, er benötigt seine Amme …»<br />

«Beruhigen Sie sich, liebe Frau, die Amme und die Wärterin sind<br />

natürlich hier, August Wilhelm wird bestens versorgt, und wenn<br />

ich nicht auf dem Exerzierplatz bin, steht seine Wiege tagsüber neben<br />

meinem Schreibtisch. Kommen Sie und sehen Sie!»<br />

236


Sophie Dorothea trat näher, zögerte einen Moment, dann ging sie<br />

zur Wiege, betrachtete ihren schlafenden Sohn, sah den Gatten an und<br />

sagte: «Ich verstehe Sie nicht. Warum haben Sie nur August Wilhelm<br />

nach Potsdam mitgenommen? Was ist mit <strong>Friedrich</strong>? Sie legen doch<br />

immer Wert darauf, dass <strong>der</strong> Kronprinz in Ihrer Nähe weilt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg, ging auf und ab, dann trat er zu<br />

<strong>der</strong> Gattin, sah ihr in die Augen und antwortete: «Liebe Frau, wie<br />

soll ich es Ihnen erklären? August Wilhelm ist <strong>der</strong> zweitgeborene<br />

Sohn, den ich wie ein ganz normaler Vater lieben kann, er gehört<br />

mir. Fritz hingegen ist <strong>der</strong> künftige preußische König; er gehört<br />

Preußen. Ich kann ihm nicht als Vater gegenübertreten, son<strong>der</strong>n<br />

nur als König; dies wi<strong>der</strong>strebt mir, deswegen versuchte ich, ihm<br />

ein Freund o<strong>der</strong> älterer Bru<strong>der</strong> zu sein, aber ich spüre schon seit<br />

langem, dass er dies nicht akzeptiert. Ich spüre, dass er mich innerlich<br />

ablehnt. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Er gehorcht,<br />

aber zwischen uns fehlt das Vertrauen, er ist mir irgendwie<br />

fremd geworden. Verstehen Sie, was ich meine?»<br />

Sophie Dorothea ging zur Tür.<br />

«Mon Dieu, Freund o<strong>der</strong> älterer Bru<strong>der</strong>, was soll dies? <strong>Friedrich</strong><br />

ist Ihr Sohn, ebenso wie August Wilhelm. Wenn man Ihnen zuhört,<br />

gewinnt man allmählich den Eindruck, dass Sie August Wilhelm<br />

mehr lieben als <strong>Friedrich</strong>.»<br />

Der König schwieg und wich dem Blick <strong>der</strong> Gattin aus.<br />

Sie betrachtete ihn und sagte nach einer Weile: «Sie antworten<br />

nicht, nun gut, keine Antwort ist auch eine Antwort. Ich reise sofort<br />

nach Berlin weiter, ich möchte meine Kin<strong>der</strong> sehen, vor allem<br />

habe ich das Bedürfnis, den Kronprinzen zu umarmen.»<br />

Sie rauschte hinaus, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah ihr verblüfft<br />

nach. Dann ging er zum Fenster, sah geistesabwesend hinaus und<br />

murmelte: «Auch wir werden uns allmählich fremd, Fiekchen.»<br />

Er ging zur Wiege, hob das Kind auf den Arm, presste es an sich,<br />

bedeckte das kleine Gesicht mit Küssen und fl üsterte: «Du bist <strong>der</strong><br />

Sohn, <strong>der</strong> mir gehört, mir allein, bei dir darf ich Vater sein, dich<br />

muss ich nicht zum künftigen preußischen König erziehen … aber<br />

bei deinem Bru<strong>der</strong> war ich auch irgendwann Vater, deine Mutter<br />

hat recht, auch dein Bru<strong>der</strong> ist mein Sohn … aber … ich liebe dich<br />

mehr als deinen Bru<strong>der</strong>.»<br />

237


Am frühen Abend des 8. Oktober standen die königliche Familie,<br />

einige Offi ziere, Minister und die Damen <strong>der</strong> Königin im Hof<br />

des Charlottenburger Schlosses und warteten auf die Ankunft Georgs<br />

I. von England.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm hielt den kleinen August Wilhelm auf dem<br />

Arm. Sophie Dorothea trug die ‹Grande Parure›, die höfi sche Galakleidung,<br />

ein Mantelkleid aus dunkelblauem Samt mit Silberstickerei;<br />

Mie<strong>der</strong>einsatz und Reifrock waren aus Silberbrokat, an<br />

den Ohren, am Hals, den Handgelenken und Fingern funkelte ihr<br />

Saphirschmuck. Hin und wie<strong>der</strong> betrachtete sie gereizt das Kind,<br />

und nach einer Weile sagte sie leise: «Sie empfangen den König von<br />

England, wollen Sie August Wilhelm nicht <strong>der</strong> Amme geben?»<br />

«Liebe Frau, dies ist ein Familientreffen, ich empfange meinen<br />

Schwiegervater.»<br />

Sophie Dorothea seufzte und atmete schwer.<br />

Die Ramen hat mich zu fest geschnürt, dachte sie, hoffentlich<br />

werde ich nicht krank, während mein Vater hier weilt. Heute Morgen<br />

war mein Leib wie<strong>der</strong> angeschwollen, die Schwellung ist Gott<br />

sei Dank tagsüber wie<strong>der</strong> verschwunden, aber dieser Zustand am<br />

Morgen; manchmal fühle ich mich wie schwanger, aber das kann<br />

nicht sein. Hoffentlich benimmt Wilhelmine sich so, wie es sich<br />

für die künftige englische Königin ziemt. Ich habe ihr erlaubt, zum<br />

ersten Mal die Grande Parure zu tragen – und ihre Augen glitten<br />

über die Galakleidung <strong>der</strong> Tochter: ein Mantelkleid aus lindgrünem<br />

Samt, Mie<strong>der</strong>einsatz und Reifrock waren aus cremefarbenem<br />

Samt und mit Goldborten verziert, dazu trug Wilhelmine ihren<br />

Bernsteinschmuck. Sophie Dorothea betrachtete das ernste Gesicht<br />

<strong>der</strong> Tochter und fl üsterte: «Sie müssen lächeln, wenn Sie Ihren<br />

Großvater begrüßen, hören Sie, lächeln!»<br />

«Ja, Mama», antwortete Wilhelmine mit gepresster Stimme und<br />

sah starr vor sich hin. Ich bin zu fest geschnürt, dachte sie, mein<br />

Gott, die letzten Wochen waren eine Tortur, jeden Tag sagte Mama:<br />

»Das sind Manieren, welche meinem Neffen nicht gefallen werden,<br />

Sie müssen sich von nun an nach seinem Geschmack richten.»<br />

Jeden Tag klage ich meiner Hofmeisterin mein Leid: «Ich weiß,<br />

ich habe Fehler und wünsche lebhaft, sie abzulegen, weil ich mir<br />

die Achtung und den Beifall aller Welt erwerben möchte. An dieses<br />

238


Gefühl sollte man sich bei mir wenden, statt immer nur vom Herzog<br />

von Gloucester zu sprechen und von <strong>der</strong> Mühe, die ich mir<br />

geben sollte, ihm eines Tages zu gefallen. Mir scheint, ich bin so<br />

viel wert als er; ich bin die Tochter eines Königs, es ist keine so<br />

son<strong>der</strong>liche Ehre für mich, einen Prinzen zu heiraten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> stand neben <strong>der</strong> Schwester und dachte beklommen, dass<br />

er vor dem Großvater seine Kadetten exerzieren musste. Großvater<br />

ist wahrscheinlich zufrieden mit <strong>der</strong> Vorführung, aber was ist mit<br />

Papa? Wenn er zusieht, wie ich meine Kadetten exerziere, habe ich<br />

Angst, weil er mich beim geringsten Fehler anschreit.<br />

Als es sieben Uhr schlug, rumpelte eine geräumige, zwölfspännige<br />

Kutsche über das Kopfsteinpfl aster in den Schlosshof, und<br />

wenig später entstieg ihr ein großer, hagerer Mann von ungefähr<br />

sechzig Jahren und schritt langsam auf die königliche Familie zu.<br />

Das ist also mein Großvater, dachte <strong>Friedrich</strong> und betrachtete erstaunt<br />

und fasziniert die Kleidung des alten Herren: Unter einem<br />

wadenlangen Reisemantel aus schwarzem Samt trug er eine Weste<br />

aus weinrotem Samt, die mit Goldborten besetzt war, dazu schwarze<br />

seidene Kniehosen, weiße seidene Strümpfe, schwarze Absatzschuhe<br />

und einen zierlichen Degen, dessen Griff mit Edelsteinen<br />

besetzt war.<br />

<strong>Friedrich</strong>s Augen glitten über die Kleidung und verweilten dann<br />

bei den weißgepu<strong>der</strong>ten Haaren, die im Nacken von einem kleinen<br />

schwarzen Beutel umschlossen wurden, an den Seiten war das Haar<br />

zu drei Rolllocken geordnet. Seine Frisur ist französisch, dachte<br />

<strong>Friedrich</strong> mit Genugtuung, <strong>der</strong> französische Gesandte trägt auch<br />

einen Haarbeutel – wie elegant das gekräuselte Jabot des weißen<br />

Hemdes aussieht und die weiße Halsbinde und die Spitzenmanschetten<br />

…<br />

Er zupfte an Wilhelmines Kleid und fl üsterte: «Warum trägt<br />

Großvater keine Uniform wie Papa?»<br />

«Ich weiß es nicht, Fritzchen», und sie beobachtete die Ankunft<br />

weiterer Kutschen; und als <strong>der</strong> Hof sich allmählich mit Englän<strong>der</strong>n<br />

füllte, spürte sie, wie ihr Herz immer stärker klopfte und sie vor<br />

Aufregung kaum atmen konnte.<br />

Dann stand Georg I. vor seinem Schwiegersohn, <strong>der</strong> August<br />

Wilhelm rasch <strong>der</strong> Amme gab. Die beiden Männer umarmten sich<br />

239


wortlos, dann wandte sich <strong>der</strong> englische König zu Sophie Dorothea,<br />

schloss sie in seine Arme und sagte: «Liebe Tochter, es wird allmählich<br />

Zeit, dass ich Ihre neue Heimat kennenlerne.»<br />

«Vater, lieber Vater, ich bin glücklich, dass Sie Ihre Enkelkin<strong>der</strong><br />

kennenlernen, ich möchte Ihnen zunächst <strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine<br />

vorstellen.»<br />

Sie führte ihn zu den Geschwistern, beobachtete seine Miene<br />

und spürte einen feinen Stich von Enttäuschung, als er Wilhelmine<br />

kühl musterte und nach einer Weile sagte: «Sie ist sehr groß<br />

für ihr Alter.»<br />

Wilhelmine wagte nicht, den Großvater anzusehen, und dachte:<br />

Ich gefalle ihm nicht.<br />

Georg I. betrachtete <strong>Friedrich</strong> und sagte: «Das ist also <strong>der</strong> künftige<br />

preußische König. Er wird meiner Amalie gefallen.»<br />

Sophie Dorothea atmete auf, und <strong>Friedrich</strong> sah den Großvater an<br />

und senkte die Augen. Er sieht so ernst aus, dachte er, so kühl; liebt<br />

er uns überhaupt?<br />

«Lieber Vater, meine an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong> warten darauf, Sie begrüßen<br />

zu dürfen.»<br />

Der König von England streifte die kleinen Mädchen mit einem<br />

Seitenblick: «Es eilt nicht, ich werde mich morgen meinen an<strong>der</strong>en<br />

Enkeln widmen. Ich bin müde von <strong>der</strong> Reise und möchte vor <strong>der</strong><br />

Abendtafel noch etwas ruhen.»<br />

«Selbstverständlich, Vater.»<br />

Sie ging mit ihm in sein Appartement und sagte: «Ich hoffe, dass<br />

Sie sich hier wohl fühlen, wenn Sie einen Wunsch haben, so lassen<br />

Sie es mich wissen.»<br />

«Ich möchte mich mit dem Kronprinzen unterhalten.»<br />

«Selbstverständlich, Vater», und sie gab <strong>Friedrich</strong> einen Wink.<br />

Als sie durch das Vorzimmer ging, sah sie die Herzogin von<br />

Kendal und verlangsamte ihren Schritt. Sie ist die Geliebte meines<br />

Vaters, dachte Sophie Dorothea, man erzählt, dass sie ihn sehr beeinfl<br />

usst und ihr einziges Ziel darin besteht, die Gunst meines Vaters<br />

nicht zu verlieren … Soll ich sie nach meiner Mutter fragen?<br />

Sie zögerte einen Moment, dann ging sie zu <strong>der</strong> Herzogin und lächelte<br />

sie an: «Madame, ich hoffe, dass Sie sich hier wohl fühlen,<br />

wenn Sie einen Wunsch haben, lassen Sie es mich wissen.»<br />

240


Die Herzogin musterte Sophie Dorothea, lächelte spöttisch und<br />

erwi<strong>der</strong>te: «In diesem Schloss werde ich mich wohl fühlen.»<br />

Die beiden Frauen betrachteten einan<strong>der</strong>, dann fragte Sophie<br />

Dorothea zögernd: «Wie geht es meiner Mutter?»<br />

«Sie ist gesund, Majestät.»<br />

«Madame, ich erwarte nicht, dass mein Vater sie nach London<br />

holt, aber er könnte ihr doch jetzt, nach so vielen Jahren, erlauben,<br />

dass sie sich im Kurfürstentum Hannover frei bewegen darf. Seit<br />

fast dreißig Jahren lebt sie in Schloss Ahlden, sie darf keinen Kontakt<br />

zur Außenwelt pfl egen, sie ist eine Gefangene – mein Gott,<br />

war ihr Fehltritt nicht verständlich? Am französischen Hof würde<br />

man kein Wort darüber verlieren.»<br />

«Sie haben recht, Madame, aber Ihre selige Großmutter war an<strong>der</strong>er<br />

Meinung. Sie wissen, dass Ihre Großmutter Ihre Mutter nie<br />

mochte. Ich werde versuchen, Ihren Vater zur Milde zu bewegen.»<br />

An <strong>der</strong> Abendtafel betrachtete <strong>der</strong> König von England prüfend das<br />

Silbergeschirr und sagte nach einer Weile zu seinem Schwiegersohn:<br />

«Dies ist also das berühmte Silber – in London nennt man<br />

Ihr Berliner Schloss das ‹Silberschloss›.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte geschmeichelt: «Nun, Silberschloss<br />

ist übertrieben, aber ich habe nach dem Tod meines Vaters das Silbergeschirr<br />

und die silbernen Spiegel behalten, weil man in Notzeiten<br />

Münzen daraus prägen kann, das Silber ist eine eiserne Reserve,<br />

mehr nicht.»<br />

Die Diener servierten die Suppe, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm amüsierte<br />

sich über die Augen <strong>der</strong> Tischgesellschaft, die erstaunt die<br />

rötlich-violette Flüssigkeit in ihren Tellern betrachteten.<br />

«Meine Damen und Herren», rief er, «diese Suppe ist ein russisches<br />

Gericht. Mein Freund, <strong>der</strong> Zar, hat meinem Koch gesagt,<br />

wie <strong>der</strong> Borschtsch, so nennen die Russen diese Suppe, zubereitet<br />

wird. Der Borschtsch besteht hauptsächlich aus roten Rüben; danach<br />

gibt es Karpfen in Biersoße, das ist ein polnisches Gericht.»<br />

Georg I. begann, die Suppe zu löffeln, und sagte: «Hervorragend,<br />

was für ein delikater Geschmack.»<br />

«Nun, in Hannover und London wird französisch und englisch<br />

gekocht, ich will Ihnen eine Abwechslung bieten, und da Ihnen die<br />

241


deutsche Küche nicht mundet, beschloss ich, Sie mit <strong>der</strong> russischen<br />

und polnischen Küche zu überraschen. Überdies gefallen mir die<br />

Menschen in Osteuropa, ich freue mich auf jede Reise nach Ostpreußen,<br />

wirtschaftlich geht es dort inzwischen aufwärts, und die<br />

Menschen dort sind so … wie soll ich es sagen, sie sind so bodenständig<br />

und solide, in Tilsit kennt man Gott sei Dank den französischen<br />

Wind und blauen Dunst noch nicht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> löffelte genießerisch die neue Suppe, betrachtete abwechselnd<br />

seinen Vater und den Großvater und sagte nach einer<br />

Weile: «Großvater, unsere Kultur kommt aus dem Osten.»<br />

Georg I. ließ erstaunt den Löffel sinken: «Mein Kind, Russland<br />

ist ein völlig unkultiviertes Land.»<br />

«Das weiß ich, ich wollte sagen, unsere Kultur kommt aus Griechenland,<br />

auch dies ist Osteuropa, ich meine Südosteuropa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm streifte den Sohn mit einem erstaunten Seitenblick<br />

und brummte: «Griechenland, die Griechen und die Römer<br />

… die Antike ist Wind und blauer Dunst», und zu seinem<br />

Schwiegervater: «Der künftige preußische König hat manchmal<br />

Flausen im Kopf, nun, ich werde sie ihm noch austreiben.»<br />

Georg I. lächelte: «Erlauben Sie, dass ich Ihnen wi<strong>der</strong>spreche.<br />

Vorhin habe ich mich mit meinem Enkel unterhalten. Er ist wissbegierig,<br />

er interessiert sich für Literatur und Musik, er hat die Epen<br />

Homers gelesen; er erinnert mich sehr an meine Schwester Sophie<br />

Charlotte, er ist ein Welfe, Sie sollten stolz auf ihn sein.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte seinen Schwiegervater an, dann wan<strong>der</strong>ten<br />

seine Augen zu Sophie Dorothea, die liebevoll und stolz <strong>Friedrich</strong><br />

betrachtete, und auf einmal spürte er, wie Wut in ihm hochstieg,<br />

und es gelang ihm nur mühsam, seinen Zorn zu beherrschen.<br />

Dieses hochmütige welfi sche Volk, dachte er erbittert, aber ich<br />

muss schweigen, weil es um Wilhelmines Heirat geht, ich wünsche<br />

ja auch, dass sie Königin von England wird.<br />

Während man auf den Karpfen wartete, betrachtete <strong>Friedrich</strong> die<br />

Englän<strong>der</strong>: Sie tragen keine Uniform, dachte er, sie sind ähnlich<br />

gekleidet wie mein Großvater, und sie sind geschminkt, mein Gott,<br />

sie haben Rouge auf den Wangen, die Lippen sind rot, die Augenbrauen<br />

schwarz gefärbt, und sie benutzen alle Parfüm. In diesem<br />

Raum hat es noch nie so stark nach Parfüm geduftet. Sie tragen alle<br />

242


Haarbeutel – wie die Franzosen. Und wir? Unsere militärischen<br />

Uniformen sind aus einfachem Tuch geschnei<strong>der</strong>t. Es muss wun<strong>der</strong>bar<br />

sein, wenn man Klei<strong>der</strong> aus Seide, Samt o<strong>der</strong> Brokat trägt.<br />

Georg I. betrachtete wohlwollend seine Enkelin und sagte: «Wilhelmine<br />

hat meine Herren mit ihrer Konversation bezaubert. Sie<br />

spricht Englisch, als ob es ihre Muttersprache wäre.»<br />

Sophie Dorothea sah ihren Vater an und erwi<strong>der</strong>te: «Wilhelmine<br />

wird seit einigen Jahren von Dr. Villa, dem Kaplan <strong>der</strong> englischen<br />

Gesandtschaft, unterrichtet, er hat sie auch mit <strong>der</strong> anglikanischen<br />

Kirche vertraut gemacht; sie kennt die englische Bibel und das englische<br />

Gebetbuch.»<br />

Georg I. musterte Wilhelmine, dann sah er Sophie Dorothea an<br />

und erwi<strong>der</strong>te: «Liebe Tochter, ich weiß es zu schätzen, dass Sie<br />

meine Enkelin sorgfältig auf ihre künftigen Aufgaben vorbereiten,<br />

aber bedenken Sie: Wilhelmine ist erst vierzehn Jahre, <strong>Friedrich</strong><br />

Ludwig sechzehn, ich schlage vor, in zwei Jahren wie<strong>der</strong> über die<br />

geplante Heirat zu sprechen.»<br />

Sophie Dorothea erschrak, nahm sich aber zusammen und lächelte<br />

mühsam: «Sie haben recht, Vater, in zwei Jahren sind beide<br />

reifer für eine Ehe.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm streifte den Schwiegervater mit einem misstrauischen<br />

Seitenblick und brummte: «Für eine offi zielle Verlobung<br />

sind unsere Kin<strong>der</strong> alt genug.»<br />

Georg I. lächelte den Schwiegersohn verbindlich an: «Ich teile<br />

Ihre Meinung, aber ist es für Sie als König nicht wichtiger, zunächst<br />

den Kronprinzen zu verheiraten? Sie wollen doch sicherlich<br />

die Erbfolge Ihres Hauses sichern?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte Georg einen Augenblick verblüfft an.<br />

«Selbstverständlich, aber wenn meine Tochter Ihrer Meinung<br />

nach noch zu jung ist, um über eine Heirat zu reden, so ist Fritz<br />

erst recht zu jung. Er zählt fast zwölf Jahre, Amalie ist inzwischen<br />

zwölf, es dauert noch vier o<strong>der</strong> fünf o<strong>der</strong> sechs Jahre, bis sie im<br />

heiratsfähigen Alter sind.»<br />

Im Stillen dachte er: Ich muss fünf Töchter standesgemäß verheiraten,<br />

das wird noch schwierig genug werden, aber für den<br />

preußischen Thronfolger fi nde ich auch noch in zehn Jahren eine<br />

Frau, ein künftiger König ist immer eine gute Partie …<br />

243


Georg I. betrachtete wohlwollend <strong>Friedrich</strong>, dann lächelte er seinen<br />

Schwiegersohn erneut an: «Ich habe mir während <strong>der</strong> Reise<br />

einen Vorschlag überlegt: Im Frühjahr 27 wird <strong>Friedrich</strong> konfi rmiert,<br />

bei dieser Gelegenheit könnte man ihn und Amalie offi ziell<br />

verloben, und ein Jahr später könnte das junge Paar heiraten.»<br />

Sophie Dorothea atmete unmerklich auf: Gott sei Dank, dachte<br />

sie, mein Sohn wird eine Prinzessin aus einer alten Dynastie ehelichen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte einen Augenblick nachdenklich vor<br />

sich hin, dann sah er den Schwiegervater an: «Es ist zwar nicht ungewöhnlich,<br />

dass Prinzen im Alter von sechzehn Jahren heiraten,<br />

aber dies können sich nur alte Dynastien erlauben. Ein Dauphin<br />

o<strong>der</strong> ein Erzherzog, sie müssen nicht so gründlich auf die Regierung<br />

ihres Reiches vorbereitet werden, sie haben ihre Minister für<br />

die Erledigung <strong>der</strong> Staatsgeschäfte – wer bestimmt denn in Wien<br />

die politische Richtung? Prinz Eugen von Savoyen! Der Kaiser<br />

hingegen ist damit beschäftigt, sich selbst zu zelebrieren. In dem<br />

jungen Königreich Preußen liegen die Dinge an<strong>der</strong>s: Hier muss <strong>der</strong><br />

König sich persönlich um jedes Detail kümmern, wenn er seinen<br />

Staat aufbauen und erhalten will.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: «Nach <strong>der</strong> Konfi rmation<br />

ist <strong>der</strong> Unterricht für Fritz beendet, dann beginnt <strong>der</strong> wichtigere<br />

Teil seiner Ausbildung, nämlich die Vorbereitung auf das<br />

Amt des Königs in Preußen, und diese Vorbereitung möchte ich<br />

persönlich überwachen und lenken, seine Verheiratung hat deshalb<br />

noch einige Jahre Zeit.»<br />

«Nun, was dem Kronprinzen an höfi scher Eleganz fehlt, das<br />

kann er in Hannover lernen, ich beabsichtige nämlich, ihn nach<br />

<strong>der</strong> Heirat zu meinem Statthalter in Hannover zu ernennen.»<br />

Gott sei Dank, dachte Sophie Dorothea, so entkommt er dem<br />

unkultivierten, militärischen Dunstkreis meines Mannes.<br />

«Eine wun<strong>der</strong>bare Idee, Vater, Fritz wird sich in Hannover wohl<br />

fühlen, das weiß ich.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Schwiegervater erstaunt an, dann<br />

wan<strong>der</strong>ten seine Augen zu Sophie Dorothea, und er spürte, dass erneut<br />

Wut in ihm aufstieg. Er versuchte, sich zu beherrschen, leerte<br />

sein Glas Wein in einem Zug und erwi<strong>der</strong>te: «Ich werde in Ruhe<br />

244


über Ihren Vorschlag nachdenken, eine Entscheidung in dieser Angelegenheit<br />

muss reifl ich überlegt werden.»<br />

Inzwischen wurde <strong>der</strong> Karpfen serviert, und für einen Augenblick<br />

erstarb die Unterhaltung. Die Anwesenden hörten die Musik<br />

im Hintergrund und das Klappern ihrer Bestecke.<br />

Versteht <strong>der</strong> Welfe nicht, was ich meine, o<strong>der</strong> will er mich nicht<br />

verstehen, sinnierte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, während er große Fischstücke<br />

in seinen Mund schob.<br />

Statthalter von Hannover, das heißt Vasall von England, nein,<br />

nein und nochmals nein, das kommt nicht in Frage, Fritz wird diese<br />

Amalie nicht heiraten.<br />

Georg I. betupfte die Lippen mit <strong>der</strong> Serviette, trank einen<br />

Schluck Wein, lehnte sich behaglich zurück und sagte zu <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm: «Die Biersoße ist einfach köstlich, die osteuropäische<br />

Küche ist irgendwie raffi niert, sie besitzt ihren eigenen Stil.<br />

Ich möchte noch einmal auf Wilhelmines Heirat zurückkommen.<br />

Welche Mitgift wird sie erhalten?»<br />

Sophie Dorothea atmete erneut erleichtert auf: Gott sei Dank, er<br />

möchte, dass meine Tochter den Herzog von Gloucester heiratet.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm legte irritiert die Gabel auf den Teller: «Mitgift?<br />

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.»<br />

Georg I. beugte sich etwas vor: «Nun, darüber können wir uns<br />

immer noch unterhalten, es eilt ja nicht; allerdings wäre es angebracht,<br />

wenn meine Enkelin eine Brautausstattung erhielte wie seinerzeit<br />

meine Tochter. Sie wissen sicherlich, dass die Aussteuer in<br />

Paris gefertigt wurde.»<br />

«Ja», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> Wilhelm kurz und schob erneut große<br />

Karpfenstücke in seinen Mund.<br />

In Paris, dachte er entsetzt, wer soll das bezahlen? Wilhelmine<br />

soll eine anständige Ausstattung bekommen, aber die wird in Berlin<br />

gefertigt, in meinem Staat, nicht im Ausland und schon gar<br />

nicht in diesem gottverdammten Frankreich.<br />

Am Spätnachmittag des 13. Oktober saß Sophie Dorothea mit<br />

<strong>Friedrich</strong> und ihren Damen im Salon und legte Patiencen. Nach<br />

einer Weile schob sie die Karten gereizt zur Seite: «Genug für<br />

heute, das war die siebte Patience, die nicht aufgegangen ist.»<br />

245


<strong>Friedrich</strong> ordnete die Karten und sagte: «Großvater sitzt jetzt<br />

schon seit sieben Stunden in <strong>der</strong> Kutsche, wo wird er heute übernachten?»<br />

«Ich weiß es nicht, mon bijou.»<br />

«Mit Verlaub, Majestät», sagte Frau von Kamecke, «ganz Berlin<br />

redet von <strong>der</strong> bevorstehenden Verlobung <strong>der</strong> Prinzessin Wilhelmine<br />

mit dem Herzog von Gloucester.»<br />

«Nun ja, zwischen England und Preußen wurde ein Freundschaftsvertrag<br />

geschlossen, und über die Einzelheiten des Ehevertrages<br />

wird in ungefähr zwei Jahren verhandelt werden, dann sind<br />

die jungen Leute im heiratsfähigen Alter.»<br />

«Gewiss, Majestät», und zu <strong>Friedrich</strong>: «Ganz Berlin redet davon,<br />

wie hervorragend Eure Königliche Hoheit die Kadettenkompanie<br />

vor dem König von England exerziert hat.»<br />

<strong>Friedrich</strong> strahlte und erwi<strong>der</strong>te: «Ich habe den Kadetten zur Belohnung<br />

ein Fass Bier spendiert.»<br />

«Bier? Mon Dieu, ist das nicht ein zu starkes Getränk für kleine<br />

Jungen?»<br />

«Es war Dünnbier», und zur Königin: «Mama, ich möchte Sie<br />

um etwas bitten: Die englischen Herren waren so elegant gekleidet,<br />

könnten Sie für mich nicht auch diese Klei<strong>der</strong> fertigen lassen,<br />

ich würde sie an den Abenden tragen, die ich bei Ihnen verbringe.»<br />

«Selbstverständlich, mon bijou, möchten Sie eine Courkleidung<br />

haben, eine Parure o<strong>der</strong> eine Grande Parure?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah seine Mutter unsicher an: «Ich verstehe nicht, was<br />

Sie meinen. Was ist <strong>der</strong> Unterschied zwischen Courkleidung, Parure<br />

o<strong>der</strong> Grande Parure?»<br />

«Mon Dieu, sehen Sie, meine Damen, das ist das Resultat <strong>der</strong><br />

Erziehung des Königs: Der Kronprinz kennt nicht die Unterschiede<br />

zwischen den verschiedenen Kleidungen», und zu <strong>Friedrich</strong>: «Die<br />

Courkleidung ist die zeremonielle Hofkleidung, Parure ist <strong>der</strong> sogenannte<br />

Halbputz, er darf auch von den Bürgern als Festkleidung<br />

getragen werden, Grande Parure ist die höfi sche Galakleidung, die<br />

haben Sie bei dem Gefolge Ihres Großvaters gesehen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte: Die Courkleidung an unserem Hof ist entwe<strong>der</strong><br />

die Uniform o<strong>der</strong> Röcke aus blauem Tuch ohne jede Verzie-<br />

246


ung. Und die Parure? Nein, das kommt nicht in Frage, die Festkleidung<br />

<strong>der</strong> Bürger möchte ich nicht tragen.<br />

«Würden Sie mir eine Grande Parure anfertigen lassen und …<br />

und können Sie mir auch Parfum, Pu<strong>der</strong> und Rouge besorgen?»<br />

Sophie Dorothea lächelte: «Sie haben recht, mon bijou, Sie müssen<br />

allmählich lernen, sich in <strong>der</strong> ‹Grande Parure› zu bewegen; für<br />

Parfum und Pu<strong>der</strong> sind Sie allerdings noch etwas zu jung, doch<br />

in wenigen Wochen werden Sie zwölf Jahre alt, ich werde darüber<br />

nachdenken. Es trifft sich gut, dass Ihr Vater am 8. November nach<br />

Göhrde reist, um sich mit Ihrem Großvater zu treffen, während<br />

seiner Abwesenheit kann die ‹Grande Parure› gefertigt werden»,<br />

und zu den Damen: «Seine Majestät darf natürlich nicht erfahren,<br />

dass <strong>der</strong> Kronprinz in meinen Räumen keine Uniform, son<strong>der</strong>n die<br />

Galakleidung trägt.»<br />

247


248<br />

7<br />

Am 24. Januar 1724 betrat <strong>Friedrich</strong> um elf Uhr das Arbeitszimmer<br />

seines Vaters und wartete, dass dieser ihn auffor<strong>der</strong>te, sich<br />

zu setzen. <strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat zu dem Sohn und umarmte ihn<br />

feierlich, dann sah er ihn ernst an und sagte langsam: «Nun bist<br />

du also zwölf Jahre alt. Ich gratuliere dir von ganzem Herzen zu<br />

deinem Geburtstag. Ab heute beginnt wie<strong>der</strong> ein neuer Lebensabschnitt<br />

für dich mit einigen Verän<strong>der</strong>ungen deines bisherigen<br />

Lebens: Erstens bekommst du ab heute mehr Taschengeld, nämlich<br />

fünfzig Taler im Monat. Zweitens wirst du mich ab jetzt hin und<br />

wie<strong>der</strong> begleiten, wenn ich bei einem meiner Offi ziere o<strong>der</strong> Minister<br />

eingeladen bin – du musst lernen, wie man sich bei solchen Einladungen<br />

benimmt, wie man sich unterhält und so weiter. Drittens<br />

wirst du jetzt regelmäßig am Tabakskollegium teilnehmen, sofern<br />

wir beide am selben Ort weilen. Viertens wirst du mich jetzt hin<br />

und wie<strong>der</strong> auf meinen Inspektionsreisen begleiten, du sollst die<br />

Sorgen und Nöte deiner künftigen Untertanen kennenlernen und<br />

auch, wie man die Beamten kontrolliert.»<br />

Er ging zum Schreibtisch, holte ein dickes Buch und überreichte<br />

es <strong>Friedrich</strong>: «Das ist mein Geburtstagsgeschenk, eine Bibel, die<br />

beson<strong>der</strong>s kostbar ausgestattet ist und mich viel Geld gekostet hat.<br />

Ich weiß ja, dass du gerne liest, und ich denke, die Bibel ist die angemessene<br />

Lektüre für den künftigen preußischen König.»<br />

Gütiger Himmel, dachte <strong>Friedrich</strong> entsetzt, eine Bibel, fällt ihm<br />

nichts an<strong>der</strong>es ein? Muss ich nicht schon genug in <strong>der</strong> Bibel lesen?<br />

Er betrachtete verzweifelt den schweinsle<strong>der</strong>nen Einband und<br />

die silbernen Beschläge, dann sah er den Vater an und sagte leise:<br />

«Vielen Dank, Papa, es ist ein wun<strong>der</strong>schönes Geschenk.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm nickte zufrieden: «Ich muss noch einige Akten<br />

durcharbeiten, du kannst solange in <strong>der</strong> Bibel lesen, und dann<br />

werde ich dich in den Verwaltungsaufbau deines künftigen Reiches<br />

einführen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> setzte sich auf seinen Platz, schlug gehorsam die Bibel<br />

auf und überlegte, welche Geschichte so spannend war, dass es sich


lohnte, sie zu lesen. Die Offenbarung des Johannes, dachte er, dort<br />

wird die Apokalypse geschil<strong>der</strong>t.<br />

Er begann zu blättern, hielt inne beim Evangelium des Johannes,<br />

las den ersten Vers: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war<br />

bei Gott, und Gott war das Wort.»<br />

Während seine Augen über die folgenden Verse wan<strong>der</strong>ten, dachte<br />

er über die künftigen Verän<strong>der</strong>ungen in seinem Leben nach.<br />

Fünfzig Taler Taschengeld? Jetzt kann ich mir endlich hin und<br />

wie<strong>der</strong> ein Buch kaufen; allerdings muss ich diese Ausgaben vor<br />

Papa verschleiern. Nun, mir wird schon etwas einfallen.<br />

Die Einladungen? Ich werde sie genießen, überall in Berlin speist<br />

man angeblich besser als an <strong>der</strong> königlichen Tafel, und die Bankette<br />

bei Grumbkow sind berühmt wegen ihrer Üppigkeit und Erlesenheit.<br />

Das Tabakskollegium? Gütiger Himmel, jetzt soll ich meine<br />

Abende also in dieser unkultivierten, lärmenden Männerrunde<br />

verbringen, Gott sei Dank ist Papa viel auf Reisen und verbringt<br />

den größten Teil des Jahres in Potsdam, ich werde hoffentlich nach<br />

wie vor in Berlin bleiben.<br />

Die Inspektionsreisen? Das wird eine Folter werden. Mein Großvater<br />

reiste in vergoldeten Kutschen mit Vorreitern und Lakaien und<br />

natürlich Damenbegleitung, seine Reisen von Berlin nach Königsberg<br />

dauerten immer vierzehn Tage. Papa benötigt nur vier Tage,<br />

weil er rasch und ohne Bequemlichkeiten reist, ihm genügen fünf<br />

bis sechs Postwagen mit guten Pferden, Damen dürfen ihn nicht<br />

begleiten, weil sie seine Reisen nur behin<strong>der</strong>n. Er verzichtet auch<br />

auf militärischen Begleitschutz, außer wenn er durch Polen reist.<br />

Während <strong>der</strong> Fahrt arbeitet er mit seinen Generälen und Räten,<br />

und er verzichtet auf Vorreiter, weil er immer überraschend bei den<br />

Pächtern und Richtern auftauchen will; feierliche Empfange sind<br />

verboten, und er übernachtet und speist oft in einfachen Gasthöfen,<br />

weil er keine Zeit verlieren will. Diese Inspektionsreisen werden für<br />

mich keine vergnügliche Abwechslung sein, son<strong>der</strong>n eine einzige<br />

Strapaze.<br />

Seine Augen hafteten am 16. Vers: «Und von seiner Fülle haben<br />

wir alle genommen Gnade um Gnade.» Er sah vorsichtig von <strong>der</strong><br />

Bibel auf und betrachtete verstohlen die Gestalt seines Vaters.<br />

Er ist dick geworden, dachte er, kein Wun<strong>der</strong>, bei den Mahlzeiten<br />

249


isst er für zwei o<strong>der</strong> gar drei und seit dem vergangenen Herbst<br />

reitet er nach <strong>der</strong> Tafel nicht mehr durch die Straßen Berlins, son<strong>der</strong>n<br />

schläft in Mamas Appartement eine Stunde in einem Sessel.<br />

Mama und meine Schwestern sitzen dabei, wagen nicht zu<br />

sprechen, um ihn nicht aufzuwecken, und langweilen sich. Gott<br />

sei Dank werde ich dann schon wie<strong>der</strong> von Duhan unterrichtet.<br />

Wann fi ng das mit dem Mittagsschlaf an? Nach seiner Rückkehr<br />

von Göhrde, nach <strong>der</strong> Geburt Amaliens. Sie kam in <strong>der</strong> Nacht vom<br />

8. auf den 9. November zur Welt. Papa wollte am 9. in aller Frühe<br />

nach Göhrde abreisen, wurde in <strong>der</strong> Nacht zu Mama gerufen und<br />

leistete Geburtshilfe zusammen mit einer Kammerfrau. Wie war<br />

es möglich, dass Mama nichts von <strong>der</strong> Schwangerschaft bemerkt<br />

hatte? Die Geburt meiner Schwester stürzte den Hof in ein Chaos,<br />

weil nichts vorbereitet war, sie erhielt den Namen Amalie, weil ich<br />

mit meiner Cousine fast verlobt bin, und für Kalckstein war dies<br />

ein Anlass, mich über meine ehelichen Rechte und Pfl ichten aufzuklären<br />

und über die künftigen Verän<strong>der</strong>ungen meines Körpers.<br />

Bis jetzt habe ich noch nichts bemerkt, meine Stimme ist noch hell,<br />

von Bartwuchs keine Spur, und das an<strong>der</strong>e Ereignis ist auch noch<br />

nicht eingetreten; ich schwebe zwischen Kind und jungem Mann,<br />

die ehelichen Rechte und Pfl ichten …<br />

Er spürte, dass er errötete, und sah wie<strong>der</strong> auf den Bibeltext.<br />

Mama liebt Papa nicht, ihr Eheleben muss für sie die Hölle gewesen<br />

sein, kaum war ein Kind geboren, wurde sie schon wie<strong>der</strong><br />

schwanger. Hoffentlich war Amalie das letzte Kind, ich darf nicht<br />

daran denken, dass er erneut ihr Schlafgemach betritt und sie vergewaltigt,<br />

an<strong>der</strong>s kann man es wohl nicht nennen, und er spürte,<br />

wie Abneigung gegen den Vater in ihm emporstieg. Er blätterte<br />

langsam die Seiten um und wollte eben anfangen, die Offenbarung<br />

des Johannes zu lesen, da legte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm die Akten zur<br />

Seite, holte aus einer Schublade zwei Dokumente und sagte: «Höre,<br />

Fritz, im Dezember 1722 zog ich mich für ein paar Tage in das Jagdschloss<br />

Schönebeck zurück, um über meine bisherige Regierung<br />

nachzudenken und um mein politisches Testament zu verfassen.<br />

Ich lese dir jetzt einige Sätze aus dem Testament vor.»<br />

Er hob die erste Seite des einen Dokumentes etwas in die Höhe<br />

und begann: «Der Kurfürst <strong>Friedrich</strong> Wilhelm hat die Aufnahme<br />

250


und das rechte Flor in Unser Haus gebracht. Mein Vater hat die<br />

königliche Würde erworben, ich habe die Armee und das Land instandgesetzt.<br />

An Euch, mein lieber Sucessor, ist es, was Eure Vorfahren<br />

angefangen, zu behaupten und die Prätensionen und Län<strong>der</strong><br />

herbeizuschaffen, die Unserem Hause von Gott und Rechts wegen<br />

zugehören.»<br />

Er legte das Blatt zur Seite und sah den Sohn ernst an: «Ich denke<br />

dabei an unsere Erbansprüche auf Jülich und Berg.»<br />

Er nahm das nächste Blatt: «Mein lieber Sucessor, sei wohl versichert,<br />

dass alle glücklichen Regenten, die Gott für Augen haben<br />

und keine Mätressen, es besser zu nennen: Huren haben und ein<br />

gottseliges Leben führen, diese Regenten wird Gott mit allem<br />

weltlichen und geistlichen Segen beschütten, also bitte ich meinen<br />

lieben Sucessor, ein gottseliges, reines Leben und Wandeln zu führen<br />

und seinem Lande und Armee mit gutem Exempel vorzugehen,<br />

nicht saufen und fressen, davon ein unzüchtiges Leben herkommet.<br />

Mein lieber Sucessor muss auch nicht zugeben, dass in seinen<br />

Län<strong>der</strong>n und Provinzen keine Komödien, Operas, Balletts, Maskeraden,<br />

Reddutten gehalten werden, also bitte ich meinen lieben Sucessor,<br />

habet keine Mätressen noch solche obige skandalöse Pläsiers<br />

und hasset sie.»<br />

Gütiger Himmel, dachte <strong>Friedrich</strong>, was erwartet er von mir?<br />

Wenn ich König bin, wird es natürlich Pläsiers geben!<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm nahm das zweite Dokument und fuhr fort:<br />

«Während ich an dem Testament schrieb, überdachte ich noch einmal<br />

die verfl ossenen zehn Jahre meiner Regierung und war zufrieden.<br />

Als mein Vater starb, war die Provinz Ostpreußen von<br />

<strong>der</strong> Menschenpest und <strong>der</strong> Viehpest fast ausgestorben. Im ganzen<br />

Staat waren die Domänen meist verpfändet o<strong>der</strong> in Erbpacht, die<br />

Finanzen in einem Zustand, dass ein Bankrott nahe war, die Armee<br />

in schlechter Verfassung, nun, im ersten Jahrzehnt meiner<br />

Regierung, habe ich alle Geschäfte in gute Ordnung gebracht, alle<br />

Domänen sind schuldenfrei, die Armee ist in einem so guten Stand<br />

wie nur irgendwo in Europa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete gelangweilt die vor ihm liegende Bibel.<br />

Warum erzählt er mir das alles? Ich weiß längst, wie ein blühen<strong>der</strong><br />

Staat aussehen muss, und ich weiß auch, wie ein König re-<br />

251


gieren muss, Fénelon hat es im Telemach beschrieben, zum Beispiel<br />

im Zweiten Buch, als Telemach nach Ägypten kam, und im Stillen<br />

wie<strong>der</strong>holte er die Sätze, die er auswendig wusste: «Wie glücklich»,<br />

sagte Mentor, «ist ein Volk, das von einem weisen König regiert<br />

wird! In Überfl uss lebet es sorglos dahin und liebt denjenigen, dem<br />

es sein Glück verdankt. So musst du einstens, mein Telemach, regieren<br />

und die Freude deines Volkes werden, sollten dich je die Götter<br />

in den Besitz deines väterlichen Reiches setzen. Liebe dein Volk,<br />

wie deine eigenen Kin<strong>der</strong>; koste das Glück, Liebling des Volkes zu<br />

sein; lass dasselbe Friede und Freude nur in dem Gedanken, dass diese<br />

kostbaren Geschenke von ihrem guten Könige kommen, genießen,<br />

Könige, welche nur darauf sinnen, Furcht einzujagen und ihre<br />

Untertanen möglichst unterwürfi g zu machen, sind die Geiseln des<br />

Menschengeschlechtes. Sie sind nach ihrem Wunsche gefürchtet,<br />

aber sie sind auch verhasst und verfl ucht; und sie haben noch viel<br />

mehr von ihren Untertanen zu fürchten als diese von ihnen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete stirnrunzelnd das nachdenkliche<br />

Gesicht des Sohnes: «Fritz, hörst du überhaupt zu?»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen und sah den Vater an: «Selbstverständlich,<br />

Papa.»<br />

Der König nahm das erste Blatt des Dokumentes und fuhr fort:<br />

«Bis zum Tod meines Vaters gab es zwei getrennte Geldwirtschaften<br />

in Preußen, und niemand in Berlin hatte einen Gesamtüberblick<br />

über die Einnahmen und Ausgaben des Staates. Geld, das merke<br />

dir, ist <strong>der</strong> zentrale Punkt <strong>der</strong> Politik, nur wer über sämtliche Finanzmittel<br />

verfügt, besitzt die Macht, um Dinge zu verän<strong>der</strong>n. So<br />

schuf ich bereits im ersten Jahr meiner Regierung eine einheitliche<br />

Finanzverwaltung, das Generalfi nanzdirektorium, und unter <strong>der</strong><br />

Leitung des tüchtigen Creutz haben sich die Staatseinnahmen inzwischen<br />

um das Doppelte vermehrt. Dann gab es noch das Generalkriegskommissariat<br />

und als oberste Kontrollinstanz die Generalrechenkammer,<br />

die ich persönlich leitete, einmal um sämtliche<br />

Einnahmen und Ausgaben genau überprüfen zu können, zum an<strong>der</strong>en<br />

hoffte ich, dass durch meine Überprüfung die beiden Zentralbehörden<br />

im Laufe <strong>der</strong> Zeit kooperativ zusammenarbeiten würden.<br />

Das Gegenteil war <strong>der</strong> Fall, sie stritten sich um Steuern und sonstige<br />

Einkünfte, und ich musste ständig ihre Machtkämpfe schlichten.»<br />

252


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg und dachte einen Augenblick nach.<br />

Mein Gott, was erzählt er für langweiliges Zeug, dachte <strong>Friedrich</strong>,<br />

das interessiert mich doch alles überhaupt nicht; und seine Gedanken<br />

kreisten erneut um Fénelon, und er erinnerte sich an das Fünfte<br />

Buch und Mentors Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Insel Kreta:<br />

«Eifersucht und Neid <strong>der</strong> Menschen sind die einzigen Quellen<br />

ihres Unglückes; sie wollen alles haben und machen sich durch das<br />

Streben nach Überfl uss unglücklich. Wollten sie einfach leben und<br />

nur den wahren Bedürfnissen genügen, so würde überall Wohlstand,<br />

Freude, Friede und Eintracht herrschen.<br />

Dieses hatte Minos, <strong>der</strong> weiseste und beste aller Könige, wohl<br />

eingesehen. Alles, was ihr hier an Wun<strong>der</strong>barem auf dieser Insel<br />

fi nden werdet, ist die Frucht seiner Gesetze. Die Erziehung, die er<br />

den Kin<strong>der</strong>n angedeihen ließ, verlieh ihren Körpern Gesundheit<br />

und Kraft; man gewöhnte sie von Jugend auf an ein einfaches, mäßiges<br />

und arbeitsames Leben, man geht von dem Gedanken aus,<br />

dass jedes Vergnügen Körper und Geist verweichlicht; und man leitet<br />

sie dazu an, ihr höchstes Glück darin zu fi nden, durch unbesiegliche<br />

Tugend sich Ruhm zu erwerben. Ihren Mut zeigen sie nicht<br />

nur darin, dass sie in den Gefahren des Krieges den Tod verachten,<br />

son<strong>der</strong>n auch darin, dass sie Reichtümer und schändliche Vergnügungen<br />

für nichts halten. Drei Laster, die bei an<strong>der</strong>en Völkern ungestraft<br />

ausgehen, werden hier geahndet; nämlich Undankbarkeit,<br />

Verstellung und Habsucht.<br />

Der Prachtliebe und <strong>der</strong> Verweichlichung Einhalt zu tun, das<br />

hat man in Kreta nicht nötig; denn sie sind daselbst unbekannt.<br />

Je<strong>der</strong>mann arbeitet auf <strong>der</strong> Insel, und niemand denkt daran, sich<br />

zu bereichern. Je<strong>der</strong> fi ndet den Lohn seiner Mühen in einem angenehmen<br />

und regelmäßigen Leben, in dem man sich in Frieden<br />

und Wohlstand alles dessen erfreut, was für das Leben wirklich<br />

vonnöten ist. We<strong>der</strong> kostbares Hausgerät noch prächtige Klei<strong>der</strong><br />

noch üppige Gastmähler werden geduldet.<br />

Stolz sind die Kreter auf die großen Güter wie Gesundheit, Stärke,<br />

Mut, Friede und Einigkeit in den Familien, Freiheit aller Bürger, Überfl<br />

uss in allen notwendigen Dingen, Verachtung des Luxus, Fertigkeit<br />

in Arbeiten und Abscheu vor Müßiggang, Wetteifer in <strong>der</strong> Tugend,<br />

Achtung vor den Gesetzen, Furcht vor den gerechten Göttern.»<br />

253


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm fuhr fort: «Während jener stillen Dezembertage<br />

in dem Jagdschloss wurde mir allmählich klar, wie ich die<br />

Verwaltung meines Staates organisieren musste, um zu erreichen,<br />

dass je<strong>der</strong> Minister und je<strong>der</strong> Beamte zum Wohl des Staates arbeitet.<br />

Ich schrieb eine Instruktion, worin die Doppelgleisigkeit <strong>der</strong><br />

preußischen Staatsverwaltung aufgehoben wurde, und schuf eine<br />

einzige Zentralbehörde, heute nennt man sie das Generaldirektorium.<br />

Ich habe mich selbst zum Präsidenten dieses obersten zentralen<br />

Regierungsorgans ernannt.<br />

Meine Instruktion basiert auf dem Grundsatz: Einheit schafft<br />

Potenz, Ordnung garantiert Effektivität. Diese Instruktion umfasst<br />

fünfunddreißig Paragraphen, die du dir genau ansehen wirst. Das<br />

Generaldirektorium ist seit dem Januar 23 die oberste Regierungsbehörde<br />

des preußischen Königreiches, ihr untersteht die gesamte<br />

fi nanzielle und innere Verwaltung des Staates einschließlich aller<br />

wirtschaftlichen Angelegenheiten des Heeres. Das Generaldirektorium<br />

setzt sich aus vier Provinzialdepartements zusammen, an<br />

<strong>der</strong>en Spitze ein Minister steht, <strong>der</strong> von drei bis vier Räten unterstützt<br />

wird. Das erste Departement unter Generalleutnant von<br />

Grumbkow ist zuständig für die Provinzen Ostpreußen, Pommern,<br />

Neumark, das zweite unter dem Geheimen Rat Kraut für die Kurmark,<br />

Magdeburg und Halberstadt, das dritte unter dem Minister<br />

Görne für die rheinischen Gebiete und das vierte unter Creutz für<br />

die westfälischen Län<strong>der</strong>eien. Herr von Katsch ist <strong>der</strong> Vizepräsident<br />

des Generaldirektoriums, also mein Stellvertreter. Die Departements<br />

sollen kein Eigenleben führen, alle Vorträge müssen<br />

vor <strong>der</strong> versammelten Behörde gehalten werden, so dass je<strong>der</strong>mann<br />

im Generaldirektorium einen Gesamtüberblick hat; die Minister<br />

und Räte sollen kollegial zusammenarbeiten und gemeinsame Beschlüsse<br />

fassen, ist dies nicht möglich, so werde ich entscheiden.<br />

Zwei Dinge sind beson<strong>der</strong>s wichtig, Fritz: Die Beamten in den<br />

untergeordneten Provinzialkammern dürfen nicht in ihren Heimatgebieten<br />

eingesetzt werden, damit von Anfang an Vetternwirtschaft<br />

ausgeschlossen wird, die Herren müssen also bereit sein, sich<br />

versetzen zu lassen, außerdem müssen die künftigen preußischen<br />

Beamten hervorragend qualifi ziert sein und <strong>der</strong> reformierten o<strong>der</strong><br />

lutherischen Konfession angehören. Für jedes Verwaltungsressort<br />

254


wird ein Jahresetat aufgestellt, diese Etats werden viermal im Jahr<br />

überprüft und mir zur Abzeichnung vorgelegt. Die wichtigste Aufgabe<br />

des Generaldirektoriums ist es, alle wirtschaftlichen Kräfte<br />

des Landes zu erfassen und sie zur Stärkung des Staates zu mobilisieren,<br />

das bedeutet: staatlich gelenkte För<strong>der</strong>ung des Außenhandels<br />

mit dem Ziel einer aktiven Handelsbilanz, staatlich geför<strong>der</strong>te<br />

Beschleunigung des Manufakturwesens, staatlich initiierte Ausweitung<br />

von Handel und Verkehr in Preußen. Fritz, bei allen neuen<br />

Projekten musst du immer fragen: Was kostet es, was bringt es ein?<br />

Du darfst nur das in Angriff nehmen, was einen gehörigen Zinsertrag<br />

abwirft, alles Übrige ist Wind und blauer Dunst. Nun zu den<br />

Details, die immer das Wichtigste sind», <strong>der</strong> König blätterte in dem<br />

Dokument, und <strong>Friedrich</strong> dachte: Mein Gott, wie lange wird dieser<br />

Vortrag noch dauern? Seine Gedanken begannen erneut, um die<br />

Insel Kreta zu kreisen …<br />

«Ich fragte Mentor, worin die Gewalt und das Ansehen des Königs<br />

bestände, und er antwortete mir: ‹Er hat unbedingte Macht<br />

über sein Volk; aber ebenso beugt er sich den Gesetzen. Er hat unumschränkte<br />

Macht, Gutes zu tun, aber seine Hände sind ihm gebunden,<br />

sobald er Böses tun will. Die Gesetze vertrauen ihm die<br />

Untertanen als das kostbarste aller Güter an, jedoch nur unter <strong>der</strong><br />

Bedingung, dass er ihnen ein liebevoller Vater ist. Das Gesetz bestimmt,<br />

dass ein einziger Mann durch seine Weisheit und seine<br />

Mäßigung dem Glücke so vieler Menschen diene, gestattet aber<br />

nicht, dass so viele Menschen in Elend und feiger Sklaverei dem<br />

Stolze und üppigen Leben eines einzigen Mannes huldigen. Der<br />

König darf den an<strong>der</strong>en nur voraushaben, was seine Stellung erfor<strong>der</strong>t:<br />

was entwe<strong>der</strong> zur Erholung nach seiner mühevollen Tätigkeit<br />

beiträgt o<strong>der</strong> was den Untertanen Ehrerbietung vor ihm, als dem<br />

Wächter <strong>der</strong> Gesetze, einfl ößt. Sonst muss <strong>der</strong> König mäßiger, ein<br />

größerer Feind von üppigem Leben, Pracht und Stolz sein als je<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e. Nicht durch Reichtum und Wohlleben, son<strong>der</strong>n durch<br />

Weisheit, Tugend und Ruhm soll er sich vor den übrigen Menschen<br />

auszeichnen. Nach außen hin ist er Oberbefehlshaber <strong>der</strong> Heere<br />

und Verteidiger des Vaterlandes; im Inneren ist er Richter seiner<br />

Untertanen, um sie gut, weise und glücklich zu machen. Die Götter<br />

haben ihn nicht um seiner selbst willen zum König gemacht, son-<br />

255


<strong>der</strong>n er ist es nur, um <strong>der</strong> Vater seiner Untertanen zu sein, ihnen<br />

seine Zeit, seine Sorgen, seine Liebe zu widmen; er ist nur insoweit<br />

<strong>der</strong> königlichen Ehre würdig, als er in völliger Selbstlosigkeit<br />

sich nur dem allgemeinen Wohl zum Opfer bringt. Minos wollte<br />

nur unter <strong>der</strong> Bedingung seine Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Regierung folgen lassen,<br />

wenn sie nach seinen Grundsätzen herrschten; denn sein Volk<br />

ging ihm über seine Familie. Durch solche Weisheit hat er Kreta<br />

so mächtig und glücklich gemacht, durch diese Mäßigung hat er<br />

den Ruhm aller Eroberer, welche die Völker allein zu ihrer eigenen<br />

Größe auszubeuten suchten, vernichtet; durch seine Gerechtigkeit<br />

erwarb er sich die Ehre, <strong>der</strong> oberste Richter <strong>der</strong> Toten zu sein.›»<br />

Ja, dachte <strong>Friedrich</strong>. Fénelon hat recht, Minos sollte ein Vorbild<br />

für alle Fürsten sein, wenn ich einmal König bin, werde ich versuchen,<br />

so zu regieren wie Minos auf Kreta …<br />

Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme des Vaters, aber die<br />

Worte rauschten an ihm vorbei.<br />

«Höre, Fritz, das Generaldirektorium hält an vier Tagen in <strong>der</strong><br />

Woche, Montag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag, Sitzungen<br />

ab. Sitzungsbeginn ist im Sommer um sieben, im Winter um acht<br />

Uhr morgens. Tagungsort ist ein Saal im Berliner Schloss. Je<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> vier Minister hält an einem <strong>der</strong> vier Wochentage Vortrag über<br />

seine speziellen Departement-Angelegenheiten, so dass jede Provinz<br />

und jedes gesamtstaatliche Sachgebiet einmal pro Woche zur<br />

Sprache kommen. Bis mittags um vierzehn Uhr sollen alle anfallenden<br />

Arbeiten erledigt sein. Sind sie es nicht, muss bis achtzehn<br />

Uhr weitergearbeitet werden. Die Schlossküche verabreicht dann<br />

den Ministern und Räten um vierzehn Uhr vier gute Gänge Essen<br />

nebst Wein und Bier. Wenn ein Minister o<strong>der</strong> ein Rat eine Stunde<br />

zu spät kommt, muss er hun<strong>der</strong>t Taler Strafe zahlen. Diejenigen,<br />

die eine Sitzung ohne meine Erlaubnis versäumen, erhalten sechs<br />

Monate lang kein Gehalt, denn ich bezahle sie dafür, dass sie arbeiten<br />

sollen. Dies ist die einzige Möglichkeit, um die Beamten von<br />

ihrem alten Schlendrian wegzubringen und zu erreichen, dass sie<br />

pünktlich und gleichmäßig ihren Dienst tun. Die Dienstage und<br />

Sonnabende sind nicht zum Faulenzen da, son<strong>der</strong>n dazu, zu Hause<br />

die schriftlichen Dekrete zu verfassen, die sich aus den Kollegiumssitzungen<br />

ergeben haben. Ich bin nur hin und wie<strong>der</strong> bei den<br />

256


Sitzungen anwesend, aber damit mein Geist und Wille ständig präsent<br />

sind, habe ich im Saal mein Bild in Lebensgröße aufhängen<br />

lassen. Nach deiner Konfi rmation wirst du mich zu den Sitzungen<br />

begleiten.»<br />

In diesem Augenblick bemerkte er die verträumten Augen des<br />

Sohnes und spürte, wie Zorn in ihm aufstieg.<br />

Er schlug mit <strong>der</strong> Faust auf den Tisch und brüllte: «Hörst du mir<br />

überhaupt zu?»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen: «Selbstverständlich, Papa.»<br />

Der König musterte den Kronprinzen misstrauisch, dann schob<br />

er ihm das Dokument zu: «Während deiner Freizeit wirst du dich<br />

mit den einzelnen Paragraphen beschäftigen und sie auswendig<br />

lernen. Das ist ein Befehl, und ich werde hin und wie<strong>der</strong> kontrollieren,<br />

ob du gehorchst, und dich über den Inhalt <strong>der</strong> Instruktion<br />

examinieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete verzweifelt das Dokument.<br />

In meiner Freizeit werde ich mich mit diesem langweiligen Zeug<br />

nicht beschäftigen. Und wenn er mich prüft, und ich kann die Fragen<br />

nicht beantworten? Nun, irgendeine Ausrede wird mir schon<br />

einfallen.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> einige Wochen später, Mitte März, das Arbeitszimmer<br />

des Vaters betrat, fragte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Hast du dich<br />

inzwischen mit dem Verwaltungsaufbau deines künftigen Reiches<br />

beschäftigt?»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak und antwortete zögernd: «Ja, Papa.»<br />

Mein Gott, dachte er verzweifelt, er kontrolliert tatsächlich, ob<br />

ich mich mit diesen langweiligen Paragraphen beschäftigt habe, er<br />

hat es nicht vergessen.<br />

«Nun gut, aus wie vielen Provinzialdepartements setzt sich das<br />

Generaldirektorium zusammen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah zu Boden und schwieg.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm wartete einen Augenblick, dann trat er zu<br />

dem Sohn, musterte ihn fi nster von oben bis unten und fragte:<br />

«Welche Provinzen gehören zum ersten Departement?»<br />

<strong>Friedrich</strong> schwieg einen Augenblick und antwortete dann zögernd:<br />

«Ich weiß es nicht, Papa, das heißt, ich vergesse immer wie<strong>der</strong><br />

die Namen <strong>der</strong> einzelnen Provinzen.»<br />

257


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte den Sohn einen Augenblick an und<br />

versuchte, die verschiedenen Gedanken, die ihn durchfuhren, zu<br />

ordnen.<br />

Spricht er die Wahrheit? Nein, er ist intelligent genug, um meine<br />

Instruktion zu begreifen.<br />

«Du willst mich wohl für dumm verkaufen!», schrie er. «Wahrscheinlich<br />

hast du dich mit den Paragraphen überhaupt nicht beschäftigt,<br />

hast Flöte gespielt und lie<strong>der</strong>liche französische Romane<br />

gelesen. Na warte, ich werde dir den Aufbau <strong>der</strong> preußischen<br />

Verwaltung schon einbläuen. Heute ist Montag, am kommenden<br />

Sonnabend werde ich dich erneut examinieren, und wenn du meine<br />

Fragen wie<strong>der</strong> nicht beantworten kannst, bekommst du den Stock<br />

zu spüren und wirst deine gesamte Freizeit unter Aufsicht deiner<br />

Erzieher damit verbringen, dich mit dem Generaldirektorium zu<br />

beschäftigen, so lange, bis du die Paragraphen auswendig kennst.»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak. Die freien Nachmittage am Sonnabend und<br />

Sonntag soll ich opfern, schoss es ihm durch den Sinn, nein, nein,<br />

ich muss die Prüfung am Samstag bestehen, aber die Zeit ist zu<br />

kurz …<br />

Er atmete tief durch und sagte zögernd: «Papa, ich will mich<br />

gerne mit dem Generaldirektorium beschäftigen, aber Sie wissen,<br />

dass mein Tag genau eingeteilt ist; würden Sie mir bitte erlauben,<br />

in dieser Woche, nur in dieser Woche, dem Tabakskollegium fernzubleiben,<br />

dann hätte ich genügend Zeit, um die Paragraphen zu<br />

lernen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte den Sohn einen Augenblick sprachlos<br />

an – und plötzlich fühlte er sich für den Bruchteil einer Sekunde<br />

hilfl os, spürte, dass <strong>der</strong> Sohn ihm überlegen war, verdrängte jenen<br />

Gedanken und antwortete barsch: «Das könnte dir so passen. Du<br />

wirst jeden Abend im Tabakskollegium anwesend sein. Wann du<br />

lernst, ist deine Sache. Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, und<br />

es ist nur eine Frage <strong>der</strong> Organisation, diese Stunden sinnvoll zu<br />

nutzen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> setzte sich schweigend auf seinen Platz, beobachtete<br />

den Vater beim Aktenstudium und überlegte: Ich kann nach dem<br />

Unterricht bis zur Abendtafel lernen und nach <strong>der</strong> Tabagie bis zur<br />

Nachtruhe, Wilhelmine muss dann an einigen Abenden auf mich<br />

258


verzichten, vielleicht ist Duhan bereit, einige Unterrichtsstunden<br />

zu opfern; ja, so müsste es möglich sein, sich diese albernen Paragraphen<br />

einzuprägen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm legte eine Akte zur Seite und sagte: «Fritz,<br />

ich vergaß, dir zu sagen, dass wir übermorgen zu einem Bankett<br />

bei Grumbkow geladen sind, er feiert die Taufe seines Sohnes. Ich<br />

erwarte dich pünktlich um sieben Uhr in diesem Zimmer. Deine<br />

Mutter wird uns bestimmt nicht begleiten, ihre fi ebrige Erkältung<br />

dauert länger als erwartet. Es ist das erste Bankett, das du erlebst,<br />

und ich erwarte, dass du dich entsprechend benimmst und mich<br />

nicht blamierst. Die Bankette in diesem Haus sind mehr als üppig,<br />

trotzdem solltest du dich etwas zurückhalten, mäßig essen, wenig<br />

trinken, nur sprechen, wenn man dich anredet. Du bist zwar <strong>der</strong><br />

künftige König, aber du solltest bescheiden auftreten, hast du mich<br />

verstanden?»<br />

«Ja, Papa.»<br />

Mein Gott, dachte er verzweifelt, <strong>der</strong> Abend fehlt zum Lernen,<br />

aber es ist auch eine interessante Abwechslung, ein Bankett, mein<br />

erstes Bankett …<br />

Zwei Tage später stand <strong>Friedrich</strong> am frühen Abend in seinem<br />

Schlafzimmer vor dem hohen Standspiegel und betrachtete nachdenklich<br />

seine Uniform.<br />

Heute bin ich zum ersten Mal Gast in einem fremden Haus, überlegte<br />

er, Grumbkows Einladung bedeutet für Papa und mich, dass<br />

wir repräsentieren müssen, Papa trägt bestimmt seine Uniform,<br />

aber <strong>der</strong> schlichte blaue Rock aus einfachem Tuch ist dem Ereignis<br />

nicht angemessen. Ob ich es wagen kann, meine Grande Parure<br />

zu tragen? Papa hat sie noch nicht gesehen, er wird wahrscheinlich<br />

schimpfen, wenn ich statt <strong>der</strong> Uniform ein Galakleid trage,<br />

an<strong>der</strong>erseits – soll er doch brüllen und sich aufregen. Ich habe mich<br />

inzwischen daran gewöhnt, dass er mich anschreit.<br />

Er ging zum Schrank, nahm die Grande Parure und fi ng an, sich<br />

langsam und genüsslich umzukleiden. Dann trat er erneut vor den<br />

Spiegel und betrachtete zufrieden den seidenen weinroten Rock,<br />

die Weste aus weinroter Seide, die weiße seidene Halsbinde, das<br />

üppige weiße Spitzenjabot des Hemdes, seine Augen wan<strong>der</strong>ten<br />

259


weiter zu den schwarzen seidenen Kniehosen, den weißen seidenen<br />

Strümpfen, den schwarzen glänzenden Absatzschuhen mit den Silberschnallen,<br />

er strich mit <strong>der</strong> rechten Hand vorsichtig über die<br />

Silberstickerei auf Rock und Weste und zupfte die weißen Spitzenmanschetten,<br />

die aus dem Rockärmel lugten, zurecht; er drehte<br />

und wendete sich vor dem Spiegel und sagte halblaut: «Jetzt sehe<br />

ich wenigstens wie ein künftiger König aus.»<br />

Er ging zu <strong>der</strong> Kommode, zog eine Schublade auf und betrachtete<br />

nachdenklich den Inhalt: einige Fläschchen mit französischem<br />

Parfum, eine Dose mit rosa Pu<strong>der</strong>, ein Tiegel mit Rouge für Wangen<br />

und Mund, einige schwarze Schönheitspfl ästerchen und ein<br />

schwarzer Stift zum Färben <strong>der</strong> Augenbrauen.<br />

Er lachte leise auf und sagte: «Wenn Papa wüsste, dass Mama mir<br />

dies alles zum Geburtstag geschenkt hat. Ob ich es wagen kann, bei<br />

Grumbkow geschminkt aufzutreten?»<br />

Er öffnete ein Parfumfl äschchen und atmete tief den Lilienduft<br />

ein, dann nahm er die kleine Quaste neben <strong>der</strong> Pu<strong>der</strong>dose und<br />

überlegte: Ich werde auf Rouge verzichten, um Papa nicht noch<br />

mehr zu reizen; ein gepu<strong>der</strong>tes Gesicht fällt ihm wahrscheinlich<br />

nicht auf, und <strong>der</strong> Parfümduft ist so dezent …<br />

Er überpu<strong>der</strong>te das Gesicht, betupfte die Schläfen und die Pulsa<strong>der</strong>n<br />

mit einigen Tropfen Parfüm und klingelte dann nach dem<br />

Kammerdiener.<br />

Als Sternemann das Zimmer betrat, blieb er überrascht stehen<br />

und rief: «Königliche Hoheit, Sie tragen Gala? Ach ja, Sie gehen<br />

jetzt zum Minister Grumbkow.»<br />

«Findet Er nicht auch, dass dieses Tauffest ein Anlass ist, um<br />

Gala zu tragen?»<br />

«Gewiss, Königliche Hoheit, und mit Verlaub, ich bin immer von<br />

neuem fasziniert, wenn ich Sie in <strong>der</strong> Grande Parure sehe; in einigen<br />

Jahren werden alle jungen Damen am Hof in Sie verliebt sein.<br />

Aber was wird Seine Majestät sagen?»<br />

«Mein Vater wird sich aufregen, aber das stört mich nicht weiter,<br />

richte Er meine Frisur und pu<strong>der</strong>e Er die Haare.»<br />

«Gütiger Himmel, Königliche Hoheit, Sie sollen um sieben Uhr<br />

bei Seiner Majestät sein, es ist schon zehn vor sieben», und er legte<br />

hastig den Frisierumhang über das Galakleid.<br />

260


Um fünf Minuten vor sieben verließ <strong>Friedrich</strong> sein Appartement,<br />

eilte hinunter und betrat etwas abgehetzt das Arbeitszimmer.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging unruhig auf und ab, und als er den<br />

Sohn sah, blieb er abrupt stehen und schrie: «Zum Donnerwetter,<br />

ich habe dir befohlen, um sieben Uhr hier zu sein, jetzt sind es zwei<br />

Minuten nach sieben! Was soll diese Trödelei? Ich lege Wert darauf,<br />

dass wir pünktlich bei unserem Gastgeber erscheinen.»<br />

«Verzeihung, Papa», murmelte <strong>Friedrich</strong> und dachte im Stillen:<br />

Ich hasse diese gottverdammte Pünktlichkeit, warum müssen wir<br />

alle nach dem Uhrzeiger leben?<br />

In diesem Augenblick sah <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, dass <strong>der</strong> Sohn<br />

keine Uniform, son<strong>der</strong>n ein Galakleid trug, er starrte ihn für den<br />

Bruchteil einer Sekunde fassungslos an, fragte sich, ob er träume,<br />

ging langsam zu <strong>Friedrich</strong>, strich mit <strong>der</strong> rechten Hand über die<br />

Silberstickerei, trat einen Schritt zurück und holte tief Luft.<br />

«Was soll diese Maskerade, Fritz? Warum trägst du keine Uniform?»<br />

«Wir gehen zu einem Tauffest, Papa, ich dachte, dass die Uniform<br />

nicht feierlich genug ist.»<br />

«Was sagst du?!», brüllte <strong>der</strong> König, und <strong>Friedrich</strong> beobachtete<br />

besorgt, dass sich auf <strong>der</strong> Stirn des Vaters die Zornfalte bildete und<br />

das Gesicht dunkelrot wurde vor Wut.<br />

«Die Uniform ist nicht feierlich genug? Merke dir eines: Die Uniform<br />

eines preußischen Offi ziers ist bei allen gesellschaftlichen Anlässen<br />

eine passende und angemessene Kleidung. Du bist ein Offi zier,<br />

und ich erwarte von meinen Offi zieren, dass sie vom frühen Morgen<br />

bis zum späten Abend ihre Uniform tragen, überdies fand die Taufe<br />

bereits am Nachmittag im Familienkreis statt. Wie kommst du überhaupt<br />

zu diesem Firlefanz?»<br />

<strong>Friedrich</strong> zögerte etwas, dann sah er den Vater an und antwortete:<br />

«Als mein Großvater uns besuchte, da gefi el mir die Kleidung<br />

seines Gefolges, und ich bat Mama, mir eine Grande Parure fertigen<br />

zu lassen.»<br />

O Gott, dachte er erschrocken, das war die falsche Antwort, jetzt<br />

habe ich Mama in die Affäre hineingezogen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte den Sohn an, dann wandte er sich<br />

ab und sagte halblaut: «So ist das also, deine Mutter unterstützt<br />

261


dich gegen mich. Nun ja, was kann man von einer luxuriösen, verschwendungssüchtigen<br />

Welfi n auch erwarten? Sie versucht, mir<br />

den Sohn und Thronfolger zu entfremden.»<br />

«Papa, bitte, Mama ist unschuldig, ich habe sie um die Grande<br />

Parure gebeten.»<br />

Da trat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm vor den Sohn und schrie: «Du bist<br />

ein gottverdammtes Muttersöhnchen, aber ich werde dich schon<br />

zurechtbiegen! Komm jetzt, zum Umkleiden ist nicht mehr genügend<br />

Zeit», er stutzte, als er <strong>Friedrich</strong>s Gesicht sah, strich mit <strong>der</strong><br />

rechten Hand barsch über die Wangen und betrachtete angeekelt<br />

den Pu<strong>der</strong>.<br />

«Mein Sohn ist ein effeminierter Bursche», schrie er, «er verwendet<br />

Pu<strong>der</strong> und stinkt nach Parfüm wie die gottverdammten<br />

Franzosen! Aber ich werde dich zur Raison bringen», er eilte in das<br />

Schlafzimmer, wusch sich die Hände, und dann verließen er und<br />

<strong>Friedrich</strong> das Schloss und bestiegen die wartende Kutsche.<br />

Während <strong>der</strong> Fahrt betrachtete <strong>der</strong> König hin und wie<strong>der</strong> wütend<br />

den Sohn und versuchte, seinen Zorn zu unterdrücken. <strong>Friedrich</strong><br />

vermied es, den Vater anzusehen, und beobachtete die Berliner<br />

Bürger, die in den Straßen geschäftig hin- und hereilten.<br />

Als die Kutsche im Hof des Grumbkow’schen Palais hielt, atmete<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm durch und sagte: «Wir sind pünktlich angekommen,<br />

Gott sei Dank. Merke dir, Fritz, Pünktlichkeit ist die Höfl ichkeit<br />

<strong>der</strong> Könige.»<br />

262


8<br />

Als sie den Empfangssaal betraten, standen die Gäste in kleinen<br />

Gruppen zusammen und unterhielten sich halblaut, während<br />

einige Lakaien hin- und hereilten und Champagner in Kristallkelchen<br />

servierten. Grumbkows Haushofmeister stieß den langen Silberstock<br />

auf den Marmorfußboden und rief: «Seine Majestät, <strong>der</strong><br />

König; Seine Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz!»<br />

Im Saal wurde es still, und während die Offi ziere strammstanden,<br />

versanken die Damen im Hofknicks.<br />

Grumbkow und seine Gattin eilten auf den König und <strong>Friedrich</strong><br />

zu, und während Vater und Sohn sich nacheinan<strong>der</strong> über die Hand<br />

<strong>der</strong> Gastgeberin beugten, sagte <strong>der</strong> Minister: «Majestät, Königliche<br />

Hoheit, es ist eine große Ehre für uns, dass Sie in unser bescheidenes<br />

Haus kommen, um an einer Familienfeier teilzunehmen»,<br />

und er winkte einen <strong>der</strong> Lakaien herbei.<br />

«Darf ich Ihnen zur Begrüßung ein Glas Champagner anbieten?<br />

Ich habe diese Sorte erst vor kurzem entdeckt, Piper Heidsieck, die<br />

Trauben wachsen in <strong>der</strong> Nähe von Reims.»<br />

«Mein lieber Grumbkow», erwi<strong>der</strong>te <strong>der</strong> König ungeduldig, «Sie<br />

wissen doch, dass ich keinen Champagner trinke. Dieses französische<br />

Gesöff ist Wind und blauer Dunst. Ein Glas Tokaier wäre mir lieber.»<br />

«Selbstverständlich, Majestät», er gab dem Lakai einen Wink<br />

und sagte zu <strong>Friedrich</strong>: «Möchten Sie ein Glas Champagner?»<br />

«Nein», rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm in barschem Ton, «<strong>der</strong> Bengel hat<br />

schon genug französische Flausen im Kopf.»<br />

Frau von Grumbkow lächelte den König an: «Majestät, Seine Königliche<br />

Hoheit weilt heute zum ersten Mal in meinem Haus, ist<br />

das nicht ein Anlass für ein Glas Champagner?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm zögerte einen Augenblick: «Ich erlaube es,<br />

aber nur, weil Sie darum gebeten haben.»<br />

«Ich danke Euer Majestät. Wie geht es Ihrer Majestät?»<br />

«Meine Frau wird in einigen Tagen wie<strong>der</strong> gesund sein.»<br />

In diesem Augenblick bemerkte Grumbkow, dass <strong>Friedrich</strong> keine<br />

Uniform, son<strong>der</strong>n ein Galakleid trug.<br />

263


Nanu, dachte er verwun<strong>der</strong>t, hat mein knauseriger König dem<br />

Prinzen für den heutigen Abend eine Grande Parure fertigen lassen?<br />

Seine Augen wan<strong>der</strong>ten vorsichtig zwischen Vater und Sohn<br />

hin und her, und nach wenigen Sekunden spürte er die gefährliche<br />

Spannung zwischen dem König und dem Kronprinzen.<br />

Wie ist <strong>der</strong> Junge zu dem seidenen Rock gekommen, dachte er<br />

amüsiert, <strong>der</strong> Alte ist darüber natürlich verärgert.<br />

Ein Lakai erschien und bot auf einem Silbertablett Champagner<br />

und Tokaier an.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm nahm das Glas und verbeugte sich kurz vor<br />

Frau von Grumbkow: «Ich trinke auf Ihr Wohl und vor allem auf<br />

das Wohl des neugeborenen Sohnes.»<br />

Nun verbeugte sich <strong>Friedrich</strong>: «Auf Ihr Wohl, Madame, und auf<br />

das Wohl des Kindes.»<br />

Er nippte an dem Champagner und genoss die prickelnde Kühle.<br />

Er schmeckt ausgezeichnet, dachte er, wenn ich König bin, werde<br />

ich jeden Tag Champagner trinken.<br />

Inzwischen schleppten zwei königliche Diener einen unförmigen<br />

Gegenstand herbei, <strong>der</strong> mit einem weißen Tuch bedeckt war, und<br />

stellten ihn vor die Grumbkows auf den Boden.<br />

«Das ist mein Taufgeschenk für Ihren Sohn», sagte <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm und entfernte das weiße Tuch, «ein Zeughaus. Ihr Sohn<br />

wird zwar erst in drei Jahren damit spielen können, aber es ist ein<br />

Spielzeug, womit er sich bis zum zehnten o<strong>der</strong> elften Lebensjahr<br />

beschäftigen kann. Man kann nicht früh genug damit anfangen,<br />

einem kleinen Jungen die Liebe zum Soldatenstand beizubringen.»<br />

«Eine reizende Idee», rief Frau von Grumbkow, «ich danke Euer<br />

Majestät herzlich für dieses wun<strong>der</strong>volle Geschenk», sie ging um<br />

das Zeughaus herum, rief: «Wirklich entzückend!», und dachte im<br />

Stillen: Etwas prachtvoller könnte das Geschenk schon sein, Preußen<br />

ist inzwischen kein armes Land mehr.<br />

Grumbkow lächelte den König verbindlich an: «Was für ein originelles<br />

Geschenk, Majestät, ich versichere Ihnen, dass meine Söhne<br />

<strong>der</strong>einst zu Ihren loyalsten Offi zieren gehören werden.»<br />

Na, dachte er, bei diesem Taufgeschenk hat er mal wie<strong>der</strong> gespart,<br />

Silbergeschirr wäre angemessener gewesen.<br />

264


<strong>Friedrich</strong> trank einen Schluck Champagner und streifte das<br />

Zeughaus mit einem spöttischen Seitenblick.<br />

An<strong>der</strong>e Geschenkideen hat er wohl nicht, die Bibel und militärisches<br />

Spielzeug, dachte er, dann wan<strong>der</strong>ten seine Augen über die Gäste: das<br />

Ehepaar Creutz, das Ehepaar Ilgen, das Ehepaar Knyphausen, Herr<br />

von Suhm, <strong>der</strong> sächsische Gesandte, <strong>der</strong> Dessauer, Dubourgay, <strong>der</strong><br />

englische Gesandte, Graf von Rothenburg, <strong>der</strong> französische Gesandte.<br />

Er suchte die Gesandten Russlands und des Kaisers, aber sie waren<br />

nicht anwesend, und dann erinnerte er sich gehört zu haben, dass einer<br />

<strong>der</strong> Herren krank, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e in einer familiären Angelegenheit<br />

nach Wien gereist war. Die übrigen Gäste waren Offi ziere, von denen<br />

er einige aus dem Tabakskollegium kannte: sein Gouverneur Finck,<br />

General von Buddenbrock, General von Pannewitz.<br />

Er sah, dass alle Offi ziere ihre Uniform trugen, nur die Minister<br />

und die Gesandten waren in Zivil gekleidet, die Röcke <strong>der</strong> preußischen<br />

Minister waren aus einfachem blauen Tuch, die <strong>der</strong> Gesandten<br />

aus Seide und Brokat.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stellte sein leeres Glas auf das Silbertablett,<br />

das <strong>der</strong> Lakai trug, und dabei streiften seine Augen den Sohn in<br />

<strong>der</strong> Galakleidung. Er sah, dass <strong>Friedrich</strong> genüsslich einen Schluck<br />

Champagner nach dem an<strong>der</strong>en trank, und er spürte, dass Ärger<br />

über diesen Sohn in ihm aufstieg; er trank hastig ein weiteres Glas<br />

Tokaier, und während er das leere Glas dem Lakaien reichte, dachte<br />

er: Am liebsten würde ich den Bengel ohrfeigen, aber ich muss<br />

mich heute Abend beherrschen. Ich muss mich beherrschen.<br />

Er leerte ein drittes Glas Tokaier, und als er es dem Lakaien gab,<br />

dachte er: Muss ich mich wirklich beherrschen? Ich bin doch <strong>der</strong><br />

Herr und König und kann tun und lassen, was ich will!<br />

In diesem Augenblick wurde die große eichene Flügeltür des<br />

Speisesaales geöffnet und Grumbkow rief: «Majestät, Königliche<br />

Hoheit, meine Damen und Herren, es ist angerichtet, ich wünsche<br />

guten Appetit!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm bot galant <strong>der</strong> Dame des Hauses den Arm<br />

und schritt mit ihr feierlich in den Saal.<br />

In <strong>der</strong> Mitte stand <strong>der</strong> Haushofmeister und geleitete den König<br />

und seine Begleiterin zum oberen Ende <strong>der</strong> Tafel, dann sagte er<br />

leise zu <strong>Friedrich</strong>: «Königliche Hoheit, bitte, hier ist Ihr Platz.»<br />

265


<strong>Friedrich</strong> blieb einen Augenblick neben seinem Stuhl stehen und<br />

betrachtete überwältigt die unzähligen brennenden Kerzen in den<br />

Silberleuchtern, das weiße damastene Tischtuch und die kunstvoll<br />

gefalteten Servietten aus Damast, das weiße Porzellan, die Silberbestecke<br />

und die Kristallgläser. Er bestaunte den silbernen Tafelaufsatz,<br />

worauf Blumen und Früchte kunstvoll arrangiert waren.<br />

Schließlich setzte er sich und dachte im Stillen: In keinem unserer<br />

Schlösser, auch nicht in Monbijou, sind die Tafeln so prachtvoll<br />

gedeckt, noch nicht einmal an Weihnachten. Gewiss, dies ist ein<br />

Tauffest, aber ich spüre, dass man in diesem Haus täglich von Porzellan<br />

speist.<br />

Während <strong>der</strong> Haushofmeister den Gästen ihre Plätze wies, zählte<br />

<strong>Friedrich</strong> vierundzwanzig Gedecke, dann sah er verstohlen zu<br />

seinem Vater, <strong>der</strong> von seinem Platz aus die Tischgesellschaft überblicken<br />

konnte. Rechts neben dem König saß die Hausherrin, er<br />

selbst, wie stets, links vom König. Neben Frau von Grumbkow saß<br />

<strong>der</strong> französische Gesandte, ihm gegenüber Grumbkow.<br />

Im Hintergrund erklang Musik, und <strong>Friedrich</strong> horchte auf die<br />

Melodie und erkannte Händel, dann sah er sein Gedeck und erschrak<br />

beim Anblick <strong>der</strong> verschiedenen Bestecke und Gläser.<br />

Er betrachtete verwirrt den weißen Teller mit dem kobaltblauen<br />

Rand, <strong>der</strong> von Gold umsäumt war, er sah das goldene Monogramm<br />

auf dem blauen Rand und das Familienwappen, ebenfalls in Gold,<br />

auf <strong>der</strong> Mitte des Tellers, dann wan<strong>der</strong>ten seine Augen zu den Bestecken.<br />

Rechts neben dem Teller liegt ein Messer für Fleisch, dachte er,<br />

das Instrument daneben habe ich nie gesehen, es ähnelt einem Messer,<br />

dann kommt ein Suppenlöffel und dann eine kleine dreizinkige<br />

Gabel, was isst man mit ihr? Jedenfalls wird sie zuerst benutzt,<br />

weil sie ganz außen liegt; und wie sieht es auf <strong>der</strong> linken Seite aus?<br />

Neben dem Teller eine dreizinkige Gabel, dann noch eine Gabel,<br />

wofür? Am oberen Tellerrand liegen ein kleines Messer, eine kleine<br />

Gabel und ein kleiner Löffel für das Dessert.<br />

Die Gläser sind noch verwirren<strong>der</strong>: Rechts außen steht eine<br />

Kristallschale, wofür? Dann zwei Weingläser von unterschiedlicher<br />

Größe, dann noch ein kleines Glas, wofür? Warum gibt es<br />

hier zwei Weingläser? An <strong>der</strong> königlichen Tafel steht nur ein Glas<br />

266


vor jedem Gedeck; o Gott, hoffentlich mache ich alles richtig, ich<br />

darf die Hohenzollern nicht blamieren, ich muss beobachten, wie<br />

die Gäste diesen Wust von Gläsern und Bestecken benutzen. Er sah<br />

unwillkürlich zu dem französischen Gesandten. Das ist <strong>der</strong> richtige<br />

Mann, dachte er, <strong>der</strong> weiß, wie man sich an einer solchen Tafel<br />

benimmt.<br />

Er betrachtete das Gesicht des Grafen und dachte: Er ist geschminkt,<br />

wie es sich gehört: Die Augenbrauen sind mit einem<br />

Stift modelliert, auf Wangen und Lippen hat er Rouge aufgetragen,<br />

er trägt eine weißgepu<strong>der</strong>te Beutelperücke mit zwei Spirallocken<br />

an den Seiten und Schnallenschuhe mit roten Absätzen, wie<br />

es beim französischen Adel üblich ist. Die Offi ziere und Minister<br />

meines Vaters sind natürlich nicht geschminkt, wie unelegant und<br />

bie<strong>der</strong> sie wirken …<br />

In diesem Augenblick hörte er die Stimme seines Vaters: «Lieber<br />

Grumbkow, die kleine Gabel rechts vom Teller zeigt an, dass es<br />

eine meiner Lieblingsspeisen gibt, nämlich Austern.»<br />

«Majestät, ich habe versucht, ein Menü nach Ihrem Geschmack<br />

komponieren zu lassen. Als Vorspeise gibt es Austern, es folgt eine<br />

Trüffelcremesuppe, danach gebratenes Hechtfi let mit grünem Salat,<br />

dann Braten vom Schwein, Kalb und Rind, gebratene Lammkeule,<br />

gebratene Tauben, ein Schinken, <strong>der</strong> in Champagner gegart<br />

wurde, dazu verschiedene Gemüse: Erbsen und Karotten, junge<br />

grüne Bohnen, sie munden beson<strong>der</strong>s zur Lammkeule, Weißkohl,<br />

Rotkohl, frischer Spargel.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Gastgeber erstaunt an: «Grüner Salat<br />

und Spargel zu dieser Jahreszeit?»<br />

«Nun, ich habe meine Gewächshäuser im letzten Herbst erweitert,<br />

und dort werden Salat und Spargel angebaut. Nach dem<br />

Fleischgang wird französischer Käse serviert, Käse schließt bekanntlich<br />

den Magen. Euer Majestät können natürlich auch zwischen<br />

verschiedenen holländischen Sorten und Tilsiter Käse wählen.<br />

Als Dessert gibt es Marzipantorte, Eiercreme und Eistorte mit<br />

Vanille- und Schokoladengeschmack. Zu den Austern wird Champagner<br />

serviert, zur Suppe und zum Fisch ein französischer Weißer<br />

Burgun<strong>der</strong>, zum Fleisch und zum Käse ein französischer Rotwein<br />

aus dem Anbaugebiet um Bordeaux, zum Dessert ein weißer o<strong>der</strong><br />

267


oter Portwein aus Portugal, anschließend gibt es Kaffee und französischen<br />

Kognak o<strong>der</strong> Likör.»<br />

Gütiger Himmel, dachte <strong>Friedrich</strong>, das ist also ein Bankett: fünf<br />

Gänge, verschiedene Fleischsorten, eine Auswahl an Gemüse und<br />

Käse, verschiedene Desserts, zu jedem Gang ein an<strong>der</strong>er Wein. Das<br />

muss ich mir merken. An unserer Tafel werden nur drei Gänge<br />

serviert, Suppe, Fleisch o<strong>der</strong> Fisch und ein Dessert, und zu allen<br />

Speisen wird Rheinwein getrunken. Wenn ich König bin, werde<br />

ich so speisen wie Grumbkow. Französischer Käse, um den Magen<br />

zu schließen, das ist wohl die kultivierte Art zu speisen. Unsere<br />

Hoftafel ist ärmlich und unkultiviert, so viele Gänge gab es we<strong>der</strong><br />

beim Besuch des Zaren noch beim Besuch meines Großvaters.<br />

Er zuckte zusammen, als er die Stimme seines Vaters hörte: «Lieber<br />

Grumbkow, die Speisenfolge ist nach meinem Geschmack, aber<br />

mein Sohn und ich werden we<strong>der</strong> Champagner noch französischen<br />

o<strong>der</strong> portugiesischen Wein trinken, son<strong>der</strong>n guten deutschen Wein<br />

vom Rhein, und was den Käse betrifft, werden wir natürlich den<br />

einheimischen Tilsiter Käse essen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah enttäuscht auf seinen Teller. Warum lehnt Papa<br />

französischen Wein und Käse ab, dachte er, warum muss immer<br />

alles aus den deutschen Landen stammen? Er betrachtete sein Gedeck<br />

und sah erstaunt, dass links neben dem Teller ein kleiner Teller<br />

stand, <strong>der</strong> ihm bis jetzt nicht aufgefallen war.<br />

In diesem Augenblick betraten einige Lakaien den Saal mit Brotkörben<br />

und legten auf jeden kleinen Teller ein helles Weizenbrötchen.<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete die Diener und dachte: Dies muss ich mir<br />

ebenfalls merken: Das Brot liegt auf einem beson<strong>der</strong>en Teller; an<br />

unserer Tafel liegt das Brot immer irgendwo auf dem Tellerrand.<br />

Eines weiß ich seit heute: An unserem Hof fehlt die feine Lebensart;<br />

mein Gott, was denken die ausländischen Gesandten, wenn sie<br />

bei uns speisen, was berichten sie ihren Höfen?<br />

Nun betraten einige Lakaien den Saal und balancierten vorsichtig<br />

die Platten mit Austern zu <strong>Friedrich</strong> Wilhelm.<br />

Ein Lakai legte sechs Austern auf den Teller des Königs, sah ihn<br />

fragend an, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm brummte: «Ein Dutzend Austern<br />

bitte.»<br />

268


<strong>Friedrich</strong> beobachtete, dass die Hausherrin sich mit sechs Austern<br />

begnügte, und beschloss, ihrem Beispiel zu folgen.<br />

Er betrachtete die Meeresfrüchte auf seinem Teller und dachte:<br />

Dies ist eine Vorspeise, die den Appetit anregen soll, davon isst<br />

man wahrscheinlich nur wenig.<br />

Er wartete, bis <strong>der</strong> französische Gesandte mit Austern bedient<br />

war, beobachtete, wie <strong>der</strong> Graf die winzige Gabel nahm, das Fleisch<br />

vorsichtig aus <strong>der</strong> Schale löste, in den Mund schob und anschließend<br />

die Austernschale genüsslich ausschlürfte.<br />

So isst man also Austern, dachte <strong>Friedrich</strong> und begann, langsam<br />

eine nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu verspeisen.<br />

Sie schmecken delikat, dachte er, ziemt es sich, eine zweite Portion<br />

zu verspeisen?<br />

Seine Augen wan<strong>der</strong>ten an <strong>der</strong> Tafel entlang, einige Gäste dankten,<br />

an<strong>der</strong>e ließen sich eine zweite Portion servieren, <strong>der</strong> französische<br />

Gesandte winkte ab, als <strong>der</strong> Diener ihm zum zweiten Mal die<br />

Vorspeise anbot.<br />

Ich werde seinem Beispiel folgen, dachte <strong>Friedrich</strong>, und beobachtete<br />

entsetzt, dass sein Vater inzwischen ein drittes Dutzend<br />

Austern verspeiste.<br />

Er senkte verlegen die Augen, und plötzlich merkte er, dass an<br />

<strong>der</strong> Tafel nicht gesprochen wurde. Er sah vorsichtig zur Gastgeberin<br />

und spürte, dass sie es nicht wagte, ein Gespräch zu beginnen, weil<br />

<strong>der</strong> König sich den Meeresfrüchten widmete.<br />

Sie warten, dass Papa anfängt, sich mit den Gästen zu unterhalten,<br />

dachte er und beobachtete, dass <strong>Friedrich</strong> Wilhelm gierig eine Auster<br />

nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en verschlang und die Tischgesellschaft ignorierte.<br />

Mein Gott, dachte <strong>Friedrich</strong>, die Stille an dieser Tafel wird allmählich<br />

unerträglich, bei einem festlichen Bankett muss man sich<br />

unterhalten, man kann über Literatur reden, über Musik; wenn<br />

ich König bin und Gäste bewirte, dann werde ich mich mit ihnen<br />

unterhalten, und wenn ich selbst Gast bin, dann werde ich mich<br />

auch mit den Anwesenden unterhalten.<br />

Er beobachtete den Vater, <strong>der</strong> immer noch Austern aß, und plötzlich<br />

schämte er sich für ihn.<br />

Dies ist eine Vorspeise, dachte er, wie kann man sich nur so vollstopfen,<br />

als ob es anschließend nichts mehr zu essen gäbe?<br />

269


In diesem Augenblick fragte <strong>der</strong> Lakai halblaut: «Wünschen Euer<br />

Majestät noch ein paar Austern?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm holte Luft, wischte den Mund mit <strong>der</strong> Serviette<br />

ab, trank einen großen Schluck Wein und antwortete: «Danke,<br />

sechs Dutzend Austern sind mehr als genug.»<br />

Sechs Dutzend Austern, dachte <strong>Friedrich</strong> entsetzt, an dieser Tafel<br />

hat niemand mehr als ein Dutzend verspeist, und er sah verlegen<br />

auf das Tischtuch. Die Diener servierten die Suppe, und <strong>Friedrich</strong><br />

beobachtete, dass <strong>der</strong> Vater drei Teller aß. Dann wurde <strong>der</strong> Fisch<br />

aufgetragen, und als <strong>Friedrich</strong> sah, wie <strong>der</strong> französische Gesandte<br />

das Hechtfi let zerteilte, dachte er: Dieses Instrument, das ich nicht<br />

kenne, ist also ein Fischmesser. An unserem unkultivierten Hof<br />

wird Fisch immer mit zwei Gabeln gegessen.<br />

Er beobachtete, dass <strong>der</strong> Vater drei Portionen Hecht verschlang,<br />

und schämte sich erneut.<br />

Endlich wurden die Fleischgerichte serviert, und <strong>Friedrich</strong> entschied<br />

sich für Lammkeule, gebratene Tauben und Schinken in<br />

Champagner gegart, weil diese Speisen an <strong>der</strong> königlichen Tafel<br />

nie aufgetragen wurden. Er sah erstaunt, dass bei den Erbsen <strong>der</strong><br />

Speck fehlte, und beobachtete beschämt, dass sein Vater sich von<br />

je<strong>der</strong> Fleischsorte und jedem Gemüse dreimal servieren ließ. An<br />

<strong>der</strong> Tafel herrschte immer noch Schweigen, das <strong>Friedrich</strong> allmählich<br />

als bedrohlich empfand.<br />

Warum redet Papa kein Wort, dachte er, während die Lakaien<br />

den französischen Käse servierten und auf seinen Teller ein großes<br />

Stück Tilsiter Käse legten.<br />

Er betrachtete sehnsüchtig die Stücke von Brie, Camembert und<br />

Roquefort auf dem Teller des französischen Gesandten, er fand,<br />

dass Weißwein zum Käse nicht schmeckte, und beobachtete erneut<br />

den Vater, <strong>der</strong> gierig den Tilsiter Käse verschlang.<br />

Als die Diener das Dessert auftrugen, entschied er sich für die<br />

Eistorte, weil er sie nicht kannte.<br />

Er trank Rheinwein und fand, dass er nicht zum Dessert passte,<br />

er betrachtete sehnsüchtig die Gläser, die inzwischen mit rotem<br />

o<strong>der</strong> weißem Portwein gefüllt waren, und dabei kreuzten seine<br />

Augen sich mit denen des französischen Gesandten, und er spürte,<br />

dass <strong>der</strong> Graf ihn mitleidig musterte.<br />

270


Er sah auf seinen Teller und dachte: Hoffentlich ist dieses Bankett<br />

ohne Gespräche jetzt bald zu Ende. Während er das letzte<br />

Stück Eistorte verspeiste, sah er verstohlen hinüber zu seinem<br />

Vater, dessen Weinglas erneut von einem Lakaien gefüllt wurde,<br />

und überlegte, wie viele Gläser Wein <strong>der</strong> Vater während des Diners<br />

wohl getrunken hatte: zehn, zwanzig?<br />

<strong>Friedrich</strong> sah verlegen auf seinen Teller und dachte: Mich hat<br />

er ermahnt, dass ich bei dem Bankett nicht viel essen und trinken<br />

soll, und was macht er? Er blamiert die Hohenzollern, er benimmt<br />

sich wie ein Bauer. Seine Augen wan<strong>der</strong>ten vorsichtig an <strong>der</strong> Tafel<br />

entlang, und als er die teils amüsierten, teils verlegenen Gesichter<br />

<strong>der</strong> Gäste sah, schämte er sich erneut für den Vater.<br />

Schließlich betrachtete er die Miene des Gastgebers, er sah, dass<br />

Grumbkows Augen spöttisch den König musterten, <strong>der</strong> hastig die<br />

Eiercreme löffelte, er sah, dass ein süffi santes Lächeln den Mund<br />

des Ministers umspielte, und plötzlich wusste er instinktiv, dass<br />

Grumbkow sich dem König überlegen fühlte.<br />

Er hat Papa in <strong>der</strong> Hand, dachte er, er lässt ihn nach seiner Pfeife<br />

tanzen, und Papa merkt es anscheinend nicht; und er spürte, dass<br />

ein Gefühl von Verachtung für den Vater in ihm aufstieg. Ein Fürst,<br />

dachte er, darf sich nicht von einem Minister beherrschen lassen,<br />

Grumbkow ist Papas Günstling. Wenn ich einmal König bin, werde<br />

ich keine Günstlinge haben, ich werde eine gewisse Distanz zu<br />

meinen Ministern halten. Vor allem wird es bei mir keine Tabagie<br />

geben, dieser kumpelhafte Ton in <strong>der</strong> Tabagie untergräbt natürlich<br />

Papas Autorität.<br />

In diesem Augenblick hörte er <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sagen: «Die<br />

Eistorte sieht zu verlockend aus, gebe Er mir ein großes Stück.»<br />

Gütiger Himmel, dachte <strong>Friedrich</strong>, was ist heute mit ihm? Er ist<br />

ein starker Esser, aber so viel wie an dieser Tafel hat er noch nie<br />

gegessen, sein Magen muss restlos überfüllt sein.<br />

Er sah vorsichtig zu dem Vater, und als ihre Blicke sich kreuzten,<br />

erschrak <strong>Friedrich</strong>, weil die blauen Augen des Königs ihn hasserfüllt<br />

anstarrten.<br />

Ich wünschte, ich wäre in meinem Appartement, dachte er, jetzt<br />

wird noch Kaffee serviert und Kognak und Likör, und er spürte,<br />

dass eine leise Angst in ihm aufstieg. Nach einer Weile legte<br />

271


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm die Kuchengabel auf den Teller, wischte mit<br />

<strong>der</strong> Serviette über den Mund, leerte das Weinglas in einem Zug,<br />

lehnte sich zurück und atmete tief durch: «Ah, köstlich, das war<br />

ein köstliches Mahl, lieber Grumbkow, Ihr Küchenmeister hat sich<br />

selbst übertroffen, jedes einzelne Gericht war ein Genuss für sich,<br />

ja, ein Genuss.» Er schwieg eine Sekunde, stand plötzlich auf und<br />

schrie: «Für mich wäre <strong>der</strong> Genuss noch größer gewesen, wenn <strong>der</strong><br />

effeminierte Französling nicht neben mir gesessen hätte, steh auf,<br />

Fritz, cito, cito!»<br />

<strong>Friedrich</strong> erhob sich zitternd und schob den Stuhl etwas zurück.<br />

Gütiger Himmel, will er mir etwa hier, in aller Öffentlichkeit,<br />

eine Szene machen und mich ausschimpfen?<br />

Grumbkow und die Gäste sahen einan<strong>der</strong> befremdet an, schließlich<br />

stand <strong>der</strong> Minister auf und sagte leise: «Majestät, ich verstehe<br />

nicht ganz, worum es geht. Das Benehmen Seiner Königlichen Hoheit<br />

war formvollendet.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte Grumbkow an und rief: «Formvollendet?<br />

Ein preußischer Offi zier, dem die preußische Uniform nicht<br />

fein genug ist, benimmt sich nicht formvollendet!»<br />

Er trat zu <strong>Friedrich</strong>, schlug mit <strong>der</strong> rechten Hand leicht auf die<br />

eine Wange, dann mit <strong>der</strong> linken Hand leicht auf die an<strong>der</strong>e Wange<br />

und brüllte: «Ich möchte wohl wissen, was in dem kleinen Kopfe<br />

vorgeht! Ich weiß wohl, dass er nicht so denkt wie ich und dass es<br />

Leute gibt, die ihm an<strong>der</strong>e Gesinnungen beibringen und ihn veranlassen,<br />

alles zu tadeln. Das sind aber Schufte.»<br />

Die Anwesenden sahen einan<strong>der</strong> an und beobachteten entsetzt,<br />

dass die leichten Schläge allmählich zu Ohrfeigen wurden, die <strong>der</strong><br />

Kronprinz, ohne mit <strong>der</strong> Wimper zu zucken, ertrug.<br />

Der französische Gesandte betrachtete <strong>Friedrich</strong>s leichenblasses<br />

Gesicht und dachte im Stillen, dass es wie eine starre Maske aussah.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm fuhr fort zu brüllen: «Fritz, denke an das, was<br />

ich dir sage: Halte immer eine gute und große Armee; du kannst<br />

keinen besseren Freund fi nden und dich ohne sie nicht halten. Unsere<br />

Nachbarn wünschen nichts mehr, als uns über den Haufen zu<br />

werfen: Ich kenne ihre Absichten, und du wirst sie auch kennenlernen.<br />

Glaube mir, denke nicht an die Eitelkeit, son<strong>der</strong>n halte dich an<br />

272


das Reelle; halte immer auf eine gute Armee und auf Geld, darin<br />

besteht <strong>der</strong> Ruhm und die Sicherheit eines Fürsten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm holte Luft, ließ die Hände sinken und starrte<br />

den Sohn hasserfüllt an. <strong>Friedrich</strong> sah zu Boden, spürte, dass sein<br />

Gesicht brannte, und dachte: Warum dieser Auftritt? Warum hat<br />

er nicht gewartet, bis wir im Schloss sind?<br />

Mein Gott, dachte Ilgen entsetzt, die letzten Sätze waren eine<br />

Beleidigung <strong>der</strong> ausländischen Gesandten.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm begann erneut zu schreien: «Ein preußischer<br />

Offi zier, <strong>der</strong> die Uniform verschmäht, <strong>der</strong> sein Gesicht pu<strong>der</strong>t, statt<br />

es zu waschen, <strong>der</strong> nach Parfüm stinkt, ein solcher Offi zier ist also<br />

mein Sohn. Pfui, schämen muss man sich mit dir, sieh mich gefälligst<br />

an, wenn ich mit dir rede!»<br />

<strong>Friedrich</strong> hob die Augen zu dem Vater, und als er die Zornesfalte<br />

auf dessen Stirn sah, das vor Wut rot angelaufene fl eischige Gesicht,<br />

die Augen, die ihn brutal anstierten, da spürte er eine Abneigung<br />

gegenüber dem Vater wie noch nie zuvor.<br />

In diesem Augenblick ergriff <strong>Friedrich</strong> Wilhelm einen Teller und<br />

zerschmetterte ihn auf dem Fußboden, dann einen zweiten und einen<br />

dritten.<br />

Grumbkow schnappte nach Luft, fasste sich allmählich, nahm<br />

ebenfalls einen Teller und warf ihn zu Boden. Seine Gattin schrie<br />

auf, und in diesem Augenblick spürte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, dass seine<br />

Wut allmählich nachließ.<br />

Er wandte sich an die Gastgeber: «Ich ersetze Ihnen das Geschirr,<br />

und jetzt entschuldigen Sie uns bitte.»<br />

Er verließ im Sturmschritt den Saal, während <strong>Friedrich</strong> sich hastig<br />

vor den Grumbkows verbeugte und hinter dem Vater hereilte.<br />

Grumbkow sah ihnen verblüfft nach und lief zum Eingang seines<br />

Palais, aber die königliche Kutsche war bereits weggefahren.<br />

Er ging nachdenklich zurück in den Speisesaal, wo die Lakaien<br />

anfi ngen, das Porzellan, die Gläser und Bestecke abzuräumen, und<br />

begab sich dann in den Salon <strong>der</strong> Gattin.<br />

Die Damen saßen in einer Ecke und redeten aufgeregt durcheinan<strong>der</strong>,<br />

die Herren standen schweigend und mit ernsten Gesichtern<br />

in kleinen Gruppen umher, während die Diener Kaffee, Kognak<br />

und Likör servierten.<br />

273


Grumbkow näherte sich den Damen und hörte eine von ihnen<br />

sagen: «Der arme Prinz, warum hat <strong>der</strong> König ihn so geohrfeigt,<br />

was hat er denn getan? Seine Königliche Hoheit hat sich doch an<br />

<strong>der</strong> Tafel gebührend benommen.»<br />

Grumbkow lächelte die Damen an und erwi<strong>der</strong>te: «Gewiss, aber<br />

es ist allgemein bekannt, dass <strong>der</strong> König seine Armee über alles<br />

liebt; ist es nicht verständlich, dass er seine Offi ziere auch bei gesellschaftlichen<br />

Anlässen in Uniform sehen möchte?»<br />

«Der Kronprinz hat keine Uniform getragen, dies ist aber kein<br />

Grund, ihn vor aller Augen zu schlagen.»<br />

«Sie haben recht, Madame», und er ging zu dem französischen<br />

und sächsischen Gesandten, die genüsslich ihren Kognak tranken.<br />

Er nahm eine Tasse Kaffee und sagte: «Ein aufregendes Bankett<br />

– nun, <strong>der</strong> Berliner Hof ist auf jeden Fall nicht langweilig.»<br />

Graf von Rothenburg betrachtete Grumbkow eine Weile und erwi<strong>der</strong>te:<br />

«Zunächst schien es mir, als ob <strong>der</strong> König über die Grande<br />

Parure des Prinzen zornig war, aber allmählich gewinne ich den<br />

Eindruck, dass die Kleidung des Prinzen nur <strong>der</strong> Anlass für den<br />

Wutausbruch Seiner Majestät war.»<br />

Grumbkow trank einen Schluck Kaffee und überlegte: Ab morgen<br />

werden die Spannungen zwischen Vater und Sohn öffentlich<br />

bekannt werden, es ist zwecklos, sie weiter zu vertuschen, und er<br />

lächelte die Gesandten verbindlich an: «Seit einigen Wochen o<strong>der</strong><br />

auch Monaten, ich vermag es nicht genau zu datieren, gibt es Spannungen<br />

zwischen dem König und dem Kronprinzen, das habe ich<br />

während <strong>der</strong> Abende im Tabakskollegium beobachtet. Der Prinz<br />

sitzt schweigend am Tisch, trinkt kaum einen Schluck Bier, langweilt<br />

sich offensichtlich, und <strong>der</strong> König ignoriert ihn. Am Anfang<br />

versuchte er, den Prinzen in die Unterhaltung zu ziehen, bisher<br />

ohne Erfolg. Die Charaktere Seiner Majestät und Seiner Königlichen<br />

Hoheit sind eben unterschiedlich, irgendwann wird es zu<br />

einem Kompromiss kommen, überdies sind Spannungen zwischen<br />

Vater und Sohn im Haus Hohenzollern inzwischen zur Tradition<br />

geworden. Sie entschuldigen mich.» Während er zu Ilgen und<br />

Creutz ging, sagte Rothenburg zu Suhm: «Der Wutausbruch des<br />

Königs hat offenbart, dass die Beziehung zwischen Vater und Sohn<br />

zerrüttet ist, ich halte einen Kompromiss für unrealistisch; <strong>der</strong><br />

274


Prinz reift zum jungen Mann heran, und junge Männer sind häufi<br />

g rebellisch. Ich beneide die preußischen Offi ziere und Minister<br />

nicht: Der Kronprinz ist die aufgehende Sonne und erfreut sich allgemeiner<br />

Beliebtheit; irgendwann werden die Herren entscheiden<br />

müssen, ob sie sich zum Kronprinzen o<strong>der</strong> zum König bekennen,<br />

<strong>der</strong> König ist fast sechsunddreißig Jahre alt, er kann noch zwanzig<br />

Jahre regieren.»<br />

«Er ruiniert seine Gesundheit: die Inspektionsreisen, die Jagden,<br />

Trinken, Rauchen, Essen; wer weiß, wie lange er noch lebt, aber Sie<br />

haben recht; ich glaube ebenfalls, dass es in einigen Jahren am Berliner<br />

Hof eine Partei des Kronprinzen geben wird, weil <strong>der</strong> König<br />

allgemein unbeliebt und verhasst ist.»<br />

Während <strong>der</strong> Rückfahrt wurde zwischen Vater und Sohn kein<br />

Wort gewechselt, und als sie das Schloss betraten, eilte <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm sofort in sein Appartement, während <strong>Friedrich</strong> sich zu<br />

Wilhelmine begab.<br />

Als er ihr Schlafzimmer betrat, sah sie erstaunt von ihrer Lektüre<br />

auf, legte das Buch zur Seite, sprang auf und eilte ihm entgegen:<br />

«Fritz, mon Dieu, du hast das Galakleid bei Grumbkow getragen?<br />

Hat Papa dies erlaubt?»<br />

«Nein, das heißt, ich habe ihn nicht um Erlaubnis gebeten, son<strong>der</strong>n<br />

ihn vor vollendete Tatsachen gestellt; na ja, bei Grumbkow hat<br />

er mir dann nach dem Bankett eine furchtbare Szene gemacht und<br />

mich geohrfeigt.»<br />

«Wie bitte? Er hat dich vor den Gästen geschlagen?»<br />

«Ja, es war peinlich, aber ich glaube, die Anwesenden standen<br />

in jenem Augenblick innerlich auf meiner Seite. Viel peinlicher<br />

empfand ich sein Benehmen während des Diners. Mich ermahnte<br />

er vor einigen Tagen, bei dem Bankett nicht viel zu essen und zu<br />

trinken, und wie hat er sich verhalten?»<br />

Er schwieg, und Wilhelmine beobachtete besorgt, dass ein Anfl<br />

ug von Bitterkeit über das Gesicht des Bru<strong>der</strong>s huschte.<br />

«Die Tafel war prachtvoll gedeckt, für jeden Gang ein eigenes Besteck,<br />

für jede Weinsorte ein eigenes Glas, und die Speisen waren<br />

köstlich: Austern, Trüffelcremesuppe, gebratener Hecht, verschiedene<br />

Fleischsorten, darunter Lamm und Schinken, <strong>der</strong> in Champa-<br />

275


gner gegart wurde, verschiedene französische Käse, von denen ich<br />

nichts essen durfte, weil Papa nur Tilsiter Käse wollte, und natürlich<br />

haben wir deutschen Rheinwein getrunken und keine französischen<br />

Weine; dann gab es noch verschiedene Desserts.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: «Wilhelmine, in diesem<br />

Haus und an dieser Tafel habe ich zum ersten Mal gemerkt,<br />

dass unser Lebensstil hier am Hof weit von <strong>der</strong> feinen Lebensart<br />

entfernt ist. Papa hat sich fürchterlich benommen, es war mir peinlich,<br />

und ich habe mich für ihn geschämt; er hat nicht gegessen<br />

und getrunken, son<strong>der</strong>n gefressen und gesoffen, entschuldige die<br />

<strong>der</strong>ben Ausdrücke, aber an<strong>der</strong>s kann man es nicht bezeichnen. Er<br />

hat zum Beispiel sechs Dutzend Austern vertilgt.»<br />

«Sechs Dutzend Austern? Ich verstehe deine Gefühle, aber für<br />

Papas Völlerei wird man dich bestimmt nicht verantwortlich machen.»<br />

Sie schwieg und fuhr nach einer Weile fort: «Ich fürchte, dass es<br />

zwischen dir und Papa noch öfter zu Auseinan<strong>der</strong>setzungen kommen<br />

wird, bei denen er dich schlägt. Du solltest dir überlegen, wie<br />

du es verhin<strong>der</strong>n kannst, wie du mit <strong>der</strong> ganzen Situation umgehst,<br />

ich meine: mit den Spannungen zwischen dir und Papa.»<br />

«Du hast recht, aber im Augenblick weiß ich noch nicht, wie ich<br />

mit dieser Situation umgehen soll, ich weiß nur eines: Am heutigen<br />

Abend habe ich angefangen, Papa zu verachten.»<br />

276


9<br />

An einem Vormittag im September 1725 betraten Ilgen und<br />

Grumbkow das Arbeitszimmer des Königs im Berliner Schloss und<br />

sahen erstaunt, dass dieser nicht wie sonst am Schreibtisch saß,<br />

son<strong>der</strong>n unruhig im Zimmer auf und ab ging. <strong>Friedrich</strong> sah beim<br />

Eintritt <strong>der</strong> Herren nur kurz auf und beschäftigte sich dann wie<strong>der</strong><br />

mit seiner Mathematikaufgabe, einer Gleichung mit zwei Unbekannten.<br />

«Guten Tag, meine Herren!», rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Ich bringe<br />

gute Neuigkeiten aus Hannover mit: Am 3. September habe ich<br />

im Schloss Herrenhausen einen Bündnisvertrag mit England und<br />

Frankreich geschlossen, und ich habe meiner Frau erlaubt, bis zum<br />

Ende des Monats am väterlichen Hof zu bleiben, um die Heiratsverhandlungen<br />

nun endlich zum Abschluss zu bringen. Sie soll<br />

und wird erreichen, dass mein Schwiegervater uns eine schriftliche<br />

Zusicherung gibt, dass meine älteste Tochter den Herzog von Gloucester<br />

heiraten wird.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah von seinen Papieren auf und spitzte die Ohren.<br />

Ilgen starrte den König an und fragte vorsichtig: «Habe ich Euer<br />

Majestät richtig verstanden? Preußen ist jetzt mit England und<br />

Frankreich verbündet? Waren Euer Majestät nicht immer gut kaiserlich<br />

gesonnen?»<br />

«Ja, aber jetzt bin ich gut hannoverisch gesinnt. Mir bleibt keine<br />

Wahl, einmal, weil für meinen Schwiegervater das Bündnis mit<br />

Preußen die Voraussetzung ist, um über die Heirat zu verhandeln,<br />

zum an<strong>der</strong>en wissen Sie selbst, dass seit dem Tod meines Freundes<br />

Peter im Februar unsere Beziehungen zu Russland stark abgekühlt<br />

sind, und nicht nur dies: In Herrenhausen erfuhr ich, dass die Zarin<br />

Katharina ein geheimes Bündnis mit Spanien und Österreich<br />

geschlossen hat.»<br />

«Nun», erwi<strong>der</strong>te Ilgen «Verschiebungen in <strong>der</strong> europäischen<br />

Kräftekonstellation sind nicht ungewöhnlich, und ich bezweifele,<br />

ob die Annäherung zwischen Frankreich und England von Dauer<br />

sein wird, meines Wissens ist Österreich ebenfalls an einem Bünd-<br />

277


nis mit Preußen interessiert. Euer Majestät wissen, dass <strong>der</strong> Kaiser<br />

am 6. Dezember 24 öffentlich die ‹Pragmatische Sanktion› proklamiert<br />

hat und seither die kaiserlichen Diplomaten versuchen, die<br />

fremden Höfe zur Anerkennung zu bewegen.<br />

Ein Bündnis mit dem Kaiser und eine Anerkennung <strong>der</strong> ‹Pragmatischen<br />

Sanktion› hätte Euer Majestät vielleicht im Gegenzug<br />

die Anerkennung Ihrer Erbansprüche auf Jülich und Berg gesichert.»<br />

«Meine Herren, im Vertrag von Herrenhausen gibt es einen geheimen<br />

Artikel, worin mir die Hilfe Englands und Frankreichs im<br />

Jülich-Klevischen Erbfolgestreit gegen Pfalz-Sulzbach in Aussicht<br />

gestellt wird.»<br />

Gütiger Himmel, dachte Ilgen, bis dahin fl ießt noch viel Wasser<br />

die Spree hinunter: Bis wir Erbansprüche geltend machen können,<br />

müssen noch zwei Wittelsbacher sterben.<br />

«Majestät», sagte Grumbkow, «was wurde denn in Herrenhausen<br />

beschlossen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging zum Schreibtisch, nahm eine Akte,<br />

schlug sie auf und sagte: «Sie erhalten eine Abschrift, ich informiere<br />

Sie jetzt nur über die wichtigsten Vereinbarungen: Dieses Bündnis<br />

wurde für fünfzehn Jahre geschlossen, also bis zum Jahre 1740,<br />

es verpfl ichtet die drei Könige, sich gegenseitig Schutz und Hilfe<br />

bei allen Streitigkeiten mit Dritten zu gewähren. Wenn das Deutsche<br />

Reich Frankreich den Krieg erklärt, so können mein Schwiegervater<br />

und ich unsere kurfürstlichen Truppen <strong>der</strong> Reichsarmee<br />

zur Verfügung stellen, ohne dass Frankreich von einem Vertragsbruch<br />

sprechen darf.»<br />

Ilgen und Grumbkow sahen einan<strong>der</strong> entsetzt an, und <strong>Friedrich</strong><br />

dachte: Was für ein merkwürdiger Vertrag. Papa und Großvater<br />

sind als Kurfürsten Untertanen des Kaisers, wie können sie ein<br />

Bündnis mit Frankreich gegen den Kaiser schließen?<br />

Ilgen hüstelte: «Euer Majestät, ich bitte um Vergebung, aber dieser<br />

Vertrag ist letztlich ein Reichsverrat, Sie und <strong>der</strong> König von<br />

England sind Reichsfürsten. Wollen Sie wirklich Ihre Truppen gegen<br />

die Reichstruppen marschieren lassen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah seinen Außenminister verblüfft an, ging<br />

im Zimmer umher und erwi<strong>der</strong>te: «Sie haben recht, das kann ein<br />

278


Problem werden, aber auch in diesem Fall wird es eine Lösung geben.»<br />

Er schwieg einen Moment und fuhr fort: «Wir müssen die weitere<br />

Entwicklung abwarten», und zu Grumbkow: «Was ist aus Ihrem<br />

Streit mit meinem Freund Leopold geworden?»<br />

«Die Angelegenheit hat sich von selbst erledigt, Majestät: Wir<br />

begaben uns mit unseren Sekundanten, dem Oberst Corff und<br />

dem General Graf von Seckendorff, zum Kampfplatz. Der Fürst<br />

zog seinen Degen und rief mir einige beleidigende Worte zu, ich<br />

bat ihn noch einmal, friedlich über die Angelegenheit zu reden,<br />

daraufhin drehte er mir den Rücken zu und verließ den Kampfplatz.»<br />

«Er hat sich von meinem Hof zurückgezogen», sagte <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm, «ich bedauere es, aber irgendwann wird er zurückkehren,<br />

das weiß ich. Ihr Sekundant war <strong>der</strong> Graf von Seckendorff? Ich<br />

schätze ihn sehr; haben Sie noch Kontakt zu ihm?»<br />

«Ja, Majestät, wir korrespondieren regelmäßig.»<br />

«Sie können jetzt gehen. Morgen reisen wir bei Sonnenaufgang<br />

nach Wusterhausen.»<br />

Die Minister verließen das Zimmer, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging<br />

noch eine Weile nachdenklich auf und ab, dann setzte er sich und<br />

sagte zu seinem Sohn: «Fritz, die Menschen kämpfen gegeneinan<strong>der</strong><br />

um Dinge, die man wahrhaftig friedlich lösen könnte: Mein<br />

Freund Leopold ist <strong>der</strong> Pate von einer Tochter Grumbkows und hat<br />

ihm eine Mitgift von 5 000 Talern versprochen. Kurz vor <strong>der</strong> Heirat<br />

leugnete Leopold dieses Versprechen. Ich weiß nicht warum,<br />

jedenfalls kam es so weit, dass sie beschlossen, den Streit durch<br />

einen Waffenkampf zu entscheiden. Ich versuchte, die beiden zu<br />

versöhnen – vergeblich. Sie wählten ihre Sekundanten, den Ausgang<br />

des Duells hast du gehört.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: «Seckendorff ist ein<br />

Mann, <strong>der</strong> mir gefällt: Er entstammt einem reichsfreien fränkischen<br />

Geschlecht und ist kaisertreu. Ich begegnete ihm im Spanischen<br />

Erbfolgekrieg, als er dort die sächsischen Truppen kommandierte,<br />

er war anwesend bei den Friedensverhandlungen von Utrecht, er<br />

war sächsischer Oberbefehlshaber im Nordischen Krieg, seit 1717<br />

steht er in österreichischen Diensten, er hat sich vor Belgrad aus-<br />

279


gezeichnet und wurde vom Kaiser zum Generalfeldmarschall ernannt.<br />

Jetzt hat er sich auf sein Gut Meuselwitz in Sachsen zurückgezogen,<br />

er ist lutherisch, er würde gut in mein Tabakskollegium<br />

passen.» <strong>Friedrich</strong> sah den Vater an und fragte: «Papa, was ist die<br />

‹Pragmatische Sanktion›?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Sohn überrascht an: «Ich freue mich,<br />

dass du dich allmählich für diese Probleme interessierst. Also: Kaiser<br />

Karl VI. erließ anno 13 ein österreichisches Staatsgrundgesetz,<br />

das Österreich außerhalb des Reichsrechtes stellt, indem es die<br />

weibliche Erbfolge sichert und die Unteilbarkeit <strong>der</strong> habsburgischen<br />

Län<strong>der</strong> einführt. Der Kaiser hat im Augenblick keine männlichen<br />

Erben, nur eine Tochter, Maria Theresia, er befürchtet, dass nach<br />

seinem Tod die Habsburger die Kaiserkrone verlieren. Das Haus<br />

Habsburg hat während <strong>der</strong> Vergangenheit sechzehnmal die Kaiserkrone<br />

getragen, nun, das deutsche Kaisertum ist keine Erbmonarchie,<br />

die Kurfürsten des Reiches wählen den neuen Kaiser, <strong>der</strong><br />

nach dem Gesetz <strong>der</strong> ‹Goldenen Bulle› männlichen Geschlechts<br />

sein muss. Karl VI. will dem künftigen Mann seiner Tochter die<br />

deutsche Kaiserkrone sichern, deshalb wünscht er, dass alle deutschen<br />

und die größeren europäischen Staaten einen Vertrag unterzeichnen,<br />

<strong>der</strong> die ‹Pragmatische Sanktion› akzeptiert. Mit an<strong>der</strong>en<br />

Worten: Karl VI. hofft, dass nach seinem Tod die Kurfürsten den<br />

Mann seiner Tochter zum deutschen Kaiser wählen.»<br />

«Was geschieht, wenn es einen Gegenkandidaten gibt?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm überlegte: «Dann müssen sich die Kurfürsten<br />

zwischen dem Haus Habsburg o<strong>der</strong> einer an<strong>der</strong>en Dynastie entscheiden.»<br />

Das muss ich mir merken, dachte <strong>Friedrich</strong>, die Habsburger sind<br />

nicht so mächtig, wie es scheint.<br />

Unterdessen gingen Ilgen und Grumbkow schweigend die Treppen<br />

hinunter.<br />

Im Hof blieb Ilgen stehen und sagte: «Ich habe den Eindruck,<br />

dass Seine Majestät diesen Vertrag unterschreiben musste, um die<br />

Heirat zum Abschluss zu bringen. Für England ist das Bündnis mit<br />

Preußen im Augenblick wichtig, deshalb zuerst ein Vertrag und<br />

dann die Heiratsverhandlungen, allerdings frage ich mich, warum<br />

280


nach diesem Bündnis nicht sofort ein Heiratsvertrag abgeschlossen<br />

wurde. Warum muss Ihre Majestät noch in Hannover bleiben, um<br />

ihren Vater zu einer schriftlichen Zusage zu überreden? Ich glaube,<br />

dass England vorrangig am Bündnis mit Preußen interessiert ist<br />

und nicht an <strong>der</strong> Heirat.»<br />

«Wir müssen die weitere Entwicklung abwarten», erwi<strong>der</strong>te<br />

Grumbkow, «aber ich weiß schon jetzt, dass man in Wien versuchen<br />

wird, die Heirat zu verhin<strong>der</strong>n, sobald <strong>der</strong> Vertrag von Herrenhausen<br />

bekannt wird. Karl VI. wünscht, dass Preußen auch<br />

künftig im kaiserlichen Lager bleibt.»<br />

An einem Abend Anfang Oktober saß <strong>Friedrich</strong> in Wusterhausen<br />

neben seinem Vater im Tabakskollegium und betrachtete angeekelt<br />

die Biergläser, die Tonpfeifen und die Offi ziere, die lachten,<br />

Witze erzählten und zwischendurch Tilsiter Käse aßen.<br />

Wie lange werden wir in diesem Herbst in Wusterhausen bleiben,<br />

fragte er sich. Es wäre angebracht, nach Mamas Rückkehr von<br />

Hannover sofort abzureisen, sie ist wie<strong>der</strong> guter Hoffnung und<br />

muss sich schonen, das Kind wird wahrscheinlich im nächsten Januar<br />

zur Welt kommen.<br />

Er zuckte zusammen, als er die laute Stimme des Vaters hörte:<br />

«Meine Herren, im nächsten Jahr wird ein zweiter Hofnarr in unserer<br />

Runde weilen: <strong>der</strong> Gelehrte David Fassmann. Er hat ein Buch<br />

mit satirischen Totengesprächen veröffentlicht», und zu Gundling,<br />

<strong>der</strong> mit glasigen Augen auf den Tisch starrte: «Ich glaube, Fassmann<br />

wird für Sie eine ernsthafte Konkurrenz werden.»<br />

In diesem Augenblick betrat ein Diener den Raum: «Majestät,<br />

ich bitte um Vergebung wegen <strong>der</strong> Störung, aber Ihre Majestät ist<br />

angekommen und lässt fragen, ob …»<br />

«Ihre Majestät?» rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, stand auf, nahm sein<br />

Bierglas und sagte feierlich: «Auf das Wohl meines Schwiegervaters,<br />

des Königs von England.»<br />

Er leerte das Glas in einem Zug, sagte zu <strong>Friedrich</strong>: «Cito, cito»,<br />

und eilte hinaus, gefolgt von <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> erleichtert aufatmete,<br />

als sich die Tür hinter ihm schloss.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stürmte in das Schlafzimmer <strong>der</strong> Königin,<br />

nahm ihre Hände, bedeckte sie mit Küssen und rief: «Liebe Frau,<br />

281


willkommen in Wusterhausen, wie fühlen Sie sich? Ich habe Sie<br />

sehnsüchtig erwartet.»<br />

<strong>Friedrich</strong> blieb in <strong>der</strong> Mitte des Zimmers stehen, betrachtete die<br />

erwartungsvollen Augen seiner Schwester Wilhelmine, die reservierte<br />

Miene <strong>der</strong> Frau von Kamecke, er beobachtete, dass seine<br />

Mutter gezwungen lächelte, und fühlte sich auf einmal unbehaglich.<br />

«Ich fühle mich sehr wohl, was meine Gesundheit betrifft, und<br />

ich hoffe, dass ich Ihnen einen dritten Sohn schenken kann. Die<br />

Verheiratung von Wilhelmine …», sie zögerte etwas und fuhr fort:<br />

«Die Angelegenheit habe ich geregelt: Meine älteste Tochter wird<br />

den Herzog von Gloucester heiraten und irgendwann Königin von<br />

England werden.»<br />

«Oh Mama», rief Wilhelmine und presste die Hände auf ihr<br />

Herz, «Königin von England!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm umarmte seine Tochter: «Ich freue mich für Sie,<br />

mein Kind – obwohl, ich werde Sie vermissen; aber ich wünsche, dass<br />

Sie glücklich werden», und zu Sophie Dorothea: «Zeigen Sie mir die<br />

schriftliche Zusage meines Schwiegervaters.»<br />

Die Königin sah den Gatten unsicher an und erwi<strong>der</strong>te zögernd:<br />

«Ich habe keine schriftliche Zusage, aber mein Vater hat mir in<br />

jedem Gespräch versichert, dass er einer Heirat Wilhelmines mit<br />

ihrem Cousin zustimmen wird. Er sagte, er könne ohne die Einwilligung<br />

des Parlamentes keine schriftliche Zusage geben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte die Gattin einen Augenblick verblüfft<br />

an, dann übermannte ihn <strong>der</strong> Zorn: «Wie bitte, Sie wagen es, ohne<br />

schriftliche Zusage vor mir zu erscheinen? Wahrscheinlich haben Sie<br />

sich in Hannover nur amüsiert und das luxuriöse Hofl eben genossen,<br />

anstatt die Heirat meiner Tochter zu regeln.»<br />

«Ich bitte Sie, glauben Sie mir, ich habe jeden Tag versucht, meinen<br />

Vater zu einer schriftlichen Zusage zu überreden, aber er erwi<strong>der</strong>te<br />

stets, dass die Einwilligung des Parlamentes erfor<strong>der</strong>lich sei.<br />

Mon Dieu, Sie wissen genau, wie sehr ich diese Heirat wünsche.»<br />

«Das Parlament, das Parlament!», brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm.<br />

«Das ist doch nur ein Vorwand, eine Ausrede, das Parlament ist<br />

Wind und blauer Dunst, ein Fürst ist ein Fürst und kann allein<br />

entscheiden, mit wem er seine Kin<strong>der</strong> vermählt!»<br />

282


Da trat <strong>Friedrich</strong> neben seine Mutter, sah den Vater fest an und<br />

sagte leise, aber bestimmt: «Verzeihen Sie, Papa, wenn ich mich<br />

einmische. Während <strong>der</strong> letzten Wochen habe ich mich mit <strong>der</strong><br />

englischen Geschichte beschäftigt, nun, als Königin Elisabeth I.<br />

den Herzog von Alençon heiraten wollte, besprach sie die Angelegenheit<br />

mit ihrem Staatsrat, dieser war dagegen, und die Königin<br />

verzichtete auf die Heirat.<br />

Anscheinend muss <strong>der</strong> König von England mehr Rücksicht auf<br />

die öffentliche Meinung nehmen als an<strong>der</strong>e Fürsten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte den Sohn und schrie: «So, du beschäftigst<br />

dich also mit <strong>der</strong> englischen Geschichte! Wahrscheinlich<br />

spukt in deinem Kopf eine Verheiratung mit deiner Cousine Amalie.<br />

Eines sage ich dir schon jetzt: Nähre keine Illusionen, ich werde<br />

nie meine Einwilligung zu dieser Verbindung geben, es wäre sinnvoller,<br />

wenn du dich mit dem Aufbau <strong>der</strong> preußischen Verwaltung<br />

beschäftigen würdest!»<br />

Er ging unruhig auf und ab, blieb plötzlich stehen und murmelte:<br />

«Mein Gott, man hat mich in Hannover übertölpelt, wie kam<br />

es überhaupt zu diesem Vertrag? Ich wurde auf einmal in Geheimverhandlungen<br />

zwischen England und Frankreich verwickelt, aus<br />

denen ich mich nicht heraushalten konnte, und habe dann den<br />

Vertrag von Herrenhausen unterzeichnet … England wollte ein<br />

militärisches Bündnis mit mir, die Heirat war zweitrangig. Wahrscheinlich<br />

will mein Schwiegervater Wilhelmine nicht als Schwiegertochter;<br />

diese gottverdammte welfi sche Sippschaft», er wandte<br />

sich zur Königin und rief: «Seit dem Besuch Ihres Vaters war ich<br />

gut hannoverisch gesonnen, ab heute bin ich wie<strong>der</strong> gut kaiserlich<br />

gesonnen! Komm, Fritz, die Herren im Tabakskollegium warten.»<br />

Als die Tür ins Schloss fi el, konnte Wilhelmine sich nicht länger<br />

beherrschen und begann zu weinen.<br />

«O Mama, nun ist alles aus, ich werde nie Königin von England<br />

werden!»<br />

«Reden Sie kein dummes Zeug!», schrie Sophie Dorothea. «Ihr<br />

Vater mag meine Verwandten nicht, deswegen ist er gegen diese<br />

Heirat, an<strong>der</strong>erseits wünscht er sie, weil es seiner Eitelkeit schmeichelt,<br />

wenn seine Tochter Königin von England wird, letztlich weiß<br />

er wahrscheinlich selbst nicht, was er will.»<br />

283


Als Wilhelmine weiter weinte, stand Sophie Dorothea auf und<br />

legte ihre Hände auf die Schultern <strong>der</strong> Tochter: «Mein liebes Kind,<br />

beruhigen Sie sich, Ihr Vater misst dieser schriftlichen Zusage zu<br />

viel Bedeutung bei. Ihr Großvater ist ein Mann von Ehre, <strong>der</strong> zu<br />

seinem Wort stehen wird, und was mich betrifft, so werde ich wie<br />

eine Löwin darum kämpfen, dass Sie mit dem Herzog von Gloucester<br />

vermählt werden, und ich werde auch um die Heirat Ihres<br />

Bru<strong>der</strong>s mit Amalie kämpfen. Seien Sie guten Mutes.»<br />

Wilhelmine trocknete ihre Tränen und sagte leise: «Ich vertraue<br />

Ihnen, Mama, Sie haben recht, die fehlende schriftliche Zusage ist<br />

ohne Bedeutung.»<br />

Im Tabakskollegium rauchte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm an diesem Abend<br />

schweigend eine Pfeife nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en und trank ein Glas Bier<br />

nach dem an<strong>der</strong>en. Die Offi ziere sahen einan<strong>der</strong> unbehaglich an<br />

und schwiegen ebenfalls.<br />

Kurz vor Mitternacht hob <strong>der</strong> König sein Glas und sagte mit<br />

schwerer Stimme: «Es lebe <strong>der</strong> Kaiser! Es lebe Germania teutscher<br />

Nation! Ein Hundsfott, <strong>der</strong>‘s nicht von Herzen meint. Es lebe <strong>der</strong><br />

Kaiser!»<br />

Grumbkow sah überrascht auf.<br />

Er lässt den Kaiser hochleben, sinnierte er, das muss ich Seckendorff<br />

schreiben.<br />

284


10<br />

Am Vormittag des 1. Dezember stand <strong>Friedrich</strong> in Schloss Wusterhausen<br />

am Fenster seines Schlafzimmers und betrachtete resigniert<br />

den verschneiten Schlosshof, während sein Kammerdiener im<br />

Kamin ein Feuer entzündete.<br />

Als die Flammen lo<strong>der</strong>ten, sagte Sternemann zögernd: «Königliche<br />

Hoheit, Sie wissen, dass bei dieser milden Kälte nur die Räume<br />

Ihrer Majestät geheizt werden dürfen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> fuhr herum: «Was sagt Er? Milde Kälte? Trete Er zu<br />

mir und sehe Er in den Hof.»<br />

Der Kammerdiener ging zum Fenster, und sie beobachteten,<br />

wie ein Küchenjunge mit einem Eimer und einer kleinen Axt zu<br />

dem Ziehbrunnen ging und begann, das Eis aufzuhacken.<br />

«Das Wasser im Brunnen ist zugefroren», sagte <strong>Friedrich</strong>, «auf<br />

den Seen kann man wahrscheinlich Schlittschuh laufen, und auf<br />

<strong>der</strong> Spree hat sich über Nacht bestimmt auch eine Eisschicht gebildet.<br />

Das ist keine milde Kälte. Ich kann mich nicht entsinnen, einen<br />

so heftigen, überraschenden Wintereinbruch erlebt zu haben, während<br />

<strong>der</strong> vergangenen Tage war es doch noch ziemlich mild.»<br />

«Ein Wintereinbruch dieser Art ist nicht ungewöhnlich, Königliche<br />

Hoheit, <strong>der</strong> Wind hat sich gedreht und bringt uns kalte Luft<br />

aus dem Osten.»<br />

«In diesem Jahr kann mein Vater sich anscheinend überhaupt<br />

nicht von seinem geliebten Wusterhausen trennen. Was hält ihn<br />

hier? In den Wäl<strong>der</strong>n um Berlin und Potsdam kann er genauso auf<br />

die Jagd gehen wie hier.»<br />

«Mit Verlaub, Königliche Hoheit, ich habe den Eindruck, dass Seine<br />

Majestät über ein Problem nachdenkt. Wenn Seine Majestät im<br />

Schloss weilt, wirken Seine Majestät manchmal so … so abwesend.»<br />

«Wahrscheinlich denkt er immer noch darüber nach, warum<br />

mein Großvater keine schriftliche Zusicherung zur Heirat meiner<br />

Schwester gegeben hat. Im Tabakskollegium wird auch nicht mehr<br />

so viel gelacht und dummes Zeug geredet wie früher, was ich als<br />

angenehm empfi nde.»<br />

285


Als er wie<strong>der</strong> in den Hof sah, erblickte er die Offi ziere, die an<br />

<strong>der</strong> Jagd teilnahmen, und im gleichen Augenblick betrat Kalckstein<br />

das Zimmer.<br />

«Königliche Hoheit, Sie müssen sich beeilen, wir brechen in wenigen<br />

Minuten auf.»<br />

«Mon Dieu», rief <strong>Friedrich</strong>, «warum müssen wir bei dieser grimmigen<br />

Kälte jagen! Warum verlassen wir nicht dieses unwirtliche<br />

Haus und kehren nach Berlin zurück? An einem Wintertag wie<br />

diesem kann man in Pelze gehüllt eine Schlittenfahrt machen, und<br />

anschließend sitzt man neben einem Kaminfeuer und liest.<br />

Seit drei Monaten muss ich jeden Tag an <strong>der</strong> Jagd teilnehmen.<br />

Ich hasse die Jagd, ich hasse es, hinter Hirschen o<strong>der</strong> Rehen zu galoppieren,<br />

um sie zu töten.»<br />

«Es gibt zu viel Wild in den Wäl<strong>der</strong>n, Königliche Hoheit, ein Teil<br />

davon muss erlegt werden», er winkte dem Kammerdiener, sich zu<br />

entfernen, und fuhr fort: «Königliche Hoheit, Sie haben nicht an je<strong>der</strong><br />

Jagd teilgenommen. Ich beobachtete, dass Sie hin und wie<strong>der</strong> sich<br />

entfernten, wahrscheinlich um zu lesen o<strong>der</strong> Flöte zu spielen, aber<br />

seien Sie unbesorgt, Seine Majestät hat nichts davon erfahren und<br />

wird auch nie etwas erfahren, überdies ist Seine Majestät während<br />

<strong>der</strong> Jagd so beansprucht, dass es nicht auffällt, wenn jemand fehlt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> spürte, dass er errötete, und sagte: «Sie haben recht,<br />

ich blieb hin und wie<strong>der</strong> zurück und las o<strong>der</strong> spielte Flöte.»<br />

«Ich kann Sie verstehen, Königliche Hoheit, aber jetzt müssen<br />

Sie sich beeilen.»<br />

Er verließ das Zimmer, und <strong>Friedrich</strong> öffnete die Truhe, nahm<br />

ein Paar Le<strong>der</strong>handschuhe, die mit Fell gefüttert waren, zog sie an<br />

und murmelte: «Gott sei Dank habe ich die Handschuhe mitgenommen,<br />

es ist, als hätte ich geahnt, dass wir im Winter immer<br />

noch in Wusterhausen weilen.»<br />

Als er den Hof betrat, spürte er, wie seine Glie<strong>der</strong> vor Kälte erstarrten,<br />

seine Augen brannten und seine Nase schien einzufrieren.<br />

Ein Stallknecht führte sein Pferd zu ihm, und während <strong>Friedrich</strong><br />

den Sattelgurt nachzog, erschien <strong>der</strong> König.<br />

Er sah sich gutgelaunt in <strong>der</strong> Runde <strong>der</strong> Jäger um und wollte sein<br />

Pferd besteigen, als er <strong>Friedrich</strong> erblickte, stutzte und auf den Sohn<br />

zustürzte.<br />

286


«Du trägst Handschuhe? Ziehe sie sofort aus, bei dieser Witterung<br />

trägt ein Mann keine Handschuhe!»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Vater bestürzt an: «Papa, es ist Winter, es<br />

herrscht Frost.»<br />

«Frost hin, Frost her, das ist doch nur ein mil<strong>der</strong> Frost, sieh dir<br />

die Offi ziere an, tragen sie Handschuhe?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah sich in <strong>der</strong> Runde um und bemerkte erst in diesem<br />

Augenblick, dass die Jäger keine Handschuhe trugen.<br />

Er zögerte einen Augenblick, und in diesem Moment war es mit<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Beherrschung vorbei: Er hob die rechte Hand<br />

und gab dem Sohn eine Ohrfeige.<br />

«Ich habe dir befohlen, die Handschuhe auszuziehen», und er<br />

ohrfeigte ihn erneut.<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte unmerklich zusammen, und als er die aufgedunsene<br />

Gestalt des Vaters sah, die vor Wut verzerrten Gesichtszüge,<br />

da spürte er zum ersten Mal, dass ein Gefühl von Hass in ihm aufstieg.<br />

Er streifte schweigend die Handschuhe ab und wollte sie in die<br />

Satteltasche legen, aber <strong>der</strong> König entriss sie ihm, warf sie einem<br />

Reitknecht zu und schrie: «Verbrenne Er das unnütze Zeug!»<br />

Dann wandte er sich zu <strong>Friedrich</strong> und brüllte: «Manchmal bezweifele<br />

ich, ob du überhaupt mein Sohn bist, du bist ein Französling,<br />

eine prinzliche Zierpuppe, nicht mehr», und er begann,<br />

<strong>Friedrich</strong> erneut zu ohrfeigen.<br />

Die Anwesenden sahen einan<strong>der</strong> entsetzt an, und ein Offi zier<br />

sagte zu dem Grafen Finck: «Mein Gott, ist <strong>der</strong> König wahnsinnig<br />

geworden? Es ist doch kein Verbrechen, bei dieser Kälte Handschuhe<br />

zu tragen. Unternehmen Sie etwas, beruhigen Sie Seine<br />

Majestät!»<br />

«Sie haben recht», erwi<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Erzieher, trat entschlossen zu<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm und sagte halblaut: «Majestät, ich bitte Sie,<br />

üben Sie Nachsicht …»<br />

«Nachsicht? Der verzärtelte Bengel, dieses Muttersöhnchen muss<br />

abgehärtet werden. Als Vater habe ich das Recht, meinen Sohn zu<br />

züchtigen, wenn es notwendig ist, und als König habe ich die Pfl icht,<br />

den Kronprinzen so zu erziehen, dass er sich zu einem Fürsten entwickelt,<br />

<strong>der</strong> zuerst an das Wohl seiner Untertanen denkt, nicht an<br />

die eigene Bequemlichkeit. Ein König muss mehr leiden können<br />

287


als an<strong>der</strong>e Menschen, das fängt bei <strong>der</strong> Winterkälte an. Er darf sich<br />

nicht hinter den warmen Ofen setzen und die Soireen und Bälle<br />

genießen, ein Fürst muss fähig sein, auch im härtesten Winter eine<br />

Inspektionsreise zu unternehmen.»<br />

Er wandte sich wie<strong>der</strong> zu <strong>Friedrich</strong> und schlug mit <strong>der</strong> rechten<br />

und <strong>der</strong> linken Hand auf dessen Gesicht. Irgendwann versuchte<br />

<strong>Friedrich</strong>, den Schlägen auszuweichen, dabei rutschte er auf dem<br />

glatten Schnee aus, fi el hin, und im gleichen Augenblick versetzte<br />

<strong>der</strong> König ihm einen Fußtritt und brüllte: «Französling, Zieraffe,<br />

ich will dich heute nicht mehr sehen, du reitest ganz hinten», er bestieg<br />

ächzend sein Pferd und galoppierte davon, die Offi ziere sahen<br />

einan<strong>der</strong> entsetzt an und folgten dem König.<br />

«Wie soll das nur weitergehen mit dem König und dem Kronprinzen?»,<br />

sagte Finck zu Kalckstein.<br />

«Ich bin schuld daran, dass <strong>der</strong> König den Prinzen gezüchtigt<br />

hat: Ich habe vergessen, ihm zu sagen, dass bei diesen Temperaturen<br />

Handschuhe während <strong>der</strong> Jagd nicht erlaubt sind.»<br />

«Die Handschuhe waren für den König nur ein neuer Anlass, seine<br />

Wut über die Entwicklung des Prinzen auszutoben. Ich fürchte,<br />

<strong>der</strong> Konfl ikt wird weiter eskalieren, Gott allein weiß, wie einmal<br />

alles enden wird.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lag eine Weile halb ohnmächtig im Hof, dann hörte er die<br />

beschwörende Stimme eines Reitknechtes: «Königliche Hoheit, stehen<br />

Sie auf, Sie verlieren den Anschluss an die Jagdgesellschaft.»<br />

Er half ihm beim Aufstehen, und dann trabte <strong>Friedrich</strong>s Pferd<br />

hinter dem Reitknecht, und sie versuchten, die Jagdgesellschaft<br />

einzuholen. Nach einigen Meilen zügelte <strong>Friedrich</strong> sein Pferd, sah<br />

dem <strong>Knecht</strong> nach und versuchte zu begreifen, was geschehen war.<br />

«Er hat mich vor den Offi zieren geschlagen, weil ich bei dieser<br />

grimmigen Kälte Handschuhe trug», sagte er leise zu sich selbst,<br />

«er hat mir vor den Offi zieren einen Fußtritt versetzt. Er wird<br />

mich noch öfter schlagen, mein Gott, wie soll ich mit dieser Situation<br />

leben? Soll ich mich verstellen und mich anpassen, um weitere<br />

Konfl ikte zu vermeiden?»<br />

Er betrachtete seine vor Kälte erstarrten Finger: «Nein, ich kann<br />

nicht ohne Handschuhe weiterreiten, ich halte die Kälte nicht aus,<br />

288


ich werde nach dem Schloss zurückkehren, und wenn man meine<br />

Abwesenheit bemerkt und mich am Abend fragt, werde ich sagen,<br />

dass ich mich in den Wäl<strong>der</strong>n verirrt habe.»<br />

Er wendete erleichtert sein Pferd, ritt langsam zurück und überlegte:<br />

Niemand darf sehen, dass ich bereits jetzt zurückkehre, Papa<br />

muss glauben, dass ich stundenlang in den Wäl<strong>der</strong>n herumirrte.<br />

Ich muss ungesehen im Schloss verschwinden und auf meinem<br />

Zimmer bleiben, aber was ist mit dem Pferd? Wie kann ich es in<br />

den Stall bringen, ohne dass die Reitknechte etwas bemerken?<br />

Er blieb stehen und schrak zusammen, als plötzlich ein Reiter<br />

neben ihm auftauchte.<br />

«Monsieur», sagte <strong>der</strong> fremde Reiter, «ist dies <strong>der</strong> Weg nach<br />

Schloss Wusterhausen?»<br />

«Ja, was führt Sie in diese Einöde?»<br />

«Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle: Hans Hermann von<br />

Katte, seit einigen Monaten bin ich Kornett im Kürassierregiment<br />

Gendarmes. Seine Majestät befahl mir, nach Wusterhausen<br />

zu kommen, weil Seine Majestät mich persönlich kennenlernen<br />

will.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete den kleinen Reiter, dessen Gesicht von<br />

Blatternnarben übersät war, und als er die dicht zusammengewachsenen,<br />

dunklen Augenbrauen sah, fühlte er sich für den Bruchteil<br />

einer Sekunde unbehaglich.<br />

Er sieht fi nster aus, dachte er, wie alt mag er sein? Ich schätze<br />

Anfang zwanzig.<br />

«Mein Vater ist auf <strong>der</strong> Jagd, niemand weiß, wann er zurückkehrt.»<br />

Der Kornett starrte <strong>Friedrich</strong> einen Moment an und sagte langsam:<br />

«Ihr Vater? Dann müssen Sie <strong>der</strong> Kronprinz sein.»<br />

«Sie haben richtig geraten: Ich bin <strong>der</strong> Kronprinz.»<br />

Katte betrachtete <strong>Friedrich</strong> und fragte vorsichtig: «Königliche<br />

Hoheit, Sie sind nicht bei <strong>der</strong> Jagdgesellschaft?»<br />

«Nun, ich habe mich in den Wäl<strong>der</strong>n verirrt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte den Kornett und spürte plötzlich, dass er ihm<br />

vertrauen konnte.<br />

Er zögerte einen Augenblick, dann sah er Katte in die Augen:<br />

«Es gibt ein Problem: Niemand darf meine Rückkehr bemerken;<br />

289


ich weiß nicht, wie ich das Pferd in den Stall bringen soll, dort sind<br />

immer Reitknechte.»<br />

Katte betrachtete <strong>Friedrich</strong> und erwi<strong>der</strong>te: «Ich verstehe», er<br />

überlegte einen Augenblick und fragte: «Ist dieses Pferd Ihr Leibpferd?»<br />

«Nein, ich besitze noch kein Leibpferd.»<br />

«Dies vereinfacht die Angelegenheit: Wir reiten jetzt gemeinsam<br />

zum Schloss, Sie verschwinden in einem Nebeneingang, und<br />

ich kümmere mich um die Pferde.»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete erleichtert auf.<br />

«Ich danke Ihnen. Wollen Sie nicht meiner Mutter und ihren<br />

Damen Gesellschaft leisten, bis mein Vater von <strong>der</strong> Jagd zurückkehrt?<br />

Für die Damen sind die Wochen in Wusterhausen immer<br />

entsetzlich eintönig.»<br />

«Königliche Hoheit, es wird für mich ein Vergnügen sein, die<br />

Damen zu unterhalten.»<br />

Als sie in den Hof ritten, begann es zu schneien. <strong>Friedrich</strong> überließ<br />

das Pferd dem Kornett und schlich unbemerkt in seine Kammer.<br />

Katte führte die Pferde in den Stall und sah erleichtert, dass die<br />

<strong>Knecht</strong>e in einer Ecke saßen und schwatzten. Er nahm die Sättel ab,<br />

rieb die Pferde trocken, tränkte sie, ließ sie Hafer fressen, und dann<br />

begab er sich zur Königin.<br />

Sophie Dorothea sah gereizt von ihrer Patience auf, als ein Diener<br />

das Zimmer betrat.<br />

«Ich bitte um Vergebung, Majestät, <strong>der</strong> Kornett von Katte bittet<br />

um eine Audienz.»<br />

«Katte?», und zu den Damen: «Der junge Mann ist von Familie;<br />

sein Vater hat anno 17 beim Reichsgericht gegen die Allodifi kation<br />

<strong>der</strong> Ritterlehen eine Beschwerde eingereicht, aber er besann sich<br />

dann und ist heute ein loyaler Offi zier des Königs», und zu dem<br />

Diener: «Der Kornett von Katte kann eintreten.»<br />

Als Katte das Zimmer betrat, spürte er, dass die Damen ihn<br />

neugierig ansahen. Er versuchte, die Blicke zu ignorieren, und verbeugte<br />

sich vor Sophie Dorothea: «Majestät, verzeihen Sie meine<br />

Kühnheit, aber Seine Majestät befahl mir, nach Wusterhausen zu<br />

290


kommen, weil er mich endlich persönlich kennenlernen will, ich<br />

gehöre seit fast einem Jahr zum preußischen Kürassierregiment<br />

Gendarmes.»<br />

«Sie gehören zu diesem Regiment», rief Sophie Dorothea, «mon<br />

Dieu, das ist eine Auszeichnung! Die Offi ziere dieses Regiments<br />

genießen das Vertrauen des Königs, weil er sie persönlich aussucht.<br />

Ihr Vater ist irgendwo in Ostpreußen Generalleutnant?»<br />

«Ja, Majestät, in Angermünde.»<br />

Frau von Kamecke beugte sich zu Wilhelmine und fl üsterte: «Ich<br />

habe noch nie solche buschigen schwarzen Augenbrauen gesehen,<br />

sie wirken unheimlich.»<br />

Katte betrachtete fl üchtig die Hofdamen, und als er sah, wie Frau<br />

von Kamecke fl üsterte, erriet er, dass es sich um seine Person handelte.<br />

Er lächelte die Damen an und sagte: «Wissen Sie, was die<br />

kleinen Jungen rufen, wenn sie mich in unserem Dorf Wust sehen?<br />

‹Wer solche Brauen hat wie <strong>der</strong> Ritter Katt, <strong>der</strong> endet am Galgen<br />

o<strong>der</strong> unterm Rad.›»<br />

«Mein Gott», rief Frau von Kamecke, «<strong>der</strong> Vers klingt entsetzlich!»<br />

«Madame, ich fi nde, <strong>der</strong> Vers klingt amüsant.»<br />

Unterdessen saß <strong>Friedrich</strong> in seinem Zimmer vor dem Kamin und<br />

starrte in die lo<strong>der</strong>nden Flammen.<br />

«Wie soll es mit Papa und mir weitergehen?», sagte er leise zu<br />

sich selbst.<br />

«Er hat mich heute vor den Augen <strong>der</strong> Offi ziere geohrfeigt, weil<br />

ich bei dieser bitteren Kälte Handschuhe getragen habe. Abhärtung<br />

hin und her, ein Tadel hätte genügt. Hat er mich nur wegen <strong>der</strong><br />

Handschuhe geschlagen o<strong>der</strong> spürt er, dass ich ihn insgeheim verachte,<br />

weil er ungehobelt und unkultiviert ist?<br />

Am Hofe, in Mamas Salon, wird hin und wie<strong>der</strong> gefl üstert, dass<br />

seine Prügelsucht abartig ist, man tuschelt, er werde allmählich<br />

wahnsinnig. Die Ärzte behaupten, dass es schädlich ist, den Körper<br />

täglich mit Wasser in Berührung zu bringen, angeblich wird<br />

man wahnsinnig, wenn man täglich in Wasser badet; nun, er badet<br />

nicht, aber er wäscht sich gründlich; ob diese täglichen Waschungen<br />

seinen Geist verwirren?<br />

291


An<strong>der</strong>erseits muss seine Familie sich auch täglich waschen,<br />

und wir sind bis jetzt normal geblieben. Eines weiß ich seit dem<br />

heutigen Tag: Er wird mich immer wie<strong>der</strong> wegen <strong>der</strong> geringsten<br />

Kleinigkeit körperlich züchtigen. Wie lange muss ich dies noch ertragen?<br />

Wenn ich heirate, darf ich meinen eigenen Haushalt führen<br />

und kann mich seiner Kontrolle leichter entziehen, aber wann<br />

werde ich heiraten?<br />

Papa war achtzehn, als er sich vermählte – vielleicht heirate ich<br />

erst mit zwanzig Jahren o<strong>der</strong> noch später. Angenommen, ich heirate<br />

Amalie, wenn ich achtzehn bin, das bedeutet, das ich noch etwas<br />

länger als vier Jahre in seiner Umgebung leben muss. Wie kann ich<br />

mein Leben so gestalten, dass es halbwegs erträglich ist?»<br />

Er stand auf, ging unruhig auf und ab, trat schließlich zum Fenster<br />

und sah hinunter in den menschenleeren, verschneiten Hof.<br />

«Wie trist es hier ist», sagte er leise, «wie kann man sich hier nur<br />

wohl fühlen?<br />

Ich hasse alles, was er liebt: die Jagd, die Tabagie, die Sparsamkeit,<br />

die Frömmigkeit, die Uniform … die Uniform? Nein, ich hasse<br />

nicht die Uniform, son<strong>der</strong>n seine For<strong>der</strong>ung, dass man sie den<br />

ganzen Tag über trägt. Es gibt gesellschaftliche Anlässe, wo die<br />

‹Grande Parure› die passende Kleidung ist.<br />

Er hasst alles, was ich liebe: Musik, Literatur, Frankreich, ein<br />

bisschen Luxus, geistreiche Gespräche; mein Gott, wie soll dies<br />

weitergehen?»<br />

Eine Minute nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en verging, und plötzlich sah <strong>Friedrich</strong><br />

auf: «Ja», murmelte er, «das wäre eine Lösung. Warum habe<br />

ich nicht schon längst daran gedacht? Ich werde ein Doppelleben<br />

führen: Ist er abwesend, so tue ich, was mir beliebt, ist er anwesend,<br />

so erfülle ich meine Pfl ichten. Ich werde in seiner Gegenwart<br />

nicht viel reden und ihm keinen Anlass geben, mich zu züchtigen,<br />

allerdings erfor<strong>der</strong>t dies viel Selbstbeherrschung. Werde ich mich<br />

verstellen können?<br />

Ich muss es probieren, als König muss ich wahrscheinlich auch<br />

zwei Gesichter haben, zumindest was die Außenpolitik betrifft.<br />

Mein Doppelleben ist mein Geheimnis, auch Mama und Wilhelmine<br />

werden nichts davon erfahren, überdies werden sie bald<br />

merken, dass ich ein Doppelleben führe. Ich muss auch versuchen,<br />

292


die Offi ziere für mich zu gewinnen, meine Beliebtheit im Offi -<br />

zierskorps wird ihn schwächen.»<br />

Als das Tageslicht schwächer wurde, kehrte die Jagdgesellschaft<br />

zurück, und Kalckstein eilte nervös zu <strong>Friedrich</strong>s Zimmer.<br />

Er atmete erleichtert auf, als er den Prinzen sah, <strong>der</strong> vor dem<br />

Kamin saß und las.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Gouverneur unsicher an, schwieg und wartete<br />

ab.<br />

«Gott sei Dank, Königliche Hoheit, dass Sie in Sicherheit sind!<br />

Ich befürchtete, dass Ihnen etwas zugestoßen sei, aber ich wollte<br />

Seine Majestät nicht auf Ihre Abwesenheit aufmerksam machen,<br />

weil ich nicht wusste, wie Seine Majestät reagieren würde, Ihre<br />

Abwesenheit wurde nicht bemerkt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete den Erzieher und erwi<strong>der</strong>te langsam: «Ich<br />

danke Ihnen.»<br />

Er steht innerlich auf meiner Seite, dachte er, wahrscheinlich<br />

habe ich unter den Offi zieren und Hofl euten mehr Anhänger, als<br />

ich ahne.<br />

Kalckstein fuhr zögernd fort: «Ich versäumte, Ihnen zu sagen,<br />

dass es nicht üblich ist, bei dieser kühlen Witterung während <strong>der</strong><br />

Jagd Handschuhe zu tragen.»<br />

«Kühle Witterung? Es herrscht bittere Winterkälte.»<br />

«Gewiss, Königliche Hoheit, aber Seine Majestät friert nicht,<br />

folglich hat sein Gefolge auch nicht zu frieren. Es ist meine Schuld,<br />

dass es am Vormittag zu dieser Szene im Schlosshof kam.»<br />

<strong>Friedrich</strong> schwieg eine Weile, dann sah er Kalckstein an und<br />

sagte langsam: «Sie sind nicht schuld an dieser Szene, mein Vater<br />

wartet doch nur auf jede Gelegenheit, um mich zu züchtigen. Die<br />

Handschuhe waren nur <strong>der</strong> Anlass, und er wird immer wie<strong>der</strong> einen<br />

Anlass fi nden, um mich öffentlich zu demütigen.»<br />

Kalckstein zuckte unwillkürlich zusammen, als er den bitteren<br />

Unterton in <strong>der</strong> Stimme des Kronprinzen hörte.<br />

Mein Gott, dachte er, es muss doch eine Möglichkeit geben, die<br />

Spannungen zwischen Vater und Sohn abzubauen, vielleicht weiß<br />

Finck einen Rat.<br />

293


Wegen <strong>der</strong> Kälte wurde die Tafel an jenem Abend im Tabakskollegium<br />

gedeckt. Nach dem Tischgebet betrachtete <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

gutgelaunt die Gesellschaft und sagte zu Katte, <strong>der</strong> rechts von ihm,<br />

gegenüber dem Kronprinzen saß: «Mein lieber Katte, ich freue<br />

mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen, noch mehr freue ich<br />

mich, dass Sie die Offi zierslaufbahn <strong>der</strong> Beamtenlaufbahn vorgezogen<br />

haben – warum?»<br />

Katte erwi<strong>der</strong>te: «Majestät, berufl iche Entscheidungen hängen<br />

oft mit <strong>der</strong> Familiengeschichte zusammen, meine Vorfahren waren<br />

Offi ziere.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: «Mein Vater ließ<br />

mich von 1717 bis 1721 in Halle erziehen, auf dem Pädagogium des<br />

Herrn Francke. Während dieser Zeit reifte in mir <strong>der</strong> Entschluss,<br />

Jurisprudenz zu studieren, weil ich <strong>der</strong> Gerechtigkeit dienen wollte.<br />

Ich studierte in Königsberg die Rechtswissenschaft, anschließend<br />

unternahm ich die übliche Bildungsreise; sie führte mich<br />

nach London und nach Venedig.»<br />

Eine Bildungsreise nach Venedig, nach Italien, dachte <strong>Friedrich</strong>,<br />

wo wird meine Reise hinführen? Papa muss sie mir erlauben, sie<br />

gehört zur Ausbildung eines Fürsten.<br />

Katte fuhr fort: «Während <strong>der</strong> Reise wurde mir klar, dass tägliches<br />

Aktenstudium meiner Natur nicht entspricht, und ich beschloss,<br />

dem Beispiel meiner Vorfahren zu folgen und Offi zier zu<br />

werden. Abgesehen davon, dass es in Preußen eine Ehre ist, dem<br />

Offi zierskorps anzugehören, ist es auch eine Ehre, das Land, wo<br />

man geboren wurde, zu verteidigen, und es reizt mich, als Verteidiger<br />

meines Landes Ruhm zu erwerben.»<br />

Ruhm, dachte <strong>Friedrich</strong>, er hat recht, man kann nur als Offi zier<br />

Ruhm erwerben. <strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete wohlwollend den<br />

jungen Mann und erwi<strong>der</strong>te lächelnd: «Ich verstehe Ihren Ehrgeiz.<br />

Die Jugend strebt nach Ruhm, aber ich als König denke zuerst an<br />

das Wohl meiner Untertanen, und ich hoffe, dass mein Staat nie<br />

angegriffen wird. Ein Krieg, auch ein Verteidigungskrieg, kostet<br />

immer Menschenleben, und Menschen sind <strong>der</strong> größte Reichtum<br />

eines Landes.»<br />

Die Diener servierten Linseneintopf mit Speck. <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

atmete genüsslich den pikanten Duft <strong>der</strong> Suppe ein und sagte<br />

294


zu Katte: «Ein Eintopf ist für mich das köstlichste Gericht nach<br />

einer Jagd.»<br />

Katte aß einige Löffel und erwi<strong>der</strong>te: «In meinem Elternhaus<br />

wird am Sonnabend immer Eintopf serviert, einmal, weil meine<br />

Stiefmutter sparsam wirtschaftet, zum an<strong>der</strong>en, weil <strong>der</strong> Koch<br />

vollauf beschäftigt ist mit den Vorbereitungen für das Mittagsmahl<br />

am Sonntag. Ich bitte um Vergebung, Majestät, aber bei uns gibt<br />

man einen Löffel Essig in jeden Teller Linsensuppe, so schmecken<br />

die Linsen noch aromatischer.»<br />

«Essig? Das wird sofort ausprobiert», <strong>der</strong> König gab einem Diener<br />

ein Zeichen, und wenig später erschien <strong>der</strong> Koch mit <strong>der</strong> Essigfl asche.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm verrührte die Linsensuppe mit einem Esslöffel<br />

Essig, aß weiter und rief nach einer Weile: «Lieber Katte, <strong>der</strong><br />

Eintopf schmeckt noch köstlicher, noch delikater und würziger»,<br />

und zu dem Koch: «Ab sofort wird zu einem Linsengericht Essig<br />

serviert», und zu Katte: «Sie erwähnten Ihre Stiefmutter, kommen<br />

Sie gut mit ihr aus?»<br />

«Ja, Majestät, sie liebt mich wie ein leibliches Kind, und ich liebe<br />

sie ebenfalls, als ob sie meine leibliche Mutter wäre. Nun ja, an<br />

meine Mutter kann ich mich nicht mehr erinnern, sie starb, als ich<br />

erst zwei Jahre zählte. Meine frühesten Erinnerungen beginnen<br />

mit meiner Stiefmutter, sie selbst, meine Stiefgeschwister und ich,<br />

wir sind eine glückliche Familie.»<br />

Eine glückliche Familie, dachte <strong>Friedrich</strong>, er ist zu beneiden.<br />

Während <strong>Friedrich</strong> Wilhelm den dritten Teller Suppe löffelte,<br />

sagte er zu Katte: «Es ist schade, dass Sie nicht einige Tage früher<br />

gekommen sind, dann hätten Sie an den Parforcejagden teilnehmen<br />

können, und natürlich wären Sie ein willkommener Gast im<br />

Tabakskollegium gewesen», und zu <strong>der</strong> Tischgesellschaft: «Meine<br />

Herren, heute verzichte ich auf das Tabakskollegium. Wir müssen<br />

uns früh zur Ruhe begeben, weil <strong>der</strong> kommende Tag anstrengend<br />

wird. Wir verlassen Wusterhausen bei Tagesanbruch; ich persönlich<br />

würde gerne noch länger bleiben, aber ich nehme Rücksicht<br />

auf meine Frau und ihre Damen.»<br />

Die Anwesenden atmeten unmerklich auf, Gott sei Dank, dachten<br />

alle, endlich verlassen wir Wusterhausen und können die Kaminfeuer<br />

in Berlin genießen.<br />

295


Nach <strong>der</strong> Abendtafel huschte <strong>Friedrich</strong> in Wilhelmines Zimmer.<br />

Fräulein von Sonsfeld verschwand diskret in die Kammer und beaufsichtigte<br />

die Amme und eine Zofe, die Wilhelmines Klei<strong>der</strong> einpackten.<br />

Die Geschwister saßen eine Weile schweigend nebeneinan<strong>der</strong>,<br />

und <strong>Friedrich</strong> überlegte, ob er <strong>der</strong> Schwester sagen sollte, was er<br />

für den Vater empfand. Aber, dachte er, sie ist die Einzige am Hof,<br />

<strong>der</strong> ich alles anvertrauen kann, weil sie verschwiegen ist. Bei Mama<br />

muss ich immer befürchten, dass Sie <strong>der</strong> Ramen etwas erzählt, und<br />

die erzählt es Eversmann, und <strong>der</strong> erzählt Papa alles.<br />

In diesem Augenblick sagte Wilhelmine: «Der heutige Tag war<br />

<strong>der</strong> erste Tag in Wusterhausen, <strong>der</strong> nicht langweilig verlief. Der<br />

Kornett Katte hat uns glänzend unterhalten, er kennt sich bestens<br />

in <strong>der</strong> französischen Literatur aus.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah überrascht auf: «Er ist ein Kenner <strong>der</strong> französischen<br />

Literatur? Das fi ndet man selten bei den Offi zieren unseres<br />

Vaters.»<br />

«Wie denkst du über ihn?»<br />

«Ich glaube, er ist loyal. Ich glaube, er könnte ein guter Freund<br />

sein. Am Vormittag hat er mir geholfen, unbeobachtet in das<br />

Schloss zu kommen. Papa ohrfeigte mich vor den Offi zieren, weil<br />

ich Handschuhe trug, und da ich die Kälte nicht aushielt, beschloss<br />

ich, zum Schloss zurückzukehren. Unterwegs begegnete ich Katte,<br />

und er verhielt sich wie ein Freund.»<br />

Wilhelmine starrte den Bru<strong>der</strong> an: «Wie bitte? Papa hat dich geohrfeigt,<br />

weil du bei dieser Kälte Handschuhe getragen hast? Das<br />

ist doch absurd, das ist nicht normal.»<br />

«Weißt du einen Ausweg, wie ich mich vor seinen Attacken<br />

schützen kann? Ich weiß nur, dass er mich immer wie<strong>der</strong> wegen<br />

belangloser Kleinigkeiten schlagen wird. Er wird mich auch in <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit schlagen … Wilhelmine, heute habe ich angefangen,<br />

ihn zu hassen, heute hat er mich zum dritten Mal geschlagen, es<br />

war zum dritten Mal ein unwichtiger Anlass, ein Tadel hätte genügt,<br />

aber er muss um sich schlagen. Ich hasse ihn, Wilhelmine,<br />

ich hasse ihn; er umklammert mich, ich kann in seiner Gegenwart<br />

nicht atmen, ich will nicht so werden, wie er ist, ich hasse ihn,<br />

manchmal wünsche ich, er wäre tot.»<br />

296


Wilhelmine starrte den Bru<strong>der</strong> an, dann sprang sie auf und rief:<br />

«Du darfst ihm nicht den Tod wünschen, er ist immerhin unser<br />

Vater, und er liebt uns!»<br />

«Unser Vater? Er ist ein Tyrann, ja, er tyrannisiert seine Familie,<br />

und ich bin nicht bereit, mich ihm in allem unterzuordnen. Ich<br />

möchte mein eigenes Leben leben. Sein geistiger Horizont ist begrenzt.<br />

Wilhelmine, ich fühle mich ihm überlegen, und ich hasse<br />

ihn.»<br />

Er stand auf, ging zum Fenster, presste die Stirn an die vereiste<br />

Scheibe und murmelte: «Ich hasse ihn, ich hasse ihn, ich hasse<br />

ihn.»<br />

297


ZWEITER TEIL<br />

(1726–1730)<br />

1. Kapitel


300<br />

1<br />

Mitte März 1726 saß Sophie Dorothea nach <strong>der</strong> Mittagstafel in<br />

ihrem Salon, beobachtete das langsame Wan<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Uhrzeiger,<br />

und um sich abzulenken, betrachtete sie die anwesenden Familienmitglie<strong>der</strong>.<br />

Links von ihr saß <strong>Friedrich</strong> Wilhelm lässig in einem Ohrensessel<br />

und schnarchte laut. Er wird immer dicker, dachte sie, kein Wun<strong>der</strong><br />

bei seiner Völlerei, seit meiner Rückkehr aus Hannover im letzten<br />

Sommer ist er nur noch böse gelaunt, und während seines Gichtanfalles<br />

vor einigen Wochen war er unausstehlich. Als Heinrich am<br />

18. Januar geboren wurde, besserte sich seine Stimmung für einige<br />

Tage, und er überreichte mir wie<strong>der</strong> einige Schmuckstücke seiner<br />

Mutter, aber nach <strong>der</strong> Taufe kehrte seine schlechte Laune zurück.<br />

Wahrscheinlich fand er das Tauffest zu kostspielig, weil es nach<br />

<strong>der</strong> kirchlichen Feier ein Bankett und einen Ball gab. Jetzt haben<br />

wir drei Söhne, die Thronfolge ist gesichert; und ich habe nach fast<br />

zwanzig Ehejahren meine Pfl ichten als Königin und Gattin erfüllt.<br />

Dreizehn Geburten, mon Dieu, das reicht, in einigen Wochen werde<br />

ich neununddreißig Jahre; und ich will keine Kin<strong>der</strong> mehr gebären,<br />

ich will nicht mehr.<br />

Er wünscht sich noch einen vierten Sohn, nun, wenn er künftig<br />

mein Schlafzimmer betritt, werde ich mich ihm verweigern und<br />

ihm sagen, dass ich zu alt bin für eine Schwangerschaft. Ich habe<br />

ihn nie geliebt, überdies ist unser Familienleben nicht harmonisch,<br />

son<strong>der</strong>n gespannt, als Mutter leide ich, wenn ich sehe, wie er Fritz<br />

behandelt – nein, ich werde mich ihm künftig verweigern.<br />

Sie betrachtete den kleinen August Wilhelm, <strong>der</strong> zu Füßen des<br />

Königs saß und den Vater bewun<strong>der</strong>nd anstarrte.<br />

August Wilhelm ist sein Lieblingskind. Warum? Er ist lebhaft<br />

und redet viel. Fritz war ein schweigsames Kind, Fritz ist viel intelligenter<br />

als sein jüngerer Bru<strong>der</strong>, aber dies hat mein Mann noch<br />

nicht gemerkt, die Geschwätzigkeit August Wilhelms gefällt ihm,<br />

nun, Gott sei Dank ist August Wilhelm nicht <strong>der</strong> Thronfolger.<br />

Ihre Augen wan<strong>der</strong>ten zu den vier Töchtern, die schweigend in


einer Ecke saßen und den schnarchenden Vater ängstlich beobachteten.<br />

Außer Wilhelmine müssen fünf Töchter verheiratet werden,<br />

dachte Sophie Dorothea, Frie<strong>der</strong>ike Luise wird zwölf und kommt<br />

allmählich ins heiratsfähige Alter. Sie ist hübsch, aber sie hat den<br />

Geiz ihres Vaters geerbt; die zehnjährige Philippine Charlotte ist<br />

ebenfalls hübsch, aber manchmal zu vorlaut; die achtjährige Sophie<br />

Dorothea ist für mich eine Enttäuschung, sie ist zu ruhig, sie<br />

wird nie charmant plau<strong>der</strong>n können; die sechsjährige Ulrike ist ein<br />

schönes und charmantes Kind, ihre Verheiratung ist wahrscheinlich<br />

einfach; und Amalie? Sie ist für ihr Alter zu pummelig, ich<br />

werde anordnen, dass sie kleinere Portionen bei den Mahlzeiten<br />

bekommt.<br />

Nun, die Verheiratung meiner jüngeren Töchter eilt nicht, aber<br />

wie soll es mit Fritz und Wilhelmine weitergehen?<br />

Sie sah zu <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> sich lässig an eine Fensterbank lehnte<br />

und den schnarchenden Vater mit spöttischen Augen musterte, sie<br />

betrachtete Wilhelmine, die neben ihr saß und hin und wie<strong>der</strong> ein<br />

Gähnen unterdrückte, dann winkte sie <strong>Friedrich</strong> mit <strong>der</strong> rechten<br />

Hand, und er ging auf Zehenspitzen zu ihr und neigte den Kopf,<br />

um zu hören, was sie ihm sagen wollte.<br />

Sophie Dorothea sah kurz zu dem schlafenden Gatten und fl üsterte:<br />

«Heute, am frühen Morgen, habe ich noch einmal an meine<br />

Schwägerin Caroline geschrieben und sie gebeten, meinen Vater<br />

zu überreden, dass er eine schriftliche Zusage bezüglich eurer Heirat<br />

nach Berlin schickt. Dubourgay hat eingewilligt, meine Briefe<br />

über die englische Gesandtschaft nach London zu schicken, es besteht<br />

also keine Gefahr, dass meine Briefe an <strong>der</strong> Grenze von preußischen<br />

Zollbeamten geöffnet werden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete auf und fl üsterte: «Ich danke Ihnen, Mama»,<br />

und zu Wilhelmine: «Gräme dich nicht, Mama wird unsere Doppelhochzeit<br />

irgendwie arrangieren.»<br />

Wilhelmine betrachtete die hoffnungsvollen Augen des Bru<strong>der</strong>s,<br />

dann sah sie Sophie Dorothea an und sagte leise: «Vielen Dank,<br />

Mama.»<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete, wie <strong>der</strong> Uhrzeiger sich langsam vorwärtsbewegte,<br />

und wurde allmählich unruhig.<br />

301


Um zwei Uhr beginnt mein Unterricht, überlegte er, Papa legt<br />

Wert auf Pünktlichkeit, an<strong>der</strong>erseits dürfen wir das Zimmer erst<br />

verlassen, wenn er aufwacht, es ist möglich, dass er bis drei Uhr<br />

schläft. Wie wird er reagieren, wenn er mich dann hier sieht? Ob<br />

ich mich kurz vor zwei Uhr aus dem Zimmer schleiche?<br />

Sophie Dorothea betrachtete den Sohn und dachte: Mein Mann<br />

hat Fritz im letzten Mai zum Hauptmann des königlichen Leibregiments<br />

in Potsdam ernannt und an seinem vierzehnten Geburtstag<br />

zum Major. Warum?<br />

Ist es eine Anerkennung und Belohnung <strong>der</strong> militärischen Leistungen<br />

meines Sohnes, o<strong>der</strong> will er ihn mit den Beför<strong>der</strong>ungen an<br />

sich binden, ihn zu sich hinüberziehen? Das werde ich verhin<strong>der</strong>n.<br />

In diesem Augenblick schlug die Uhr die volle Stunde, <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm zuckte zusammen und öffnete langsam die Augen.<br />

Er richtete sich ächzend auf dem Stuhl empor, und als er August<br />

Wilhelm sah, lächelte er und strich dem Kleinen liebevoll über die<br />

dunkelblonden Haare.<br />

Dann betrachtete er die Mädchen und murmelte: «Sechs Töchter<br />

müssen standesgemäß verheiratet werden», seine Augen wan<strong>der</strong>ten<br />

weiter, und als er den Kronprinzen sah, verfi nsterte sich sein Gesicht<br />

und er schrie: «Was lungerst du hier herum? Um zwei Uhr<br />

beginnt dein Unterricht, warum bist du nicht längst bei Duhan?»<br />

<strong>Friedrich</strong> spürte, wie Wut in ihm hochstieg, und dachte: Ich<br />

muss mich beherrschen.<br />

Er straffte sich, trat zu dem König und sagte in liebenswürdigem<br />

Ton: «Verzeihung, Papa, ich habe den Unterricht nicht vergessen, aber<br />

Sie wünschen doch, dass wir bei Ihnen weilen, bis Sie aufwachen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte verärgert den Sohn und dachte: Er<br />

hat recht, meine Anordnungen sind wi<strong>der</strong>sprüchlich, manchmal<br />

schlafe ich bis drei Uhr.<br />

«Du bist künftig um zwei Uhr bei Duhan, egal wie lange ich schlafe,<br />

und das Herumlungern im Salon deiner Mutter wird in wenigen<br />

Tagen beendet sein. Ab dem 1. April wirst du in Potsdam wohnen<br />

und ständig in meiner Nähe sein. Es ist allmählich notwendig, dass<br />

ich dich beaufsichtige. Und nun verschwinde!»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak, verzog keine Miene, eilte aus dem Zimmer,<br />

und während er sich zu seinem Appartement begab, überschlugen<br />

302


sich seine Gedanken: Potsdam, gütiger Himmel, das ist ein Gefängnis.<br />

Wenn Papa nicht seine Provinzen inspiziert, weilt er in<br />

Potsdam, in dieser langweiligen Stadt gibt es keine Abwechslung,<br />

man ist nur von Soldaten umgeben; ich mag meine Kameraden,<br />

aber keiner teilt meine Interessen, eine geistreiche Unterhaltung<br />

ist mit ihnen unmöglich; ich muss auf Mamas Konzertabende verzichten,<br />

auf die Gespräche mit Wilhelmine, nun – ich werde, wenn<br />

er anwesend ist, meine Pfl ichten erfüllen, und wenn er nicht in<br />

Potsdam weilt, dann werde ich mich heimlich zu Mama begeben;<br />

die Kameraden werden mich nicht verraten, weil ich <strong>der</strong> künftige<br />

König bin, sie werden sich meine Gunst nicht verscherzen wollen.<br />

Er lachte leise auf und betrat gutgelaunt sein Appartement.<br />

Sophie Dorothea und Wilhelmine sahen sich entsetzt an, und die<br />

Königin fl üsterte: «Potsdam, mon Dieu, mein armes Kind», dann<br />

sah sie zu den Töchtern und rief: «Euer Unterricht beginnt ebenfalls<br />

um zwei Uhr!», und zu dem Gatten: «Wünschen Sie, dass die<br />

Kin<strong>der</strong> ihren Unterricht versäumen?»<br />

«Nein», brummte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «aber in Wusterhausen<br />

sollen die Kleinen bei mir bleiben, bis ich aufwache.»<br />

Die Mädchen standen auf, knicksten vor den Eltern und verließen<br />

das Zimmer.<br />

Der König setzte den kleinen August Wilhelm auf seinen Schoß,<br />

küsste ihn und sagte gutgelaunt: «Ich weiß einen Kosenamen für<br />

dich, du bist ab jetzt mein ‹Hulla›. Der Harlekin Hulla ist ein Spaßmacher<br />

in einer beliebten Komödie.»<br />

«Warum nennen Sie unseren Sohn ‹Hulla›?», fragte Sophie Dorothea<br />

mit gereiztem Unterton in <strong>der</strong> Stimme.<br />

«Warum, liebe Frau? August Wilhelm ist lustig und aufgeweckt,<br />

er ist Gott sei Dank nicht so verträumt wie Fritz, er wird einmal<br />

ein ehrenhafter Mann werden und sich so entwickeln, wie ich es<br />

mir wünsche», er stellte das Kind auf den Fußboden, erhob sich<br />

schwerfällig und sagte: «Nun, Hulla, willst du mir im Arbeitszimmer<br />

Gesellschaft leisten?»<br />

August Wilhelm strahlte: «Ja, Papa.»<br />

In diesem Augenblick stand Sophie Dorothea abrupt auf und trat<br />

zu dem Gatten.<br />

303


«Nein, das Kind muss jetzt schlafen. Sie wünschen, dass er schon<br />

jetzt an <strong>der</strong> Mittagstafel teilnimmt – ich bin damit einverstanden,<br />

obwohl er noch zu klein ist; anschließend müsste er schlafen, aber<br />

Sie wünschen, dass er während Ihrer Mittagsruhe in meinem Appartement<br />

bei Ihnen weilt – auch dies habe ich akzeptiert; aber ich<br />

akzeptiere nicht, dass er jetzt in Ihrem Arbeitszimmer spielt. Ein<br />

Kind in seinem Alter muss am Nachmittag eine Stunde schlafen.»<br />

Sie schwieg, sah den Gatten vorwurfsvoll an und sagte: «Ihren<br />

ältesten Sohn wollten Sie nie den ganzen Tag bei sich haben, als er<br />

so alt war wie August Wilhelm.»<br />

«Liebe Frau, Fritz ist <strong>der</strong> Kronprinz, ein Thronfolger muss an<strong>der</strong>s<br />

erzogen werden als die jüngeren Brü<strong>der</strong>, aber Sie haben recht:<br />

Ein fast vierjähriges Kind benötigt genügend Schlaf, nun, er wird<br />

in meinem Schlafzimmer ruhen, machen Sie sich keine Sorgen,<br />

Eversmann wird neben ihm wachen.»<br />

Er nahm die Hand des Kindes: «Komm, Hulla, du wirst jetzt in<br />

meinem Bett schlafen.»<br />

Sophie Dorothea starrte den Gatten an und dachte: Er liebt den<br />

jüngeren Sohn abgöttisch, und er hasst <strong>Friedrich</strong>, ich hingegen liebe<br />

<strong>Friedrich</strong> mehr als meine an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>, ich werde immer für<br />

ihn kämpfen.<br />

Sie trat zu dem König und sagte spöttisch: «Sie haben recht, Ihr<br />

Hulla ist lustig und aufgeweckt und nicht so verträumt wie <strong>Friedrich</strong>,<br />

aber <strong>Friedrich</strong> ist viel intelligenter als sein Bru<strong>der</strong>. Ihr Hulla<br />

wirkt auf mich oberfl ächlich, er wird auch als Mann oberfl ächlich<br />

sein, Gott sei Dank ist er nicht <strong>der</strong> Kronprinz.»<br />

Es entstand eine Pause, und das Ehepaar betrachtete sich feindselig,<br />

dann trat Sophie Dorothea noch einen Schritt zu dem Gatten<br />

und fragte: «Warum soll <strong>Friedrich</strong> künftig bei Ihnen in Potsdam<br />

leben? Warum nehmen Sie mir den Sohn weg?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte die Gattin, und langsam stieg Zorn<br />

in ihm empor und er schrie: «Warum? Das fragen Sie? Ausgerechnet<br />

Sie!»<br />

Er marschierte im Zimmer auf und ab und rief: «Ich habe alles<br />

getan, um ihn zu einem König zu erziehen, <strong>der</strong> nur an das Wohl<br />

des Landes und seiner Untertanen denkt! Ich habe seinen Tagesablauf<br />

geregelt, damit er sich an Disziplin gewöhnt, ich habe seinen<br />

304


Gouverneuren befohlen, ihn zu einem guten Soldaten zu erziehen,<br />

zu einem König, <strong>der</strong> sparsam wirtschaftet, ich habe den Gouverneuren<br />

befohlen, ihm einen Ekel vor <strong>der</strong> Faulheit beizubringen, ich<br />

habe dem Religionslehrer befohlen, ihn zu lehren, dass er sich als<br />

König eines Tages vor Gott rechtfertigen muss, und was ist aus dem<br />

Bengel geworden?<br />

Er ist ein schlapper, weibischer, weinerlicher Bursche, <strong>der</strong> sich<br />

nicht wäscht, sich viel pu<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> auf dem Pferd wie ein nasser<br />

Sack hockt, <strong>der</strong> besser Französisch spricht als Deutsch, <strong>der</strong><br />

seine Haare kräuselt und affektiert dahertänzelt wie die französischen<br />

Modeaffen, mit einfachen Leuten unterhält er sich<br />

nicht, weil er kaum ein Wort Deutsch versteht, er dünkt sich<br />

wohl etwas Besseres. Die prinzliche Zierpuppe verabscheut die<br />

Parforcejagden, im Tabakskollegium macht er ein hochmütiges<br />

Gesicht und zuckt bei jedem <strong>der</strong>ben Wort zusammen. Wieso ist<br />

er so geworden?»<br />

Sophie Dorothea trat einen Schritt zurück, sah den Gatten hasserfüllt<br />

an und rief: «<strong>Friedrich</strong> hat seine musischen Neigungen von<br />

meiner Familie, von den Welfen, geerbt, aber diese Tatsache haben<br />

Sie nie erkannt o<strong>der</strong> erkennen wollen. Im Übrigen ist sein<br />

Auftreten comme il faut, er benimmt sich wie ein Fürst; und ein<br />

Fürst achtet immer auf eine gewisse Distanz zu den Untertanen,<br />

er pfl egt keinen vertraulichen Umgang mit ihnen; jene Distanz<br />

schließt nicht aus, dass er dafür sorgt, dass es seinen Untertanen<br />

gut geht.»<br />

«Reden Sie keinen Unsinn!», brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Ich<br />

sehe nur eines: Mein Sohn, <strong>der</strong> preußische Thronfolger, entwickelt<br />

sich an<strong>der</strong>s, als ich es wünsche, und daran sind nicht die Gouverneure<br />

schuld, sie sind ehrenwerte Männer, die meine Anweisungen<br />

befolgen. Sie sind schuld an <strong>der</strong> Entwicklung des Kronprinzen, Sie<br />

ganz allein! Sie haben mir den Sohn entfremdet, und wahrscheinlich<br />

entfremden Sie mir auch Wilhelmine mit Ihrer Verschwendungssucht,<br />

Ihrem Aufwand für Klei<strong>der</strong> und Möbel, Ihrem französischen<br />

Geschwätz und Ihren dubiosen englischen Heiratsplänen.<br />

Diese Pläne gefallen Fritz und Wilhelmine natürlich, und Ihr Kopf<br />

ist erfüllt von diesem Heiratsplan, wahrscheinlich denken Sie Tag<br />

und Nacht darüber nach, wie Sie eine Doppelheirat arrangieren<br />

305


können. Sie passen nicht an meinen sparsamen Hof, und ich bin<br />

entschlossen, Ihren Einfl uss auf den Kronprinzen zu unterbinden,<br />

deshalb wird er ab jetzt in Potsdam leben.»<br />

Es entstand eine Pause. Sophie Dorothea ging unruhig auf und<br />

ab, und ihre Gedanken überstürzten sich: Es bleibt mir nichts übrig,<br />

ich muss mich damit abfi nden, dass <strong>Friedrich</strong> in Potsdam lebt,<br />

aber ich kann vielleicht erreichen, dass ich ihn sooft wie möglich<br />

sehe. Ich muss mich jetzt diplomatisch verhalten.<br />

Sie blieb stehen, begann zu weinen und sagte leise: «Sie nehmen<br />

mir den Sohn weg, mon Dieu, das überlebe ich nicht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah die Gattin unsicher an und erwi<strong>der</strong>te:<br />

«Ich nehme Ihnen Fritz nicht weg, Sie dürfen ihn natürlich hin<br />

und wie<strong>der</strong> sehen.»<br />

Sophie Dorothea horchte auf: «Hin und wie<strong>der</strong>, Sie meinen: einmal<br />

wöchentlich?»<br />

«Einmal wöchentlich ist zu oft, überdies eilt diese Entscheidung<br />

nicht, während <strong>der</strong> Exerziermonate, also von April bis Ende Juni,<br />

werden Sie Fritz nicht sehen, anschließend begleitet er mich auf<br />

einer Reise in die westlichen Provinzen, nach unserer Rückkehr<br />

werden wir den Herbst in Wusterhausen verbringen, dort können<br />

Sie Ihren Sohn täglich sehen, danach, nun, das muss ich noch entscheiden,<br />

vielleicht zweimal im Monat.»<br />

Er trat zu einem <strong>der</strong> Fenster, sah nachdenklich auf die Straße,<br />

erblickte einen Mann und stutzte.<br />

«Das ist doch –», murmelte er, öffnete das Fenster und rief hinunter:<br />

«Graf Seckendorff, ich freue mich, Sie so unverhofft zu sehen,<br />

kommen Sie herauf!»<br />

Einige Minuten später betrat ein mittelgroßer, korpulenter<br />

Mann das Zimmer. Er trug die Uniform eines Generals, eine Allongeperücke,<br />

und lächelte die Anwesenden gewinnend an.<br />

Er verneigte sich vor den Damen und vor August Wilhelm, dann<br />

sah er den König an und sagte: «Majestät, es ist eine große Ehre für<br />

mich, dass Sie geruhen, mich zu empfangen.»<br />

Sophie Dorothea musterte das Gesicht des Generals und spürte,<br />

dass eine innere Abneigung in ihr emporstieg.<br />

Er sieht aus wie ein bie<strong>der</strong>er Gutsbesitzer, dachte sie, aber ist er<br />

so bie<strong>der</strong>, wie er aussieht?<br />

306


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat zu Seckendorff, umfasste dessen rechte<br />

Hand und sagte gutgelaunt: «Willkommen in Berlin, was führt Sie<br />

in die Hauptstadt meines Reiches? Wenn ich ein Gut wie Meuselwitz<br />

besäße, würde ich nur dort leben wollen.»<br />

«Majestät, ich habe das Leben in <strong>der</strong> Provinz einige Jahre genossen,<br />

aber jetzt wird es allmählich langweilig, deswegen beschloss<br />

ich, einen Teil des Jahres in Berlin zu verbringen. Es ist für mich<br />

faszinierend, die Entwicklung dieser Stadt zu beobachten: Überall<br />

wird gebaut, in wenigen Jahren wird Berlin eine Stadt sein wie Paris,<br />

London, Dresden o<strong>der</strong> Wien.<br />

Mein alter Freund Grumbkow hat mich bei <strong>der</strong> Suche nach<br />

einem geeigneten Palais unterstützt, ich habe das Anwesen vor einigen<br />

Tagen gekauft, und in wenigen Wochen wird es vollständig<br />

möbliert sein. Ich werde dort regelmäßig Soireen veranstalten und<br />

Bankette geben, Euer Majestät und Ihre Majestät, die Königin, sind<br />

selbstverständlich zu je<strong>der</strong> Soiree und jedem Bankett eingeladen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Augen strahlten: «Meine Frau und ich werden<br />

gerne in Ihrem Haus weilen, sofern es meine Zeit erlaubt. Was<br />

mich betrifft, so veranstalte ich Bankette nur bei beson<strong>der</strong>en Anlässen,<br />

aber Sie sind jeden Abend im Tabakskollegium willkommen.<br />

Ich weiß, dass Sie die Jagd lieben – begleiten Sie mich, wenn<br />

Ihre Zeit es erlaubt, Sie sind natürlich auch in Wusterhausen stets<br />

willkommen, und ich würde mich freuen, wenn Sie mich auf meiner<br />

nächsten Reise in die westlichen Provinzen begleiten. Sie wissen,<br />

wie man ein Gut bewirtschaftet, und können wahrscheinlich<br />

auf dieser Reise den Gutsbesitzern einige Ratschläge geben.»<br />

Seckendorff atmete unmerklich auf.<br />

Mein Besuch in Berlin verläuft unproblematischer, als ich dachte,<br />

überlegte er, und erwi<strong>der</strong>te lächelnd: «Majestät, es ist eine große<br />

Ehre für mich, Euer Majestät sooft es möglich ist zu begleiten.»<br />

Gütiger Himmel, dachte Sophie Dorothea, dieser schleimige, undurchsichtige<br />

Graf wird meinen Mann begleiten, und er wird versuchen,<br />

ihn zu beeinfl ussen. Aber in welche Richtung? Er hat Hintergedanken,<br />

das spüre ich, mon Dieu, wo wird dies alles enden?<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete Seckendorff, ging hin und her,<br />

dann blieb er vor dem Grafen stehen und fragte: «Glauben Sie, dass<br />

ich gut hannöverisch bin?»<br />

307


Seckendorff sah den König überrascht an.<br />

Er kommt rascher zur Sache, als ich dachte, überlegte er, und<br />

erwi<strong>der</strong>te: «Euer Majestät, ich bin davon überzeugt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte Seckendorff und erwi<strong>der</strong>te langsam:<br />

«Herr General, auf Offi zier Parole, dass Sie keine schlimme Usage<br />

davon machen wollen, sage ich Ihnen: Ich bin besser kaiserlich als<br />

hannöverisch, und wenn <strong>der</strong> Kaiser mich höfl ich behandeln will,<br />

wie es mir gebührt, und die mir zustehenden Ansprüche auf Jülich<br />

und Berg versichert, so gehöre ich zur Partei des Kaisers und werde<br />

Seine Kaiserliche Majestät mit allen Kräften unterstützen.»<br />

Seckendorff dachte einen Augenblick nach, straffte sich, dann<br />

sah er dem preußischen König in die Augen und fragte: «Kann ich<br />

dies dem Prinzen Eugen schreiben?»<br />

«Sofern Seine Kaiserliche Majestät mich nicht subaltern behandelt,<br />

können Sie dem Prinzen Eugen versichern, dass ich mich für<br />

das Haus Habsburg opfern werde und immer die Partei <strong>der</strong> Habsburger<br />

wählen werde.»<br />

Sophie Dorothea und Wilhelmine erschraken bei diesen Worten<br />

und sahen einan<strong>der</strong> verzweifelt an.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm nahm die Hand des kleinen August Wilhelm<br />

und sagte zu Seckendorff: «Ich würde mich gerne noch länger mit<br />

Ihnen unterhalten, aber die Arbeit ruft. Sehe ich Sie heute im Tabakskollegium?»<br />

«Majestät, ich bitte um Vergebung, aber ich bin am Abend eingeladen,<br />

morgen werde ich mit dem größten Vergnügen im Tabakskollegium<br />

anwesend sein.»<br />

Sophie Dorothea beobachtete ungeduldig, wie die Herren und das<br />

Kind ihr Zimmer verließen, und als sich die Tür schloss, sagte sie zu<br />

Wilhelmine: «Dieser Seckendorff ist ein Unglück für uns, ich meine<br />

für meine Heiratspläne, mein Gefühl sagt mir, dass er versuchen<br />

wird, eure Verheiratung nach Möglichkeit zu verhin<strong>der</strong>n, er ist mein<br />

Gegner, aber ich bin fest entschlossen, für Sie und Ihren Bru<strong>der</strong> zu<br />

kämpfen, Sie werden Ihren Cousin und Fritz seine Cousine heiraten.»<br />

Wilhelmine schwieg einen Augenblick und sagte dann nachdenklich:<br />

«Grumbkow hat ihm beim Erwerb seines Palais geholfen,<br />

ich hörte hin und wie<strong>der</strong>, dass sie einst ihre Gewinne beim Spiel<br />

geteilt haben.»<br />

308


«Wie alt schätzen Sie Seckendorff?»<br />

«Grumbkow ist zehn Jahre älter als Papa, also Ende vierzig, ich<br />

habe gehört, dass Seckendorff drei o<strong>der</strong> vier Jahre älter als Grumbkow<br />

ist.»<br />

309


310<br />

2<br />

Am Abend jenes Tages stand Grumbkow in seinem Arbeitszimmer<br />

an einem <strong>der</strong> Fenster und sah nachdenklich hinunter in den<br />

Hof.<br />

In ungefähr einer halben Stunde kommt Seckendorff, dachte er,<br />

was will er von mir? Er wünscht ein Gespräch unter vier Augen in<br />

einer wichtigen Angelegenheit, er wünscht, dass kein Diener uns<br />

belauschen kann und dass seine Ankunft und Abfahrt nicht bemerkt<br />

werden, ich ahne, worum es geht.<br />

Er lachte leise auf, ging zu dem runden Tisch, <strong>der</strong> in einer Ecke<br />

des Zimmers stand, betrachtete zufrieden die Flasche Champagner<br />

und die zwei Kristallkelche, und bei dem Gedanken, dass er später<br />

den Tisch zur Küche hinablassen und dieser beladen mit kulinarischen<br />

Köstlichkeiten wie<strong>der</strong> nach oben kommen würde, lief ihm<br />

das Wasser im Munde zusammen.<br />

Dann ging er in den Salon seiner Gattin.<br />

«Sie werden nachher mit den Kin<strong>der</strong>n ohne mich speisen. Ich<br />

erwarte Besuch.»<br />

Er zögerte etwas und fuhr fort: «Die gesamte Dienerschaft, bis<br />

auf Ihre Zofe und die Kin<strong>der</strong>frau, ist bis Mitternacht beurlaubt.»<br />

Frau von Grumbkow legte ihre Lektüre zur Seite und sah den Gatten<br />

erstaunt an: «Wie bitte? Wer soll uns an <strong>der</strong> Tafel bedienen?»<br />

Grumbkow ging zu dem runden Tisch in <strong>der</strong> Mitte des Zimmers<br />

und sagte: «Sie haben in Ihrem Salon, ebenso wie ich in meinem<br />

Arbeitszimmer, eine sogenannte ‹Vertrauenstafel›; wenn Sie diesen<br />

Hebel betätigen, können Sie die Tafel in die Küche hinablassen.<br />

Sie schreiben auf, was Sie essen und trinken wollen, und die Tafel<br />

steigt mit den gewünschten Speisen und Getränken wie<strong>der</strong> zu Ihnen<br />

herauf. Mein Gast liebt Meeresfrüchte, <strong>der</strong> Koch hat für uns<br />

ein Diner mit Austern, Muscheln, Krabben und Hummer vorbereitet,<br />

aber Sie können natürlich auch unter verschiedenen Fleischgerichten<br />

wählen.»<br />

Frau von Grumbkow trat zu dem Tisch, betrachtete ihn unschlüssig<br />

und sagte: «Während unserer Ehe habe ich ihn noch nie


versenkt, und Sie haben noch nie die gesamte Dienerschaft beurlaubt.<br />

Darf ich wissen, wer Ihr Gast ist?»<br />

Grumbkow antwortete zögernd: «Ich vertraue Ihnen, aber Sie<br />

müssen schweigen. Ich erwarte Seckendorff.»<br />

Frau von Grumbkow sah den Gatten verblüfft an: «Seckendorff,<br />

Ihren alten Freund? Warum soll niemand wissen, dass er heute bei<br />

uns weilt? Er lebt als Privatmann in Berlin.»<br />

«Gewiss, aber vielleicht ist er nur offi ziell privat hier, ich weiß es<br />

nicht, achten Sie darauf, dass Ihre Zofe und die Kin<strong>der</strong>frau nichts<br />

von seiner Anwesenheit bemerken, und nun entschuldigen Sie<br />

mich, ich muss noch arbeiten.»<br />

Frau von Grumbkow sah dem Gatten nach, <strong>der</strong> das Zimmer eilig<br />

verließ, dann betrachtete sie den Tisch, seufzte, ging zu ihrem<br />

kleinen Schreibtisch und schrieb auf ein Blatt Papier: «Ich wünsche<br />

eine Liste <strong>der</strong> Speisen, die an <strong>der</strong> Abendtafel aufgetragen werden»,<br />

dann versenkte sie den Tisch und beschäftigte sich wie<strong>der</strong> mit ihrer<br />

Lektüre.<br />

Grumbkow ging in seinem Arbeitszimmer unruhig auf und ab,<br />

dann trat er zu einem Fenster und beobachtete die Toreinfahrt.<br />

Als es acht Uhr schlug, rumpelte eine vierspännige Kutsche in<br />

den Hof. Der Diener, <strong>der</strong> neben dem Kutscher saß, kletterte hinunter,<br />

öffnete die Wagentür und half seinem Herrn beim Aussteigen.<br />

Als Grumbkow Seckendorff erblickte, eilte er hinunter.<br />

Die Freunde umarmten sich, und Grumbkow rief: «Willkommen<br />

in meinem Haus, <strong>Friedrich</strong> Heinrich, wir sind völlig ungestört.»<br />

«Danke, <strong>Friedrich</strong> Wilhelm», und zu dem Diener: «Ich erwarte<br />

Ihn mit <strong>der</strong> Kutsche gegen elf Uhr.»<br />

Im Arbeitszimmer hob Seckendorff den Kristallkelch, betrachtete<br />

genießerisch den perlenden Champagner und sagte lächelnd:<br />

«Auf dein Wohl und auf das Wohl des Kaisers.»<br />

«Auf dein Wohl und auf das Wohl des Kaisers», erwi<strong>der</strong>te Grumbkow<br />

und lächelte ebenfalls.<br />

Er trank einen Schluck, stellte das Glas auf den Tisch, lehnte sich<br />

behaglich in seinem Stuhl zurück und sagte: «Übrigens, Jupiter<br />

– das ist mein privater Spitzname für meinen königlichen Herren<br />

–, also Jupiter trinkt seit einigen Monaten im Tabakskollegium nur<br />

311


noch auf das Wohl des Kaisers, nicht mehr auf das Wohl des Königs<br />

von England, <strong>der</strong> immerhin sein Schwiegervater ist.»<br />

«So? Das ist ja interessant.»<br />

Seckendorff trank einen weiteren Schluck, stellte das Glas auf<br />

den Tisch, und für einige Sekunden herrschte Stille im Raum.<br />

Dann sah Seckendorff seinem Gastgeber in die Augen und sagte:<br />

«Ich möchte sofort zur Sache kommen; so ungestört wie jetzt werden<br />

wir uns künftig wahrscheinlich nicht mehr unterhalten können.<br />

Offi ziell wohne ich als Privatmann in Berlin, inoffi ziell weile<br />

ich hier im Auftrag des Prinzen Eugen.»<br />

Er trank Champagner und beobachtete die Miene des Freundes.<br />

Grumbkow lächelte süffi sant.<br />

«Das habe ich mir fast gedacht, lass mich raten, es geht um die<br />

Heiratspläne <strong>der</strong> Königin.»<br />

«Der Königin? Will <strong>der</strong> König seine Tochter nicht nach England<br />

verheiraten?»<br />

«Ja und nein, mal will er, mal will er nicht, er ist unentschlossen;<br />

aber du sprachst von einem Auftrag des Prinzen Eugen?»<br />

Seckendorff beugte sich etwas vor: «In Wien ist man sehr beunruhigt<br />

über das Bündnis zwischen England, Frankreich und<br />

Preußen, und über die Heiratspläne ist man noch mehr beunruhigt.<br />

Ein Bündnisvertrag ist in <strong>der</strong> heutigen Zeit nicht viel wert,<br />

er kann gelöst werden, wenn die politische Lage sich än<strong>der</strong>t, aber<br />

eine Heirat, womöglich eine Doppelheirat, zwischen den Welfen<br />

und den Hohenzollern ist eine ernsthafte Gefahr für das Haus<br />

Habsburg.<br />

Eine Heirat zwischen den Kin<strong>der</strong>n deines Königs und den Enkeln<br />

des englischen Königs bedeutet eine Stärkung des Protestantismus<br />

in Europa. England und Preußen sind dann eine protestantische<br />

Großmacht, abgesehen davon würde Preußen im außenpolitischen<br />

Fahrwasser Englands schwimmen und wäre für das Haus Habsburg<br />

verloren. Du weiß selbst, dass die preußischen Könige bis jetzt<br />

nur Puppen in den Händen des Wiener Hofes waren, mit denen<br />

man machen konnte, was man wollte; dein königlicher Herr benimmt<br />

sich auf diplomatischem Boden wie ein täppischer Bär, er<br />

kann von Glück sagen, dass er einen Außenminister wie Ilgen hat,<br />

sonst besäße Preußen überhaupt kein Ansehen in Europa.»<br />

312


Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: «Ich habe zwei<br />

Aufträge vom Prinzen Eugen: Ich soll den König aus dem Bündnis<br />

mit England und Frankreich lösen und ihn zu einem Bündnis<br />

mit dem Kaiser überreden, und ich soll vor allem die Heiraten<br />

zwischen England und Preußen verhin<strong>der</strong>n. Einige Gedanken,<br />

wie dies zu bewerkstelligen sei, gingen mir bereits durch den<br />

Kopf, aber ich kenne die Verhältnisse am Berliner Hof nur oberfl<br />

ächlich. Während <strong>der</strong> vergangenen Jahre habe ich zwar dies<br />

und jenes gehört, aber was ist Wahrheit, was ist Gerücht? Kurz,<br />

ich bitte dich um deine Hilfe.»<br />

Grumbkow schenkte Champagner nach, dann erwi<strong>der</strong>te er:<br />

«Ich helfe dir gern, aber was wird man in Wien für meine Hilfe<br />

bezahlen? Prinz Eugen weiß hoffentlich, dass er Dukaten regnen<br />

lassen muss. Wegen <strong>der</strong> kargen Gehälter ist am Berliner Hof je<strong>der</strong><br />

bestechlich, vom Minister bis zum Küchenjungen, die Offi ziere<br />

ausgenommen, und du musst fast alle am Hof bestechen, wenn du<br />

deine Aufträge erfüllen willst.»<br />

Seckendorff lächelte: «An Dukaten mangelt es nicht. In den<br />

nächsten Tagen werde ich erfahren, wie hoch die Bestechungsgel<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Franzosen und Englän<strong>der</strong> sind, dies werde ich dem Prinzen<br />

Eugen mitteilen, und ich bin sicher, dass Wien mehr zahlen wird.<br />

Mein Freund, an welche Summe hast du für dich gedacht?»<br />

Grumbkow überlegte: «Nun, ich verschaffe dir die geheimsten<br />

Akten des Königs zur Einsicht, dafür erwarte ich jährlich eintausend<br />

Dukaten, ferner erwarte ich eine Prämie von vierzigtausend Dukaten<br />

für meine Hilfe, die englische Heirat zu verhin<strong>der</strong>n, und ein Dokument,<br />

worin ich zum österreichischen Feldmarschall ernannt werde,<br />

damit Jupiter mich nicht so leicht hinrichten lassen kann, falls er von<br />

meinen geheimen Verhandlungen mit dem Prinzen Eugen erfährt.»<br />

Seckendorff erwi<strong>der</strong>te: «Der Preis ist angemessen, aber wie kann<br />

ich dem Offi zierskorps Geheimnisse entlocken, ich meine, wie<br />

bringe ich die Herren dazu, offen zu reden? Eine Geldsumme können<br />

und werden sie deiner Meinung nach nicht akzeptieren, wie<br />

kann ich die Elite des preußischen Staates bestechen?»<br />

Grumbkow lächelte süffi sant.<br />

«Das ist einfacher, als du denkst. Die Elite des preußischen Staates<br />

wird kärglich besoldet, die Offi ziere müssen also sparsam leben,<br />

313


wenn sie sich nicht verschulden wollen, und Schulden verstoßen<br />

gegen die Ehre eines preußischen Offi ziers. Du wirst hin und wie<strong>der</strong><br />

in Potsdam weilen, ich rate dir, die Gelegenheit zu nutzen und<br />

die Offi ziere zu einem erlesenen Bankett einzuladen, wo <strong>der</strong> Wein<br />

in Strömen fl ießt, wohlgemerkt Wein, nicht Bier, Bier ist ihr alltägliches<br />

Getränk, außerdem könntest du ihnen Lange Kerls besorgen,<br />

die sie Jupiter präsentieren, das erhöht ihre Chancen auf eine<br />

Beför<strong>der</strong>ung.»<br />

Er fuhr fort: «Du kannst alle, die am Hof leben, mit Geld bestechen,<br />

bei dem Hofnarren Gundling musst du dir allerdings etwas<br />

einfallen lassen, er legt keinen Wert auf Dukaten, er will durch<br />

seine Erscheinung auffallen; ein Orden, <strong>der</strong> nur für ihn gefertigt<br />

wurde, wäre vielleicht eine Lösung. Lieber Freund, beim Diner<br />

können wir unsere Strategie weiter besprechen.»<br />

Er versenkte den Tisch, und wenige Minuten später erblickte<br />

Seckendorff einige Platten mit Muscheln und Austern, die aromatisch<br />

dufteten.<br />

«Mein Koch hat heute neue Rezepte ausprobiert, die Muscheln<br />

sind mit Parmesankäse überbacken, die Austern mit Spinat. Ein<br />

trockener Chablis schmeckt dazu am besten.»<br />

Seckendorff aß einige Muscheln und Austern, trank ein Glas<br />

Weißwein, lehnte sich zurück und sagte: «Du musst mir deinen<br />

Koch leihen, wenn ich für Jupiter Bankette arrangiere. Ich habe<br />

mir während <strong>der</strong> vergangenen Tage eine Strategie überlegt, wie ich<br />

ihn zu einem Bündnis mit dem Kaiser überreden kann. Jupiter hat<br />

bestimmt eine Schwäche für gewisse Dinge, diese Schwächen muss<br />

man nutzen. Eine Schwäche ist seine Vorliebe für Lange Kerls, gibt<br />

es weitere Schwächen?»<br />

«Ja, er liebt Bankette, wo teure Delikatessen serviert werden,<br />

zum Beispiel Austern, diese Bankette dürfen ihn natürlich nichts<br />

kosten, kurz: er liebt Einladungen zu opulenten und kostspieligen<br />

Diners.»<br />

«Das ist kein Problem, ich werde ihn an einem Tag in <strong>der</strong> Woche<br />

zu einem Bankett einladen, und ich werde ihm Lange Kerls besorgen,<br />

in Ungarn wimmelt es von diesen Burschen.»<br />

Grumbkow trank einen Schluck Wein und erwi<strong>der</strong>te: «Bankette<br />

und Lange Kerls werden nicht genügen, um Jupiter zu einem<br />

314


Bündnis mit dem Kaiser zu überreden. Du musst versuchen, ihn<br />

täglich zu begleiten, du musst an seiner Seite sein, das ist die einzige<br />

Möglichkeit, ihn zu beeinfl ussen und ihn zu überzeugen, dass<br />

ein Bündnis mit dem Kaiser für Preußen <strong>der</strong> richtige Weg ist.»<br />

Seckendorff lächelte spöttisch: «Nun, das Problem ständig an<br />

seiner Seite zu sein, ist inzwischen geklärt. Ich versuche schon<br />

seit Tagen, den König persönlich zu sprechen, heute gelang es mir<br />

endlich, und was glaubst du, was Jupiter mir anbot?<br />

Er lud mich ein, regelmäßig an seinem Tabakskollegium teilzunehmen,<br />

er lud auch zu seinen Jagden ein, er lud mich ein, ihn<br />

auf seinen Inspektionsreisen zu begleiten, unter diesen Voraussetzungen<br />

dürfte es nicht schwierig sein, ihn zu einem Bündnis mit<br />

dem Kaiser zu überreden.»<br />

«Gewiss, aber die Jagdausfl üge und die Reisen des Königs sind<br />

sehr anstrengend, wirst du sie durchhalten?»<br />

«Nun, wenn es für mich zu anstrengend wird, entferne ich mich<br />

für einige Wochen vom Hof und begebe mich in ein Kurbad.»<br />

Grumbkow versenkte den Tisch, und wenig später tauchte eine<br />

dampfende Suppe auf, die aromatisch duftete.<br />

«Aha», sagte Grumbkow, «die Krabbensuppe, die Krabben wurden<br />

am Nachmittag frisch aus Hamburg geliefert.»<br />

Sie löffelten schweigend die Suppe, dann sah Grumbkow seinen<br />

Gast an: «Dein Auftrag, die englischen Heiraten zu verhin<strong>der</strong>n,<br />

ist schwieriger. In dieser Angelegenheit ist die Königin dein Gegner,<br />

um nicht zu sagen: dein Feind. Sie wünscht eine Doppelheirat,<br />

nämlich die Vermählung ihrer ältesten Tochter mit dem Herzog<br />

von Gloucester und die Vermählung des Kronprinzen mit <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Amalie. Während <strong>der</strong> letzten Monate haben sich am Hof<br />

zwei Parteien gebildet: Eine Partei ist für die Doppelheirat, zu dieser<br />

Gruppe gehören einige Familien des märkischen Adels, die an<strong>der</strong>e<br />

Gruppe ist gegen die familiäre Verbindung mit England. Der<br />

König schwankt im Augenblick zwischen den beiden Parteien.»<br />

Seckendorff überlegte: «Weißt du, wie man in London über diese<br />

Angelegenheit denkt?»<br />

«Der englische König ist bereit, über eine Vermählung <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Wilhelmine mit dem Herzog von Gloucester zu verhandeln;<br />

sein Sohn, <strong>der</strong> Prinz von Wales, wünscht vor allem eine Doppel-<br />

315


heirat, weil er hofft, dadurch den preußischen Kronprinzen in die<br />

Abhängigkeit von England zu bringen.<br />

Jupiter ist mit einer Vermählung seiner Tochter mit dem englischen<br />

Prinzen einverstanden, gleichwohl än<strong>der</strong>t er in dieser Frage<br />

hin und wie<strong>der</strong> seine Meinung, eines aber ist sicher: Er wünscht<br />

keine Doppelheirat, weil er befürchtet, dass eine englische Prinzessin<br />

sich nicht an den sparsamen preußischen Hof gewöhnen kann<br />

und den Staat durch ihren Luxus ruinieren wird.»<br />

Seckendorff antwortete: «Man müsste beide Höfe davon überzeugen,<br />

dass die Prinzessin Wilhelmine und ihr Cousin nicht zueinan<strong>der</strong><br />

passen, so könnte man die Heirat verhin<strong>der</strong>n, und vielleicht<br />

wird dadurch auch die Heirat des Kronprinzen verhin<strong>der</strong>t.»<br />

«Wie soll man dies arrangieren?»<br />

«Es ist ganz einfach: In Berlin müssen negative Berichte über<br />

den englischen Prinzen eintreffen, und in London muss über die<br />

preußische Prinzessin negativ berichtet werden.»<br />

Grumbkow überlegte: «Ihr Plan ist realisierbar, aber wir müssten<br />

den preußischen Gesandten in London bestechen: Er muss uns<br />

negative Berichte über den englischen Prinzen schicken, und wir<br />

müssen negative Berichte über die Prinzessin nach England schicken.»<br />

Seckendorff erwi<strong>der</strong>te: «Ich werde Ihrem Gesandten Reichenbach<br />

in London einen Posten in Wien garantieren für den Fall, dass<br />

unser Plan bekannt wird. Ich werde Reichenbach mitteilen, dass<br />

die Prinzessin Wilhelmine stumpfsinnig, kupfrig und ekelhaft ist.<br />

Dies soll er dem Prinzen von Wales mitteilen.<br />

Reichenbach muss in den Berichten an Jupiter schreiben, dass<br />

die Prinzessin Amalie von Tag zu Tag hässlicher wird und dass<br />

<strong>der</strong> junge Herzog ein ausschweifendes Leben mit Kurtisanen und<br />

Ballettmädchen führt, ferner, dass England nur an <strong>der</strong> Doppelhochzeit<br />

interessiert ist, um auf diesem Weg Preußen zum Vasall<br />

Englands zu degradieren; schließlich muss er erwähnen, dass die<br />

Welfen sich nur mühsam auf dem englischen Thron halten werden.»<br />

«Dein Plan ist vortreffl ich, und ich bin von seinem Gelingen<br />

überzeugt. Jupiter, <strong>der</strong> täppische Bär auf dem diplomatischen Parkett,<br />

wird nach unserer Musik tanzen.»<br />

316


Seckendorff trank einen Schluck Wein, überlegte einen Augenblick<br />

und fragte: «Warum hasst Jupiter den Prinzen von Wales, <strong>der</strong><br />

immerhin sein Vetter und Schwager ist?»<br />

«Warum? Nun, wenn man einem Menschen begegnet, so empfi<br />

ndet man Sympathie o<strong>der</strong> Antipathie. Jupiter hat seinen Vetter<br />

schon als Kind nicht gemocht, na ja, und dann war diese Heiratsaffäre:<br />

Jupiter verliebte sich in jungen Jahren in seine Verwandte<br />

Caroline von Ansbach und wollte sie heiraten. Sie ist fünf Jahre<br />

älter als er, aber das hat ihn nicht gestört. Seine Großmutter, die selige<br />

Kurfürstin Sophie, hat aus irgendwelchen familienpolitischen<br />

Gründen dann die Heirat zwischen Caroline und ihrem Enkel Georg,<br />

dem Prinzen von Wales, arrangiert. Dann hat sie Jupiter für<br />

ihre Enkelin Sophie Dorothea interessiert, mit Erfolg, er hat sich<br />

tatsächlich in sie verliebt, sie geheiratet, und seine eheliche Treue<br />

ist inzwischen ein Gesprächsthema an allen europäischen Höfen.<br />

Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass er seine Jugendliebe<br />

immer noch nicht vergessen hat und Caroline seinem Vetter missgönnt.»<br />

«Nun ja, so ist das Leben. Auf das Wohl des Kurfürsten von<br />

Brandenburg! Wenn ich ihn zu einem Bündnis mit dem Kaiser<br />

überreden kann, wird Seine Kaiserliche Majestät dem Kurfürsten<br />

natürlich zusichern, dass seine Ansprüche auf Jülich und Berg unterstützt<br />

werden, aber du weißt ja, Papier ist geduldig.»<br />

Grumbkow lächelte und hob sein Glas: «Auf das Wohl des Kurfürsten<br />

von Brandenburg.»<br />

317


318<br />

3<br />

An einem Nachmittag Anfang Oktober saß Sophie Dorothea<br />

mit Wilhelmine und den Hofdamen in ihrem Salon im Berliner<br />

Schloss und legte Patiencen.<br />

«Genug für heute», sagte sie, als es im Zimmer dämmerig wurde,<br />

«keine Patience ist aufgegangen, ein schlechtes Omen.»<br />

Ein Diener betrat den Salon und überreichte <strong>der</strong> Königin auf<br />

einem silbernen Tablett drei Briefe.<br />

Sophie Dorothea betrachtete sie und sagte zu Wilhelmine: «Ein<br />

Brief von Ihrem Bru<strong>der</strong>, ein Brief von Tante Caroline, ein Brief von<br />

Ihrem Vater – welchen soll ich zuerst öffnen?»<br />

«Öffnen Sie den Brief meines Bru<strong>der</strong>s, Mama.»<br />

Sophie Dorothea musterte die Tochter: «Nachrichten aus England<br />

müssten Sie am meisten interessieren», sie öffnete den Brief<br />

ihrer Schwägerin, las ihn und sagte: «Caroline schreibt über Gott<br />

und die Welt, aber sie schreibt kein Wort über Ihre Verlobung mit<br />

<strong>Friedrich</strong> Ludwig.»<br />

Sie öffnete <strong>Friedrich</strong>s Brief, las und begann plötzlich zu lachen:<br />

«Der Festungskommandant in Wesel, General von <strong>der</strong> Mosel, lud<br />

den König und sein Gefolge zum Mittagsmahl ein; <strong>der</strong> General<br />

trank anscheinend zu viel Wein. Nach <strong>der</strong> Tafel wollte man auf die<br />

Jagd reiten, aber es gelang dem General nicht, sein Pferd zu besteigen,<br />

weil Fritz ihm seine Steigbügel zu hoch schnallen ließ. Der<br />

König hat Gott sei Dank von dem Streich nichts bemerkt, sonst<br />

wäre es bestimmt wie<strong>der</strong> zu einem peinlichen öffentlichen Auftritt<br />

zwischen Vater und Sohn gekommen, Offi ziere müssen schließlich<br />

respektiert werden.»<br />

Sie las weiter und sagte: «Nun, es gibt keine Neuigkeiten, sie<br />

reisen jetzt zurück, und Fritz fi ndet die Inspektionsreisen anstrengend<br />

und langweilig, <strong>der</strong> König kontrolliert jedes Detail, sie übernachten<br />

oft in einfachen Gasthöfen, feierliche Empfänge <strong>der</strong> Städte<br />

werden nur selten geduldet, weil dies natürlich Zeitverschwendung<br />

ist, dafür unterhält <strong>der</strong> König sich ausgiebig mit Bauern und Handwerkern.»


Als sie den letzten Satz las, stutzte sie und sagte leise zu Wilhelmine:<br />

«Fritz schreibt, dass Seckendorff während <strong>der</strong> ganzen Reise<br />

immer in <strong>der</strong> Nähe des Königs war; das beunruhigt mich, ich traue<br />

dem Grafen nicht.»<br />

Wilhelmine überlegte: «Sie haben recht, Mama, dieser Seckendorff<br />

weilt als Privatmann in Berlin, warum nimmt er an einer so<br />

anstrengenden Reise teil? Wenn er unbedingt reisen will, könnte<br />

er doch auch nach Dresden, Wien, Venedig, Florenz, Rom, Paris<br />

o<strong>der</strong> London reisen.»<br />

Sophie Dorothea legte den Brief zur Seite und atmete schwer:<br />

«Vielleicht weilt er nur offi ziell als Privatmann in Berlin, vielleicht<br />

ist er inoffi ziell ein Spion des Wiener Hofes.»<br />

«Angenommen, Ihre Vermutung ist richtig, was könnte sein<br />

Auftrag sein?»<br />

«Ich weiß es nicht, aber wenn er nach <strong>der</strong> Rückkehr immer noch<br />

um den König herumscharwenzelt, werde ich es herausfi nden.»<br />

Sie öffnete den Brief des Gatten, überfl og den Inhalt und sagte<br />

seufzend: «Meine Damen, ich hoffte, dass uns in diesem Herbst<br />

<strong>der</strong> Aufenthalt in Wusterhausen erspart bleibt, aber <strong>der</strong> König<br />

wird am 10. o<strong>der</strong> 11. Oktober dort eintreffen, und er erwartet,<br />

dass wir anwesend sind. Mon Dieu, mir bleibt wahrhaftig nichts<br />

erspart.»<br />

Als Sophie Dorothea am Abend des 11. Oktober mit ihren Damen<br />

und Kin<strong>der</strong>n das Jagdschloss verließ und zu <strong>der</strong> gedeckten Tafel<br />

unter den Bäumen schritt, rumpelte die Kutsche des Königs in<br />

den Hof.<br />

Sie blieb stehen, beobachtete, wie ihr Mann, Seckendorff und<br />

<strong>Friedrich</strong> die Kutsche verließen, und atmete erleichtert auf, als sie<br />

die entspannten Gesichtszüge des Gatten sah.<br />

Gott sei Dank hat er gute Laune, dachte sie, dann bemerkte sie<br />

den trotzigen Blick ihres Sohnes und spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog.<br />

Wahrscheinlich hat es wie<strong>der</strong> Streit zwischen Vater und Sohn<br />

gegeben, dachte sie, mein Gott, wie soll dies weitergehen?<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm zog seine Frau an sich und fl üsterte: «Du hast<br />

mir gefehlt, Fiekchen», dann umarmte er die Töchter und sagte zu<br />

319


Seckendorff: «Meine kleinen Mädchen werden allmählich junge<br />

Damen, und Wilhelmine ist bereits eine junge Dame.»<br />

Er hob den kleinen August Wilhelm hoch, wirbelte ihn durch die<br />

Luft und rief: «Mein Hulla, endlich sehe ich dich wie<strong>der</strong>, ich hatte<br />

Sehnsucht nach dir.»<br />

Er bedeckte das kleine Gesicht mit Küssen, stellte ihn auf den<br />

Boden, musterte dann den Kronprinzen und schrie plötzlich: «Was<br />

stehst du hier herum? Los, cito, cito, wasche dir Gesicht und Hände,<br />

bevor du an <strong>der</strong> Tafel erscheinst!»<br />

Sophie Dorothea sah dem Gatten besorgt nach, als er, gefolgt<br />

von Seckendorff, <strong>Friedrich</strong>, Grumbkow und einigen Offi zieren, in<br />

das Schloss eilte, dann nahm sie seufzend an <strong>der</strong> Tafel ihren Platz<br />

ein.<br />

Nach ungefähr zehn Minuten kehrten <strong>der</strong> König, <strong>Friedrich</strong> und<br />

die übrigen Herren zurück.<br />

Als <strong>der</strong> Kronprinz sich auf den Stuhl links neben <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

setzen wollte, ergriff <strong>der</strong> Vater den rechten Arm des Sohnes<br />

und schrie: «Dein Platz ist nicht länger an meiner Seite, du wirst<br />

ab heute am unteren Ende <strong>der</strong> Tafel sitzen, <strong>der</strong> Platz neben mir<br />

gebührt deinem jüngeren Bru<strong>der</strong> August Wilhelm!»<br />

<strong>Friedrich</strong> erbleichte und ging schweigend zum unteren Tafelende.<br />

Die Damen und Herren sahen einan<strong>der</strong> verlegen an, dann holte<br />

Sophie Dorothea Luft und fragte: «Mon Dieu, was ist passiert? Warum<br />

darf <strong>der</strong> Kronprinz nicht mehr neben Ihnen sitzen?»<br />

«Warum?», brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «<strong>der</strong> verzärtelte Bengel<br />

hat sich während <strong>der</strong> Reise unmöglich benommen, es war einfach<br />

skandalös. In Magdeburg weigerte er sich, das Geldgeschenk <strong>der</strong><br />

Stadt anzunehmen, das <strong>der</strong> Kronprinz bei seinem ersten Besuch<br />

erhält. Ich zwang ihn, die Taler zu behalten, woraufhin <strong>der</strong> junge<br />

Herr den Stadtvätern versicherte, er werde das Geld bis zu seiner<br />

Thronbesteigung verwahren und es dann den Bürgern, die ohnehin<br />

viele Abgaben entrichteten, zurückgeben.»<br />

Die Anwesenden sahen einan<strong>der</strong> erstaunt an, und Frau von Kamecke<br />

rief: «Majestät, Seine Königliche Hoheit hat selbstlos und<br />

barmherzig gehandelt!»<br />

«Sie haben recht», sagte Sophie Dorothea, und zu dem Gatten:<br />

«Sie sollten stolz auf <strong>Friedrich</strong> sein, er denkt schon jetzt an das<br />

320


Wohl seiner künftigen Untertanen, soviel ich weiß, ist dies doch<br />

ein Ziel Ihrer Erziehung: Der preußische König denkt zuerst an das<br />

wirtschaftliche Wohl seiner Untertanen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte die Gattin und erwi<strong>der</strong>te ärgerlich:<br />

«Der Bengel ist ein Heuchler, er denkt nicht an das Wohl <strong>der</strong><br />

Untertanen, er buhlt um ihre Gunst wie einst Absalom, Absalom<br />

wollte beliebter sein als sein Vater, <strong>der</strong> König David. Im zweiten<br />

Buch Samuel, im fünfzehnten Kapitel, Vers fünf und sechs steht<br />

geschrieben: ‹Und wenn jemand sich zu ihm tat, dass er wollte vor<br />

ihm nie<strong>der</strong>fallen, so reckte er seine Hand aus und ergriff ihn und<br />

küsste ihn. Auf diese Weise tat Absalom dem ganzen Israel, wenn<br />

sie kamen vor Gericht zum König, und stahl also das Herz <strong>der</strong><br />

Männer Israels.›»<br />

«Mon Dieu», rief die Königin, «das bilden Sie sich ein! Kein<br />

Welfe hat je um die Gunst <strong>der</strong> Untertanen gebuhlt, das ist einfach<br />

unter <strong>der</strong> Würde <strong>der</strong> Welfen.»<br />

«Die Welfen!», schrie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Der Bengel hat den<br />

Stolz und Hochmut <strong>der</strong> Welfen geerbt und das Bewusstsein, etwas<br />

Besseres zu sein, vor allem hat er die Allüren <strong>der</strong> Welfen geerbt!»<br />

Er holte tief Luft und fuhr fort: «Dies ist noch nicht alles. Während<br />

<strong>der</strong> Rückreise kamen wir gegen Mittag in eine kleine Stadt,<br />

und ich befahl meinem Gefolge, in dem einzigen Gasthof bereits<br />

mit <strong>der</strong> Mahlzeit zu beginnen, und begab mich zu dem Bürgermeister,<br />

um zu hören, ob er irgendwelche Wünsche hat. Die Unterredung<br />

dauerte nicht lange, ich kehrte in den Gasthof zurück,<br />

und was sehe ich? Mein ungeratener Sohn benutzt ein silbernes<br />

Besteck, er isst mit einer dreizinkigen silbernen Gabel! Ich nahm<br />

ihm das Besteck weg, es wird in <strong>der</strong> Silberkammer aufbewahrt, um<br />

in Notzeiten eingeschmolzen zu werden. Ich fragte ihn, wie er zu<br />

dem Besteck gekommen ist, aber <strong>der</strong> verstockte Bengel hat bis jetzt<br />

geschwiegen; ich versuchte, die Antwort aus ihm herauszuprügeln,<br />

umsonst.»<br />

«Mon Dieu, Sie haben meinen Sohn geprügelt, nur weil er mit<br />

einer dreizinkigen silbernen Gabel aß?»<br />

«Ja, ein preußischer König isst mit einer zweizinkigen Gabel aus<br />

Zinn. Wir Preußen sind arme Leute und können uns kein Silber<br />

leisten. Die Prügel wird <strong>der</strong> Französling hoffentlich nicht verges-<br />

321


sen, und wenn ich ihn noch einmal mit einer dreizinkigen silbernen<br />

Gabel erwische, bekommt er die Peitsche zu spüren!»<br />

«Nein!», schrie Sophie Dorothea. «Sie werden es nicht wagen,<br />

Ihren eigenen Sohn auszupeitschen, obwohl, allmählich traue ich<br />

Ihnen alles zu. Haben Sie nicht vor einigen Monaten ein Pferd zum<br />

Reiten für ihn ausgesucht, das, nach <strong>der</strong> Meinung des Stallmeisters,<br />

noch nicht gut zugeritten war? Als das Pferd mit meinem Sohn<br />

durchging, war er so geistesgegenwärtig, die Bügel loszulassen und<br />

sich zu Boden zu werfen. Dabei verletzte er sich an den Knien, an<br />

<strong>der</strong> Hüfte und am Hals. Der Degenkorb schlug ihm so heftig an<br />

die Rippen, dass er Blut spuckte. Sie haben seinen gesundheitlichen<br />

Zustand ignoriert und ihm befohlen, dass er am nächsten Tag beim<br />

Aufziehen <strong>der</strong> Wache erscheinen soll. Mein Sohn gehorchte, aber<br />

wegen <strong>der</strong> Verletzungen war er unfähig, den Uniformrock anzuziehen.»<br />

Die Anwesenden starrten den König an, und für den Bruchteil<br />

einer Sekunde dachte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, dass er seinen Ältesten<br />

manchmal zu hart behandelte, aber sofort quoll erneut Wut über<br />

diesen Sohn in ihm empor, und er schrie die Königin an: «Schweigen<br />

Sie endlich!»<br />

«Nein, ich werde nicht schweigen! Hören Sie, ich habe meinem<br />

Sohn das Silberbesteck vor Beginn <strong>der</strong> Reise geschenkt; während<br />

einer Reise können Situationen entstehen, wo er auf ein eigenes<br />

Besteck angewiesen ist, und für einen Welfen ist dann nur Silber<br />

angemessen und nicht Zinn, die Welfen legen Wert auf Repräsentation,<br />

das unterscheidet sie Gott sei Dank von den Hohenzollern,<br />

genauer gesagt: von Ihnen, denn Ihr seliger Vater verstand es zu<br />

repräsentieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte auf die Tischdecke und schwieg, die<br />

Hofl eute sahen einan<strong>der</strong> verlegen an, Seckendorffs Augen wan<strong>der</strong>ten<br />

zwischen dem König und <strong>der</strong> Königin umher, und er dachte:<br />

An diesem Hof werden Familienkonfl ikte offen ausgetragen, und<br />

man weiß, woran man ist; allerdings wird mein Auftrag erschwert,<br />

weil ich nicht lavieren kann, son<strong>der</strong>n mich für eine Partei offen<br />

entscheiden muss; den König konnte ich während <strong>der</strong> Reise bearbeiten<br />

und ihm einträufeln, welches Bündnis für Preußen vorteilhaft<br />

ist.<br />

322


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat hinter den Stuhl August Wilhelms, legte<br />

die Hände auf die Schultern des Kindes und sagte: «Mein Hulla,<br />

sprich das Tischgebet.»<br />

August Wilhelm faltete die Hände: «Vater, segne diese Speise<br />

uns zur Kraft und Dir zum Preise. Komm, Herr Jesu, sei unser<br />

Gast und segne, was Du uns bescheret hast. Amen.»<br />

Während <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> betete, betrachtete <strong>Friedrich</strong> verstohlen die<br />

Miene des Vaters und spürte, wie erneut Hass und Verachtung in<br />

ihm emporstiegen.<br />

Er demütigt mich vor aller Augen, dachte er, ich kann mich nicht<br />

wehren, wahrscheinlich empfi nden die Offi ziere und Hofl eute Mitleid<br />

für mich, aber das ist nur ein schwacher Trost, er liebt Hulla<br />

mehr als mich; nun, ich werde von Mama geliebt, ich mag Hulla<br />

nicht beson<strong>der</strong>s und habe ihn bisher kaum beachtet, aber ich muss<br />

aufpassen, er darf nicht mein Feind werden. Wenn er älter ist, kann<br />

er vielleicht einmal nützlich sein bei einer Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

zwischen Papa und mir, und es wird weitere Streitereien geben.<br />

Mein Gott, diese fromme Miene Papas beim Gebet ist einfach wi<strong>der</strong>lich,<br />

er ist kein Heuchler, seine Frömmigkeit ist echt, aber sie ist<br />

auch simpel, kindlich, nun ja, ihm fehlt eben <strong>der</strong> Esprit. Wie schön<br />

wäre es, einen Vater zu haben wie Duhan, mit dem man sich vernünftig<br />

unterhalten könnte.<br />

Zwei Lakaien kamen mit großen Suppenterrinen und füllten die<br />

Teller. Als einer zu <strong>Friedrich</strong> kam, war die Terrine fast leer, und die<br />

Gemüsesuppe bedeckte nur den Boden des Tellers.<br />

«Mit Verlaub, Königliche Hoheit, ich bitte um etwas Geduld. Ich<br />

eile in die Küche und hole noch Suppe.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm horchte auf, ließ den Löffel sinken und rief:<br />

«Das ist nicht nötig, die Suppe reicht für meinen Sohn, im Übrigen<br />

ist er ein Feinschmecker, <strong>der</strong> einfache nahrhafte Speisen verachtet!»<br />

Die Anwesenden sahen verlegen auf ihre Teller und aßen schweigend<br />

weiter.<br />

Sophie Dorothea ließ den Löffel sinken und überlegte: Will er<br />

<strong>Friedrich</strong> hungern lassen und ihn dadurch zur Raison bringen?<br />

Sie verspürte plötzlich keinen Appetit mehr und winkte einen<br />

323


<strong>der</strong> Diener zu sich: «Meine Suppe ist noch heiß, bringe Er sie dem<br />

Kronprinzen.»<br />

«Nein!», schrie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «<strong>der</strong> Bengel muss endlich<br />

lernen, dass Hunger <strong>der</strong> beste Koch ist!»<br />

Sophie Dorothea sah resigniert auf ihren Teller, und an <strong>der</strong> Tafel<br />

verbreitete sich eine beklemmende Stille.<br />

Nach einer Weile brachten die Lakaien Platten, auf denen sich<br />

dicke, knusprige Scheiben Schweinebraten türmten, und Schüsseln,<br />

die bis zum Rand mit Weißkohl und Speck gefüllt waren.<br />

Beim Duft <strong>der</strong> Speisen merkte <strong>Friedrich</strong>, wie hungrig er nach <strong>der</strong><br />

anstrengenden Reise war, und sein Magen begann zu knurren.<br />

Der Lakai legte eine Scheibe Fleisch auf <strong>Friedrich</strong>s Teller, und<br />

als er eine zweite Scheibe nahm, rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Das ist<br />

genug, mein Sohn kann sich an Gemüse satt essen, das ist gesün<strong>der</strong><br />

als Fleisch!»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Königliche Hoheit», fl üsterte <strong>der</strong> Diener<br />

und eilte zurück in die Küche.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die Schüssel mit Weißkohl: Ich habe Hunger,<br />

dachte er, ich würde heute sogar diesen grässlichen Kohl essen,<br />

aber diesen Triumph soll Papa nicht haben. Er sah den Lakaien an,<br />

lächelte und sagte: «Ein Löffel Gemüse bitte, das genügt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete misstrauisch den Sohn, <strong>der</strong> langsam<br />

Fleisch und Gemüse verspeiste, dann das Besteck auf den Teller<br />

legte, mit <strong>der</strong> Serviette die Lippen abtupfte und dann laut zu<br />

seinem Nachbarn sagte: «Der Braten und das Gemüse waren köstlich,<br />

aber man darf nur wenig davon essen, weil Schweinefl eisch<br />

und Kohl schwer verdaulich sind.»<br />

Dann wan<strong>der</strong>ten seine Augen zu dem Vater, und als er sah, wie<br />

dieser gierig mehrere Portionen Fleisch und Gemüse verschlang,<br />

lächelte er spöttisch.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm leerte sein Weinglas: Hat <strong>der</strong> Bengel wirklich<br />

keinen Hunger o<strong>der</strong> spielt er mir eine Komödie vor, dachte er<br />

erbost.<br />

Als die Diener Pfl aumenkuchen servierten, sagte <strong>Friedrich</strong>:<br />

«Danke, ich möchte kein Dessert, ich bin satt.»<br />

Sophie Dorothea betrachtete ihren Sohn mit Genugtuung. Er<br />

wehrt sich sehr diplomatisch, dachte sie, er gibt meinem Mann kei-<br />

324


nen Anlass zu einem Wutausbruch, und in dieser Runde stehen<br />

wahrscheinlich alle innerlich auf <strong>der</strong> Seite des Thronfolgers.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte verärgert auf den Kuchen.<br />

Der Bengel ist nicht kleinzukriegen, dachte er, aber ich werde<br />

ihn mir unterwerfen, mit allen Mitteln.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> an jenem Abend das Tabakskollegium betrat, verweilte<br />

er einige Sekunden verblüfft an <strong>der</strong> Türschwelle und betrachtete<br />

erstaunt seinen Vater, <strong>der</strong> laut lachte, als Seckendorff einen<br />

Witz erzählte.<br />

Er wirkt so heiter und gelöst, dachte <strong>Friedrich</strong>, er wirkt, als ob<br />

eine Last von ihm abgefallen ist.<br />

Er setzte sich auf seinen Platz, spürte, dass sein Magen leise<br />

knurrte, und sah verstohlen zu dem Tisch in <strong>der</strong> Ecke, wo Brot,<br />

Butter und Tilsiter Käse standen.<br />

Ich könnte später ein Käsebrot essen, dachte er, nein, ich habe<br />

den Käse bisher ignoriert, wenn ich jetzt davon esse, merkt Papa,<br />

dass ich hungrig bin, diesen Triumph gönne ich ihm nicht.<br />

In diesem Augenblick hob <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sein Glas, betrachtete<br />

die Offi ziere ernst und feierlich und sagte langsam: «Meine<br />

Herren, ich bitte Sie, über das, was ich Ihnen jetzt mitteile, zu<br />

schweigen.<br />

England und Frankreich haben mich im vorigen Jahr durch<br />

große Versprechungen auf ihre Seite gezogen. Sie wollten mich in<br />

ein Bündnis ziehen, das den Kaiser über den Haufen werfen soll,<br />

wobei ich für sie die Kastanien aus dem Feuer holen muss. Ich will<br />

aber mit England und Frankreich gar nichts zu tun haben. Ich will<br />

auf die Seite des Kaisers treten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah überrascht auf und beobachtete, dass Seckendorffs<br />

Augen triumphierend lächelten.<br />

Der König blickte Seckendorff an und rief: «Die Anwartschaft<br />

auf Jülich und Berg aber muss ich haben!»<br />

Der Graf erhob sich und verbeugte sich vor dem König: «Selbstverständlich,<br />

Majestät, Seine kaiserliche Majestät wird Ihnen dies<br />

schriftlich garantieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stand auf: «Auf das Wohl des Kaisers, auf<br />

Germania teutscher Nation! Meine lieben Blauröcke, sie stehen<br />

325


dem Kaiser allesamt zur Verfügung! Ich begrüße die Freundschaft<br />

zwischen dem Kaiser und Russland von Herzen und offeriere mich<br />

auf billige Condition zum dritten Mann. Dann wollen wir doch<br />

sehen, wer uns dreien etwas anhaben kann!»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte den Vater an und versuchte, seine Gedanken<br />

zu ordnen, aber <strong>der</strong> nun einsetzende Lärm, die Trinksprüche und<br />

das Stimmengewirr versetzten ihn in eine innere Unruhe, die erst<br />

allmählich nachließ, als er das Tabakskollegium zu später Stunde<br />

verließ.<br />

Als er sein Zimmer betrat, blieb er überrascht stehen.<br />

Auf dem Tisch standen eine Platte mit kaltem Schweinebraten, ein<br />

Teller mit Brot, Butter und eine Flasche französischer Rotwein.<br />

Er sah fragend zu Sternemann, <strong>der</strong> Leibwäsche in die Truhe<br />

legte.<br />

«Königliche Hoheit, Ihre Majestät hat Ihnen die Speisen geschickt.»<br />

«Danke, Er kann gehen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> trat zu dem Tisch, nahm den Brief, <strong>der</strong> neben dem Teller<br />

lag, und öffnete ihn.<br />

«Mein geliebter Sohn, als Mutter habe ich unendlich gelitten, als<br />

ich vorhin erleben musste, wie Ihr herzloser, geiziger Vater Sie behandelte.<br />

Ich schicke Ihnen das, was Ihr Vater Ihnen nicht gönnte,<br />

weil Sie bestimmt hungrig sind. Falls Sie künftig an <strong>der</strong> Tafel nicht<br />

genügend bekommen, so werde ich Sie versorgen. Der Rotwein gehört<br />

zu meinen privaten Reserven, wovon Ihr Vater nichts weiß.<br />

Graf Rothenburg besorgt mir Wein aus Frankreich, überdies ist<br />

er mein Verbündeter, was die englische Doppelhochzeit betrifft.<br />

Seien Sie guten Mutes, Sie und Wilhelmine werden Amalie und<br />

den Herzog von Gloucester heiraten!<br />

Ihre Mutter, die Sie über alles liebt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> verwahrte den Brief in einem Geheimfach seines Tisches,<br />

dann setzte er sich, schnitt eine Scheibe von dem Brotlaib ab,<br />

butterte sie, belegte sie mit Fleisch, goss sich ein Glas Rotwein ein<br />

und begann nachdenklich zu essen.<br />

Papas Rede vorhin, überlegte er, bedeutet, dass er ein Bündnis<br />

mit dem Kaiser will; falls es zu diesem Bündnis kommt, was wird<br />

dann aus <strong>der</strong> englischen Heirat?<br />

326


Warum ist er auf einmal bereit, ein Bündnis mit dem Kaiser zu<br />

schließen? Hat Seckendorff ihn überredet? Seckendorff ist kein offi<br />

zieller Gesandter, das schließt jedoch nicht aus, dass er inoffi ziell<br />

im Auftrag des Wiener Hofes hier weilt. Mein Gott, wie lange noch<br />

soll Preußen die Vormundschaft Habsburgs ertragen?!<br />

327


328<br />

4<br />

Als <strong>Friedrich</strong> am nächsten Vormittag sein Zimmer verließ,<br />

um sich in den Hof zur Jagdgesellschaft zu begeben, kam ihm Kalckstein<br />

auf <strong>der</strong> Treppe entgegen.<br />

«Königliche Hoheit, ich überbringe Ihnen eine Nachricht, die<br />

Sie wahrscheinlich erfreut: Die Jagd fällt aus. Der König hat sich<br />

um sieben Uhr in sein Arbeitszimmer begeben, Graf Seckendorff<br />

weilt bei Seiner Majestät, es scheint sich um eine wichtige Unterredung<br />

zu handeln. Seine Majestät hat angeordnet, dass Sie heute<br />

von Monsieur Duhan unterrichtet werden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Gouverneur erstaunt an: «Seckendorff hat eine<br />

wichtige Unterredung mit meinem Vater?»<br />

Er ging langsam zurück in sein Zimmer, trat zum Fenster und<br />

sah eine Weile nachdenklich in den menschenleeren Hof und versuchte,<br />

seine Gedanken zu ordnen.<br />

Seckendorff weilt privat in Berlin, dachte er, was bespricht er mit<br />

Papa?<br />

Die Stimme seines Kammerdieners unterbrach seine Gedanken:<br />

«Königliche Hoheit, Monsieur Duhan ist hier, um den Unterricht<br />

zu beginnen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> eilte zu dem Lehrer und umarmte ihn: «Mon Dieu, Sie<br />

erlösen mich von <strong>der</strong> entsetzlichen Parforcejagd!»<br />

«Königliche Hoheit, ich bitte Sie um Verständnis: Der Befehl,<br />

Sie heute zu unterrichten, kam für mich völlig unerwartet, ich<br />

bitte um Vergebung, dass ich Ihren Unterricht nicht vorbereiten<br />

konnte.»<br />

«Das ist unwichtig», er zögerte einen Moment, dann sah er seinen<br />

Lehrer an: «Mein Vater bespricht mit Seckendorff seit dem frühen<br />

Morgen irgendwelche Dinge, ich vermute, dass es sich um außenpolitische<br />

Angelegenheiten handelt, was ist Ihre Meinung?»<br />

Duhan sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an, dann ging er langsam im Zimmer<br />

auf und ab und erwi<strong>der</strong>te: «Ich teile Ihre Meinung, Königliche<br />

Hoheit. Ich habe den Grafen während unserer Reise beobachtet: Er<br />

war ständig in <strong>der</strong> Nähe Seiner Majestät, er genießt inzwischen


das völlige Vertrauen des Königs. Ich will offen zu Ihnen sein: Ich<br />

traue dem Grafen nicht, er verfolgt ein Ziel, aber ich weiß nicht,<br />

welches Ziel er verfolgt.»<br />

«Auch ich traue ihm nicht, wahrscheinlich weilt er im Auftrag<br />

des Wiener Hofes bei uns; aber warum? Mein Vater hat sich stets<br />

loyal gegenüber dem Haus Habsburg verhalten.»<br />

«Königliche Hoheit, es ist zwecklos, dass Sie jetzt darüber nachdenken,<br />

wahrscheinlich werden wir in einigen Stunden mehr wissen<br />

o<strong>der</strong> auch nicht, aber irgendwann werden Sie erfahren, was Seine<br />

Majestät mit dem Grafen besprochen hat. Ich bringe Ihnen Lektüre<br />

für den Vormittag, es wird allmählich Zeit, dass Sie sich mit einigen<br />

französischen Dichtern beschäftigen, ich meine damit Corneille, Racine<br />

und Molière. Sie sollten mit Molière beginnen. Seine Komödien<br />

werden Sie amüsieren, weil er in ihnen gewisse menschliche Schwächen<br />

aufzeigt, zum Beispiel Geiz o<strong>der</strong> religiöse Heuchelei. Lesen Sie<br />

heute den ‹Tartuffe›, in dieser Komödie geht es um einen religiösen<br />

Heuchler. Das Stück war zunächst in Frankreich verboten mit <strong>der</strong><br />

Begründung, Predigen sei nicht Sache des Theaters, erst nach dem<br />

Kirchenfrieden zwischen Ludwig XIV. und dem Papst wurde das<br />

Verbot, den Tartuffe aufzuführen, aufgehoben. Inzwischen ist es<br />

eines <strong>der</strong> erfolgreichsten Stücke Molières geworden.»<br />

Während <strong>Friedrich</strong> las, blätterte Duhan im «Theatrum Europaeum»,<br />

und sagte nach einiger Zeit: «Königliche Hoheit, Sie werden<br />

sich in den Monaten bis zu Ihrer Konfi rmation, also bis zum Frühjahr<br />

1727, intensiv mit <strong>der</strong> Bündnispolitik Ihres Urgroßvaters, des<br />

Großen Kurfürsten, beschäftigen. Ihr Urgroßvater war ein hervorragen<strong>der</strong><br />

Diplomat. Er focht an <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Schweden gegen die<br />

Polen, dann gegen die Schweden, er focht mit dem Kaiser und gegen<br />

ihn, er stand an <strong>der</strong> Seite des Sonnenkönigs und war irgendwann<br />

sein Gegner, Ihr Urgroßvater war auf dem Schlachtfeld ein Held<br />

und bei den Friedensverhandlungen ein Diplomat. Seine Bündnispolitik<br />

hat das Kurfürstentum Brandenburg vor dem Untergang<br />

bewahrt. Sie sind <strong>der</strong> künftige preußische König, auch Sie werden<br />

um Ihr Reich kämpfen müssen. Studieren Sie die Diplomatie Ihres<br />

Urgroßvaters gründlich, Sie müssen die diplomatischen Regeln beherrschen,<br />

wenn Sie Ihren Staat vor dem Zugriff feindlicher Mächte<br />

bewahren wollen.»<br />

329


<strong>Friedrich</strong> sah Duhan einen Augenblick an und erwi<strong>der</strong>te: «Ich<br />

teile Ihre Meinung. Eine solche Politik bedeutet natürlich, dass man<br />

sich verstellen und lügen muss, nun, das wird mir nicht schwerfallen,<br />

ich übe ja bereits jetzt die Kunst <strong>der</strong> Verstellung gegenüber<br />

meinem Vater; obwohl, ich muss mich stets überwinden, weil ich<br />

manchmal meinen Hass und meine Verachtung, die ich empfi nde,<br />

offen zeigen möchte.»<br />

«Königliche Hoheit, ich rate Ihnen, sich zu beherrschen. Ihr Vater<br />

besitzt die Macht, er kann mit Ihnen machen, was er will.»<br />

<strong>Friedrich</strong> seufzte und las weiter.<br />

Gegen halb zwölf sah er auf und sagte: «Monsieur Duhan, <strong>der</strong><br />

Graf Seckendorff ist ein Tartuffe, er ist ein Heuchler.»<br />

«Mit Verlaub, Königliche Hoheit, ich teile Ihre Meinung, aber<br />

ich hoffe im Interesse Preußens, dass Sie sich irren.»<br />

Einige Minuten vor zwölf Uhr begab Sophie Dorothea sich in Begleitung<br />

ihrer Damen zur Tafel.<br />

Während sie über den Hof gingen, sagte sie leise zu Wilhelmine:<br />

«Dieser wi<strong>der</strong>liche, schleimige Seckendorff ist immer noch beim<br />

König, und seit ungefähr zwei Stunden sind auch Ilgen und Grumbkow<br />

bei den beiden, das hat mir die Ramen erzählt, als sie vorhin<br />

meine Frisur richtete.»<br />

Wilhelmine blieb abrupt stehen: «Ilgen, Mama? Mon Dieu, dann<br />

geht es um auswärtige Angelegenheiten, vielleicht – vielleicht geht<br />

es um meine Heirat.»<br />

«Vielleicht, vielleicht auch nicht.»<br />

Sophie Dorothea schritt eilig zur Tafel, setzte sich und spürte<br />

plötzlich ein fl aues Gefühl im Magen. Diese Unterredung mit Seckendorff<br />

hat nichts zu bedeuten, dachte sie, und als nun <strong>Friedrich</strong><br />

und Duhan erschienen, nickte sie beiden lächelnd zu, aber als sie<br />

sah, dass <strong>Friedrich</strong> sich an das untere Ende <strong>der</strong> Tafel setzte und<br />

wenig später <strong>der</strong> kleine August Wilhelm sich links neben den Platz<br />

des Königs setzte, da krampfte sich ihr Herz zusammen und sie<br />

spürte, wie ein ungutes Gefühl in ihr aufstieg.<br />

Einige Minuten nach zwölf Uhr sah sie den Gatten in Begleitung<br />

Seckendorffs, Ilgens und Grumbkows zur Tafel schreiten, und<br />

einem Instinkt folgend vermied sie es, die Herren anzusehen, und<br />

330


Wilhelmine folgte ihrem Beispiel und sah auf ihren Teller. <strong>Friedrich</strong><br />

betrachtete erstaunt die strahlenden Augen seines Vaters: Er<br />

wirkt so heiter, so gelöst, er sieht aus, als ob er von einem inneren<br />

Druck befreit ist, dachte er, und dann wan<strong>der</strong>ten seine Augen langsam<br />

zu den Begleitern des Königs: Seckendorff und Grumbkow<br />

wirken zufrieden, in ihren Gesichtern spiegelt sich eine gewisse<br />

Genugtuung. Und Ilgen? Seine Miene ähnelt einer undurchdringlichen<br />

Maske.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat hinter den Stuhl August Wilhelms und<br />

rief zu einem <strong>der</strong> Diener: «Serviere Er Tokaier zur Feier des Tages!»<br />

Die Hofl eute sahen einan<strong>der</strong> erstaunt an, und Sophie Dorothea<br />

und Wilhelmine streiften den König mit einem unsicheren Seitenblick.<br />

Während die Lakaien Tokaier einschenkten, sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm:<br />

«Bevor mein Hulla das Gebet spricht, möchte ich mitteilen,<br />

dass ich heute, am 12. Oktober des Jahres 1726, einen Vertrag mit<br />

dem Kaiser geschlossen habe. In diesem Vertrag bestätige ich die<br />

‹Pragmatische Sanktion›, nämlich die weibliche Erbfolge des Hauses<br />

Habsburg, dies bedeutet, dass <strong>der</strong> künftige Gatte <strong>der</strong> Erzherzogin<br />

Maria Theresia zum deutschen Kaiser gewählt werden kann. Falls<br />

<strong>der</strong> Kaiser o<strong>der</strong> ich von fremden Mächten angegriffen werden, so<br />

unterstützen wir uns gegenseitig mit 10 000 bis 12 000 Mann. Alle<br />

deutschen Fürsten sind Schelme, die es nicht gut mit Kaiser und<br />

Reich meinen! Und ich müsste auch einer sein, wenn ich mich an<strong>der</strong>s<br />

verhielte! Einen Kaiser müssen wir haben! Also bleiben wir<br />

beim Hause Österreich, und <strong>der</strong> ist kein ehrlicher Deutscher, <strong>der</strong><br />

hierzu nicht einwilligt. Kein Englän<strong>der</strong> und Franzose soll über uns<br />

Deutsche gebieten! Ich will meinen Kin<strong>der</strong>n Pistolen und Degen<br />

in die Wiege geben, dass sie die fremden Nationen aus Deutschland<br />

helfen abzuhalten! Die Auslän<strong>der</strong> wollen uns Befehle geben<br />

und über uns kommandieren, als ob sie die Herren in Deutschland<br />

wären. Wenn die Franzosen auch nur ein einziges Dorf in Deutschland<br />

attackieren, dann müsste das ein Kujon von einem deutschen<br />

Fürsten sein, <strong>der</strong> nicht den letzten Blutstropfen daran wagt, sich<br />

dagegenzusetzen! Nichts wäre besser, als wenn man einen großen<br />

Kurfürsten- und Fürstentag ausschriebe, wo wir den Kaiser selbst<br />

331


sprechen könnten. Ich will <strong>der</strong> Erste sein, <strong>der</strong> dabei erscheint. Und<br />

ich will gewiss zeigen, dass ich gut patriotisch bin!»<br />

Er hob sein Glas und sah sich lächelnd in <strong>der</strong> Runde um: «Es lebe<br />

<strong>der</strong> Kaiser! Auf Germania teutscher Nation! Ein Hundsfott, <strong>der</strong>’s<br />

nicht von Herzen meint!»<br />

Wilhelmine nippte an dem Tokaier und versuchte, die aufsteigenden<br />

Tränen zu unterdrücken.<br />

Jetzt ist alles aus, dachte sie verzweifelt, wenn <strong>der</strong> Großvater von<br />

diesem Vertrag erfährt, wird er nie seine Einwilligung zu meiner<br />

Heirat geben, mit diesem Vertrag ist Papa zu den Feinden Englands<br />

übergegangen.<br />

Sophie Dorotheas Hand zitterte leicht, als sie das Glas auf den<br />

Tisch stellte. Während August Wilhelm das Gebet sprach, sah sie<br />

vorsichtig hinüber zu Seckendorff.<br />

Wie selbstzufrieden er aussieht, dachte sie wütend, dieser Vertrag<br />

ist sein Werk, dieser Vertrag gefährdet meine Heiratspläne,<br />

mein Gott, was soll ich machen? Mein Mann denkt anscheinend<br />

nicht an die Verheiratung seiner Kin<strong>der</strong>, ich muss unbedingt weiter<br />

mit meiner Schwägerin korrespondieren.<br />

Während die Suppe serviert wurde, gelang es <strong>Friedrich</strong>, seine<br />

Gedanken zu sammeln.<br />

Erstens: Seckendorff hat Papa zu diesem Vertrag überredet, wodurch<br />

wir faktisch wie<strong>der</strong> zu Vasallen des Hauses Habsburg werden,<br />

das haben wir weiß Gott nicht nötig. Preußen ist inzwischen<br />

ein eigenständiger Staat.<br />

Zweitens: Wilhelmines und meine Heirat werden durch diesen<br />

Vertrag erschwert, wenn nicht gar verhin<strong>der</strong>t. Ich muss etwas unternehmen.<br />

Papa müsste ausgeschaltet werden – ich bin <strong>der</strong> künftige<br />

König, warum sollen die ausländischen Gesandten nicht mit<br />

mir verhandeln?<br />

Er sah vorsichtig hinüber zu Rothenburg, <strong>der</strong> mit undurchdringlicher<br />

Miene seine Suppe löffelte.<br />

Ich werde nachher mit ihm reden, dachte <strong>Friedrich</strong>.<br />

Dieser Vertrag, überlegte <strong>der</strong> Graf, ist nicht mehr wert als an<strong>der</strong>e<br />

Verträge, und er wird hoffentlich diese dubiose Heirat zwischen<br />

den Welfen und den Hohenzollern verhin<strong>der</strong>n.<br />

332


Nach <strong>der</strong> Tafel begab <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sich in Begleitung <strong>der</strong> Familie<br />

zur Terrasse, sank wohlig seufzend in seinen Lehnstuhl und<br />

schlief sofort ein. Sophie Dorothea betrachtete Wilhelmines traurige<br />

Augen, beugte sich zu ihr und fl üsterte: «Mut! Ich werde die<br />

Heirat schon arrangieren.»<br />

Wilhelmine nickte stumm und betupfte die tränennassen Augen<br />

vorsichtig mit ihrem Taschentuch.<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte seinen Vater, und als <strong>der</strong> König anfi ng, laut<br />

zu schnarchen, da spürte er, wie erneut ein unbändiger Hass in<br />

ihm aufstieg.<br />

Mein Gott, wie lange will er noch leben und regieren? Warum<br />

hat er keinen tödlichen Jagdunfall? Wenn er doch endlich tot und<br />

ich mein eigener Herr wäre!<br />

Manchmal würde ich ihn am liebsten umbringen!<br />

Er schloss für einige Sekunden die Augen und sah, wie er mit<br />

beiden Händen den Vater an <strong>der</strong> Gurgel packte und zudrückte, bis<br />

er tot zusammensackte. Er ließ ihn los, spürte, wie sein Hass langsam<br />

verebbte, öffnete die Augen und atmete tief durch.<br />

Kurz vor zwei Uhr erwachte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm.<br />

Er setzte sich auf, sah sich behaglich um und sagte zu Sophie<br />

Dorothea: «Ich habe mich während <strong>der</strong> letzten Monate noch nie<br />

so wohl gefühlt wie heute, ich fühle mich wie befreit, nachdem ich<br />

diesen Vertrag unterschrieben habe; eines vergaß ich zu erwähnen:<br />

Der Kaiser hat mir zugesichert, den Pfalzgrafen von Sulzbach zum<br />

Verzicht auf das Herzogtum Berg zu bewegen, <strong>der</strong> Jülich-Klevesche<br />

Erbfolgestreit wird also gütlich erledigt werden. Dieser Tag<br />

heute ist für mich ein Feiertag, ich werde jetzt mit Seckendorff<br />

ausreiten, <strong>der</strong> Koch soll im Fischteich einige Hechte und Karpfen<br />

fangen, die werde ich dann im Tabakskollegium zur Feier des Tages<br />

selbst zubereiten.»<br />

Er erhob sich ächzend und stampfte über die Terrasse in das<br />

Schloss.<br />

Sophie Dorothea sah ihm nach und atmete auf.<br />

«Wir bleiben ungestört», sagte sie leise zu Wilhelmine, «aber ich<br />

will warten, bis er weg ist.»<br />

<strong>Friedrich</strong> verschwand unauffällig in sein Zimmer, wo Duhan<br />

ihn bereits erwartete.<br />

333


«Monsieur Duhan, wir müssen den Unterricht eine Stunde später<br />

beginnen, mein Vater reitet jetzt aus, und ich will seine Abwesenheit<br />

nutzen und mit dem französischen Gesandten noch einmal<br />

über diesen merkwürdigen Vertrag sprechen, den mein Vater mit<br />

dem Kaiser schloss.»<br />

Der Lehrer starrte <strong>Friedrich</strong> einen Moment an und erwi<strong>der</strong>te bedächtig:<br />

«Königliche Hoheit, Ihr Unterricht kann selbstverständlich<br />

später beginnen, aber Ihre Unterredung mit dem Gesandten,<br />

ist dies nicht ein Wagnis? Seine Majestät hat einen Vertrag geschlossen,<br />

wenn Sie hinter dem Rücken Seiner Majestät mit einem<br />

Gesandten darüber sprechen, so ist dies, nun, ich will mich vorsichtig<br />

ausdrücken: Wenn Seine Majestät davon erfährt, so kann <strong>der</strong><br />

König es als Verrat auslegen.»<br />

«Seien Sie unbesorgt, mein Vater wird von dieser Unterredung<br />

nichts erfahren.»<br />

Er eilte hinaus, und Duhan sah ihm besorgt nach.<br />

«Die Unbesonnenheit <strong>der</strong> Jugend», murmelte er, «sie ist verständlich,<br />

aber wird <strong>der</strong> König für jugendlichen Leichtsinn Verständnis<br />

haben, falls er davon erfährt?»<br />

Rothenburg sah erstaunt auf, als <strong>der</strong> Diener den Kronprinzen meldete.<br />

Er legte das Buch zur Seite und ging dem Besucher entgegen.<br />

«Königliche Hoheit, welche Überraschung, welche Ehre!»<br />

Er geleitete <strong>Friedrich</strong> in die Zimmerecke, wo ein kleiner run<strong>der</strong><br />

Tisch und drei Stühle standen.<br />

«Trinken Eure Hoheit Kaffee?»<br />

«Ja, gerne.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> sich setzte, spürte er, dass die Aufregung, die ihn<br />

auf dem Weg zu Rothenburg überkommen hatte, nachließ.<br />

Er beobachtete, wie <strong>der</strong> Diener aus einer silbernen Kanne die<br />

dunkelbraune Flüssigkeit in zwei winzige Tässchen goss, und wun<strong>der</strong>te<br />

sich, dass keine Sahne, son<strong>der</strong>n nur Zucker serviert wurde.<br />

Der Gesandte betrachtete die erstaunten Augen seines Gastes<br />

und sagte lächelnd: «Königliche Hoheit, in Frankreich trinkt man<br />

einen Kaffee, <strong>der</strong> sehr stark gebrannt ist; dieser Kaffee ist genießbar,<br />

wenn man ihn mit viel heißer Milch mischt o<strong>der</strong> wenn man<br />

ihn schwarz in kleinen Mengen mit viel Zucker trinkt.»<br />

334


Er nahm zwei Stücke Zucker, verrührte sie im Kaffee, <strong>Friedrich</strong><br />

folgte seinem Beispiel, trank einen Schluck und sagte: «Dieser<br />

französische Kaffee ist köstlich, viel stärker und aromatischer als<br />

<strong>der</strong> Kaffee, <strong>der</strong> bei uns serviert wird. Wenn ich einmal König bin,<br />

werde ich nach <strong>der</strong> Tafel immer diesen Kaffee trinken.»<br />

Rothenburg lächelte, lehnte sich zurück, musterte <strong>Friedrich</strong>, und<br />

dieser spürte, wie erneut eine gewisse Unsicherheit in ihm aufstieg.<br />

Er will natürlich wissen, warum ich ihn besuche, dachte er, mein<br />

Gott, wie fange ich an? Es ist meine erste diplomatische Unterredung,<br />

wahrscheinlich hängt meine Zukunft davon ab.<br />

Er trank einen weiteren Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf den<br />

Tisch, lehnte sich ebenfalls zurück und lächelte Rothenburg an:<br />

«Der Vertrag meines Vaters mit dem Kaiser war wahrscheinlich<br />

für die Tischgesellschaft eine große Überraschung, was halten Sie<br />

von diesem Bündnis?»<br />

Aha, dachte <strong>der</strong> Gesandte, <strong>der</strong> Prinz will natürlich wissen, wie<br />

ich die Chancen <strong>der</strong> englischen Heirat einschätze.<br />

Er überlegte einen Augenblick und antwortete: «Königliche Hoheit,<br />

dieser Vertrag bedeutet den Abfall Preußens von dem Herrenhausener<br />

Bündnis, das vor einem Jahr geschlossen wurde. Dieser<br />

Abfall ist ein großer Verlust für England und Hannover, weil<br />

Preußen ein stehendes Heer von ungefähr 70 000 Mann besitzt,<br />

das nun, wenn es notwendig werden sollte, gegen England und<br />

Hannover marschiert.»<br />

Er schwieg und beobachtete <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> nachdenklich vor sich<br />

hin sah.<br />

«Herr Graf, ich bedauere von ganzem Herzen, dass mein Vater<br />

bereit ist, seine Soldaten gegen meinen Großvater marschieren zu<br />

lassen, noch mehr bedauere ich indes, dass mein Vater bereit ist,<br />

die Vorherrschaft <strong>der</strong> Habsburger anzuerkennen. Gewiss, er ist ein<br />

Reichsfürst, aber Preußen ist inzwischen wie Sachsen und Hannover<br />

faktisch ein eigenständiger Staat geworden.<br />

Wozu brauchen wir noch einen Kaiser? Im Frieden des Jahres<br />

1648 wurden die deutschen Kurfürsten und Fürsten als gleichberechtigt<br />

neben dem Kaiser anerkannt, und faktisch haben die größeren<br />

Fürsten inzwischen ihre eigene Außenpolitik entwickelt. Die<br />

335


Idee eines Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ist meiner<br />

Meinung nach überholt.»<br />

Rothenburg sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an.<br />

Was für Ideen spuken im Kopf dieses jungen Mannes? Die verfassungsrechtliche<br />

Stärkung <strong>der</strong> deutschen Fürsten anno 48 sollte<br />

das Deutsche Reich und die Habsburger schwächen, das ist auch<br />

gelungen, und nun entwickeln die deutschen Fürsten drei o<strong>der</strong> vier<br />

Generationen später ein eigenes Selbstbewusstsein, das kann natürlich<br />

irgendwann problematisch werden.<br />

Er beugte sich etwas vor und lächelte <strong>Friedrich</strong> an: «Eure Königliche<br />

Hoheit mögen das Haus Habsburg anscheinend nicht beson<strong>der</strong>s?»<br />

«Was heißt ‹mögen›? Wenn ich einmal König bin, werde ich<br />

nicht bereit sein, mich zum Vasall <strong>der</strong> Habsburger degradieren zu<br />

lassen wie mein Vater.»<br />

Rothenburg trank einen Schluck Kaffee und dachte nach.<br />

Wenn er bei seiner Meinung bleibt, wird es zu Spannungen<br />

zwischen den Häusern Hohenzollern und Habsburg kommen, das<br />

ist natürlich günstig für Frankreich, aber ist ein selbstbewusstes<br />

Preußen ebenfalls günstig für Frankreich?<br />

«Ihre Meinung über die Habsburger ist interessant und aufschlussreich,<br />

Königliche Hoheit, aber erlauben Sie mir, Ihnen einen<br />

Rat zu geben: Ein guter Diplomat, und ich vermute, dass Sie einmal<br />

ein guter Diplomat werden wollen, also ein guter Diplomat schweigt<br />

über seine wahren Gedanken und Gefühle, er verstellt sich und zeigt<br />

<strong>der</strong> Umgebung nicht sein wahres Gesicht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak und spürte ärgerlich, dass er errötete.<br />

Rothenburg beobachtete ihn und lächelte: «Königliche Hoheit,<br />

über Ihre politischen Ansichten werde ich schweigen, das ist das<br />

Wort eines Mannes von Ehre. Es ist nicht im Interesse Frankreichs,<br />

den Konfl ikt zwischen Ihnen und Ihrem Vater unnötig zu schüren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete erleichtert auf.<br />

Mein Gefühl, dachte er, sagt mir, dass Rothenburg auf meiner<br />

Seite steht, vielleicht, weil ich <strong>der</strong> künftige König bin.<br />

Er sah den Gesandten an: «Ich glaube, <strong>der</strong> Graf von Seckendorff<br />

hat meinen Vater zu dem Vertrag überredet.»<br />

336


Es entstand eine Pause, und dann erwi<strong>der</strong>te Rothenburg: «Erlauben<br />

Sie, Königliche Hoheit, ich möchte zu diesem Thema nichts<br />

weiter sagen.»<br />

Aha, dachte <strong>Friedrich</strong>, keine Antwort ist auch eine Antwort.<br />

Jetzt beginnt <strong>der</strong> schwierige Teil des Gesprächs.<br />

Er trank einen Schluck Kaffee und sagte dann zögernd: «Der<br />

Vertrag mit dem Kaiser ist nicht vorteilhaft für die Heiratspläne<br />

meiner Eltern, besser gesagt, für die Pläne meiner Mutter. Wie<br />

beurteilen Sie die Chancen, dass meine Schwester und ich unsere<br />

Verwandten ehelichen?»<br />

Rothenburg überlegte.<br />

«Ich will offen zu Ihnen sein, Königliche Hoheit. Der König von<br />

England wird gekränkt sein, wenn er von dem Vertrag erfährt.<br />

Dies bedeutet sicherlich eine Verzögerung <strong>der</strong> Heiraten; ob die<br />

Ehepläne zum Scheitern verurteilt sind, kann ich im Augenblick<br />

nicht beurteilen, dies hängt wahrscheinlich davon ab, ob und wie<br />

sich die Kräftekonstellationen in Europa in den nächsten Jahren<br />

verän<strong>der</strong>n werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die außenpolitische<br />

Situation so entwickelt, dass England stark an einer<br />

familiären Verbindung mit Ihrem Haus interessiert ist, mehr kann<br />

ich im Augenblick dazu nicht sagen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> schwieg zunächst und spürte erneut, wie Aufregung<br />

und Nervosität in ihm hochstiegen.<br />

Es hilft nichts, dachte er, jetzt muss ich den entscheidenden<br />

Punkt ansprechen.<br />

«Die Gesundheit meines Vaters hat sich verschlechtert. Sie wissen,<br />

dass er im Januar einen Gichtanfall erlitt, nun, die Gicht ist<br />

eine Erbkrankheit <strong>der</strong> Hohenzollern, wahrscheinlich wird er während<br />

<strong>der</strong> kommenden Jahre noch öfter solche Anfälle haben. Was<br />

den Hof nachdenklich stimmt, ist die Art, wie er damit fertig wird.<br />

Es ist natürlich unangenehm, wenn man wochenlang im Rollstuhl<br />

sitzt, aber muss man deswegen auf die Diener mit Pistolen schießen,<br />

die mit Salz geladen sind? Ist das normal?»<br />

Er schwieg und betrachtete die undurchdringliche Miene des<br />

Gesandten.<br />

Worauf will er hinaus, fragte sich Rothenburg und erwi<strong>der</strong>te:<br />

«Es ist ungewöhnlich, Königliche Hoheit.»<br />

337


«Ungewöhnlich? Nun gut. Ist es normal, dass mein Vater sämtliche<br />

Leute verprügelt, wenn ihm etwas nicht passt? Er verprügelt<br />

alle Untertanen, auch Minister und Aristokraten, nur gegen meine<br />

Mutter und die Offi ziere hat er seinen Stock noch nicht erhoben.<br />

Sind seine Wutanfälle wegen <strong>der</strong> geringsten Kleinigkeit normal?»<br />

«Königliche Hoheit, Ihr Vater besitzt ein cholerisches Temperament.»<br />

«Cholerisch? Herr Graf, am Hof ist man davon überzeugt, dass<br />

mein Vater allmählich dem Wahnsinn verfällt. Er ist unbeliebt<br />

beim Adel und dem Volk ist er verhasst. Es gibt Überlegungen o<strong>der</strong><br />

Gedankenspiele, meinen Vater für wahnsinnig zu erklären und<br />

mich zum König zu proklamieren.»<br />

Er schwieg, atmete innerlich auf und wartete mit ängstlicher<br />

Spannung auf die Reaktion des Gesandten.<br />

Rothenburg stand auf, ging zum Fenster und sah nachdenklich<br />

hinunter in den Hof.<br />

«Ich habe von diesen Gedankenspielen gehört, Königliche Hoheit,<br />

aber man sollte sie nicht weiter ernst nehmen. An einem Hof<br />

schwirren so viele Gerüchte umher, nun ja, womit sollen Hofl eute<br />

sich auch sonst beschäftigen?»<br />

Worauf will <strong>der</strong> Prinz hinaus?, fragte er sich, im Salon <strong>der</strong> Königin<br />

wird <strong>der</strong>lei über den König geredet, das weiß ich von <strong>der</strong> Ramen.<br />

Er drehte sich um und sah <strong>Friedrich</strong> ernst an.<br />

«Königliche Hoheit, es ist nicht so einfach, einen Menschen für<br />

wahnsinnig zu erklären, dazu bedarf es ärztlicher Gutachten, und<br />

ich bezweifl e, dass die Wutausbrüche Seiner Majestät genügen, um<br />

ihn für geisteskrank zu erklären.»<br />

<strong>Friedrich</strong> holte Luft, <strong>der</strong> entscheidende Moment ist gekommen,<br />

dachte er und erwi<strong>der</strong>te: «Sie wissen, dass an diesem Hof je<strong>der</strong> bestechlich<br />

ist, auch die Ärzte meines Vaters. Wäre Frankreich bereit,<br />

den Herren Eller und Holtzendorff eine Summe zu zahlen, die sie<br />

veranlassen würde, den König für geisteskrank zu erklären, wäre<br />

das die Voraussetzung für seine Absetzung, ich würde dann König<br />

werden, und während meiner Min<strong>der</strong>jährigkeit könnte meine<br />

Mutter die Regentschaft führen.»<br />

Rothenburg starrte <strong>Friedrich</strong> verblüfft an.<br />

338


Mon Dieu, überlegte er, wie sehr muss er seinen Vater hassen,<br />

wenn er solche Pläne entwickelt.<br />

Wäre eine Absetzung des Soldatenkönigs im Interesse Frankreichs?<br />

«Königliche Hoheit, ich muss einen Augenblick nachdenken»,<br />

und er ging langsam im Zimmer auf und ab.<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete die Miene des Grafen und versuchte vergeblich,<br />

in dessen Gesicht zu lesen, was er dachte.<br />

Ein min<strong>der</strong>jähriger König und die Königin als Regentin, ging es<br />

Rothenburg durch den Kopf, das könnte zwar zu einem erneuten<br />

Bündnis zwischen England und Preußen führen, wahrscheinlich<br />

auch zu <strong>der</strong> Doppelhochzeit, aber dies würde auch bedeuten, dass<br />

England zu mächtig wird, und dies ist nicht im Interesse Frankreichs.<br />

Der preußische König ist zwar schrullig und skurril und vor<br />

allem außenpolitisch kein Diplomat, son<strong>der</strong>n ein Dummkopf, mit<br />

dem man machen kann, was man will; nein, er soll ruhig noch ein<br />

paar Jahre regieren.<br />

Er blieb stehen und lächelte <strong>Friedrich</strong> an: «Königliche Hoheit,<br />

ich bezweifl e, dass die Herren Eller und Holtzendorff bestechlich<br />

sind. Sie wirken auf mich ausgesprochen loyal. Eller war maßgeblich<br />

an dem Edikt vom September 25 beteiligt, das in Preußen ein<br />

medizinisches Staatsexamen einführte, überdies wird Eller dem<br />

künftigen Krankenhaus in Berlin, <strong>der</strong> Charité, vorstehen. Holtzendorff<br />

hat anno 24 begonnen, die Ausbildung zum Militärchirurgen<br />

durch ein dreijähriges Studium zu verbessern, nein, diese beiden<br />

Männer sind bestimmt nicht bestechlich.»<br />

Er schwieg, betrachtete die enttäuschten Augen des Prinzen und<br />

fuhr fort: «Königliche Hoheit, wollen Sie wirklich mit Hilfe eines<br />

Staatsstreiches, etwas an<strong>der</strong>es wäre es nicht, König werden? Warum<br />

wollen Sie nicht warten, bis Ihr Vater tot ist? Nutzen Sie die<br />

Jahre als Kronprinz, bereiten Sie sich auf Ihre Aufgaben als König<br />

vor, lernen Sie, werden Sie reifer und damit auch unabhängiger von<br />

schlechten Ratgebern.»<br />

<strong>Friedrich</strong> senkte verlegen die Augen und erwi<strong>der</strong>te nach einer<br />

Weile: «Sie haben recht. Was raten Sie mir?»<br />

«Versuchen Sie, das Vertrauen Ihrer künftigen Untertanen zu<br />

gewinnen, zeigen Sie Güte, wo Ihr Vater streng ist. Arrangieren<br />

339


Sie sich mit <strong>der</strong> Partei Grumbkow und Seckendorff, geben Sie diesen<br />

Herren keinen Anlass, dass sie sich beim König über Sie beschweren,<br />

begegnen Sie ihnen liebenswürdig und nicht ablehnend<br />

und vor allem, versuchen Sie, sich mit Ihrem Vater zu arrangieren,<br />

bedenken Sie, er besitzt die Macht, gehorchen Sie, auch wenn es<br />

Ihnen schwerfällt, verstellen Sie sich, an<strong>der</strong>s können Sie mit <strong>der</strong><br />

Situation nicht umgehen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> stand auf.<br />

«Verstellung, ich übe mich schon darin, aber manchmal fällt<br />

es mir gegenüber meinem Vater schwer, dann reizt es mich, ihm<br />

meine Verachtung offen zu zeigen; aber Sie haben natürlich Recht,<br />

ohne Verstellung ihm gegenüber wird unser Verhältnis sich weiter<br />

verschlechtern. Ich danke Ihnen für Ihre Ratschläge. Eine Bitte<br />

habe ich noch: Könnte Frankreich sich nicht in London für die Doppelheirat<br />

einsetzen?»<br />

«Gewiss, Königliche Hoheit, ich werde noch heute an den Kardinal<br />

Fleury schreiben, und seien Sie versichert, dass niemand von<br />

dem Inhalt unseres Gespräches erfahren wird.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> gegangen war, sank er aufatmend auf einen Stuhl.<br />

«Mon Dieu», murmelte er, «ein frühreifer Bengel, <strong>der</strong> versucht,<br />

den eigenen Vater zu entmachten; wenn das <strong>der</strong> König wüsste.»<br />

Unterdessen beobachtete Sophie Dorothea, wie ihr Gatte und Seckendorff<br />

hinwegritten.<br />

Als die Männer nicht mehr zu sehen waren, stand sie auf und<br />

sagte zu Wilhelmine: «Folgen Sie mir», und zu Frie<strong>der</strong>ike Luise:<br />

«Passen Sie auf Ihre Geschwister auf, bis Madame de Roucoulles<br />

kommt.»<br />

Sie eilte in ihr Schlafzimmer und befahl <strong>der</strong> Kammerfrau Ramen,<br />

den englischen und französischen Gesandten zu holen.<br />

Als die Herren das Zimmer betraten, wedelte die Königin nervös<br />

ihren Fächer hin und her und rief: «Messieurs, Sie haben vorhin<br />

gehört, dass <strong>der</strong> König ein Bündnis mit dem Kaiser geschlossen<br />

hat. Dieser Vertrag wird in wenigen Wochen am Hof meines Vaters<br />

bekannt werden, und ich befürchte, dass meine Heiratspläne<br />

durch diesen Vertrag verzögert, wenn nicht gar vereitelt werden.<br />

Messieurs, Sie müssen mir helfen!»<br />

340


Die Gesandten sahen einan<strong>der</strong> unschlüssig an und nach einer<br />

Weile sagte Rothenburg: «Selbstverständlich, Majestät, wie kann<br />

ich Ihnen helfen?»<br />

«Ich werde mit meinem Vater, meinem Bru<strong>der</strong> und meiner<br />

Schwägerin über die Doppelheirat weiter korrespondieren, <strong>der</strong> König<br />

darf natürlich nichts davon wissen; könnten Sie meine Briefe<br />

erneut über Ihre Kuriere nach England bringen?»<br />

Rothenburg sah Dubourgay an und als dieser unmerklich nickte,<br />

antwortete er: «Selbstverständlich, Majestät.»<br />

Sophie Dorothea atmete erleichtert auf: «Ich danke Ihnen. Ich<br />

habe noch eine Bitte: Könnten nicht Frankreich und Sie, Monsieur<br />

Dubourgay, versuchen, meinen Vater zu überreden, dass er, trotz<br />

des Bündnisses meines Gatten mit dem Kaiser, seine Enkelkin<strong>der</strong><br />

einan<strong>der</strong> vermählt?»<br />

Die Gesandten sahen einan<strong>der</strong> erneut an, und Dubourgay erwi<strong>der</strong>te:<br />

«Selbstverständlich, Majestät.»<br />

Was bildet sie sich ein, dachte er im Stillen, ich werde meine diplomatische<br />

Karriere nicht wegen dieser Heiraten gefährden. Der<br />

englische König ist zwar für diese Ehe seiner Enkelkin<strong>der</strong>, aber wer<br />

weiß, wie lange er noch lebt, und sein Sohn ist nur an <strong>der</strong> Heirat<br />

zwischen Amalie und dem preußischen Kronprinzen interessiert<br />

und nicht an <strong>der</strong> Vermählung seines Sohnes mit <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Wilhelmine.<br />

Sophie Dorothea lächelte die Gesandten an: «Messieurs, ich danke<br />

Ihnen; ich möchte Ihre kostbare Zeit nicht weiter beanspruchen.»<br />

Während die Gesandten sich zu ihren Zimmern begaben, sagte<br />

Rothenburg: «Die Königin spielt ein gefährliches Spiel. Wenn <strong>der</strong><br />

König davon erfährt, dann … ich wage nicht zu denken, was dann<br />

passiert.»<br />

«Die Königin wird vor dem König Rechenschaft ablegen müssen,<br />

das ist ihr Problem, nicht das unsrige.»<br />

In seinem Zimmer ging Rothenburg unruhig auf und ab und<br />

überlegte: Die englische Heirat ist nicht im Interesse Frankreichs,<br />

sie darf von uns nicht unterstützt werden, und die Pläne des Kronprinzen?<br />

Ich kann sie nur mündlich überbringen.<br />

Er setzte sich an den Tisch, schrieb seinen Bericht und fügte hinzu:<br />

«Ich hatte eine sehr interessante Unterhaltung mit dem Kron-<br />

341


prinzen. Da nicht alles, um was es sich handelt, zur sofortigen Erörterung<br />

steht, verschiebe ich es bis zum mündlichen Bericht.»<br />

342


5<br />

Am Nachmittag des 11. April 1727 spazierten <strong>Friedrich</strong> und Duhan<br />

unterhalb des Berliner Schlosses am Ufer <strong>der</strong> Spree entlang.<br />

Als sie bei einer Bank ankamen, blieb <strong>Friedrich</strong> stehen und sah verträumt<br />

über den Fluss und die Wellen, die sich unter einem leichten<br />

Wind etwas kräuselten.<br />

Dann sah er Duhan an: «Als Madame de Roucoulles meine Gouvernante<br />

war, habe ich hier manchmal gesessen und heimlich gelesen,<br />

weil man mich hier vom Schloss aus nicht sehen konnte. Ich<br />

liebte damals die Märchen von Perrault, und am liebsten las ich das<br />

Märchen ‹Die schlafende Schöne im Walde›. In meiner Phantasie<br />

war die Märchenprinzessin meine Cousine Amalie, und ich träumte,<br />

wie wir uns zum ersten Mal begegneten und mein Großvater<br />

unsere Verlobung verkündete.»<br />

«Königliche Hoheit, ich erinnere mich gut daran, dass Sie hier<br />

heimlich gelesen haben.»<br />

«Ich musste immer heimlich lesen, dies wird wahrscheinlich erst<br />

nach dem Tod meines Vaters an<strong>der</strong>s werden.»<br />

Duhan zuckte zusammen. Dieser bittere Unterton in seiner<br />

Stimme ist neu, dachte er.<br />

«Königliche Hoheit, wenn Sie heiraten, werden Sie einen eigenen<br />

Haushalt haben und ein unabhängiges Leben führen können.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fragte dann vorsichtig: «Es<br />

geht mich nichts an, Königliche Hoheit, aber hat Ihre Majestät inzwischen<br />

neue Nachrichten aus England erhalten?»<br />

«Ja und nein. Die Angelegenheit stagniert seit Monaten. Es ist<br />

merkwürdig, meine Eltern erhalten Berichte, dass mein Cousin<br />

säuft und sich mit Huren beschäftigt. Meine Mutter ignoriert dies,<br />

mein Vater indes überlegt, ob er Wilhelmine mit einem solchen<br />

Mann verheiraten soll. Meine Schwester liest mir die Briefe unseres<br />

Cousins vor, und ich schließe aus ihnen, dass er kein ausschweifendes<br />

Leben führt.<br />

Im letzten Brief bat meine Tante um ein Porträt meiner Schwester,<br />

weil sie angeblich nicht mehr so hübsch sei wie vor Jahren. Was soll man<br />

343


davon halten? Nun, im Sommer kommt mein Großvater nach Hannover,<br />

und ich denke, dass dann eine Entscheidung getroffen wird.»<br />

Sie schwiegen eine Weile, sahen über den Fluss, dann sagte <strong>Friedrich</strong>:<br />

«Ich bedauere es aufrichtig, dass Sie ab morgen nicht mehr<br />

mein Lehrer sind. Ab jetzt werde ich nur noch von dem Major von<br />

Senning im Kriegshandwerk unterrichtet, ich soll lernen, wie man<br />

Festungen erbaut, na wenigstens ist <strong>der</strong> grässliche Religionsunterricht<br />

jetzt beendet. Ich habe es meinen Erziehern zu verdanken,<br />

dass mein Vater mich ab Januar zusätzlich täglich eine Stunde in<br />

Religion unterrichten ließ. Warum haben sie ihm gesagt, dass ich<br />

im Religionsunterricht seit Monaten keine Fortschritte mache?<br />

Noltenius war auch nicht besser als Andreä, auch er hat mich Psalmen<br />

und Bibelstücke auswendig lernen lassen.»<br />

«Königliche Hoheit, wir haben schon oft darüber gesprochen:<br />

Ihre Erzieher meinten es gut mit Ihnen, wie hätte Ihr Vater reagiert,<br />

wenn Sie in <strong>der</strong> Prüfung vor <strong>der</strong> Konfi rmation die Fragen<br />

nicht hätten beantworten können? Was den Wechsel des Religionslehrers<br />

betrifft, nun, Seine Majestät ist ein Gegner <strong>der</strong> Lehre von<br />

<strong>der</strong> Prädestination, und Andreä glaubt an diese Lehre, deswegen<br />

musste er gehen.»<br />

«Die Lehre von <strong>der</strong> Prädestination war das Einzige an seinem<br />

Unterricht, was mich überzeugt hat.»<br />

Duhan zögerte etwas und fragte vorsichtig: «Königliche Hoheit,<br />

welche Bedeutung hat die Konfi rmation für Sie?»<br />

<strong>Friedrich</strong> dachte kurz nach und erwi<strong>der</strong>te: «Sie bedeutet mir<br />

nichts. Als ich vor einigen Stunden zum ersten Mal das Abendmahl<br />

empfi ng, war ich innerlich überhaupt nicht berührt, ich war<br />

nur froh, dass <strong>der</strong> schreckliche Religionsunterricht ab heute beendet<br />

ist. Ich glaube nicht, dass die Religion mir in schwierigen Situationen<br />

helfen wird. Schwierige Situationen muss man mit <strong>der</strong><br />

Logik und dem Verstand meistern. Ja, ich glaube an den Verstand,<br />

und ich weiß schon jetzt, wenn ich einmal König bin, wird an meiner<br />

Tafel nicht gebetet, son<strong>der</strong>n es werden geistreiche Gespräche<br />

geführt, und ich werde am Sonntag nicht den Gottesdienst besuchen,<br />

son<strong>der</strong>n lesen o<strong>der</strong> musizieren; in meinem Staat kann je<strong>der</strong><br />

nach seiner Fasson selig werden, ich werde dem Beispiel meiner<br />

Vorfahren folgen und alle Religionen tolerieren.»<br />

344


Es entstand eine Pause, dann sagte <strong>Friedrich</strong> mit einem bitteren<br />

Unterton: «Ich spüre, dass ich zu wenig gelernt habe, weil man Vater<br />

bestimmte, was ich lernen soll. Ich weiß zu wenig von <strong>der</strong> Antike,<br />

ihren Dichtern und ihrer Philosophie, ich weiß auch zu wenig<br />

von den europäischen Staaten, wie kann ich dies jemals nachholen?»<br />

«Königliche Hoheit, vor einigen Jahren versprach ich Ihnen den<br />

Aufbau einer Bibliothek, die es Ihnen ermöglicht, sich umfassend<br />

zu bilden, und ich werde mein Versprechen halten. Ich werde Ihnen<br />

eine Bibliothek zusammenstellen, die es Ihnen ermöglicht, sich<br />

über alle Gebiete Wissen anzueignen, ich nenne Ihnen nur einige<br />

Beispiele: englische und französische Zeitschriften, Handbücher<br />

<strong>der</strong> Literaturgeschichte, ein französisches Reimlexikon, Lehrbücher<br />

<strong>der</strong> Poetik, Rhetorik, Stilistik und Konversation, die großen<br />

antiken Autoren in Übersetzungen, die französischen Schriftsteller<br />

seit Rabelais, Bücher über die griechische und römische Geschichte<br />

und die Geschichte aller europäischen Län<strong>der</strong>, Reiseberichte,<br />

Werke über die Mathematik und alle Naturwissenschaften,<br />

politische Literatur, zum Beispiel Machiavelli.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah nachdenklich über den Fluss und fragte: «Wie soll<br />

ich diese Bücher bezahlen? Mein Taschengeld wird nicht reichen.»<br />

«Das ist kein Problem, Königliche Hoheit: Sie sind <strong>der</strong> künftige<br />

König, jede Bank wird Ihnen einen unbegrenzten Kredit gewähren.<br />

Dies bedeutet natürlich, dass Sie zunächst Schulden machen,<br />

aber wenn Sie König sind, werden Sie diese Schulden zurückzahlen<br />

können, Preußen ist inzwischen ein wohlhaben<strong>der</strong> Staat, Seine<br />

Majestät behauptet zwar das Gegenteil, aber das stimmt nicht, ich<br />

weiß, dass die Truhen im Berliner Schloss gut gefüllt sind.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Duhan erstaunt an, dann fragte er: «Wann und wo<br />

soll ich die Bücher lesen? Sie kennen meinen täglichen Stundenplan,<br />

und <strong>der</strong> wird sich nicht än<strong>der</strong>n.»<br />

«Königliche Hoheit, Sie haben Freizeit nach dem Unterricht,<br />

überdies ist Seine Majestät oft unterwegs, und Sie müssen Ihren<br />

Vater nicht auf je<strong>der</strong> Reise begleiten, Sie haben freie Zeit, die Sie<br />

zur Lektüre nutzen können, und ich habe inzwischen erkundet,<br />

wo Sie ungestört lesen können: Seit einigen Wochen lebt ein neuer<br />

Kantor in Potsdam, sein Name ist Ritter. In seinem Haus gibt es<br />

345


ein Zimmer, das er aus irgendwelchen Gründen nicht bewohnen<br />

will. Ich habe mit ihm vereinbart, dass dieses Zimmer Ihre künftige<br />

Bibliothek beherbergen wird, er verlangt keine Miete, weil Sie<br />

<strong>der</strong> künftige König sind. Das Zimmer muss noch möbliert werden<br />

mit Regalen für die Bücher, einem Tisch, einem Schreibpult,<br />

es wird auch einige Monate dauern, bis ich mit dem Aufbau Ihrer<br />

Bibliothek anfangen kann, weil ich mich jetzt um gewisse familiäre<br />

Angelegenheiten kümmern muss, aber in ungefähr einem Jahr<br />

werden Sie eine kleine Bibliothek haben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Duhan an und dachte: Der künftige König hat<br />

unbegrenzten Kredit, das werde ich nutzen, ich werde nicht nur<br />

Bücher kaufen, son<strong>der</strong>n mir auch seidene Schlafröcke anfertigen<br />

lassen, ich werde so viel Pu<strong>der</strong> und Parfum kaufen, wie ich benötige.<br />

Der unbegrenzte Kredit erlaubt mir, so zu leben, wie es einem<br />

Prinzen ziemt, und nach dem Dienst werde ich statt <strong>der</strong> Uniform<br />

einen Schlafrock tragen, werde musizieren und lesen, natürlich<br />

nur, wenn ich weiß, dass Papa weit weg ist.<br />

Er zuckte zusammen, als er Duhans Stimme hörte: «Königliche<br />

Hoheit, wenn die Bibliothek eingerichtet ist, sende ich Ihnen den<br />

Schlüssel zu dem Haus und dem Zimmer. Der Kantor hat übrigens<br />

eine Tochter in Ihrem Alter, die angeblich sehr gut Klavier spielt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah auf: «Sie spielt Klavier? Dann könnte ich sie mit<br />

meiner Flöte begleiten!»<br />

Duhan lächelte: «Gewiss, aber Sie sollten sich nicht in dieses<br />

Mädchen verlieben, denken Sie daran, Sie müssen standesgemäß<br />

heiraten.»<br />

«Seien Sie unbesorgt, ich habe im Augenblick nur ein Mädchen,<br />

meine Cousine und künftige Verlobte, Prinzessin Amalie.»<br />

Duhan sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an.<br />

Wie ist es möglich, dachte er, <strong>der</strong> Prinz liebt ein Mädchen, das er<br />

noch nie gesehen hat! Das ist wahrscheinlich <strong>der</strong> Einfl uss <strong>der</strong> Königin,<br />

nun, mich geht diese englische Heirat Gott sei Dank nichts<br />

weiter an.<br />

In diesem Augenblick schlug es vier Uhr, und <strong>Friedrich</strong> zuckte<br />

zusammen.<br />

«Mon Dieu, ich muss um halb fünf Uhr bei meinem Vater sein,<br />

er gönnt mir noch nicht einmal den freien Nachmittag nach meiner<br />

346


Konfi rmation. Leben Sie wohl, Duhan, ich werde Ihnen schreiben,<br />

wir werden uns auch künftig unterhalten, allerdings nur schriftlich,<br />

ich werde Sie nie vergessen. Ich verspreche Ihnen, sobald ich mein<br />

eigenes Geld in Händen habe, jährlich 2.400 Taler zu geben und Sie<br />

immer noch etwas mehr zu lieben als jetzt, wenn ich es vermag.»<br />

Er umarmte Duhan und eilte zum Schloss.<br />

Der Lehrer sah dem Prinzen nach, und je weiter sich <strong>Friedrich</strong><br />

entfernte, desto mehr spürte <strong>der</strong> Hugenotte, wie ein unbehagliches<br />

Gefühl von Angst sich in ihm verbreitete.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> das Arbeitszimmer des Vaters betrat, stand <strong>der</strong> König<br />

auf, ging langsam zu dem Sohn, umarmte ihn und sagte: «Du bist<br />

nun konfi rmiert und weißt hoffentlich, was dies bedeutet. Ab morgen<br />

beginnt für dich ein neuer Lebensabschnitt, du wirst dich nun<br />

auf deine künftigen Aufgaben als König vorbereiten.»<br />

Er trat einen Schritt zurück und musterte <strong>Friedrich</strong>: «Ich beobachte<br />

schon seit einiger Zeit, dass du inzwischen zu einem jungen<br />

Mann reifst, deine Stimme hat sich verän<strong>der</strong>t, sie ist tiefer geworden,<br />

ein leichter Bartwuchs hat begonnen, dein Kammerdiener<br />

wird dir ab jetzt einmal wöchentlich den Flaum vom Gesicht entfernen.»<br />

Er schwieg und fuhr dann vorsichtig fort: «Deine Erzieher haben<br />

mir berichtet, dass du … nun, du bist inzwischen fähig, Kin<strong>der</strong> zu<br />

zeugen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> spürte, dass er errötete, und sah verlegen zu Boden.<br />

Der König beobachtete den Sohn und musste unwillkürlich lächeln.<br />

«Fritz, du musst dich nicht schämen, je<strong>der</strong> junge Mann erlebt<br />

diese Entwicklung und muss sie verarbeiten. Diese Entwicklung<br />

birgt aber auch Gefahren in sich, und ich werde dich vor diesen<br />

Gefahren schützen.»<br />

Er klingelte und sagte zu dem eintretenden Eversmann: «Bringe<br />

Er den Leutnant.»<br />

Einige Minuten später betrat ein großer, schlanker junger Mann<br />

das Zimmer. <strong>Friedrich</strong> musterte die blauen Augen, vermutete, dass<br />

<strong>der</strong> Leutnant ungefähr zwanzig Jahre alt war, und spürte, dass er<br />

diesem Mann vertrauen konnte.<br />

347


«Fritz, du siehst hier den Leutnant von Borcke, er wird dich ab<br />

jetzt begleiten», und zu dem Leutnant: «Der Kronprinz befi ndet<br />

sich in einem schwierigen Alter und ist wahrscheinlich schlimmen<br />

Neigungen unterworfen. Beobachten Sie ihn, versuchen Sie, ihn<br />

von Ausschreitungen abzubringen, wenn es Ihnen nicht gelingt, so<br />

melden Sie es mir unverzüglich. Sie haften mir mit Ihrem Kopf dafür,<br />

dass <strong>der</strong> Kronprinz sich keinen lie<strong>der</strong>lichen Ausschweifungen<br />

hingibt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah verlegen und wütend zu Boden und hörte wie aus<br />

weiter Ferne die Stimme des Leutnants: «Zu Befehl, Majestät.»<br />

Noch ein Aufpasser, dachte <strong>Friedrich</strong> und spürte, wie erneut<br />

Hass gegen den Vater in ihm aufstieg.<br />

Sie verließen das Zimmer und gingen schweigend die Treppen<br />

hinunter. Im Hof blieb Borcke stehen und sah <strong>Friedrich</strong> an: «Königliche<br />

Hoheit, ich empfi nde es als peinlich, dass ich auf Sie aufpassen<br />

soll, ich bitte Sie, sehen Sie in mir nicht den Wärter Ihres<br />

Privatlebens. Ich verstehe die Sorgen Seiner Majestät nicht: Je<strong>der</strong><br />

Mensch verliebt sich irgendwann zum ersten Mal, das werde auch<br />

ich nicht verhin<strong>der</strong>n können, je<strong>der</strong> Mensch muss mit <strong>der</strong> ersten<br />

Liebe fertig werden, er muss sie verarbeiten. Ich weiß nicht, ob ich<br />

Ihnen dabei helfen kann. Wenn Sie mit mir über Ihr Gefühlsleben<br />

sprechen wollen, so höre ich Ihnen gerne zu, und, Königliche Hoheit,<br />

das verspreche ich Ihnen, was Sie mir anvertrauen, darüber<br />

werde ich schweigen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Leutnant erstaunt an: «Ich verstehe nicht, was<br />

Sie mit <strong>der</strong> ersten Liebe meinen und mit Verliebtheit, es ist nun<br />

einmal so, dass ich meine Cousine, die englische Prinzessin Amalie,<br />

liebe, und irgendwann werde ich sie heiraten.»<br />

Borcke starrte <strong>Friedrich</strong> verblüfft an: «Sie haben Ihre Cousine also<br />

inzwischen persönlich kennengelernt, das wusste ich nicht.»<br />

«Nein, ich kenne sie noch nicht, aber ich weiß, dass ich sie liebe.»<br />

Der Leutnant erwi<strong>der</strong>te vorsichtig: «Ich bitte um Vergebung,<br />

Königliche Hoheit, aber kann man einen Menschen lieben, den<br />

man nicht kennt?»<br />

«Ich liebe Amalie seit meiner Kindheit, wir sind schon lange verlobt,<br />

mein Vater ist zwar gegen diese Verbindung, aber ich weiß,<br />

348


dass ich alle Hin<strong>der</strong>nisse überwinden und Amalie irgendwann heiraten<br />

werde.»<br />

Borcke schwieg und überlegte: Ich werde mich in die englische<br />

Heiratsaffäre, die schon seit Jahren an diesem Hof schwelt, nicht<br />

einmischen – wenn <strong>der</strong> Prinz die Cousine liebt, so ist es seine Angelegenheit.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete den Leutnant: «Sie sollen auf mich aufpassen<br />

und wollen es nicht, wie verbringen Sie Ihre Mußestunden?»<br />

«Ich lese viel, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> schwieg einen Augenblick verblüfft, dann sagte er<br />

langsam: «Sie lesen viel, das fi ndet man selten bei den preußischen<br />

Offi zieren, von meinen Kameraden interessiert sich keiner für Literatur;<br />

welche Dichter lesen Sie am liebsten?»<br />

Borcke erwi<strong>der</strong>te: «Ich habe keinen Lieblingsdichter, ich lese alles,<br />

das heißt, nun, ich bevorzuge die antiken Dichter, vor kurzem<br />

las ich Ovids ‹Ars amatoria›, im Augenblick beschäftige ich mich<br />

mit den französischen Dramatikern, ich habe Racines ‹Britannicus›<br />

gelesen und werde jetzt mit Corneille anfangen.»<br />

«Ovid», sagte <strong>Friedrich</strong> langsam, «Racine, Corneille, dürfen Sie<br />

dies alles lesen o<strong>der</strong> lesen Sie heimlich?»<br />

Der Leutnant sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Niemand verbietet mir<br />

diese Lektüre.»<br />

«Sie sind zu beneiden. Ich muss heimlich lesen, mein Vater hat<br />

kein Interesse für Literatur. Es wäre ihm am liebsten, wenn ich nur<br />

in <strong>der</strong> Bibel lese. Was bedeutet ‹Ars amatoria›? Sie müssen wissen,<br />

dass ich auf Befehl meines Vaters nicht in Latein unterrichtet wurde.»<br />

«‹Ars amatoria› bedeutet ‹Liebeskunst›», er zögerte etwas und<br />

fuhr fort: «Wenn Sie es wünschen, leihe ich Ihnen gerne den Ovid,<br />

ich habe eine französische Übersetzung.»<br />

Es entstand eine Pause, und dann sagte <strong>Friedrich</strong> vorsichtig: «Der<br />

Ovid würde mich interessieren.»<br />

Während sie weitergingen, fragte Borcke: «Königliche Hoheit,<br />

wissen Sie, dass <strong>der</strong> römische Kaiser Nero während <strong>der</strong> ersten Jahre<br />

seiner Regierung beim Volk beliebt war und weise und gerecht<br />

regiert hat? Ich habe es nicht gewusst und es erst bei <strong>der</strong> Lektüre<br />

des ‹Britannicus› erfahren.»<br />

349


«Der Name Nero ist für mich gleichbedeutend mit dem Brand<br />

Roms und den Christenverfolgungen, ich kann mir nicht vorstellen,<br />

dass er am Beginn seiner Regierung gütig war und an das<br />

Wohl des römischen Volkes dachte, aber Racine wird sich wohl bei<br />

seiner Dichtung an die Überlieferung halten, wenigstens in großen<br />

Zügen.»<br />

Er dachte einen Augenblick nach: «Halten Sie es für wahrscheinlich,<br />

dass ein Herrscher sich im Laufe <strong>der</strong> Jahre so stark verän<strong>der</strong>t?<br />

Das muss doch einen Grund haben.»<br />

Borcke hielt einen Moment inne, dann sagte er: «Je<strong>der</strong> Mensch<br />

verän<strong>der</strong>t sich im Laufe seines Lebens, aber wenn ein Mensch von<br />

einem Saulus zu einem Paulus wird, dann gibt es für mich nur<br />

zwei Erklärungen: Entwe<strong>der</strong> besitzt er von Natur aus Anlagen, die<br />

erst in einem bestimmten Lebensalter sichtbar werden, o<strong>der</strong> es gibt<br />

äußere Ereignisse, die zu einer inneren Wandlung führen, zum<br />

Beispiel <strong>der</strong> Verlust eines geliebten Menschen, an dessen Tod man<br />

sich schuldig fühlt, o<strong>der</strong> ein Krieg.»<br />

«Ein Krieg? Das verstehe ich nicht.»<br />

«Königliche Hoheit, angenommen, ein Fürst wird in einen Krieg<br />

verwickelt, <strong>der</strong> einige Jahre dauert, angenommen, <strong>der</strong> Fürst ist <strong>der</strong><br />

Oberbefehlshaber seiner Truppen und sieht täglich, dass Menschen<br />

sterben o<strong>der</strong> verwundet werden, angenommen, sein Reich steht kurz<br />

vor dem Ruin; glauben Sie nicht auch, dass dies einen Fürsten innerlich<br />

verwandeln kann, dass seine Wertmaßstäbe sich än<strong>der</strong>n?»<br />

«Ja, das halte ich für wahrscheinlich», antwortete <strong>Friedrich</strong>.<br />

In diesem Augenblick erschien ein Page: «Königliche Hoheit,<br />

Ihre Majestät erwartet Sie.»<br />

Während <strong>Friedrich</strong> zu seiner Mutter eilte, spürte er, wie ein<br />

Gefühl von Glück ihn durchströmte. Dieser Leutnant kann mein<br />

Freund werden, dachte er, mit ihm kann ich wahrscheinlich über<br />

alles reden, was mich bedrückt.<br />

Unterdessen ging <strong>Friedrich</strong> Wilhelm nachdenklich in seinem Arbeitszimmer<br />

auf und ab. Schließlich blieb er vor dem Schreibtisch<br />

stehen, betrachtete die Aktenstöße und sagte leise: «Wozu dies alles?<br />

Ich möchte nicht länger regieren, ich habe während <strong>der</strong> vergangenen<br />

vierzehn Jahre meinen Staat aufgebaut und die Verwal-<br />

350


tung neu organisiert, das Heer ist in bestem Zustand, jedes Kind<br />

besucht die Schule und lernt lesen, schreiben und rechnen, die Junker<br />

parieren, die Wirtschaft fl oriert, die Schulden sind getilgt, <strong>der</strong><br />

Staatsschatz füllt sich langsam, aber sicher, warum soll ich nicht<br />

abdanken? Bis zur Volljährigkeit von Fritz muss ein Regent eingesetzt<br />

werden. Und dann? Wird dieser missratene Sohn mein Werk<br />

fortführen?<br />

Ich habe noch einen zweiten Sohn; vielleicht gibt es einen Weg,<br />

ihn zum Nachfolger zu ernennen. – Was ist los mit mir? Seit Monaten<br />

wünsche ich mir, das Leben eines einfachen Landedelmannes<br />

führen zu können, und ich möchte mich intensiver als bis jetzt mit<br />

dem christlichen Glauben beschäftigen.»<br />

Er öffnete ein Fenster und atmete tief und bedächtig die milde<br />

Frühlingsluft ein.<br />

«Diese verworrene englische Heiratsaffäre, die ständigen Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

mit meiner Frau über diese Angelegenheit,<br />

mein missratener Sohn», sagte er leise, «vielleicht sind dies Zeichen<br />

Gottes, vielleicht will er mich daran erinnern, noch frommer<br />

zu leben als bisher. An meiner Tafel wird regelmäßig gebetet, ich<br />

lasse meine Kin<strong>der</strong> zu guten Christen erziehen, <strong>der</strong> Gottesdienst<br />

am Sonntag gehört zu meinem Leben wie die tägliche Arbeit, <strong>der</strong><br />

Lebensstil an meinem Hof ist sparsam und bescheiden, die eheliche<br />

Treue ist für mich ein oberstes Gebot, aber vielleicht ist dies alles<br />

noch nicht genug, vielleicht erwartet Gott, dass er in meinem Alltag<br />

eine noch größere Rolle spielt als bisher; aber was soll ich tun?»<br />

Er starrte grübelnd hinunter in den Hof, plötzlich durchzuckte<br />

ihn ein Gedanke, und er begann, erregt im Zimmer auf und ab zu<br />

gehen.<br />

Irgendwann blieb er stehen, atmete tief durch und sagte laut:<br />

«Ich habe die Lösung des Problems, und ich kann sie gut in den familiären<br />

Alltag einbauen. Ich werde künftig nach den Mahlzeiten<br />

einen Bibeltext verlesen, darüber predigen, und anschließend wird<br />

gemeinsam ein Lied gesungen. Ich werde heute damit beginnen,<br />

die Konfi rmation von Fritz ist ein würdiger Anlass.»<br />

Er ging hinüber in sein Schlafzimmer, nahm die Bibel, die stets<br />

auf dem Tischchen lag, das neben seinem Bett stand, und begann<br />

eifrig zu blättern, bis er zum Evangelium des Johannes kam. Er<br />

351


suchte das fünfzehnte Kapitel, überfl og die Verse und las dann laut<br />

Vers dreizehn: «Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein<br />

Leben lässt für seine Freunde.»<br />

Ja, dachte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, das ist <strong>der</strong> richtige Text für den<br />

heutigen Tag. Ich werde über die Freundschaft predigen. Einst<br />

hoffte ich, <strong>der</strong> Freund meines Sohnes zu sein; vielleicht ist noch<br />

nicht alles verloren, und nach <strong>der</strong> Predigt singen wir dann gemeinsam<br />

das Lied: «Du hast uns Leib und Seel gespeist».<br />

An jenem Abend setzte Sophie Dorothea sich in gehobener Stimmung<br />

an die Tafel und betrachtete mit mütterlichem Stolz ihren<br />

Sohn <strong>Friedrich</strong>.<br />

Er hat die Prüfung bestanden, dachte sie, er ist konfi rmiert,<br />

vielleicht darf er ab heute wie<strong>der</strong> neben dem König sitzen, und sie<br />

beobachtete den Gatten, <strong>der</strong> während des Tischgebetes wie immer<br />

hinter August Wilhelm stand.<br />

Nach dem Gebet setzte sich <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und würdigte den<br />

Kronprinzen keines Blickes. Sie fühlte sich gekränkt, versuchte,<br />

ihre Gefühle zu verbergen, und sagte zu Frau von Kamecke: «Ich<br />

entsinne mich noch gut an meine eigene Konfi rmation: Ich war<br />

entsetzlich aufgeregt, nun ja, man wird nur einmal im Leben konfi<br />

rmiert, nach dem Gottesdienst speisten wir im engsten Familienkreis,<br />

und dieses Menü hat sich mir eingeprägt: Schildkrötensuppe,<br />

dann Seezungenröllchen in Weißwein, dazu tranken wir Chablis,<br />

dann gab es gebratenes Rin<strong>der</strong>fi let, gebratene Kartoffeln, verschiedene<br />

Gemüse und Salat, zu diesen Köstlichkeiten wurde ein roter<br />

Bordeaux serviert, und als Dessert gab es Eistorte und Champagner,<br />

schließlich wurden noch Mokka und französischer Kognak<br />

serviert; am Abend war ein Bankett mit anschließendem Ball.»<br />

Während man auf die Suppe wartete, sah <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

sich ernst in <strong>der</strong> Runde um und sagte dann langsam und feierlich:<br />

«Während <strong>der</strong> vergangenen Monate habe ich oft über mein<br />

Leben nachgedacht. Ich regiere jetzt seit vierzehn Jahren, und ich<br />

habe während dieser Zeit mein Land aufgebaut, Preußen ist jetzt in<br />

einem Stand, dass mein Nachfolger mein Werk vollenden kann, bis<br />

zur Volljährigkeit natürlich unter <strong>der</strong> Obhut eines Regenten, kurz:<br />

Ich möchte abdanken.»<br />

352


Er schwieg und betrachtete neugierig die erstaunten Gesichter<br />

<strong>der</strong> Anwesenden.<br />

Sophie Dorotheas Gedanken überstürzten sich: Er dankt ab, Fritz<br />

wird König, ich kann die englische Doppelheirat arrangieren, und<br />

wir werden endlich ein kultiviertes Hofl eben führen.<br />

Wilhelmines Herz begann zu klopfen, ich werde meinen Cousin<br />

heiraten und irgendwann Königin von England sein, dachte sie und<br />

senkte die Augen, um ihre Erregung zu verbergen.<br />

Seckendorff und Grumbkow sahen einan<strong>der</strong> bestürzt an und<br />

dachten: Diese Abdankung muss verhin<strong>der</strong>t werden, sonst wird<br />

Preußen ein Vasall Englands.<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte unmerklich zusammen und sah starr vor sich<br />

hin, um seine Freude zu verbergen. Mein Gott, will Papa wirklich<br />

abdanken? Dann werde ich früher als erwartet König, dann muss<br />

ich nicht mehr unter seiner Vormundschaft leiden, dann kann ich<br />

so leben, wie ich will. Es ist zu schön, um wahr zu sein; träume ich,<br />

o<strong>der</strong> hat er wirklich von Abdankung gesprochen?<br />

Er sah vorsichtig zu seinem Vater, und als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

den Blick des Kronprinzen bemerkte, spürte er, wie erneut Hass<br />

gegen seinen ältesten Sohn aufstieg, und er brüllte: «Du glaubst<br />

jetzt, dass du Kurfürst von Brandenburg und König in Preußen<br />

wirst. Denke daran, dass du einen jüngeren Bru<strong>der</strong> hast, <strong>der</strong> ein<br />

würdigerer Nachfolger ist als du, ich werde dich meinem Willen<br />

unterwerfen, und du wirst zugunsten deines Bru<strong>der</strong>s auf deine<br />

Erbrechte verzichten!»<br />

Die Anwesenden sahen einan<strong>der</strong> entgeistert an, und <strong>Friedrich</strong><br />

spürte ein fl aues Gefühl im Magen.<br />

Ich muss die Ruhe bewahren, dachte er verzweifelt, ich will König<br />

werden; und plötzlich wusste er, was er dem Vater antworten<br />

konnte.<br />

Er lächelte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm an: «Lieber Papa, ich bin gerne bereit,<br />

auf meine Erbrechte zu verzichten, vorausgesetzt, Sie erklären,<br />

dass ich unehelich bin.»<br />

Die Anwesenden sahen einan<strong>der</strong> belustigt an, und Seckendorff<br />

bemühte sich, nicht laut zu lachen. Sophie Dorothea blickte unsicher<br />

auf ihren Teller und dachte: Das war die richtige Antwort, aber sie<br />

ist auch eine Herausfor<strong>der</strong>ung. Wie wird mein Mann reagieren?<br />

353


Der König starrte den Kronprinzen einige Sekunden lang fassungslos<br />

an: Die Antwort ist eine Frechheit, <strong>der</strong> Bengel ist mir irgendwie<br />

überlegen, aber er muss aufpassen. Noch bin ich <strong>der</strong> König.<br />

Er unterdrückte seinen Zorn und erwi<strong>der</strong>te: «Meine Damen<br />

und Herren, ich denke, je<strong>der</strong> weiß, dass <strong>der</strong> Kronprinz ehelich ist.»<br />

Die Lakaien trugen die Suppe auf, und eine Weile senkte sich<br />

Schweigen über die Tafel.<br />

Während man auf den Braten wartete, sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

nachdenklich: «Ich möchte abdanken und mich mit meiner Familie<br />

nach Wusterhausen zurückziehen, 10 000 Taler jährlich reichen für<br />

das tägliche Leben eines märkischen Gutsbesitzers. In Wusterhausen<br />

werde ich zu Gott beten und für die gute Bestellung <strong>der</strong> Fel<strong>der</strong><br />

sorgen, während meine Frau und meine Töchter das Hauswesen<br />

übernehmen werden.»<br />

Er sah Wilhelmine an und fuhr fort: «Sie sind geschickt, ich werde<br />

Ihnen die Aufsicht über die Leinenwäsche übertragen, die Sie<br />

nähen werden. Frie<strong>der</strong>ike ist sparsam und wird sich um die Vorratskammern<br />

kümmern. Charlotte wird die Lebensmittel einkaufen,<br />

die ein Gut nicht produzieren kann, also Salz, Zucker, Kaffee<br />

und Tee, und meine Frau wird den Haushalt leiten.»<br />

Sophie Dorothea erschrak.<br />

Mon Dieu, soll ich etwa den Rest meines Lebens in diesem grässlichen<br />

Schloss als einfache Gutsherrin verbringen? Ist mein Mann<br />

verrückt geworden?<br />

Sie sah zu Wilhelmine, die hilfl os vor sich hin starrte, sie sah<br />

zu Seckendorff und Grumbkow, <strong>der</strong>en Gesichter undurchdringlich<br />

wirkten.<br />

Sophie Dorothea überlegte: Grumbkow ist sicherlich nicht daran<br />

interessiert, dass mein Mann abdankt, wahrscheinlich wird er versuchen,<br />

ihn davon abzubringen.<br />

Sie sah <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> nachdenklich mit dem Messer spielte. König<br />

<strong>Friedrich</strong> II., dachte sie, ja, das wünsche ich mir, aber ein Leben<br />

in Wusterhausen, nein. Wie kommt er nur auf solche Ideen? Jedenfalls<br />

will er mich nicht als Regentin einsetzen, hoffentlich gelingt<br />

es Grumbkow, ihn von dieser Abdankungsidee abzubringen.<br />

Während die Lakaien Schweinebraten und Erbsen mit Speck servierten,<br />

lächelte sie den Gatten an: «<strong>Friedrich</strong> ist noch nicht voll-<br />

354


jährig. Wem wollen Sie die Regentschaft nach Ihrer Abdankung<br />

übertragen?»<br />

«Wem? Dem Thronprätendenten natürlich, dem Markgrafen<br />

von Schwedt.»<br />

«Wie bitte? Ausgerechnet <strong>der</strong> ‹tolle Markgraf›, <strong>der</strong> sich nur für<br />

die Jagd und leichtlebige Weiber interessiert, ausgerechnet er soll<br />

die Regentschaft für <strong>Friedrich</strong> führen?»<br />

«Beruhigen Sie sich, liebe Frau, <strong>der</strong> Markgraf ist nicht nur ein<br />

Jäger und Schürzenjäger, er hat im O<strong>der</strong>bruch viel Land urbar gemacht<br />

und es an die Bauern und Tabakzüchter verteilt, seine Besitzungen<br />

verwaltet er vorbildlich, und seinen Untertanen geht es<br />

gut, bei Krankheiten stellt er sogar seine eigenen Medikamente zur<br />

Verfügung.»<br />

Sophie Dorothea schwieg resigniert.<br />

Ich kann nur abwarten, dachte sie, manche Probleme lösen sich<br />

von selbst.<br />

<strong>Friedrich</strong> zerteilte nachdenklich ein Stück Fleisch: Ein Regent,<br />

dachte er, das ist nicht in meinem Sinn. Wenn ich König bin, will<br />

ich allein regieren, ich will so regieren, wie ich es für richtig halte,<br />

und mich nicht von einem Regenten bevormunden lassen; unter<br />

einem Regenten wird es zu ähnlichen Konfl ikten kommen wie bei<br />

Papa, und wahrscheinlich wird Papa sich von Wusterhausen aus in<br />

die Regierung einmischen. Hoffentlich ist seine Abdankung nur<br />

eine vorübergehende Laune, wenn ich König werde, dann will ich<br />

allein regieren und befehlen.<br />

In diesem Augenblick sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Es ist mir ein<br />

Bedürfnis, Gott noch besser zu dienen als bisher. Ich habe beschlossen,<br />

Ihnen künftig nach den Mahlzeiten einen Bibeltext vorzulesen<br />

und ihn dann auszulegen. Die Konfi rmation meines ältesten<br />

Sohnes ist ein würdiger Anlass, am heutigen Abend damit zu beginnen.»<br />

Die königliche Familie und die Hofl eute sahen einan<strong>der</strong> verzweifelt<br />

an.<br />

Er wird allmählich wirklich verrückt, dachte Sophie Dorothea.<br />

Gütiger Himmel, dachte <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> entsetzliche Religionsunterricht<br />

ist endlich überstanden, und nun muss ich mir Papas<br />

Predigten anhören.<br />

355


Nach <strong>der</strong> Marzipantorte reichte ein Lakai <strong>Friedrich</strong> Wilhelm die<br />

Bibel: «Ich werde heute den dreizehnten Vers aus dem fünzehnten<br />

Kapitel des Johannesevangeliums auslegen. Der Vers lautet: ‹Niemand<br />

hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine<br />

Freunde.›»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm legte die Bibel zur Seite, ließ einen Augenblick<br />

verstreichen und fuhr fort: «Freundschaft, das ist ein großes<br />

Wort. ‹Du bist mein Freund›, das wertet einen Menschen ungeheuer<br />

auf. Er steht nicht mehr alleine mit dem Rücken zur Wand, jetzt<br />

hat er einen Menschen an seiner Seite, jetzt hat er einen Freund als<br />

Rückhalt. Und das auf Dauer, denn Freundschaft ist keine Eintagsfl<br />

iege, wie man das von mehr zufälligen Bekanntschaften sagen<br />

kann. Wer einen Menschen seinen Freund nennt, wer Gott selbst<br />

zum Freund hat, lässt sich selbst los und lässt sich auf den an<strong>der</strong>en<br />

ein, nicht etwa völlig kritik- und willenlos, son<strong>der</strong>n ungeschützt,<br />

offen und frei. Er hat Vorbehalte irgendwelcher Art nicht nötig.<br />

Das ist <strong>der</strong> Vorteil zwischen Freunden, dass sie nicht im Schutzraum<br />

ihrer Gefühle sitzenbleiben müssen, son<strong>der</strong>n sich mitteilen,<br />

Ärger und Leid, Freude und Glück teilen können. Für ein solches<br />

Freundschaftsverhältnis muss es vernünftige Gründe geben, sonst<br />

kann es nicht tragen: zum Beispiel die Erfahrung, dass <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

das Beste für mich, für mein Leben und meine Zukunft will. Aber<br />

echte Freundschaft geht über diese Vernunftgründe hinaus. Sie<br />

traut dem an<strong>der</strong>en und vertraut sich ihm deshalb an, echte Freundschaft<br />

lebt nicht nur aus <strong>der</strong> Vernunft, sie lebt aus dem Wagnis, sie<br />

glaubt dem an<strong>der</strong>en, weil sie an ihn glaubt.<br />

Unter Menschen ist auch eine tiefe Freundschaft immer noch<br />

vom Scheitern und damit von <strong>der</strong> Entwertung <strong>der</strong> Partner bedroht.<br />

Freunde sollen einan<strong>der</strong> immer nahe sein, das heißt, sie wollen zum<br />

lebendigen Austausch miteinan<strong>der</strong> kommen. Trotz <strong>der</strong> Verschiedenheiten<br />

muss einer vom an<strong>der</strong>en etwas haben, wenn Freundschaft<br />

bestehen soll. Da frage ich mich schon etwas verlegen, was<br />

Jesus von mir hat. Ich habe immerhin seinen Beistand, aber was<br />

hat er von mir? Nichts als meinen freien Glauben; aber das ist auch<br />

alles, was ein Mensch wirklich schenken kann. Ich bin glücklich,<br />

dass ihm das genügt. Denn diese Freundschaft macht auch meinen<br />

beson<strong>der</strong>en Wert vor Gott aus, Amen.»<br />

356


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg und die Tischgesellschaft atmete erleichtert<br />

auf.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah nachdenklich vor sich hin.<br />

Papas Gedanken über die Freundschaft sind richtig, dachte er,<br />

merkwürdig, ich wusste bis jetzt nicht, dass er über <strong>der</strong>lei Lebensfragen<br />

nachdenkt, eines weiß ich nach dieser Predigt: Ich brauche<br />

einen Freund, einen wirklichen Freund, bisher habe ich ihn noch<br />

nicht gefunden. Werde ich jemals einen Freund haben, dem ich voll<br />

vertrauen kann?<br />

357


358<br />

6<br />

Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm an einem Spätnachmittag im Oktober<br />

mit seinem Gefolge nach <strong>der</strong> Jagd in den Hof von Wusterhausen<br />

ritt, kam ihnen Professor Francke mit ernstem Gesicht entgegen.<br />

Er ignorierte die spöttischen Augen des Kronprinzen und <strong>der</strong><br />

übrigen Herren und ging zum König. <strong>Friedrich</strong> Wilhelm stieg vom<br />

Pferd und betrachtete wohlwollend den Theologen.<br />

«Mein lieber Francke, Sie haben wahrscheinlich den ganzen Tag<br />

dem Studium <strong>der</strong> Bibel gewidmet, ich freue mich schon jetzt auf<br />

ein erbauliches Gespräch mit Ihnen bei <strong>der</strong> Abendtafel.»<br />

«Majestät, ich habe für Ihr Seelenheil gebetet, wie jeden Tag,<br />

aber ich befürchte, dass Gott meine Gebete nicht erhört. Ich bitte<br />

um Vergebung, Majestät, aber ich muss es Ihnen immer wie<strong>der</strong> sagen:<br />

Wenn Sie Ihr Seelenheil fi nden wollen, dann müssen Sie nicht<br />

nur auf Bankette, Soireen und den Genuss <strong>der</strong> Musik verzichten,<br />

son<strong>der</strong>n auch auf die Jagd und das Tabakskollegium – auch die Jagd<br />

und das Tabakskollegium zählen zu den Sünden.»<br />

Seckendorff und Grumbkow sahen einan<strong>der</strong> verzweifelt an, verließen<br />

unauffällig den Hof und begaben sich in das Zimmer von<br />

Seckendorff.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah Francke unschlüssig an und erwi<strong>der</strong>te<br />

unsicher: «Die Jagd und das Tabakskollegium sind meine einzigen<br />

Vergnügungen, ich erhole mich dabei von <strong>der</strong> Arbeit, darf <strong>der</strong><br />

Mensch sich keine Erholung gönnen? Hat unser Gott nicht einen<br />

Tag in <strong>der</strong> Woche zu Erholung und Ruhe bestimmt?»<br />

«Gewiss Majestät, Erholung und Ruhe, Ruhe, die man zur inneren<br />

Einkehr nutzen soll; die Jagd und das Tabakskollegium sind<br />

we<strong>der</strong> Erholung noch Ruhe. Überdies …», er schwieg, betrachtete<br />

den schwarzen Trauerfl or an des Königs Rockärmel und fuhr fort:<br />

«Euer Majestät und <strong>der</strong> Hof trauern noch um den englischen König.<br />

Wäre es nicht angebracht, während <strong>der</strong> Trauerzeit auf die Jagd<br />

und das Tabakskollegium zu verzichten?»<br />

<strong>Friedrich</strong> stieg vom Pferd, und als er die zerknirschte, demütige<br />

Miene seines Vaters sah, spürte er, wie Wut in ihm hochstieg.


Dieser gottverdammte Francke, dieser Pharisäer, vernebelt Papa<br />

völlig den Verstand, die Atmosphäre an unserem Hof wird immer<br />

bigotter und stickiger, lange halte ich das nicht mehr aus.<br />

«Mein lieber Francke», sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «was die Trauer<br />

um meinen Schwiegervater betrifft, so trauere ich innerlich, äußere<br />

Zeichen <strong>der</strong> Trauer sind für mich unwichtig; eine prachtvolle<br />

Feier ist die letzte Verbeugung vor dem Toten, aber kein Symbol<br />

für tiefe Trauer.»<br />

Die Offi ziere sahen einan<strong>der</strong> an, und Buddenbrock sagte leise zu<br />

Finck: «Der König denkt wahrscheinlich an die aufwendige Beisetzung,<br />

die er anno 13 für seinen Vater inszenierte.»<br />

Dieser Pharisäer hat es noch nicht einmal geschafft, Papa die<br />

Jagd und die Tabagie auszureden, dachte <strong>Friedrich</strong> wütend, wie lange<br />

wird er noch bleiben? Hoffentlich verschwindet er bald.<br />

Francke neigte den Kopf: «Majestät, erlauben Sie mir, morgen<br />

bei Tagesanbruch Wusterhausen zu verlassen. Meine Anwesenheit<br />

in Halle ist dringend erfor<strong>der</strong>lich. Vorhin erhielt ich einen Brief<br />

meines Stellvertreters: Zwei Jungen sind aus meinem Waisenhaus<br />

gefl üchtet, man hat sie inzwischen gefunden und zurückgebracht,<br />

aber mein Stellvertreter, Pastor Freylinghausen, weiß nicht, ob er<br />

sie bestrafen soll o<strong>der</strong> nicht, er bittet mich um meine Rückkehr,<br />

damit ich weitere Entscheidungen treffe.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Theologen verblüfft an: «Wie bitte?<br />

Ihr Stellvertreter weiß nicht, wie er die jungen Burschen behandeln<br />

soll? Sie sind desertiert, in meiner Armee wird Desertion mit<br />

dem Tod bestraft. Nun gut, Ihre Waisenjungen sind halbe Kin<strong>der</strong>,<br />

die man noch formen kann, aber sie haben Prügel verdient<br />

und mindestens drei Tage Stubenarrest bei Wasser und trockenem<br />

Brot.»<br />

Francke erwi<strong>der</strong>te zögernd: «Mit Verlaub, Majestät, ich, ich weiß<br />

nicht …»<br />

Er schwieg und starrte die Jagdgesellschaft hilfl os an.<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte die untersetzte, beleibte Gestalt des Pfarrers<br />

und die schulterlangen braunen Haare, die von einer kleinen<br />

schwarzen Kappe bedeckt wurden, und dachte: Flucht, ein missglückter<br />

Fluchtversuch – warum? Soll ich schweigen, es wäre vielleicht<br />

besser, aber warum schweigen?<br />

359


Er lächelte Francke spöttisch an: «Herr Pfarrer, bevor Sie über<br />

die Bestrafung <strong>der</strong> Jungen nachdenken, sollten Sie einmal überlegen,<br />

warum sie fl iehen wollten. Man fl ieht nicht ohne triftige<br />

Gründe.»<br />

Der Theologe sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an, und <strong>der</strong> König spürte,<br />

wie Wut über den Sohn in ihm hochstieg, und schrie: «Schweige,<br />

Fritz, mische dich nicht in Angelegenheiten, die dich nichts angehen!»<br />

In diesem Augenblick eilte die Ramen aus dem Schloss und rief:<br />

«Majestät, Königliche Hoheit, Ihre Majestät bittet Sie, sofort zu Ihrer<br />

Majestät zu kommen, Ihre Majestät hat einen Brief aus England<br />

erhalten!»<br />

Der König und <strong>Friedrich</strong> eilten in Sophie Dorotheas Schlafzimmer<br />

und verweilten einen Augenblick bestürzt am Eingang, als sie<br />

die weinende Wilhelmine sahen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat zögernd zu <strong>der</strong> Gattin: «Liebe Frau, was<br />

ist passiert?»<br />

Sophie Dorothea reichte ihm einen Brief: «Lesen Sie! Meine<br />

Schwägerin hat am 3. Oktober zu unserem Gesandten gesagt: ‹Wir<br />

wollen den Roman nicht von hinten anfangen, bringt erst die Geschäfte<br />

in Ordnung, und dann kann ich mit Erfolg an <strong>der</strong> Heirat<br />

arbeiten.› Reichenbachs Bericht über diese Unterredung wird<br />

wahrscheinlich in einigen Tagen eintreffen. Die For<strong>der</strong>ung meiner<br />

Schwägerin bedeutet, dass Sie Ihr Bündnis mit dem Kaiser werden<br />

lösen müssen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm überfl og den Brief, warf ihn wütend zu Boden<br />

und rief: «Nein, ich werde dem Kaiser nicht untreu werden!<br />

Mein Schwager, <strong>der</strong> Komödiant, will meine Wilhelmine nicht als<br />

Schwiegertochter, nun gut, dann werde ich meine Tochter eben an<strong>der</strong>weitig<br />

verheiraten!»<br />

Er trat zu Wilhelmine und hob ihr tränennasses Gesicht zu sich<br />

empor: «Mein liebes Kind, grämen Sie sich nicht, es gibt noch an<strong>der</strong>e<br />

Heiratskandidaten als den Prinzen von Wales.»<br />

«Ja, Papa», und sie tupfte mit ihrem Taschentuch die Augen trocken.<br />

Sophie Dorothea begann zu weinen und sagte leise: «Warum,<br />

warum nur musste mein Vater plötzlich sterben? Mon Dieu, ich<br />

360


werde nie den Tag vergessen, als ich erfuhr, dass er am 22. Juni,<br />

während seiner Reise nach Hannover, einen Schlaganfall erlitt und<br />

starb. Wäre er noch am Leben, dann wäre Wilhelmine jetzt mit<br />

ihrem Cousin verlobt – warum musste er so plötzlich sterben?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete die Gattin und empfand plötzlich<br />

Mitleid. Er nahm ihre Hände und überlegte, wie er ihr Trost zusprechen<br />

konnte.<br />

Die Trauer um ihren Vater kann ihr niemand abnehmen, dachte<br />

er, es ist Gottes Wille, dass mein Schwiegervater plötzlich starb,<br />

und dann sagte er zögernd: «Liebe Frau, es war <strong>der</strong> Wille Gottes,<br />

<strong>der</strong> Wille Gottes ist für uns Menschen oft nicht verständlich, wir<br />

müssen ihn einfach akzeptieren», und im Stillen dachte er: Wer<br />

weiß, wozu es gut ist, dass mein Schwiegervater plötzlich starb,<br />

wer weiß, wozu es gut ist, wenn dadurch diese leidige Heiratsfrage<br />

gelöst wird.<br />

Er verließ das Zimmer, und die Königin und ihre Kin<strong>der</strong> sahen<br />

sich einen Augenblick ratlos an.<br />

Nach einer Weile sprach Sophie Dorothea: «Der Brief meiner<br />

Schwägerin ist gewiss nicht ermutigend, aber ich habe die Hoffnung<br />

noch nicht aufgegeben, ich werde weiterhin mit ihr korrespondieren<br />

und Dubourgay und Rothenburg bitten, mich zu unterstützen,<br />

und ihr solltet mit euren künftigen Gatten ebenfalls<br />

weiter korrespondieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sagte: «Mama, mein Onkel ist an einer Doppelheirat<br />

interessiert, vielleicht wäre es gut, wenn ich ihm folgenden Vorschlag<br />

unterbreite: Da Papa gegen eine Doppelheirat ist, könnte<br />

Wilhelmine zunächst den Prinzen von Wales heiraten, und ich<br />

gebe mein Ehrenwort, dass ich nur die Prinzessin Amalie heiraten<br />

werde.»<br />

Sophie Dorothea sah den Sohn erstaunt an: «Das wäre eine Lösung,<br />

aber mein Gefühl sagt mir, dass jetzt nicht <strong>der</strong> richtige Moment<br />

ist, dies vorzuschlagen; wir werden weiterhin korrespondieren<br />

und abwarten.»<br />

Seckendorff öffnete eine Flasche Tokaier, füllte zwei Gläser und<br />

sagte zu Grumbkow: «Auf das Wohl des Kaisers. Jupiter redet zwar<br />

nicht mehr von einer Abdankung, aber seine Predigten nach <strong>der</strong><br />

361


Tafel sind unerträglich, und dieser Francke verdreht ihm noch völlig<br />

den Kopf. Wenn <strong>der</strong> König das Tabakskollegium aufgibt, verliere<br />

ich an Einfl uss, gottlob hat die englische Heirat sich inzwischen<br />

anscheinend von selbst erledigt, wenn man Reichenbach glauben<br />

darf, hat Georg II. kein Interesse an einer preußischen Schwiegertochter.»<br />

Grumbkow trank bedächtig einen Schluck Tokaier, sah Seckendorff<br />

an und erwi<strong>der</strong>te: «Der englische König ist zurzeit an <strong>der</strong><br />

Prinzessin Wilhelmine nicht interessiert, aber angenommen, die außenpolitische<br />

Situation än<strong>der</strong>t sich, dann interessiert sich Georg II.<br />

vielleicht auch wie<strong>der</strong> für eine preußische Schwiegertochter. Ich<br />

befürchte, dass die englische Heirat zurzeit nur auf Eis liegt. Die<br />

Prinzessin müsste in einigen Monaten heiraten, dann wäre dieses<br />

Problem für dich und den Wiener Hof erledigt.»<br />

«Weißt du einen passenden Kandidaten?»<br />

«August <strong>der</strong> Starke, Kurfürst von Sachsen und König von Polen.<br />

Er ist zwar schon Ende fünfzig, aber er liebt nach wie vor junge<br />

Frauen, und er ist Witwer, man müsste ihn für die Prinzessin interessieren,<br />

und gleichzeitig könnte man Jupiter vielleicht von seiner<br />

Bigotterie ablenken.»<br />

Seckendorff sah Grumbkow an und lächelte: «Du hast wahrscheinlich<br />

schon einen Plan entwickelt.»<br />

«Ich denke immer einige Züge voraus, wie beim Schach, also:<br />

In einigen Monaten haben wir Karneval, <strong>der</strong> in Dresden immer<br />

prachtvoll gefeiert wird. August müsste Jupiter zum Karneval einladen,<br />

und in Dresden könnten die Majestäten über die Heirat reden,<br />

und Jupiter wird vielleicht von seiner Frömmelei abgelenkt.»<br />

Seckendorff überlegte: «Die Prinzessin Wilhelmine als Gattin<br />

des starken August? Warum nicht?»<br />

«Gut, ich werde sofort an den sächsischen Gesandten schreiben,<br />

um eine Unterredung bitten und in den nächsten Tagen Wusterhausen<br />

unter einem Vorwand verlassen.»<br />

Als Grumbkow gegangen war, setzte Seckendorff sich seufzend<br />

an seinen Schreibtisch, nahm einen leeren Bogen Papier, tauchte<br />

die Fe<strong>der</strong> in das Tintenfass und dachte nach: Prinz Eugen erwartet<br />

einen detaillierten Bericht über den Kronprinzen, wie soll ich<br />

ihn beschreiben, wie wirkt er auf mich? Eines ist sicher: Der König<br />

362


strapaziert und ermüdet ihn mit diesem Tageslauf, <strong>der</strong> fast bis auf<br />

jede Minute geregelt ist. Und <strong>der</strong> Prinz? Er fängt an, seine jugendliche<br />

Unbekümmertheit zu verlieren, er wirkt gekünstelt, unnatürlich,<br />

fast greisenhaft, das passt nicht zu seiner Jugend; wieso wirkt<br />

er so ältlich und steif?<br />

Seckendorff legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite, lehnte sich zurück, dachte<br />

einen Augenblick nach, und dann erhob er sich plötzlich und ging<br />

unruhig auf und ab.<br />

Ja, dachte er, das ist wahrscheinlich <strong>der</strong> Grund: Der Prinz verstellt<br />

sich, um den Druck, den <strong>der</strong> Vater auf ihn ausübt, zu ertragen,<br />

und diese permanente Verstellung verformt sein Wesen, weil<br />

Verstellung höchste Selbstbeherrschung erfor<strong>der</strong>t.<br />

Erleichtert setzte er sich an den Tisch und begann, den Bericht<br />

zu schreiben.<br />

Während man an <strong>der</strong> Abendtafel auf die Suppe wartete, wan<strong>der</strong>ten<br />

Franckes Augen vorsichtig zu <strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine, und er<br />

dachte im Stillen: Der Kronprinz und seine Schwester sind an<strong>der</strong>s<br />

als die jüngeren Geschwister, sie schweigen und sehen einan<strong>der</strong><br />

nur nachdenklich und stumm an, sie wirken wie Verschwörer.<br />

Dann betrachtete er den kleinen August Wilhelm, <strong>der</strong> den König<br />

vergnügt ansah. <strong>Friedrich</strong> Wilhelm strich dem Sohn über die<br />

Haare, lächelte verschmitzt, nahm die rechte Hand des Kleinen,<br />

hob sein Messer, hielt es über das Handgelenk und sagte ernst: «Ich<br />

schneide dir jetzt die Finger ab.»<br />

Die Anwesenden erstarrten, und Sophie Dorothea schrie auf, da<br />

rief August Wilhelm: «Oh Papa, Sie haben mich ja viel zu lieb, als<br />

dass Sie das tun sollten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lachte, die Tischgesellschaft lachte ebenfalls,<br />

und Francke beobachtete, dass nur <strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine<br />

stumm auf ihre Teller sahen. Francke betrachtete August Wilhelm<br />

und sagte: «Majestät, <strong>der</strong> kleine Prinz und seine Schwestern, wie<br />

soll ich es sagen, es sind so liebe Kin<strong>der</strong>, sie haben so helle, aufrichtige,<br />

unschuldige Gesichter.»<br />

Frie<strong>der</strong>ike Luise und Sophie Dorothea erröteten über das Lob und<br />

sahen verlegen auf ihre Teller, Philippine Charlotte und Ulrike begannen<br />

zu kichern, Amalie strahlte Francke an – und <strong>Friedrich</strong> und<br />

363


Wilhelmine begannen, laut zu lachen. Sophie Dorothea presste ein<br />

Taschentuch vor den Mund, um ihren Lachreiz zu unterdrücken,<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schlug mit <strong>der</strong> Faust auf den Tisch und schrie:<br />

«Fritz, Wilhelmine, <strong>der</strong> Professor ist unser Gast, ich befehle, dass<br />

ihr ihm mit dem gebührenden Respekt begegnet!»<br />

Die Geschwister zuckten zusammen und verstummten.<br />

Die Lakaien servierten die Suppe, und einige Minuten lang erstarb<br />

die Unterhaltung. <strong>Friedrich</strong> Wilhelm löffelte gierig zwei Teller,<br />

dann lehnte er sich wohlig seufzend zurück, fuhr mit <strong>der</strong> Serviette<br />

über den Mund, leerte sein Weinglas in wenigen Zügen und<br />

sagte zu Francke: «Ich kann verstehen, dass Sie so rasch wie möglich<br />

nach Halle zurückkehren möchten, um die kleinen Deserteure zu<br />

bestrafen, ich habe angeordnet, dass morgen bei Tagesanbruch alles<br />

für Ihre Abreise bereit ist, und ich hoffe, dass Sie noch öfter als Gast<br />

an meinem Hof weilen werden.»<br />

Die Anwesenden sahen einan<strong>der</strong> entsetzt an und schwiegen.<br />

«Ich danke Eurer Majestät, Eure Majestät sind zu gütig», dann<br />

sah Francke hilfl os auf den leeren Teller und sagte nach einer Weile:<br />

«Ich verstehe es nicht, ich verstehe nicht, warum die Jungen<br />

gefl ohen sind. In meinem Waisenhaus werden sie bestens versorgt,<br />

sie müssen nicht hungern und frieren, sie werden sauber gekleidet,<br />

sie lernen lesen, schreiben und rechnen, sie erlernen ein Handwerk,<br />

um einmal ihr Brot verdienen zu können, warum haben sie mein<br />

Haus verlassen?»<br />

«Denken Sie nicht so viel darüber nach», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm, «die jungen Burschen sind undankbar, ihnen muss das<br />

Leben erklärt werden, kurz: eine ordentliche Tracht Prügel und<br />

Stubenarrest.»<br />

«Mit Verlaub, Majestät, ich weiß nicht, ob dies <strong>der</strong> richtige Weg<br />

ist.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete spöttisch die hilfl ose Miene des Theologen,<br />

und plötzlich konnte er sich nicht länger beherrschen. Es ist ein<br />

Fehler, wenn ich jetzt offen sage, was ich denke, überlegte er, aber<br />

ich muss es einfach sagen.<br />

Er lächelte Francke an: «Ich bitte um Vergebung, dass ich mich<br />

in Ihre Angelegenheiten mische, aber wenn ein Mensch aus <strong>der</strong><br />

gewohnten Umgebung fl ieht, dann gibt es für ihn einen, vielleicht<br />

364


auch mehrere Gründe. Sie sagen, den Waisenkin<strong>der</strong>n mangelt es<br />

we<strong>der</strong> an Kleidung noch Nahrung; vielleicht vermissen die Kin<strong>der</strong><br />

Liebe und Zuwendung, vielleicht empfi nden sie das Waisenhaus als<br />

Gefängnis, weil ihr Tageslauf streng geregelt ist. Sehen Sie sich die<br />

preußische Armee an, fast täglich desertieren Soldaten, und warum?<br />

In <strong>der</strong> preußischen Armee werden die Soldaten bestens versorgt,<br />

sie erhalten pünktlich ihren Sold, sie stehen in <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Hierarchie über jedem Zivilisten; warum desertieren sie also?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm beobachtete seinen Sohn und empfand Zorn,<br />

Hass und ein merkwürdiges Gefühl von Unterlegenheit.<br />

Er schlug mit <strong>der</strong> Faust auf den Tisch und schrie: «Schweige,<br />

mische dich nicht in Angelegenheiten, die dich nichts angehen!»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte den Vater an, sprang auf und rief: «Die Zustände<br />

in <strong>der</strong> preußischen Armee gehen mich sehr wohl etwas an,<br />

irgendwann werde ich <strong>der</strong> Oberbefehlshaber dieser Armee sein,<br />

und ich weiß, warum die Soldaten desertieren. Viele wurden gegen<br />

ihren Willen mit dubiosen Methoden gezwungen, in <strong>der</strong> preußischen<br />

Armee zu dienen, sie wollen ihre Freiheit, sie ertragen den<br />

täglichen Drill nicht, sie wollen nicht länger die Uniform, diesen<br />

Sterbekittel, tragen, deswegen desertieren sie!»<br />

Sophie Dorothea sah ihren Sohn verzweifelt an und gab ihm ein<br />

Zeichen, dass er schweigen solle, aber <strong>Friedrich</strong> achtete nicht auf<br />

sie, er starrte seinen Vater hasserfüllt an, <strong>der</strong> sich langsam erhob,<br />

zu dem Sohn ging und ihn ohrfeigte.<br />

<strong>Friedrich</strong> wich unter den Schlägen einige Schritte zurück und<br />

rief: «Die preußische Uniform ist ein Sterbekittel!»<br />

Die Anwesenden sahen sich an, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm packte<br />

den Sohn an den Schultern und brüllte: «Verschwinde, geh auf dein<br />

Zimmer, ich will dich während <strong>der</strong> kommenden Tage nicht mehr<br />

sehen, du hast Stubenarrest, bis wir Wusterhausen verlassen, verschwinde,<br />

du ungeratener Sohn!»<br />

<strong>Friedrich</strong> eilte hinweg, und <strong>der</strong> König sank ächzend auf seinen<br />

Stuhl.<br />

Die Lakaien servierten Schweinebraten und Weißkohl, und die<br />

Tischgäste sahen verlegen und unsicher auf ihre Teller und schwiegen.<br />

365


Nach <strong>der</strong> dritten Portion Braten trank <strong>Friedrich</strong> Wilhelm einen<br />

großen Schluck Wein, lehnte sich zurück und sah Francke an: «Es<br />

ist schwer, in den Himmel zu kommen.»<br />

Der Theologe erwi<strong>der</strong>te: «Majestät, was bei den Menschen unmöglich<br />

ist, das ist bei Gott möglich.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm leerte sein Glas und sagte mehr zu sich selbst<br />

als zu den Anwesenden: «Ich bin ein böser Mensch, und wenn ich<br />

einen Tag gut bin, so bin ich doch hernach gleich wie<strong>der</strong> böse. Das<br />

weiß ich wohl, aber ich kann nicht an<strong>der</strong>s werden.»<br />

Er sah Francke an und sagte so laut, dass alle seine Worte hören<br />

konnten: «Ich kann noch eine Weile leben, und ich werde in<br />

meinem Christentum besser, welches Gott gebe, o<strong>der</strong> schlimmer.<br />

Wenn ich aber schlimmer werden sollte, so halte ich alle die Priester,<br />

die es sehen und mir nicht sagen, für Erzschelme. Mein lieber<br />

Francke, ich werde heute auf mein geliebtes Tabakskollegium<br />

verzichten, ich möchte den Abend mit Ihnen verbringen und über<br />

religiöse Probleme diskutieren.»<br />

Unterdessen ging <strong>Friedrich</strong> in seinem Zimmer unruhig auf und<br />

ab und sprach leise vor sich hin: «Ich habe mich wie ein Narr benommen,<br />

warum konnte ich nicht schweigen? Ich muss lernen,<br />

meine Gefühle zu beherrschen, ich muss endlich lernen, mich gegenüber<br />

Papa zu verstellen, es ist die einzige Möglichkeit, um mich<br />

vor Schlägen zu schützen und um mein eigenes Leben zu führen,<br />

wenn er nicht in <strong>der</strong> Nähe ist. Verstellung, Verstellung und noch<br />

einmal Verstellung, ich muss es lernen, weil ich mich auch als König<br />

verstellen muss, zumindest, was die Außenpolitik betrifft.»<br />

Er zog die Stiefel aus, nahm einen französischen Roman, legte sich<br />

auf sein Bett und dachte: Der Stubenarrest befreit mich wenigstens<br />

von <strong>der</strong> Teilnahme an diesen wi<strong>der</strong>lichen Parforcejagden, ich werde<br />

die restlichen Tage hier genüsslich lesen und musizieren können.<br />

Nach einer Weile betrat Sternemann das Zimmer: «Verzeihen<br />

Sie die Störung, Königliche Hoheit, aber Herr Francke wartet draußen,<br />

er möchte sich von Ihnen verabschieden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah unwillig auf: «Er soll bleiben, wo <strong>der</strong> Pfeffer<br />

wächst», dann erinnerte er sich an seinen Vorsatz, stand auf, zog<br />

die Stiefel an und sagte: «Lasse Er den Pharisäer eintreten.»<br />

366


Er musterte den Theologen von oben bis unten, und Francke<br />

spürte, dass er unter dem spöttischen Blick des Kronprinzen unsicher<br />

wurde.<br />

«Königliche Hoheit, ich bitte um Vergebung, dass ich Ihre Ruhe<br />

störe, aber ich muss sofort zu Seiner Majestät, Seine Majestät<br />

möchte sich mit mir über religiöse Probleme unterhalten, das ist<br />

eine große Ehre für mich, das Gespräch kann bis Mitternacht dauern;<br />

da ich morgen sehr früh aufbreche, möchte ich mich jetzt von<br />

Eurer Königlichen Hoheit verabschieden.»<br />

«Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.»<br />

«Vielen Dank, Königliche Hoheit, ich werde für Sie beten, Königliche<br />

Hoheit, ich …»<br />

Er schwieg und sah verlegen zu Boden.<br />

<strong>Friedrich</strong> ging langsam zu dem Theologen: «Für mich müssen<br />

Sie nicht beten, meine Probleme löse ich mit dem Verstand, nicht<br />

mit <strong>der</strong> Religion, beten Sie für meinen Vater.»<br />

«Selbstverständlich, Königliche Hoheit. Königliche Hoheit, ich<br />

weiß, dass Sie gerne lesen, erlauben Sie, dass ich Ihnen einige erbauliche<br />

Bücher übersende, Bücher, <strong>der</strong>en Lektüre Ihnen in schwierigen<br />

Lebenssituationen helfen kann.»<br />

«Nein, habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt? Die Religion<br />

wird mir in schwierigen Situationen nie helfen, mein Verstand<br />

wird mir den richtigen Weg weisen, überdies wird in religiösen<br />

Büchern das wahre Leben oft verschleiert, das Leben mit<br />

seinen Höhen und Tiefen wird in den vielgeschmähten Romanen<br />

dargestellt.»<br />

Er ging zum Bett, nahm das Buch und zeigte es Francke.<br />

«Sehen Sie, ich lese im Augenblick den Roman ‹Die Prinzessin<br />

von Cleve›, geschrieben von Marie de Lafayette. Im Vorwort wird<br />

kurz die Geschichte erzählt: Der Roman spielt um 1550 am französischen<br />

Königshof und schil<strong>der</strong>t den tragischen Verzicht einer Frau<br />

auf die Erfüllung einer leidenschaftlichen Liebe. Die Prinzessin von<br />

Cleve, als junges Mädchen einem ungeliebten Mann anvermählt,<br />

wi<strong>der</strong>steht nach dem Tod ihres Mannes dem fl ehentlichen Werben<br />

des von ihr seit langem geliebten Grafen von Nemours, weil sie sich<br />

am Tod ihres Mannes schuldig glaubt und weil sie überzeugt ist, dass<br />

Leidenschaft einer Ehe auf die Dauer nicht standhalten würde.<br />

367


Dies sind die Probleme des Lebens, <strong>der</strong> Verzicht auf eine Liebe,<br />

weil man sich moralisch am Tod eines Menschen schuldig fühlt;<br />

hier frage ich mich: Gibt es eine moralische Schuld am Tod eines<br />

Menschen, und wenn ja, wann beginnt sie? Ist die Prinzessin wirklich<br />

moralisch schuldig o<strong>der</strong> bildet sie es sich nur ein? Ich habe bis<br />

jetzt nur die ersten Seiten gelesen, aber ich hoffe, dass ich nach dieser<br />

Lektüre weiß, wann man moralisch schuldig wird am Tod eines<br />

Menschen o<strong>der</strong> am Unglück eines Menschen. Elend und Unglück<br />

sind manchmal schlimmer als <strong>der</strong> Tod.»<br />

Francke sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an und erwi<strong>der</strong>te: «Sie denken<br />

viel nach, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen. Mon Dieu, ich habe ihm gesagt,<br />

was mir durch den Kopf geht, hoffentlich erzählt er Papa nichts von<br />

dem französischen Roman und meinen Gedanken, aber ich glaube,<br />

er wird schweigen, er ist von Natur aus ein bie<strong>der</strong>er und aufrichtiger<br />

Mann, <strong>der</strong> niemandem schaden will.<br />

Er sah den Theologen an: «Gehen Sie jetzt, mein Vater wartet.»<br />

Francke verbeugte sich und eilte hinaus.<br />

Unterwegs blieb er etliche Male stehen und versuchte, seine Gedanken<br />

zu ordnen.<br />

«Der Prinz ist ein merkwürdiger Mensch», sagte er leise zu sich<br />

selbst, «wenn <strong>der</strong> König anwesend war, hat er mich höfl ich behandelt,<br />

wenn <strong>der</strong> König abwesend war, begegnete er mir spöttisch und hochmütig,<br />

erzählte hinter meinem Rücken, dass ich an Gespenster glaube,<br />

nannte mich ‹Pharisäer›; es wird wohl stimmen, Eversmann ist immer<br />

gut informiert; und nun erlebe ich, dass er über das Leben nachdenkt;<br />

er besitzt eine Doppelnatur, sein inneres Leben ist anscheinend völlig<br />

verschieden von seinem öffentlichen Leben, er verbirgt seine Gedanken<br />

– warum? Ist es nur die Angst vor dem König? Ist es eine Charaktereigenschaft?<br />

Ich verstehe die Persönlichkeit dieses Prinzen nicht,<br />

und ich glaube, an<strong>der</strong>en Menschen geht es ähnlich wie mir.»<br />

Am frühen Abend des 31. Dezember saß Sophie Dorothea mit den<br />

Kin<strong>der</strong>n und einigen Damen in ihrem Salon und wartete auf <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm.<br />

«Mon Dieu», sagte sie zu Frau von Kamecke, «er will auf sein<br />

Tabakskollegium verzichten und bis nach Mitternacht bei uns blei-<br />

368


en, um uns ein gutes neues Jahr zu wünschen, nun, er hat wenigstens<br />

ein festliches Mahl angeordnet: Austern, Karpfen, Schinken<br />

in Champagner gegart, französischen Käse, ich staune über seine<br />

Großzügigkeit.»<br />

In diesem Augenblick meldete <strong>der</strong> Diener den König, und <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm ging zu seiner Gattin, beugte sich lächelnd über<br />

ihre Hand und rief: «Liebe Frau, ich überbringe Ihnen eine gute<br />

Nachricht zum Jahresausklang: Mein Freund August, <strong>der</strong> Kurfürst<br />

von Sachsen und König von Polen, lud mich vor einigen Wochen<br />

nach Dresden zum Karneval ein. Sie wissen, dass ich <strong>der</strong>lei Vergnügungen<br />

nicht beson<strong>der</strong>s mag, ich habe lange gezögert, die Einladung<br />

anzunehmen, aber ich werde Ende Januar nach Dresden<br />

abreisen. Es gibt zwei Gründe für diese Reise: Ich möchte meine<br />

Freundschaft mit August pfl egen und …»<br />

Er schwieg einen Augenblick, sah sich feierlich um und fuhr<br />

langsam fort: «Liebe Frau, <strong>der</strong> Kurfürst von Sachsen und König<br />

von Polen bittet um die Hand unserer Tochter Wilhelmine.»<br />

Er schwieg und atmete tief durch. Für den Bruchteil einer Sekunde<br />

war es in dem Salon totenstill, dann rief Sophie Dorothea:<br />

«Mon Dieu, ist es wahr? Wilhelmine wird Königin von Polen? Königin<br />

von Polen? Mon Dieu, träume ich? Königin von Polen!»<br />

«Sie träumen nicht, liebe Frau, während meines Aufenthaltes in<br />

Dresden werde ich mit August über die Heirat verhandeln», und<br />

zu Wilhelmine: «Mein liebes Kind, Sie sehen, dass ich mein Wort<br />

halte: Ich werde Sie standesgemäß verheiraten.»<br />

«Ja, Papa, vielen Dank, Papa, verzeihen Sie, aber ich bin völlig<br />

verwirrt, ich muss mich an den Gedanken gewöhnen, es kommt<br />

alles so plötzlich – Königin von Polen …»<br />

Sophie Dorothea fächelte sich erregt Luft zu und sagte zu Wilhelmine:<br />

«Ihr Vater hat eine glänzende Partie für Sie arrangiert,<br />

<strong>der</strong> Dresdner Hof ist <strong>der</strong> kultivierteste und prachtvollste Hof in<br />

Deutschland, natürlich erst nach dem Hof in Hannover, Sie werden<br />

dort einen Reigen von Bällen, Banketten, Opern und Konzerten<br />

erleben, ich freue mich für Sie, und vor allem freue ich mich schon<br />

jetzt auf meine Besuche in Dresden.»<br />

«Ja, Mama», sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, und sah<br />

hilfesuchend zu <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> sie nachdenklich betrachtete.<br />

369


Sie sah ihren Vater an und sagte lächelnd: «Ich freue mich, Papa.<br />

Der König könnte zwar vom Alter her mein Vater sein, aber das<br />

stört mich nicht. Ich werde mich bemühen, ihm eine gute Gemahlin<br />

zu sein und angemessen zu repräsentieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete zufrieden Gattin und Tochter:<br />

«Ich sehe, meine Überraschung ist gelungen, die Heirat bedarf<br />

allerdings <strong>der</strong> Zustimmung des Kurprinzen von Sachsen, das ist<br />

Augusts Bedingung, sein Verhältnis zum Kurprinzen ist etwas gespannt,<br />

und er möchte diese Spannung nicht unnötig vertiefen.»<br />

Sophie Dorothea legte den Fächer zur Seite.<br />

«Die Zustimmung des Kurprinzen ist eine Formalität, Sie sollten<br />

überlegen, wie viele Galaklei<strong>der</strong> Sie für diesen Besuch benötigen,<br />

schließlich müssen Sie zu jedem gesellschaftlichen Ereignis passend<br />

gekleidet sein.»<br />

«Eine seidene Hose für die Abende genügt.»<br />

«Wie bitte? Nur eine seidene Hose? Nun, ich will mich nicht in<br />

Ihre Klei<strong>der</strong>angelegenheiten mischen, aber <strong>Friedrich</strong> muss standesgemäß<br />

auftreten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah die Gattin erstaunt an: «Fritz bleibt in<br />

Potsdam, er ist nicht eingeladen.»<br />

«In Dresden erwartet man bestimmt, dass <strong>der</strong> Kronprinz Sie begleitet.»<br />

«Das interessiert mich nicht, liebe Frau, <strong>der</strong> Französling bleibt<br />

hier, die prinzliche Zierpuppe, die sich bei einer Jagd heimlich davonschleicht,<br />

um französische Romane zu lesen, muss nicht den<br />

verführerischen Dresdner Hof kennenlernen, dort würde <strong>der</strong> Bengel<br />

nur auf dumme Gedanken kommen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah enttäuscht vor sich hin und sagte leise zu Borcke:<br />

«Ich würde so gerne nach Dresden reisen, ich würde so gerne einmal<br />

aus dieser muffi gen, sparsamen Berliner Hofl uft herauskommen.»<br />

Wilhelmine beobachtete die Miene des Bru<strong>der</strong>s und überlegte:<br />

Wie könnte ich seine Reise nach Dresden arrangieren?<br />

Frau von Kamecke neigte sich zu Fräulein von Sonsfeld und fl üsterte:<br />

«Ich verstehe nicht, dass unsere Majestäten ihre Tochter mit<br />

diesem alten Lüstling verheiraten wollen. Ganz zu schweigen von<br />

dem Altersunterschied, er ist inzwischen achtundfünfzig Jahre,<br />

370


aber er wird allmählich von <strong>der</strong> Syphilis aufgezehrt; wollen die<br />

Majestäten die Gesundheit ihrer Tochter ruinieren?»<br />

«Ich stimme Ihnen zu: Die Prinzessin wird mit ihm bestimmt<br />

nicht glücklich werden, er hat einen legitimen Erben und über dreihun<strong>der</strong>t<br />

illegitime Kin<strong>der</strong>, er soll in Dresden einen richtigen Harem<br />

haben, und ich weiß, dass die Prinzessin eine genaue Vorstellung<br />

von <strong>der</strong> Ehe hat: Sie möchte lieben und geliebt werden und sie ist<br />

nicht bereit, den Gatten mit einer an<strong>der</strong>en Frau zu teilen. Doch das<br />

ist eine idealistische Vorstellung, und sie wird irgendwann erfahren,<br />

dass die Basis fürstlicher Ehen die Politik und nicht die Liebe<br />

ist. Was den Kurfürsten betrifft, nun, er ist standesgemäß, Sie wissen,<br />

dass Ihre Majestät großen Wert darauf legt.»<br />

Borcke betrachtete amüsiert die zufriedene Miene des Königs und<br />

sagte leise zu <strong>Friedrich</strong>: «Seine Majestät wird einige Überraschungen<br />

in Dresden erleben, man darf gespannt sein, wie er damit fertig wird.<br />

August <strong>der</strong> Starke ist Lutheraner von Geburt, Katholik aus Ehrgeiz<br />

und Moslem in seinen Gewohnheiten. Er hat unzählige Mätressen,<br />

nun, das gilt auch für die französischen Könige, aber in Dresden gibt<br />

es auch Inzest. Am sächsischen Hof gibt es eine Gräfi n Orzelska, sie<br />

ist nicht nur Augusts Geliebte, sie ist auch seine Tochter.»<br />

«Wie bitte? Das glaube ich nicht.»<br />

«Das ist noch nicht alles: Sie war auch die Geliebte des Grafen<br />

Rudolfski, <strong>der</strong> ihr Halbbru<strong>der</strong> ist.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte Borcke an: «Das glaube ich nicht, doppelter Inzest?»<br />

Er lachte leise auf: «Wenn es stimmt, nun, dann ist an diesem<br />

Hof eine pikante erotische Stimmung, vielleicht wird mein Vater<br />

meiner Mutter doch noch untreu. Zu schade, dass ich ihn nicht beobachten<br />

kann.»<br />

In diesem Augenblick berührte jemand seine Schulter, und als er<br />

sich umwandte, sah er Wilhelmine.<br />

«Fritz», sagte sie leise, «deine Augen haben mir verraten, dass<br />

du nach Dresden reisen willst, ich kann es verstehen und ich werde<br />

versuchen, auch für dich eine Einladung zu arrangieren. Der<br />

sächsische Gesandte mag mich, er kann auch dich gut leiden, er<br />

hat eine hohe Meinung von dir, ich werde mit ihm reden. Du wirst<br />

bestimmt nach Dresden reisen können.»<br />

371


2. Kapitel


374<br />

1<br />

Anfang Februar 1728 stand <strong>Friedrich</strong> am Fenster seines Schlafzimmers,<br />

sah hinunter in den Hof, beobachtete die Lakaien und<br />

Küchenjungen, die hin- und hereilten, und atmete genüsslich die<br />

milde Winterluft ein.<br />

Nach einer Weile drehte er sich um, betrachtete seinen Kammerdiener,<br />

<strong>der</strong> die Koffer auspackte, und sagte: «Ich kann es immer<br />

noch nicht glauben, dass wir vor einer Stunde in Dresden angekommen<br />

sind, es ist bestimmt ein Traum, und wenn ich erwache,<br />

dann bin ich wie<strong>der</strong> in Potsdam.»<br />

Sternemann sah auf: «Königliche Hoheit, es ist kein Traum. Sie<br />

sind heute, am 10. Februar 1728, in Dresden angekommen und<br />

wohnen im Palais des sächsischen Feldmarschalls, Graf von Flemming.»<br />

Er nahm einen Rock aus dunkelblauem Samt, <strong>der</strong> mit goldenen<br />

Tressen besetzt war, betrachtete ihn nachdenklich und sagte: «Ich<br />

wun<strong>der</strong>e mich, dass Seine Majestät Ihnen die Reise erlaubt hat und<br />

Ihnen Galaklei<strong>der</strong> fertigen ließ, sogar Ihre Dienerschaft hat neue<br />

Livreen bekommen.»<br />

«Es war höchste Zeit für neue Livreen, und was die Reiseerlaubnis<br />

betrifft, nun, König August hat mich persönlich eingeladen,<br />

mein Vater musste mir erlauben, nach Dresden zu reisen, einmal<br />

weil er Wert auf gute Beziehungen zu Sachsen und Polen legt, zum<br />

an<strong>der</strong>en verhandelt er mit August über die Verheiratung meiner<br />

Schwester; und die Galakleidung …»<br />

Er lachte leise auf: «Mein Vater möchte wahrscheinlich verhin<strong>der</strong>n,<br />

dass ich mich blamiere. Mon Dieu, ich werde den Augenblick<br />

im Salon meiner Mutter nicht vergessen, als ein staubbedeckter Kurier<br />

eintraf mit dem Befehl, sofort zwei seidene Hosen nach Dresden<br />

zu schicken, weil die einzige Hose, die mein Vater mitnahm,<br />

während eines Balles platzte. Nun, ich werde hier wahrscheinlich<br />

mehr glänzen als mein Vater.»<br />

Er sah sich im Schlafzimmer um, ging dann in den Raum, wo<br />

er wohnen und arbeiten konnte, und weiter zum Audienzzimmer,


kehrte in das Schlafzimmer zurück und sagte: «Lieber Sternemann,<br />

dieses Palais ist nur das Palais eines Grafen, aber es ist fürstlicher<br />

möbliert als unsere Schlösser in Berlin und Potsdam: Die Wände<br />

und Stühle sind mit Le<strong>der</strong> bespannt und mit Bil<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> griechischen<br />

Mythologie geschmückt, die eichenen Truhen sind mit<br />

Gold verziert, die Öfen haben einen Untersatz aus Gusseisen und<br />

einen Kachelaufsatz, an <strong>der</strong> Decke hängen Kristallkronleuchter,<br />

es gibt einen Fußboden aus Parkett, und überall stehen Vasen aus<br />

China, ich fühle mich hier in Dresden wie im Himmel.»<br />

Er ging in das Arbeitszimmer, öffnete einen kleinen Koffer, betrachtete<br />

die Bücher und nahm dann einen französischen Roman<br />

und die Ars amatoria von Ovid.<br />

Während er im Ovid blätterte, betrat ein Diener das Zimmer,<br />

stellte ein silbernes Tablett mit einer Karaffe Wein und eine silberne<br />

Schale mit Konfekt auf den Tisch und sagte: «Königliche<br />

Hoheit, mein Herr schickt Ihnen eine kleine Erfrischung: Portwein<br />

und Pralinen aus Schokolade. Der Graf würde sich nachher gerne<br />

mit Eurer Königlichen Hoheit unterhalten, wann wäre es Eurer<br />

Königlichen Hoheit genehm?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah erstaunt auf. Ich werde hier tatsächlich wie ein<br />

Prinz behandelt, dachte er mit Genugtuung und erwi<strong>der</strong>te: «Graf<br />

von Flemming ist stets willkommen.»<br />

Der Diener goss Wein in das Glas, verbeugte sich und verschwand<br />

unauffällig.<br />

<strong>Friedrich</strong> ging zu dem Tisch, betrachtete wohlgefällig den roten<br />

Wein in <strong>der</strong> Kristallfl asche, das halbvolle kristallene Stielglas,<br />

die Schale mit dem Schokoladenkonfekt, dann setzte er sich, trank<br />

einen Schluck und dachte: So schmeckt Portwein, süß, aber nicht<br />

zu süß; so hat <strong>der</strong> Portwein neulich bei Grumbkow geschmeckt.<br />

Nach Papas Abreise habe ich endlich diesen Wein kennengelernt<br />

und auch französischen Kognak.<br />

Er nahm eine Praline, zerkaute sie, stutzte und lachte leise auf:<br />

Sie ist mit Weinbrand gefüllt, dachte er amüsiert, wenn Papa das<br />

wüsste, Branntwein ist in <strong>der</strong> preußischen Armee verboten.<br />

Er trank einen weiteren Schluck Portwein, blätterte im Ovid<br />

und dachte: Verbotene Lektüre, verbotener Wein, verbotene Pralinen<br />

mit Weinbrand – hier in Dresden beginnt für mich ‹la dolce<br />

375


vita›. Beim Abschied empfahl Wilhelmine mir, la Dolce Vita zu<br />

genießen. Dank <strong>der</strong> grässlichen Leti beherrscht sie die italienische<br />

Sprache. La Dolce Vita – Gott sei Dank wohnt Papa im Palais des<br />

Feldmarschalls Wackerbart, wir werden uns also nur bei den Banketten,<br />

Bällen und Jagdausfl ügen sehen.<br />

Eine Stunde später wurde Graf von Flemming gemeldet.<br />

«Königliche Hoheit, sind Sie mit Ihrem Appartement zufrieden?<br />

Ihre Wünsche sind für mich ein Befehl.»<br />

«Ich bin völlig zufrieden, Herr Graf, Ihr Palais ist überwältigend.»<br />

Ein Diener servierte Champagner, Flemming hob seinen Kristallkelch<br />

und sagte lächelnd: «Auf Ihr Wohl, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> trank einen Schluck Champagner und dachte: Worüber<br />

will er sich mit mir unterhalten?<br />

Flemming musterte <strong>Friedrich</strong> unauffällig und überlegte: Er ist<br />

<strong>der</strong> künftige preußische König, und er ist völlig an<strong>der</strong>s als sein<br />

Vater: charmant, höfl ich, er kann bestimmt geistreich plau<strong>der</strong>n,<br />

wahrscheinlich werden sich die Damen in ihn verlieben. Man erzählt,<br />

dass er sich für französische Literatur interessiert und dass<br />

er Flöte spielt. Als preußischer König wird er wahrscheinlich an<strong>der</strong>s<br />

regieren als <strong>der</strong> Vater, nun, wenn er als König weiterhin seine<br />

musischen Neigungen pfl egt, wird Preußen auch künftig ein unbedeuten<strong>der</strong><br />

Staat bleiben.<br />

Er lächelte <strong>Friedrich</strong> an: «Königliche Hoheit, Seine Majestät König<br />

August wünscht, dass Sie sich nach <strong>der</strong> Reise ausruhen, deswegen<br />

fi nden heute nur ein Diner in kleinem Kreis und ein Konzert<br />

statt, ab morgen beginnt <strong>der</strong> Reigen von Banketten, Opern, Komödien<br />

und Maskenbällen. Ich bin gekommen, um Sie etwas mit<br />

<strong>der</strong> Festkultur am sächsischen Hof vertraut zu machen. Soweit ich<br />

informiert bin, gibt es in Berlin keine Festkultur.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Grafen unsicher an: «Meine Mutter veranstaltet<br />

Konzerte in ihrem Schloss Monbijou, im Winter gibt es in Berlin<br />

Soireen beim Adel und bei den wohlhabenden Bürgern, aber Sie<br />

meinen mit Festkultur wahrscheinlich an<strong>der</strong>e Feste?»<br />

«Sie haben das Problem erkannt, Königliche Hoheit. Am sächsischen<br />

Hof wird ein Fest wochenlang, manchmal sogar monate-<br />

376


lang vorbereitet. Ein Fest ist für die Hofl eute harte Arbeit und nicht<br />

nur für sie, son<strong>der</strong>n auch für Seine Majestät. Seine Majestät lässt sich<br />

Entwürfe vorlegen für die Kostüme, Seine Majestät entscheidet über<br />

den Inhalt und den Ablauf des Festes und über die Kostümierung.<br />

Die Kostümierung ist sehr wichtig, weil jedes Mitglied <strong>der</strong> Hofgesellschaft<br />

bei den Feierlichkeiten eine Funktion zu übernehmen<br />

hat, die seinen Rang und sein Ansehen bei Seiner Majestät wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />

Die Feste sind also Kabinettspolitik und Parteipolitik,<br />

gleichzeitig präsentieren sie dem Volk die Macht des Fürsten und<br />

stabilisieren so seine innenpolitische Macht; zugleich sind sie auch<br />

außenpolitisch wichtig: Sie sollen die ausländischen Gesandten beeindrucken,<br />

weil nur ein guter Eindruck entscheidet, ob man als<br />

Bündnispartner willkommen ist. Damit nicht genug, för<strong>der</strong>n die<br />

Feste die wirtschaftliche Blüte des Landes, weil bei den Feierlichkeiten<br />

den auswärtigen Gästen die Erzeugnisse <strong>der</strong> königlichen<br />

Manufakturen vorgeführt werden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte den Grafen einen Augenblick an, dann lachte er<br />

leise und sagte: «Das ist interessant, man kann die wirtschaftliche<br />

Entwicklung eines Staates also auch durch Feste beeinfl ussen.»<br />

Flemming lächelte: «Bei den Festen an unserem Hof wird oft auf<br />

die antike Mythologie angespielt, aber es ist völlig unwichtig, ob<br />

es sich um ein Planetenfest handelt, wo seine Majestät als Merkur<br />

auftritt o<strong>der</strong> als Apoll, um ein Karussell, ein Schäferspiel o<strong>der</strong> eine<br />

Bauernwirtschaft – Seine Majestät ist immer am prächtigsten gekleidet,<br />

auch wenn er bei einem Fest nur eine Nebenrolle spielt, wie<br />

zum Beispiel bei einem Damenringrennen. Manche Kostüme Seiner<br />

Majestät symbolisieren gewisse außenpolitische Erfolge; wenn<br />

Seine Majestät sich als Sultan verkleidet, so symbolisiert dieses<br />

Kostüm, dass er die Türken besiegt hat.»<br />

<strong>Friedrich</strong> nippte an seinem Glas und versuchte, seine Gedanken<br />

zu ordnen.<br />

«Ich glaube, dass ich die politische Bedeutung <strong>der</strong> Feste verstanden<br />

habe, aber Sie erwähnten Bauernwirtschaften, was muss ich<br />

darunter verstehen?»<br />

«Nun, bei einer Bauernwirtschaft verkleiden sich alle als Bauern,<br />

und es geht zu wie bei einem dörfl ichen Fest. Diese Kostümierung<br />

soll das Protokoll lockern, Bauernwirtschaften fi nden immer statt,<br />

377


wenn Seine Majestät mit einem ausländischen Gesandten über ein<br />

Problem verhandeln will.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Grafen verblüfft an.<br />

«Wie bitte? Der König verkleidet sich als Bauer, wenn er über<br />

wichtige außenpolitische Probleme verhandelt?»<br />

«Königliche Hoheit, dies ist sehr praktisch, zwei Bauern können<br />

ohne zeitraubendes Protokoll über Verträge reden. Wenn sie sich<br />

hingegen als König und Gesandter begegnen, so dauern die Formalitäten<br />

mindestens eine Stunde, bis man zur Sache kommt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte: «Das ist richtig, ich vermute, dass mein Vater<br />

bei <strong>der</strong> angekündigten Bauernwirtschaft mit dem König über<br />

die Heirat meiner Schwester reden wird. Mon Dieu, wie mag mein<br />

Vater sich hier fühlen? Für ihn bedeuten Feste Zeitverschwendung<br />

und keine Arbeit. Weiß er, welche Vorbereitungen nötig sind, um<br />

zum Beispiel ein Karussell zu arrangieren?»<br />

«Seine Majestät weiß es nicht, und dies ist auch nicht notwendig,<br />

Seine Majestät ist Gast und soll sich amüsieren.»<br />

«Nun gut, amüsiert sich mein Vater? Wie ist seine Laune?»<br />

Flemming lächelte: «Königliche Hoheit, in Dresden weiß man,<br />

dass es zwischen Ihnen und Seiner Majestät Spannungen gibt. Soweit<br />

ich es beobachten konnte, genießt Seine Majestät die abendlichen<br />

Vergnügungen. Während des Tages arbeitet Seine Majestät,<br />

aber die Abende verbringt Seine Majestät am Hof; Seine Majestät<br />

ist stets gut gelaunt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete erleichtert auf.<br />

«Königliche Hoheit, morgen Abend fi ndet ein Maskenball statt.<br />

Sie werden zunächst eine leichte schwarze Maske tragen, die nur<br />

die Augen verdeckt. Im Laufe des Abends werden Sie die Maske<br />

wechseln – ich habe diese zweite Maske für Sie anfertigen lassen,<br />

sie ist aus vergoldetem Metall und bedeckt Ihr ganzes Gesicht. Sie<br />

werden bald unter dieser Maske schwitzen und sie als Qual empfi<br />

nden, nach einer gewissen Zeit jedoch werden Sie ein Gefühl <strong>der</strong><br />

Euphorie empfi nden, wie alle Anwesenden, Sie werden berauscht<br />

sein, als ob Sie zu viel Wein getrunken hätten, ich sage Ihnen dies,<br />

damit Sie sich auf die Situation einstellen können.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Flemming erstaunt an: «Das verstehe ich nicht, ich<br />

trage eine Maske und fühle mich wie betrunken?»<br />

378


«Sie fühlen sich euphorisch, ein Arzt versuchte, es mir zu erklären:<br />

Das Tragen dieser Metallmaske ist körperlich sehr anstrengend,<br />

aber irgendwann führt diese körperliche Anstrengung zur<br />

Euphorie, lassen Sie sich einfach überraschen.»<br />

Er stand auf.<br />

«Entschuldigen Sie mich, Königliche Hoheit, aber ich muss noch<br />

wichtige Angelegenheiten mit meinem Haushofmeister besprechen.»<br />

Er musterte <strong>Friedrich</strong> verstohlen und sagte dann lächelnd: «Am<br />

Dresdner Hof gibt es viele junge hübsche Damen, falls Eurer Königlichen<br />

Hoheit eine Dame beson<strong>der</strong>s gefällt, so lassen Sie es mich<br />

wissen, ich werde dann ein diskretes Rendezvous arrangieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Grafen unsicher an: «Ich danke Ihnen, aber ich<br />

bin fast verlobt mit meiner Cousine Amalie.»<br />

«Ich weiß, aber nun ja, eine fürstliche Ehe wird aus politischen<br />

Gründen geschlossen, das erotische Vergnügen fi nden Fürsten nur<br />

bei einer Mätresse.»<br />

<strong>Friedrich</strong> spürte ärgerlich, dass er errötete, stand auf und sagte:<br />

«Ich danke Ihnen für Ihre Ratschläge.»<br />

Der Graf ging zur Tür, wandte sich plötzlich um und sagte: «Was<br />

die Mätressen betrifft, nun, Sie können jede Dame haben, aber Sie<br />

sollten sich nicht <strong>der</strong> Gräfi n Orzelska nähern o<strong>der</strong> sich gar in sie<br />

verlieben, die Gräfi n ist sozusagen das Eigentum Seiner Majestät.<br />

Seine Majestät duldet keinen Rivalen.»<br />

«Seien Sie unbesorgt, ich habe nicht die Absicht, mich in eine <strong>der</strong><br />

Damen zu verlieben.»<br />

Als Flemming gegangen war, sank <strong>Friedrich</strong> auf seinen Stuhl<br />

und betrachtete gedankenverloren die halbleere Champagnerfl asche.<br />

«Mon Dieu», sagte er leise, «an diesem Hof werde ich viel Neues<br />

erleben.» Er füllte sein Glas und hob es empor.<br />

«La Dolce Vita», rief er, «ich trinke auf la Dolce Vita!»<br />

379


380<br />

2<br />

Am nächsten Vormittag spazierten <strong>Friedrich</strong> und Borcke gemächlich<br />

durch das neue Stadtviertel, das am rechten Ufer <strong>der</strong> Elbe<br />

erbaut wurde, und betrachteten staunend die dreistöckigen, ockerfarbenen<br />

Fassaden <strong>der</strong> Bürgerhäuser und die Mansardenfenster, die<br />

aus den Dächern herausragten.<br />

Auf dem Albertplatz blieb <strong>Friedrich</strong> stehen, sah sich um und<br />

sagte: «Gestern, an <strong>der</strong> Abendtafel, unterhielten mein Vater und<br />

König August sich über den Wie<strong>der</strong>aufbau von Altdresden. Der<br />

Brand anno 85 hat von den 357 Häusern, die damals hier standen,<br />

ungefähr 335 Häuser zerstört. Was wir hier jetzt sehen, wurde<br />

während <strong>der</strong> vergangenen zehn Jahre gebaut, <strong>der</strong> König hat die<br />

Höhe <strong>der</strong> Gebäude, Material, Schmuck und Farbe <strong>der</strong> Fassaden genau<br />

angegeben, weil er ein einheitliches Stadtbild wünschte, und<br />

von diesem Platz aus hat er drei große, breite Straßen anlegen lassen,<br />

er möchte unbedingt eine Stadt am Wasser besitzen, die Elbe<br />

hier betrachtet er als ‹Canal Grande›, und dieses neue Viertel soll<br />

den Namen ‹Neue Königsstadt› tragen.»<br />

«Die Straßenführung erinnert mich an das neuerbaute Viertel in<br />

Potsdam, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lachte spöttisch auf: «Sie können doch die einstöckigen<br />

Häuschen in Potsdam, die von Handwerkern und Soldaten bewohnt<br />

werden, nicht mit den prachtvollen Gebäuden in Dresden<br />

vergleichen. In den neuen Häuschen in Potsdam wird gearbeitet,<br />

in diesem neuen Viertel in Dresden genießt man das Leben, hinter<br />

den hohen Fenstern wird am Abend musiziert, es werden Gedichte<br />

vorgelesen, man unterhält sich über Literatur – nein, Sie können<br />

Potsdam nicht mit Dresden vergleichen, Potsdam ist spießig und<br />

muffi g.»<br />

Sie gingen weiter bis zum Ufer. Dort blieb <strong>Friedrich</strong> stehen, sah<br />

hinüber zum Schloss, dann wan<strong>der</strong>ten seine Augen nach rechts und<br />

verfolgten den Flusslauf bis zum Horizont. Er atmete tief durch<br />

und sah wie<strong>der</strong> zum Schloss.<br />

«Die Elbe ist faszinierend, nicht wahr? Der Blick ist so weit, mon


Dieu, verglichen mit <strong>der</strong> Elbe ist die Spree ein Flüsschen, und die<br />

Havel mit ihren vielen Armen ähnelt einer Seenplatte.»<br />

«Ja, Königliche Hoheit, aber wenn Sie eines Tages die O<strong>der</strong> sehen,<br />

dann wird Ihnen auch die Elbe nur wie ein Flüsschen erscheinen.<br />

Die O<strong>der</strong> ist kein Fluss, son<strong>der</strong>n ein Strom. Ich habe die O<strong>der</strong><br />

bei Frankfurt gesehen, ich glaube, sie ist dort doppelt so breit wie<br />

die Elbe hier; ich stand am Ufer und sah hinüber zu den riesigen<br />

Kornspeichern. Die O<strong>der</strong> wird Sie noch mehr beeindrucken als die<br />

Elbe.»<br />

Während sie über die Brücke gingen, sagte <strong>Friedrich</strong>: «Ich hatte<br />

gehofft, in Dresden von meinem Vater weniger beaufsichtigt zu<br />

werden, seit heute wohnt er ebenfalls beim Grafen Flemming und<br />

hat sofort angeordnet, welches meiner Kostüme ich heute bei dem<br />

Maskenball tragen soll, nämlich das Kostüm des Teufels, so kann er<br />

mich immer im Auge behalten und kontrollieren; er selbst will sich<br />

als Bauer verkleiden, nun ja, das passt zu ihm, vielleicht passt das<br />

Teufelskostüm zu mir, vielleicht bin ich ein Teufel, wer weiß?»<br />

Er blieb stehen und sah nachdenklich über den Fluss.<br />

Borcke musterte verstohlen das verschlossene Gesicht des Kronprinzen<br />

und dachte: Manchmal redet er offen und freimütig, und<br />

manchmal weiß ich nicht, was wirklich in ihm vorgeht, er ist sensibel<br />

und gleichzeitig kühl, um nicht zu sagen kalt. Ob es stimmt,<br />

was ich von den Dienern gehört habe?<br />

Er straffte sich und sagte zögernd: «Königliche Hoheit, das Feuer,<br />

das während <strong>der</strong> vergangenen Nacht im Palais des Feldmarschalls<br />

Wackenbart ausbrach, hätte Ihrem Vater fast das Leben gekostet,<br />

nun ja, heute früh hörte ich zufällig, dass sich einige Diener des<br />

Grafen Flemming über den Brand unterhielten und über Ihre Reaktion,<br />

Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Borcke an, und für den Bruchteil einer Sekunde<br />

erschrak <strong>der</strong> Leutnant, als er die kalten blauen Augen des Kronprinzen<br />

sah.<br />

Er beobachtete, wie die Kälte sich allmählich in Spott verwandelte,<br />

und hörte <strong>Friedrich</strong> sagen: «Ich weiß nicht, was die Diener<br />

erzählen, aber als man mich weckte und mich bat, zu meinem Vater<br />

zu eilen, erwi<strong>der</strong>te ich: ‹Wozu? Ich kann den Brand doch nicht<br />

löschen›, drehte mich zur Seite und schlief weiter. Wahrscheinlich<br />

381


fragt man sich, was ist das für ein Sohn, <strong>der</strong> nicht zu seinem Vater<br />

eilt, wenn dieser in Lebensgefahr schwebt. An<strong>der</strong>erseits, welcher<br />

Vater prügelt seinen Sohn in <strong>der</strong> Öffentlichkeit und demütigt ihn<br />

bei je<strong>der</strong> Gelegenheit?»<br />

Er schwieg, versuchte, sich zu beherrschen, und in seiner Phantasie<br />

schrie er laut über den Fluss: «Ich hasse meinen Vater, und ich<br />

wünsche ihm den Tod, ich möchte endlich König werden und mein<br />

eigenes Leben führen, ich möchte lesen und lernen und nicht ständig<br />

nach dem Uhrzeiger leben, ich hasse ihn und ich verachte ihn!»<br />

Während sie weitergingen, sagte Borcke: «Es geht mich nichts<br />

an, Königliche Hoheit, ich bitte Sie, verstehen Sie meinen Rat nicht<br />

als Einmischung, aber wäre nicht jetzt, hier in Dresden, <strong>der</strong> geeignete<br />

Moment, dass Sie sich mit Seiner Majestät irgendwie arrangieren?<br />

Eine fremde Umgebung kann Wun<strong>der</strong> bewirken.»<br />

«Sie haben recht, aber die Beziehung zwischen meinem Vater<br />

und mir ist inzwischen so zerrüttet, dass auch eine fremde Umgebung<br />

nichts daran än<strong>der</strong>n wird. Angenommen, mein Vater und ich<br />

kommen uns hier näher und genießen gemeinsam die Feste; nach<br />

unserer Rückkehr wird indes alles bleiben, wie es ist, mein Tag ist<br />

wie<strong>der</strong> nach Minuten eingeteilt, ich muss an <strong>der</strong> Tabagie teilnehmen,<br />

und ich kann nur heimlich lesen und musizieren; nein, zwischen<br />

meinem Vater und mir gibt es keine Brücke. Ich werde zwar<br />

auch künftig versuchen, mich zu arrangieren; wie lange ich dies<br />

durchhalte, weiß ich nicht, ich weiß auch nicht, wie es weitergehen<br />

wird, wenn ich die Zuchtrute meines Vaters nicht mehr ertragen<br />

kann, aber wir sollten jetzt über erfreulichere Dinge reden. Sehen<br />

Sie dort die Festungsanlage, ich will sie inspizieren.»<br />

Während sie auf <strong>der</strong> Festung spazierten, blieb <strong>Friedrich</strong> hin und<br />

wie<strong>der</strong> stehen, sah über den Fluss und sagte: «Die Bastionen sind<br />

militärisch längst überfl üssig, man könnte hier einen kleinen Park<br />

anlegen, eine Terrasse, wo die Besucher <strong>der</strong> Stadt promenieren.<br />

Sehen Sie nur, ist <strong>der</strong> Blick über die Elbe von hier aus nicht großartig?<br />

Dieses Panorama werde ich nie vergessen.»<br />

Er blieb stehen, sah über den Fluss, und Borcke beobachtete erstaunt<br />

den verträumten Glanz in den blauen Augen des Prinzen.<br />

Plötzlich wandte <strong>Friedrich</strong> sich zu dem Leutnant und sagte leise:<br />

«Lassen Sie mich jetzt bitte allein, ich … ich muss nachdenken.»<br />

382


Borcke sah den Prinzen unsicher an und erwi<strong>der</strong>te zögernd: «Königliche<br />

Hoheit, Seine Majestät befahl mir, in Dresden nicht von<br />

Ihrer Seite zu weichen, wegen <strong>der</strong> lockeren Sitten an diesem Hof.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lachte spöttisch auf: «Mon Dieu, mein Freund, wer<br />

soll mich hier und jetzt verführen? Es ist hellichter Tag, die Sonne<br />

scheint, links von uns ist das Schloss, und hinter den Fenstern<br />

werde ich wahrscheinlich von neugierigen Augen beobachtet, Sie<br />

können mich ruhigen Gewissens einen Augenblick allein lassen,<br />

ich möchte den Blick über den Fluss genießen und dann anschließend<br />

in Ruhe den berühmten Zwinger besichtigen.»<br />

Der Leutnant sah den Prinzen unsicher an und erwi<strong>der</strong>te zögernd:<br />

«Sie haben recht, Königliche Hoheit, hier lauern keine Gefahren,<br />

aber ich bitte Sie, vergessen Sie nicht die Uhrzeit, König<br />

August möchte Ihnen und Seiner Majestät am Nachmittag persönlich<br />

das Grüne Gewölbe zeigen, Sie werden um vier Uhr im Schloss<br />

erwartet.»<br />

Er sah sich ratlos um, und dann sagte <strong>Friedrich</strong> ungeduldig: «Sie<br />

könnten sich im Stallhof die Gemäldegalerie ansehen und anschließend<br />

die Frauenkirche besichtigen.»<br />

«Ja, Königliche Hoheit, das ist eine gute Idee», er eilte fort und<br />

<strong>Friedrich</strong> sah ihm nach, wie er nach links ging und im Stallhof<br />

verschwand; er atmete auf und ließ seine Augen gedankenverloren<br />

über die Elbe schweifen.<br />

Er sah zum Horizont und wie<strong>der</strong> auf die Wasserfl äche, er spürte,<br />

dass ein leichter Wind aufkam, beobachtete, dass sich das Wasser<br />

kräuselte und in kleine Wellen verwandelte, und plötzlich zuckte<br />

er zusammen, als aus den Wellen heraus das Gesicht einer jungen<br />

Frau emporstieg.<br />

Er betrachtete die hohen Wangenknochen, die schwarzen Augenbrauen,<br />

die sich wie Halbmonde über den dunklen Augen<br />

wölbten, er betrachtete die hohe Stirn, die lange, gerade Nase und<br />

den länglichen Mund mit <strong>der</strong> schmalen Oberlippe und <strong>der</strong> vollen<br />

Unterlippe, er bewun<strong>der</strong>te die makellose, weiße Haut des Gesichtes<br />

und des Halses, <strong>der</strong> we<strong>der</strong> zu lang noch zu kurz war, und irgendwann<br />

sagte er leise: «Die Gräfi n Orzelska».<br />

Er schloss die Augen und erinnerte sich an den vergangenen<br />

Abend: Sie saß rechts neben König August, mein Platz war gegen-<br />

383


über <strong>der</strong> Gräfi n, sie sah mich eine Weile an und dann unterhielt sie<br />

sich mit mir, sie empfahl mir, die Essays von Montaigne zu lesen,<br />

sie erwähnte das Kapitel über die Freundschaft, dann empfahl sie<br />

mir, die Poetik von Aristoteles zu lesen, weil ich erst nach <strong>der</strong> Lektüre<br />

des Aristoteles die französischen Dichter Corneille und Racine<br />

verstehen würde. Mon Dieu, sie ist schön, nein, sie ist nicht schön,<br />

sie ist apart, gebildet und geistreich.<br />

Ich habe mich in sie verliebt, aber ich muss sie vergessen, weil<br />

sie die Mätresse des Königs ist, überdies werde ich meine Cousine<br />

Amalie heiraten.<br />

Er starrte auf den Fluss, und plötzlich war das Gesicht <strong>der</strong> Gräfi n<br />

verschwunden. Er atmete erleichtert auf und ging langsam zum<br />

Zwinger.<br />

Er betrat den Festplatz, sah sich um und dachte: Ein Zwinger ist<br />

<strong>der</strong> Bereich zwischen <strong>der</strong> inneren und äußeren Befestigungsmauer<br />

einer Burganlage, aber dieser Zwinger ist <strong>der</strong> Rahmen für die Feste<br />

des sächsischen Hofes.<br />

Er betrachtete die beiden Pavillons auf <strong>der</strong> rechten und <strong>der</strong> linken<br />

Seite, dann wan<strong>der</strong>ten seine Augen zu dem Tor gegenüber und<br />

zu <strong>der</strong> Turmspitze, wo vier polnische Adler die Krone trugen.<br />

Ich werde meinen Rundgang beim rechten Pavillon beginnen,<br />

dachte er, schritt langsam an den Grünfl ächen vorbei, ging hinauf<br />

in den Pavillon, sah sich um und stutzte: Rechts von ihm sah er<br />

einige Stufen, die abwärts führten, und er ging hinunter.<br />

Er sah Wasser, das über einen gestuften künstlichen Wasserfall<br />

fl oss, er betrachtete die marmornen Frauengestalten, die rings um<br />

einen Brunnen standen, und dachte: Sie sehen den Nymphen ähnlich,<br />

die Fénelon im Telemach beschreibt.<br />

Er setzte sich auf den Rand des Brunnens und sagte leise: «Dieser<br />

Raum liegt abseits vom Zwinger, er ist <strong>der</strong> ideale Ort für ein<br />

heimliches Rendezvous.»<br />

Er betrachtete erneut die marmornen Frauengestalten und sah<br />

plötzlich die Gräfi n Orzelska neben sich sitzen.<br />

Nein, dachte er, ich darf nicht an sie denken, ich muss sie vergessen,<br />

sie ist die Tochter und Mätresse des Königs; Tochter und<br />

Mätresse? Nein, das ist unmöglich, sie ist nicht seine Mätresse, sie<br />

ist nur seine Tochter, eine illegitime Tochter, aber sie ist die Tochter<br />

384


eines Königs. Ist nicht auch eine illegitime Königstochter standesgemäß<br />

für einen künftigen König? Wohin verirren sich meine Gedanken?!<br />

Ich werde irgendwann meine Cousine Amalie heiraten.<br />

Er stand auf, ging langsam nach oben und fl üsterte: «Ich muss<br />

die Gräfi n vergessen.»<br />

Er ging von dem Pavillon aus nach rechts und sah eine Frauengestalt<br />

neben dem Kronentor stehen.<br />

«Mon Dieu, die Gräfi n.»<br />

Er betrachtete die brünetten Haare, die zu einer einfachen Frisur<br />

hochgesteckt waren, und sah, dass sie einen großen Bogen Papier<br />

in den Händen hielt, ihn betrachtete, hin und wie<strong>der</strong> zum Festplatz<br />

sah, und er spürte, dass ein Gefühl von Glück ihn durchrieselte.<br />

«Mon Dieu», sagte er leise, «wie soll ich mich verhalten? Ich<br />

möchte ihr begegnen, gleichzeitig fürchte ich mich davor; ich<br />

könnte über die Treppe unbeobachtet in den Hof gelangen, aber sie<br />

wird mich sehen und mich vielleicht ansprechen. Ich möchte mit<br />

ihr reden, aber ich habe Angst davor, obwohl – am gestrigen Abend<br />

hat sie sich mit mir unterhalten; was denkt sie über mich? Sie hält<br />

mich wahrscheinlich für einen dummen, unerfahrenen jungen<br />

Mann, sie hat recht, aber ich möchte in ihrer Nähe sein.»<br />

Er spürte, dass sein Herz rasend klopfte, und das Gefühl, dass er<br />

in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Gräfi n weilen wollte, wurde plötzlich übermächtig,<br />

er ging langsam zu ihr und stammelte: «Madame …»<br />

Sie zuckte zusammen, sah auf und lächelte ihn an.<br />

<strong>Friedrich</strong> spürte eine Welle von Erleichterung, als er ihre strahlenden<br />

dunklen Augen sah.<br />

«Guten Morgen, Königliche Hoheit, welche Überraschung, Sie<br />

hier im Zwinger zu treffen.»<br />

«Der Zwinger ist eines <strong>der</strong> berühmtesten Bauwerke in Europa,<br />

und ich möchte ihn besichtigen.»<br />

Es entstand eine Pause, und <strong>Friedrich</strong> sah verlegen hinunter in<br />

den Hof.<br />

Mon Dieu, wie soll ich das Gespräch weiterführen, überlegte er, sah<br />

zur Gräfi n, und als er in ihre forschenden Augen blickte, spürte er,<br />

dass er errötete, ärgerte sich, nahm allen Mut zusammen und fragte:<br />

«Mit Verlaub, Madame, es geht mich nichts an, aber Sie betrachten<br />

den Bogen Papier und den Hof, gibt es einen Zusammenhang?»<br />

385


Die Gräfi n sah <strong>Friedrich</strong> überrascht an: «Sie beobachten sehr genau,<br />

Königliche Hoheit. Nun, mein Vater beschäftigt sich intensiv<br />

mit <strong>der</strong> Vorbereitung von Festen, und ich muss ihn dabei unterstützen.»<br />

Sie sagt «mein Vater», dachte <strong>Friedrich</strong> erleichtert, sie ist nur<br />

seine Tochter, nicht seine Mätresse.<br />

«Vor acht Jahren», fuhr die Gräfi n fort, «heiratete <strong>der</strong> Kurprinz<br />

die Erzherzogin Maria Josepha, das Hochzeitsfest dauerte vier Wochen<br />

und ist noch heute das Fest <strong>der</strong> Feste, das jemals am Dresdner<br />

Hof stattfand. Damals gab es ein Karussell <strong>der</strong> vier Erdteile im<br />

Hof des Zwingers, und mein Vater trat als Mohrenkönig auf. Er<br />

möchte dieses Karussell in drei Wochen erneut aufführen und hat<br />

einen Plan entworfen: Das neue Karussell ist noch umfangreicher<br />

als damals, weil ein Ringstechen während <strong>der</strong> Nacht eingeplant ist,<br />

mein Vater bat mich, die Reihenfolge <strong>der</strong> Wagen zu überprüfen. Die<br />

Damen, die in den Wagen sitzen, haben am Hof einen unterschiedlichen<br />

Rang in <strong>der</strong> Hierarchie, das muss natürlich berücksichtigt<br />

werden. Ich fürchte, es sind zu viele Wagen, sie haben nicht alle<br />

genügend Platz im Hof.»<br />

Sie rollte den Bogen zusammen und sagte seufzend: «Unsere<br />

Gäste sollen die Feste natürlich genießen, aber die Vorbereitung<br />

dauert Wochen, und die Durchführung ist für alle Beteiligten harte<br />

Arbeit, aber die Hofl eute müssen beschäftigt werden, und die<br />

Vorbereitung <strong>der</strong> Feste hin<strong>der</strong>t sie daran, gegeneinan<strong>der</strong> und gegen<br />

den König zu intrigieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte die Gräfi n einen Augenblick verblüfft an und<br />

erwi<strong>der</strong>te: «Mon Dieu, Madame, die Arbeit <strong>der</strong> Hofl eute in Dresden<br />

gefällt mir; in Berlin und Potsdam wird den ganzen Tag nur<br />

exerziert. Gewiss, das Exerzieren hat seinen Sinn, <strong>der</strong> Major von<br />

Senning erklärte mir, dass Schlachten künftig nur noch gewonnen<br />

werden können, wenn das Feuer marschiert, aber man kann alles<br />

übertreiben, und die Musterungen <strong>der</strong> Berliner und Potsdamer<br />

Garnisonen im Mai und Juni sind wahrscheinlich noch anstrengen<strong>der</strong><br />

als die Feste in Dresden.»<br />

Die Gräfi n sah <strong>Friedrich</strong> nachdenklich an: «Königliche Hoheit,<br />

ich habe den Eindruck, dass Sie die Paraden nicht mögen. Herr<br />

von Suhm ist begeistert von diesem Schauspiel, in jedem Bericht<br />

386


schwärmt er von <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> preußischen Truppen, von dem<br />

hervorragenden Zustand, in dem sich Mannschaften, Pferde, Gewehre<br />

und Ausrüstung befi nden.»<br />

«Das ist richtig, aber die Regimenter marschieren gegen drei<br />

Uhr morgens von ihren Sammelplätzen ab, gegen sechs Uhr treffen<br />

sie auf dem Manövergelände ein, mein Vater und ich, wir erwarten<br />

die Soldaten bereits, dann wird gebetet, und dann beginnt das<br />

Manöver. Es dauert ungefähr bis zum Mittag. Wenn mein Vater<br />

mit dem Regiment zufrieden ist, dann umarmt und küsst er den<br />

Kommandeur, spricht mit den Soldaten, hört sich ihre Wünsche<br />

an, anschließend speist er mit dem Kommandeur und den Offi zieren<br />

unter freiem Himmel; ist er unzufrieden, so lehnt er die Einladung<br />

des Kommandeurs zum Essen ab, galoppiert zum nächsten<br />

Dorf und isst dort mit den Bauern in einer Scheune.»<br />

Die Gräfi n sah nachdenklich vor sich hin: «Ihr Vater sucht anscheinend<br />

den Kontakt zu seinen Untertanen, das gefällt mir. Meine<br />

Mutter war mit einem französischen Kaufmann verheiratet, <strong>der</strong><br />

in Warschau lebte, meine Herkunft mütterlicherseits ist bürgerlich.»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen.<br />

Nein, dachte er, sie ist nicht bürgerlicher Herkunft, das darf nicht<br />

sein, schließlich will ich sie heiraten. Und Amalie?<br />

«Madame, Sie sind die Tochter eines Königs, das allein zählt.»<br />

Die Gräfi n betrachtete <strong>Friedrich</strong> und dachte: Er ist in mich verliebt,<br />

wie soll ich mich verhalten?<br />

Sie lächelte ihn an: «Ich würde gerne einmal eine Parade in Potsdam<br />

o<strong>der</strong> Berlin erleben, vielleicht bekomme ich Anregungen für<br />

künftige Feste in Dresden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Die Vergnügungen meines Vaters<br />

sind für Ihren Hof zu unkultiviert. Die Paraden und das Exerzieren<br />

sind vielleicht militärisch sinnvoll, aber die Parforcejagden sind<br />

wi<strong>der</strong>lich und unmenschlich, man jagt unschuldige Tiere stundenlang<br />

vor sich her und tötet sie dann.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fuhr fort: «Mein Vater jagt in<br />

Preußen und Pommern Bären und Auerochsen, bei Wusterhausen<br />

Hirsche, Wildschweine, Fasanen, Reiher, Hasen und Rebhühner,<br />

er feuert täglich manchmal sechshun<strong>der</strong>t Schüsse ab, und oft ver-<br />

387


ingt er bis zu zwölf Stunden bei <strong>der</strong> Jagd. Sein Hauptvergnügen<br />

aber ist die Treibjagd auf den Hirsch. Diese Parforcejagden fi nden<br />

im Herbst in Wusterhausen mindestens dreimal wöchentlich statt.<br />

Was mich immer wie<strong>der</strong> erstaunt, ist die Tatsache, dass mein Vater<br />

bei den Parforcejagden Wert auf Etikette legt, denn gewöhnlich<br />

hasst er alle Zeremonien. Die Hundemeute ist zahlreicher als<br />

sonst, und die Piqueure müssen scharlachrote Röcke mit grünen<br />

Aufschlägen tragen. Beim Halali präsentiert <strong>der</strong> Oberjägermeister<br />

meinem Vater auf einem silbernen Teller den Lauf des Tieres. Der<br />

Hirsch wird dann auf einem mit Laubwerk geschmückten Wagen<br />

nach dem Schlosshof gebracht, dann schneidet ein Hofbeamter die<br />

Fleischstücke heraus, die für die königliche Küche bestimmt sind,<br />

anschließend wird, in Gegenwart meiner Mutter und ihrer Damen,<br />

das restliche Wildbret den Hunden zum Fraß vorgeworfen.<br />

Ich hasse dieses Zeremoniell, und ich versuche, sooft ich kann, zumindest<br />

<strong>der</strong> Parforcejagd fernzubleiben.»<br />

Die Gräfi n beobachtete <strong>Friedrich</strong> und dachte: Was für ein bitterer<br />

Unterton in seiner Stimme schwingt.<br />

«In Preußen wird das Wild also richtig gejagt», sagte sie nach<br />

einer Weile, «nun, ich fürchte, dass unsere Jagden Ihren Vater enttäuschen<br />

werden. Im Park unseres Jagdschlosses Moritzburg gibt<br />

es das Hellhaus, es ist ein Jagdbelve<strong>der</strong>e, und auf dem Dach des<br />

Belve<strong>der</strong>es stehen die Höfl inge und die Damen und beobachten die<br />

Jagd: Das angefütterte Wild wird durch Schneisen unmittelbar vor<br />

das Belve<strong>der</strong>e getrieben und dort ohne Mühe erlegt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte die Gräfi n an: «Wie bitte? Das ist ja noch grausamer<br />

als die Parforcejagd meines Vaters. Eines weiß ich schon<br />

jetzt: Wenn ich einmal König bin, werde ich bestimmt keine Jagdschlösser<br />

bauen, son<strong>der</strong>n höchstens ein kleines Schloss für mich<br />

persönlich, wo ich meinen Interessen nachgehen kann, dort werde<br />

ich lesen, musizieren und mich mit meinen Freunden über Literatur<br />

unterhalten.»<br />

Die Gräfi n lachte leise auf: «Sie wollen sich mit Ihren Freunden<br />

unterhalten, ist den Damen <strong>der</strong> Zutritt zu Ihrem künftigen Schloss<br />

verwehrt?»<br />

«Nein, vorausgesetzt, sie sind gebildet und können sich geistreich<br />

unterhalten.»<br />

388


Es entstand eine Pause, dann sah die Gräfi n <strong>Friedrich</strong> an: «Merkwürdig,<br />

warum gibt es immer Spannungen zwischen Vater und<br />

Sohn? Die Spannungen zwischen Ihnen und Ihrem Vater sind seit<br />

Jahren ein unerschöpfl iches Thema an den europäischen Höfen,<br />

aber in Dresden gibt es auch Spannungen zwischen meinem Vater<br />

und dem Kurprinzen. Sie streiten sich seit Jahren über die Errichtung<br />

einer katholischen Hofkirche. Mein Vater ist <strong>der</strong> Meinung, er<br />

kann seinen protestantischen Untertanen in <strong>der</strong> Hauptstadt keine<br />

katholische Kirche zumuten, er hat inzwischen im Schloss etliche<br />

Hofkapellen einrichten lassen. Der Kurprinz hingegen meint, <strong>der</strong><br />

Übertritt <strong>der</strong> Wettiner zum katholischen Glauben müsse nach außen<br />

hin würdig dokumentiert werden.»<br />

«Madame, die Spannungen zwischen Seiner Majestät und dem<br />

Kurprinzen bezüglich <strong>der</strong> Hofkirche sind Meinungsverschiedenheiten,<br />

die in je<strong>der</strong> Familie vorkommen; die Spannungen zwischen<br />

meinem Vater und mir haben an<strong>der</strong>e Gründe: Er will mich zu seinem<br />

Ebenbild formen und merkt nicht, dass ich ganz an<strong>der</strong>s veranlagt<br />

bin, ich habe an<strong>der</strong>e Interessen, zwischen meinem Vater und<br />

mir liegen Welten. Ich glaube, wir werden nie zueinan<strong>der</strong> fi nden,<br />

weil er zu keinem Kompromiss bereit ist.»<br />

Die Gräfi n schwieg einen Augenblick, dann sah sie <strong>Friedrich</strong><br />

ernst an: «Sind Sie zu einem Kompromiss bereit?»<br />

Er zögerte und erwi<strong>der</strong>te: «Nein, aber ich versuche, mich zu arrangieren,<br />

so gut es geht.»<br />

«Sie arrangieren sich, nun ja, ein offenes Gespräch mit Ihrem<br />

Vater und ein Kompromiss wäre wahrscheinlich langfristig die<br />

bessere Lösung, aber ich will mich nicht in Ihre familiären Probleme<br />

einmischen.»<br />

Sie zuckte zusammen, als die Schläge einer Uhr zu ihnen herüberklangen.<br />

«Königliche Hoheit, ich würde mich gerne noch weiter mit Ihnen<br />

unterhalten, aber mein Vater erwartet mich. Wir sehen uns am<br />

Abend auf dem Maskenball, mon Dieu, ich rede dummes Zeug, wir<br />

erkennen uns natürlich nicht, weil Masken getragen werden.»<br />

Sie eilte zur Treppe, drehte sich um, lächelte <strong>Friedrich</strong> kokett an<br />

und rief: «Ich bin gespannt, Königliche Hoheit, ob Sie mich am<br />

Abend in meinem Kostüm erkennen werden.»<br />

389


Sie lief die Treppe hinunter, und je weiter sie sich entfernte, desto<br />

mehr spürte <strong>Friedrich</strong> eine Hoffnung in sich wachsen.<br />

«Sie hat mit mir geredet», fl üsterte er, «sie hat mich angelächelt,<br />

und ihr letzter Satz – mon Dieu, sie rechnet damit, dass ich sie in<br />

ihrem Kostüm erkenne; nun gut, ich werde die Damen genau beobachten,<br />

und ich werde sie erkennen.»<br />

Er ging langsam die Treppe hinunter, überquerte den Platz,<br />

und bevor er den Zwinger verließ, drehte er sich noch einmal um<br />

und betrachtete das gegenüberliegende Tor, auf dessen Turmspitze<br />

vier polnische Adler die Krone trugen. Dann ging er zurück zum<br />

Schloss und durch den Stallhof bis zur Frauenkirche, betrachtete<br />

nachdenklich den kreisförmigen Bau und die hohe Kuppel, die in<br />

den Himmel hineinzuragen schien. Er ging in die Kirche, betrachtete<br />

den Kanzelaltar, <strong>der</strong> Altar, Kanzel und Orgel vereinigte, und<br />

plötzlich sah er sich mit <strong>der</strong> Gräfi n vor dem Altar stehen und die<br />

Ringe wechseln, und er atmete tief durch: «Ich bin glücklich», sagte<br />

er leise. «So fühlt man sich also, wenn man eine Frau liebt.»<br />

Einige Stunden später schritten August <strong>der</strong> Starke, <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

und sein Sohn durch das Erdgeschoss des Westfl ügels zum<br />

Grünen Gewölbe.<br />

Vor dem Eingang blieb August stehen und sagte: «Es ist mein<br />

Wunsch, meine Pretiosen <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu zeigen, so ließ ich<br />

einige Türen vermauern, und es entstand eine Raumgruppe mit<br />

eigenem Eingang, das Grüne Gewölbe, ich wählte diesen Namen,<br />

weil die Decken grün bemalt sind. Die Besucher müssen einen Dukaten<br />

bezahlen, die Schuhe säubern und die Degen abgeben, dann<br />

führt <strong>der</strong> Leiter des Gewölbes sie durch die Räume und zeigt ihnen<br />

die Sammlungen.»<br />

«Je<strong>der</strong> Besucher muss einen Dukaten Eintritt zahlen», sagte<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm nachdenklich, «ergibt dies am Monatsende ein<br />

Plus? Die Räume müssen gepfl egt und die Sammlungen bewacht<br />

werden.»<br />

August lächelte: «Die Eintrittsgel<strong>der</strong> ergeben ein Plus, vom Frühjahr<br />

bis zum Herbst stehen Menschenschlangen vor <strong>der</strong> Eingangstür,<br />

nun, ich bin im Augenblick <strong>der</strong> einzige europäische Fürst, <strong>der</strong><br />

seine Tresore dem Volk und den in- und ausländischen Besuchern<br />

390


Dresdens zeigt, und mein Tresor ist eine <strong>der</strong> reichsten Schatzkammern<br />

Europas. Die Besucher, die kommen, um das Grüne Gewölbe<br />

zu sehen, bringen Geld in mein Land, weil viele nicht nur in Dresden<br />

weilen, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong> Elbe entlangreisen, um die abwechslungsreiche<br />

Landschaft Sachsens zu genießen.»<br />

«Eine gute Idee, um die Wirtschaft zu entwickeln», sagte <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm, «allerdings, wenn man Schätze zeigen will, muss<br />

man sie besitzen.»<br />

«Majestät», sagte <strong>Friedrich</strong> zu August, «diese Idee, nämlich die<br />

Sehenswürdigkeiten <strong>der</strong> Hauptstadt <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu zeigen,<br />

gab es schon in England unter <strong>der</strong> Regierung Elisabeths I. Die<br />

Königin öffnete den Tower für Besucher, dort gibt es zwar keine<br />

Schatzkammer, aber die Besucher besichtigten Verließe und Kerker<br />

und hörten schaurige Geschichten über die Gefangenen, was zweifellos<br />

ebenso faszinierend ist wie eine Schatzkammer.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm streifte den Sohn mit einem ärgerlichen Seitenblick<br />

und sagte zu August: «Der Bengel hat abwechselnd französische<br />

und englische Flausen im Kopf.»<br />

August betrachtete <strong>Friedrich</strong> amüsiert und erwi<strong>der</strong>te: «Flausen<br />

sind das Vorrecht <strong>der</strong> Jugend.»<br />

Sie gingen durch die Empfangshalle in einen eichengetäfelten<br />

Raum, wo vor wandhohen Spiegeln Reiterstandbil<strong>der</strong> und Bronzefi<br />

guren standen.<br />

«Dies ist das Bronzezimmer», erklärte August, «es folgen das Elfenbeinzimmer,<br />

das Weißsilberzimmer, das Silberzimmer, <strong>der</strong> Pretiosensaal,<br />

dort sehen Sie eines <strong>der</strong> teuersten Ausstellungsstücke,<br />

nämlich Dinglingers Werk ‹Der Hofstaat zu Delhi am Geburtstag<br />

des Großmoguls Aureng-Zeb›.<br />

Von dort geht man in das Wappenzimmer, und dann erlebt <strong>der</strong><br />

Besucher den Höhepunkt, nämlich das Juwelenzimmer. Es ist unüblich,<br />

zuerst den Höhepunkt zu zeigen, aber das Juwelenzimmer<br />

liebe ich am meisten, dort sehen Sie meine Sammlung von Perlfi -<br />

guren, sie repräsentieren meinen persönlichen Geschmack.»<br />

Im Juwelenzimmer sah <strong>Friedrich</strong> sich einen Augenblick verwirrt<br />

um, weil alle Wandfl ächen verspiegelt waren, dann sah er auf Tischen<br />

und Konsolen unzählige Perlfi guren und ging langsam zu<br />

einem <strong>der</strong> Tische.<br />

391


Er betrachtete die Figuren aus Perlen, Gold, Email und Edelsteinen<br />

und erkannte Zwerge, Harlekine, Soldaten, Bettler, Händler,<br />

Mohren, Tiere und Wesen, die eine Mischung aus Mensch und Tier<br />

darstellten.<br />

«Majestät, wer hat diese Figuren geschaffen? Sie symbolisieren<br />

unsere Welt, unsere Gesellschaft.»<br />

August lächelte geschmeichelt: «Eure Königliche Hoheit haben<br />

den tieferen Sinn meiner Sammlung erkannt: Diese Figuren<br />

mit einem ‹Leib von Perl› repräsentieren unsere Gesellschaft. Der<br />

Hugenotte Girardet, <strong>der</strong> übrigens in Berlin ansässig ist, schuf die<br />

Bettler und Soldaten, mein Hofjuwelier Köhler hat die zwei Figurenuhren<br />

geschaffen, die meisten Figuren erwarb ich von dem<br />

Hugenotten Verbecq. Er lebt im Messezentrum des Juwelenhandels,<br />

in Frankfurt am Main, und beliefert verschiedene deutsche<br />

Fürstenhöfe.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete fasziniert einen Galanteriewarenhändler,<br />

einen einäugigen Bettler mit Stelzfuß, einen Koch, <strong>der</strong> auf einem<br />

Bratrost geigte, und sagte seufzend: «Wie schade, dass meine Mutter<br />

und Wilhelmine diese Kostbarkeiten nicht sehen können.»<br />

August lächelte: «Königliche Hoheit, suchen Sie für Ihre Majestät<br />

und die Prinzessin aus, was Ihnen gefällt, es ist eine kleine Aufmerksamkeit<br />

für meine künftige Schwiegermutter und Gemahlin,<br />

sie kennen den Geschmack <strong>der</strong> Damen besser als ich.»<br />

Ehe <strong>Friedrich</strong> etwas erwi<strong>der</strong>n konnte, sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm:<br />

«Vielen Dank, das ist sehr großzügig, meine Frau und meine Tochter<br />

lieben solch kleine Kostbarkeiten, sie werden sich sehr darüber<br />

freuen.»<br />

Die Geschenke von August schonen meine Reisekasse, dachte er zufrieden,<br />

ich muss Fiekchen und Wilhelmine keine Geschenke mitbringen,<br />

und für die jüngeren Kin<strong>der</strong> werde ich am Tag <strong>der</strong> Abreise auf<br />

dem Striezelmarkt das Fastengebäck, den Dresdner Striezel, kaufen.<br />

Bei sachgemäßer Lagerung bleibt er angeblich monatelang frisch.<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete erleichtert auf. Gott sei Dank, dachte er, hat<br />

Papa nichts dagegen, dass ich für Mama und Wilhelmine ein hübsches<br />

Geschenk aussuche.<br />

Seine blauen Augen strahlten August an: «Majestät, ich danke<br />

Ihnen von ganzem Herzen», dann wan<strong>der</strong>ten seine Augen lang-<br />

392


sam über die Perlfi guren, und er überlegte: die Tänzerin und <strong>der</strong><br />

geigende Zwerg? Der Harlekin mit Negermaske und Wackelkopf?<br />

Ja, das ist etwas ausgefallener als <strong>der</strong> Winzer o<strong>der</strong> <strong>der</strong> schwedische<br />

Grenadier mit Stelzfuß.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm beobachtete seinen Sohn und sagte nach einer<br />

Weile leise zu August: «Wie andächtig er die Figuren auswählt. Die<br />

Perlensammlung scheint ihn sehr zu beeindrucken, nun ja, er hat<br />

anscheinend eine Schwäche für Prunk und Luxus, wie mein seliger<br />

Vater. Manchmal befürchte ich, dass er meinen mühsam erworbenen<br />

Staatsschatz nach meinem Tod vergeudet und verprasst.»<br />

August sah kurz zu <strong>Friedrich</strong> hinüber und erwi<strong>der</strong>te leise: «Das<br />

glaube ich nicht, ich weiß nicht warum, aber mein Gefühl sagt mir,<br />

dass Ihr Sohn kein Verschwen<strong>der</strong> ist; vielleicht ist er großzügig,<br />

aber er wird den Staatsschatz bestimmt nicht vergeuden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah seinen Gastgeber überrascht an: «Ich<br />

freue mich über Ihre gute Meinung, was den Fritz betrifft; hoffentlich<br />

haben Sie recht.»<br />

393


394<br />

3<br />

Am Abend stand <strong>Friedrich</strong> vor dem hohen Standspiegel im<br />

Schlafzimmer und betrachtete zufrieden sein Kostüm.<br />

Papa hat keine Kosten gescheut, dachte er, die schwarze Kappe mit<br />

den zwei Hörnern ist aus Seide, ebenso das Wams, die Kniehose und<br />

die Strümpfe, die Schuhe sind aus schwarzem Samt, <strong>der</strong> halblange<br />

Umhang aus rotem Samt. Schwarz und Rot, Samt und Seide, kostbare<br />

Stoffe für ein Karnevalskostüm – Papa will anscheinend repräsentieren.<br />

Ich bin ein Teufel in Seide, nun, er wird mich im Auge<br />

behalten, diese Kostümierung fällt auf, weil sie gleichzeitig schlicht<br />

ist; nun, hoffentlich gelingt es mir, die Gräfi n zu erkennen.<br />

Er setzte die schwarze Halbmaske auf, zog die schwarzen Seidenhandschuhe<br />

an und ging in den Vorraum, wo Sternemann ihn<br />

erwartete.<br />

«Hat Er die goldene Maske bei sich?»<br />

«Ja, Königliche Hoheit.»<br />

Einige Stunden später stand <strong>Friedrich</strong> in einer Fensternische des<br />

Ballsaales und sah resigniert vor sich hin.<br />

«Das ist doch nicht möglich», sagte er leise zu sich selbst, «seit<br />

dem Beginn des Balles habe ich alle jungen Damen genau beobachtet,<br />

aber keine ähnelte <strong>der</strong> Gräfi n, was Statur, Gang, Bewegungen<br />

und Stimme betrifft. Die Gesichter sind zwar halb von einer Maske<br />

bedeckt, aber wenn man die äußere Erscheinung eines Menschen<br />

kennt, wenn man seine Stimme einmal gehört hat, dann erkennt<br />

man ihn auch, wenn er maskiert ist, das ist ja <strong>der</strong> Reiz dieses Balles,<br />

verliebte Paare erkennen sich und können ungeniert zusammen<br />

plau<strong>der</strong>n, tanzen und sich diskret entfernen. Etwas stimmt nicht, es<br />

geht nicht mit rechten Dingen zu.»<br />

Er nahm ein Glas Champagner von einem Tablett, das ein Lakai<br />

an ihm vorbeitrug, und betrachtete erneut die jungen Damen.<br />

Ein Page ging mit seiner Begleiterin an ihm vorbei, und er sah,<br />

dass <strong>der</strong> rotgeschminkte Mund <strong>der</strong> Dame lächelte, und er spürte,<br />

wie die Augen unter <strong>der</strong> Maske ihren Begleiter anstrahlten.


Sie ist verliebt und hat ihren Liebhaber gefunden, dachte er wehmütig<br />

und sah dem Paar nach, das sich bald in <strong>der</strong> Menschenmenge<br />

verlor.<br />

Was soll ich tun? Vielleicht hat die Gräfi n sich schon zurückgezogen?<br />

Nein, das ist unmöglich, als Tochter des Königs muss<br />

sie bis zum Schluss bleiben und repräsentieren, überdies gehört<br />

sie bestimmt nicht zu den Frauen, die einen Ball vorzeitig verlassen.<br />

Er starrte unschlüssig vor sich hin und zuckte zusammen,<br />

als ein Lakai vor ihm stand und sich verneigte: «Königliche<br />

Hoheit, Seine Majestät <strong>der</strong> König in Preußen wünscht Sie zu<br />

sprechen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> seufzte, gab dem Lakaien das leere Glas und ging wi<strong>der</strong>willig<br />

zu seinem Vater.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm und August saßen einträchtig beisammen<br />

und prosteten einan<strong>der</strong> zu.<br />

«Nun, mein Sohn», rief <strong>der</strong> König, «amüsierst du dich?»<br />

«Ja, Papa.»<br />

«Das freut mich, ich amüsiere mich ebenfalls», er leerte den Pokal<br />

mit Wein, und während ein Lakai nachschenkte, fuhr er fort:<br />

«Man soll das Vergnügen nicht übertreiben, wir werden den Ball<br />

nach dem Souper verlassen.»<br />

«Ich bitte Sie», sagte August, «nach dem Souper wechseln wir<br />

die Masken, dann fängt das Amüsement erst richtig an und wird<br />

bis zum Morgen dauern.»<br />

«Mein Sohn ist erst sechzehn Jahre, und ich möchte nicht, dass<br />

er es sich angewöhnt, die Nächte zu durchfeiern und am nächsten<br />

Tag bis Mittag zu schlafen, überdies habe ich schon jetzt den Eindruck,<br />

dass es ihm hier zu gut gefallen wird, nein, eine gewisse<br />

Disziplin muss schon sein.»<br />

«Lassen Sie ihn wenigstens noch eine Stunde den Ball mit <strong>der</strong><br />

vergoldeten Metallmaske erleben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm leerte den Pokal zur Hälfte und erwi<strong>der</strong>te:<br />

«Meinetwegen, aber nur eine Stunde, dieser Ungarwein ist wirklich<br />

süffi g.»<br />

In diesem Augenblick sah <strong>Friedrich</strong>, dass ein Page zu August<br />

trat, und er erkannte den jungen Mann, <strong>der</strong> mit einer jungen Frau<br />

an ihm vorbeigegangen war.<br />

395


Er zuckte unwillkürlich zusammen, als <strong>der</strong> Page sich ungeniert<br />

auf die Knie des Königs setzte und August die Hände des jungen<br />

Mannes ergriff und mit Küssen bedeckte.<br />

Mon Dieu, dachte <strong>Friedrich</strong>, liebt August nicht nur Frauen, son<strong>der</strong>n<br />

auch junge Männer?<br />

Er starrte das Paar an und hörte August sagen: «Nun, wie viele<br />

junge Damen haben sich heute in Sie verliebt?»<br />

Was geht hier vor, fragte sich <strong>Friedrich</strong> verwirrt.<br />

In diesem Augenblick lachte <strong>der</strong> Page, und <strong>Friedrich</strong> zuckte unwillkürlich<br />

zusammen. Es ist das Lachen <strong>der</strong> Gräfi n, dachte er, aber<br />

das kann nicht sein, dann hörte er die Stimme des Pagen: «Ich weiß<br />

es nicht genau, es waren bestimmt bis jetzt ein halbes Dutzend<br />

junger Damen», und zu <strong>Friedrich</strong>: «Das Kostüm des Teufels passt<br />

zu Ihnen, Königliche Hoheit, Sie sind ein Teufel in Seide.»<br />

Mon Dieu, es ist die Orzelska, dachte <strong>Friedrich</strong> verwirrt und verneigte<br />

sich vor den Königen: «Ich bitte um Erlaubnis, mich entfernen<br />

zu dürfen.»<br />

«Natürlich», rief August, «amüsieren Sie sich, tanzen Sie, das ist<br />

das Vorrecht <strong>der</strong> Jugend.»<br />

«Amüsiere dich, Fritz; mein Gott, ist <strong>der</strong> Ungarwein süffi g.»<br />

Papa ist schon halb betrunken, dachte <strong>Friedrich</strong>, verließ den Saal,<br />

trat zu einem <strong>der</strong> Fenster im Vorraum, sah hinunter in den hell erleuchteten<br />

Hof und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.<br />

Die Gräfi n hat sich als Mann verkleidet, dachte er, deswegen habe<br />

ich sie nicht erkannt. Das Pagenkostüm kleidet sie, sie wirkt noch<br />

reizvoller, aber die Art und Weise, wie August ihre Hände küsste,<br />

das war irgendwie merkwürdig; Papa würde Wilhelmine nie so innig<br />

die Hände küssen. Wie kann ich mich dem Pagen nähern?<br />

Er sah nachdenklich vor sich hin und hörte nicht, dass leise<br />

Schritte sich näherten.<br />

«Königliche Hoheit.»<br />

Er zuckte beim Klang <strong>der</strong> Stimme zusammen, drehte sich langsam<br />

um und erblickte den Pagen, <strong>der</strong> ihn anlächelte.<br />

Ich träume, dachte <strong>Friedrich</strong>, die Gräfi n, es ist bestimmt ein<br />

Traum, aus dem ich irgendwann erwache.<br />

«Sie schweigen, Königliche Hoheit, Sie sind wahrscheinlich<br />

überrascht, dass ich mich als Mann verkleide.»<br />

396


«Ja, Madame», stammelte <strong>Friedrich</strong>.<br />

«Ich trage gern Männerkleidung; ich fi nde, sie passt zu mir, und<br />

bei Kostümfesten verkleide ich mich immer als Mann und amüsiere<br />

mich, wenn die jungen Damen mich umschwärmen. Einige<br />

sind manchmal beson<strong>der</strong>s mutig und versuchen, mich zu einem<br />

heimlichen Rendezvous zu überreden, aber mir fällt immer eine<br />

Ausrede ein.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die Gräfi n und spürte erstaunt, dass er sie<br />

in <strong>der</strong> Pagenkleidung auf einmal körperlich begehrte.<br />

Was ist das, dachte er verwirrt, wenn sie Frauenklei<strong>der</strong> trägt,<br />

verehre ich sie, und jetzt, da sie mir als Mann gegenübertritt, begehre<br />

ich sie.<br />

«Es ist hier drin sehr warm, Königliche Hoheit, wir sollten die<br />

frische Luft genießen. Wenn die Witterung es erlaubt, promeniert<br />

man während eines Balles im Hof des Zwingers.»<br />

Sie verließen das Schloss, gingen hinüber zum Zwinger, und<br />

<strong>Friedrich</strong> sah erstaunt, dass dort unzählige Paare auf und ab spazierten.<br />

Der Hof war spärlich erhellt, und während sie über die kiesbestreuten<br />

Wege gingen, dachte <strong>Friedrich</strong>: Dieser Maskenball ist<br />

eine einmalige Gelegenheit, um ihr meine Liebe zu gestehen.<br />

Er blieb stehen und sagte leise: «Madame, ich habe hier am Vormittag<br />

einen interessanten Platz entdeckt, erlauben Sie, dass ich<br />

Ihnen den Platz zeige?»<br />

«Ja, Königliche Hoheit.»<br />

Sie gingen zum rechten Pavillon, stiegen die Stufen hinauf, und<br />

als <strong>Friedrich</strong> sich nach rechts wandte, lachte sie leise und sagte: «Sie<br />

wollen mir also das Nymphenbad zeigen?»<br />

Sie stiegen hinunter und betrachteten eine Weile schweigend,<br />

wie das Wasser über den künstlich gestuften Wasserfall plätscherte.<br />

«Königliche Hoheit, die Nymphen, die Sie hier sehen, sind ehemalige<br />

Mätressen meines Vaters.»<br />

«Ehemalige Mätressen? Nun, es ist eine aparte Idee, die Damen<br />

auf diese Weise zu verewigen.»<br />

Ich rede dummes Zeug, dachte er, ging langsam von einer Statue<br />

zur an<strong>der</strong>en und versuchte, sich zu sammeln.<br />

397


Ich muss es wagen, dachte er, stellte sich vor die Gräfi n, holte<br />

Luft und stammelte: «Madame, als ich am Vormittag hier weilte,<br />

habe ich von Ihnen geträumt, ich, mon Dieu, wie soll ich es sagen?<br />

Ich liebe Sie und ich werde Sie immer lieben, ich, ich möchte Sie<br />

heiraten.»<br />

Er schwieg erleichtert und wartete ängstlich auf ihre Reaktion.<br />

Sie sah ihn einen Augenblick an, dann nahm sie die Maske ab,<br />

trat zu ihm, löste seine Maske vom Gesicht und sagte ernst: «Königliche<br />

Hoheit, bei diesem Gespräch sollten wir uns offen in die<br />

Augen sehen. Ich weiß, was Sie für mich empfi nden, Ihre Gefühle<br />

ehren mich und ich respektiere sie, aber Sie sollten sich keinen Illusionen<br />

hingeben. Sie gefallen mir als Mann, aber es gibt für uns<br />

keine Zukunft: Ich bin zwar die Tochter eines Königs, aber ich bin<br />

illegitim und nicht standesgemäß, Sie können mich nicht heiraten.<br />

Eine außereheliche Beziehung wäre zwar möglich, aber abgesehen<br />

davon, dass die Entfernung zwischen Berlin und Dresden zu groß<br />

ist, muss ich Rücksichten nehmen. Sie wissen es vielleicht nicht,<br />

aber ich bin nicht nur die Tochter, ich bin auch die Geliebte meines<br />

Vaters, er betrachtet mich als sein Eigentum, und ich kann es mir<br />

fi nanziell nicht leisten, seine Gunst zu verlieren.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte die Orzelska leise: «Wahrscheinlich<br />

verachten Sie mich jetzt.»<br />

«Nein, Madame», rief <strong>Friedrich</strong>, «nein, ich verachte Sie nicht,<br />

ich werde Sie immer lieben, auch wenn diese Begegnung meinen<br />

Traum beendet.»<br />

Die Gräfi n betrachtete die großen blauen Augen und sagte leise:<br />

«Königliche Hoheit, es ziemt sich vielleicht nicht, aber ich muss<br />

Ihnen etwas gestehen: Ich würde Sie gerne in die Liebeskunst einführen,<br />

aber es ist unmöglich.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah die junge Frau an, und plötzlich fühlte er sich<br />

glücklich.<br />

Sie erwi<strong>der</strong>t anscheinend meine Gefühle, dachte er, vielleicht sollte<br />

ich die Hoffnung doch nicht aufgeben, und er atmete tief durch.<br />

«Madame, bevor wir uns trennen, gewähren Sie mir einen<br />

Wunsch: Küssen Sie mich.»<br />

Die Gräfi n zögerte einen Moment, dann lächelte sie, trat vor ihn<br />

und küsste ihn auf die Stirn.<br />

398


Als er ihre weichen Lippen spürte, zuckte er unwillkürlich zusammen<br />

und empfand eine Sehnsucht nach ihrer körperlichen<br />

Nähe wie noch nie zuvor.<br />

«Madame», stammelte er, «ich hoffte, Sie würden mich auf den<br />

Mund küssen.»<br />

Sie sah ihn einen Augenblick an und lachte leise auf: «Mon Dieu,<br />

wissen Sie, was Sie wünschen? Ein Kuss kann für Sie gefährlich<br />

werden, er kann in Ihnen ein Verlangen nach mehr bewirken.»<br />

«Das stört mich nicht, Madame.»<br />

«Wie jung Sie sind», sagte sie leise und berührte mit ihren Lippen<br />

leicht seinen Mund.<br />

Er lächelte sie glücklich an: «Sie sind die erste Frau, die mich<br />

geküsst hat, ich werde diesen Kuss nie vergessen.»<br />

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen zwischen ihnen,<br />

dann sagte die Gräfi n: «Königliche Hoheit, wir müssen in den Ballsaal<br />

zurück.»<br />

Sie eilte die Treppe hinauf und hinunter in den Hof und weiter<br />

zum Saal.<br />

<strong>Friedrich</strong> folgte ihr benommen, und als er den Saal betrat, war<br />

sie plötzlich verschwunden.<br />

Er betrachtete erstaunt die goldenen Masken auf den Gesichtern,<br />

erinnerte sich, dass jetzt die Stunde war, um die Masken zu wechseln,<br />

ging in den Vorraum zu Sternemann, setzte die goldene Maske<br />

auf sein Gesicht und kehrte in den Saal zurück.<br />

Er promenierte auf und ab, sah dem Tanz zu und spürte nach<br />

einer Weile, dass <strong>der</strong> Schweiß an seinem Gesicht entlangfl oss, er<br />

spürte den Druck <strong>der</strong> Maske, fühlte sich erschöpft, und dann plötzlich<br />

wich <strong>der</strong> Druck, und er fühlte sich in Harmonie mit sich selbst<br />

und <strong>der</strong> Welt.<br />

Er blieb stehen und genoss das Glücksgefühl, dann sah er die<br />

Maske eines Sonnengottes in seiner Nähe und hörte das Flüstern<br />

<strong>der</strong> Nachbarn: «Seine Majestät, er liebt es, als Sonnengott zu erscheinen,<br />

er möchte ein zweiter Sonnenkönig sein», und plötzlich<br />

dachte <strong>Friedrich</strong>: August ist ein alter Mann, die Gräfi n liebt nicht<br />

ihn, sie liebt mich, das Rendezvous im Zwinger war <strong>der</strong> Anfang<br />

unserer Liebe, nicht das Ende.<br />

399


400<br />

4<br />

Zwei Wochen später saß <strong>Friedrich</strong> an seinem Schreibtisch, betrachtete<br />

nachdenklich das weiße Papier, das vor ihm lag, überlegte<br />

und tauchte die Fe<strong>der</strong> in das Tintenfass:<br />

Dresden, im Februar 1728<br />

Liebe Wilhelmine,<br />

zunächst möchte ich mich entschuldigen, dass ich dir und Mama<br />

erst jetzt schreibe, aber heute ist <strong>der</strong> erste Tag, <strong>der</strong> mir genügend<br />

Zeit lässt, um euch von meinen Erlebnissen in Dresden zu berichten.<br />

Der Brief an Mama geht mit <strong>der</strong> gleichen Post weg, ich verschweige<br />

ihr gewisse Ereignisse, die ich dir natürlich anvertraue.<br />

Trotz aller Zerstreuungen denke ich stets an dich und werde dich<br />

erst mit dem Tode vergessen: Aber warte einen Augenblick. Lasse<br />

mich erst husten, ausspucken und darauf schneuzen. Wovon willst<br />

du hören? Von <strong>der</strong> großen Welt? Gut! Der König von Polen ist ungefähr<br />

zwei Köpfe größer als Papa. Er hat sehr starke Augenbrauen<br />

und eine etwas aufgestülpte Nase. Er geht recht gut, trotz seines<br />

Beines. Er ist geistvoll, sehr höfl ich gegen je<strong>der</strong>mann und hat viel<br />

Lebensart.<br />

Er schnarrt etwas beim Sprechen und ist nicht leicht zu verstehen,<br />

da er viele Zähne verloren hat. Trotzdem sieht er gesund aus<br />

und ist körperlich gewandt, das heißt, er sticht nach dem Ring,<br />

tanzt und tut an<strong>der</strong>e Dinge wie ein junger Mann.<br />

Seit meiner Ankunft in Dresden lebe ich in einer neuen Welt,<br />

diese Stadt ist das Paradies auf Erden; und ich bin davon überzeugt,<br />

dass du die gleichen Empfi ndungen hegen wirst, wenn du einmal<br />

als Kurfürstin und Königin hier leben wirst.<br />

Hier werden an<strong>der</strong>e Feste gefeiert als in Berlin! Tausende von<br />

Kerzen erleuchten die endlosen Säle, ein Meer von Spiegeln verzehnfacht<br />

ihren Glanz, von allen Galerien pfeifen, trommeln und<br />

geigen unermüdliche Musikanten, wohlriechende arabische Hölzer<br />

glimmen in achatenen Urnen, in den Gärten sprühen Kaska-


den von fl ießendem Feuer, Monde und Kometen schimmern über<br />

den Feuern, marmorne Götterbil<strong>der</strong> glänzen durch das Dunkel,<br />

und silbergekleidete Mohren schwingen riesige Fackeln über ihren<br />

Häuptern, Gesang schwillt aus geheimnisvollen Hecken und hinter<br />

allem Frauen über Frauen, schöne, verführerische, zugängliche<br />

Frauen, Frauen, die mich verwöhnen und bewun<strong>der</strong>n.<br />

Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich wie ein Kronprinz<br />

und künftiger König behandelt: man fragt mich, ob ich tanzen o<strong>der</strong><br />

eine Oper o<strong>der</strong> ein Schauspiel ansehen will, man fragt, ob ich eine<br />

Maskerade o<strong>der</strong> eine Ballettaufführung wünsche, man bittet mich,<br />

Flöte zu spielen, und vor einigen Tagen habe ich mich tatsächlich<br />

als Musiker hören lassen. Richter, Buffardin, Pisendel, Weiß und<br />

vor allem Quantz, <strong>der</strong> berühmte Flötenlehrer, haben mitgespielt.<br />

Ich bewun<strong>der</strong>e sie, sie sind die besten Künstler bei Hofe.<br />

Nach dem Konzert wollte <strong>der</strong> Applaus nicht enden, man macht<br />

mir auch Komplimente über meine philosophischen Bemerkungen<br />

in Gesprächen, kurz, ich stehe im Mittelpunkt des Interesses, und<br />

ich genieße die Ehrerbietung und Bewun<strong>der</strong>ung; gleichwohl sagt<br />

mir eine innere Stimme, dass die Reverenzen und die Bewun<strong>der</strong>ung<br />

wahrscheinlich mehr dem künftigen preußischen König gelten<br />

als dem Menschen <strong>Friedrich</strong> von Hohenzollern. Trotzdem genieße<br />

ich, dass ich endlich einmal nicht nach <strong>der</strong> Uhr leben muss!<br />

So weit ich mich erinnern kann, war mein Tag immer nach Minuten<br />

eingeteilt. Hier in Dresden lebe ich in den Tag hinein!<br />

Da die Feste meistens erst lange nach Mitternacht enden o<strong>der</strong> bis<br />

zum frühen Morgen dauern, schlafe ich bis zehn o<strong>der</strong> elf Uhr.<br />

Dann genieße ich eine o<strong>der</strong> zwei Tassen heiße Schokolade mit<br />

etwas Gebäck, beispielsweise ein Stück Dresdner Striezel – es ist<br />

ein Fastengebäck, was nur auf dem Striezelmarkt angeboten wird,<br />

nicht nur während <strong>der</strong> Fastenzeit, son<strong>der</strong>n schon vor Weihnachten<br />

und während des Karnevals –, dieser Hefekuchen ist mit viel<br />

Butter gebacken und wird mit Mandeln und Rosinen verfeinert.<br />

Die an<strong>der</strong>e Gebäckspezialität ist <strong>der</strong> ‹Meißner Fummel›, ein hauchdünnes<br />

Hefegebäck, das aussieht wie ein Schwamm und so empfi<br />

ndlich ist, dass König August befahl, den Kisten mit Porzellan<br />

aus Meißen, die nach Dresden transportiert werden, solche Meißner<br />

Fummel beizulegen; zeigt das Hefegebäck bei <strong>der</strong> Ankunft in<br />

401


Dresden schadhafte Stellen, so ist dies ein Zeichen dafür, dass die<br />

Kutscher unvorsichtig o<strong>der</strong> gar betrunken waren und das kostbare<br />

Porzellan in Gefahr gebracht haben, wofür sie bestraft werden.<br />

Nach dem Frühstück besuche ich die sächsischen Aristokraten,<br />

dann wird es allmählich Zeit für die Mittagstafel, meistens bin ich<br />

eingeladen.<br />

Nach Tisch folgt eine Spazierfahrt o<strong>der</strong> ein Ausritt, dann erneut<br />

Besuche o<strong>der</strong> eine Partie Schach mit dem Grafen von Flemming,<br />

dann wird es allmählich Zeit, sich für den Abend umzukleiden.<br />

Du fragst dich jetzt wahrscheinlich, was Papa zu dieser Lebensführung<br />

sagt.<br />

Nun, wir sehen uns Gott sei Dank nur am Abend, tagsüber ist er<br />

mit König August zusammen o<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Jagd.<br />

Vor ein paar Tagen sagte er zu mir: ‹Fritz, ich fürchte, dass es dir<br />

hier zu sehr gefällt.›<br />

Ich erwi<strong>der</strong>te: ‹Ich glaube es wohl, aber warum haben Sie mich<br />

kommen lassen, wenn Sie nicht wünschten, dass ich hier Vergnügen<br />

haben sollte.›<br />

Er schwieg, aber ich merkte, dass er sich ärgerte. Er sieht natürlich,<br />

dass ich eine bessere Figur mache als er, dass ich im Mittelpunkt<br />

stehe, und er versucht, sich auf seine Weise zu rächen.<br />

Hin und wie<strong>der</strong> befi ehlt er mir, eine Einladung unter irgendeinem<br />

Vorwand abzusagen, vor ein paar Tagen durfte ich nicht an dem<br />

Bankett beim französischen Gesandten teilnehmen.<br />

Ich gräme mich nicht weiter darüber, son<strong>der</strong>n genieße die Feste, und<br />

diese unbeschwerten Wochen in Dresden werde ich nie vergessen.<br />

Vor zwei Tagen passierte etwas, was wahrscheinlich nach unserer<br />

Rückkehr ganz Berlin erfahren wird, also auch Mama, trotzdem<br />

bitte ich dich, über diese Geschichte zunächst zu schweigen.<br />

König August versuchte, unseren Vater zu einem ehelichen Seitensprung<br />

zu verführen!<br />

Vor zwei Tagen fand ein Bankett statt, was allmählich zu einem<br />

Trinkgelage wurde. Zu vorgerückter Stunde bat August uns, ihm<br />

zu folgen. Er führte Papa, einige an<strong>der</strong>e Herren und mich durch<br />

viele Räume bis zu einem Prunkgemach.<br />

In diesem Raum hingen an allen Wänden Spiegel, <strong>der</strong> Fußboden<br />

war mit weichen Teppichen bedeckt, und überall standen Ker-<br />

402


zenleuchter. Im Kamin lo<strong>der</strong>te ein Feuer, und <strong>der</strong> Raum war von<br />

Wohlgerüchen erfüllt.<br />

August trat zu einer Wand, die von einem roten Samtvorhang<br />

bedeckt war, zog den Vorhang zur Seite, und ich war sprachlos, ich<br />

stand hinter Papa, konnte indes sehen, was <strong>der</strong> Vorhang verborgen<br />

hatte. Auf einem Ruhebett lag nachlässig hingestreckt eine junge<br />

Frau im Evakostüm, ihr Körper war weiß wie Schnee, und ich dachte<br />

unwillkürlich an die Göttin Venus.<br />

Lei<strong>der</strong> habe ich das Gesicht von Papa nicht gesehen, als er die<br />

Göttin erblickte, ich hörte ihn murmeln: ‹Sie ist sehr schön›, im<br />

nächsten Augenblick drehte er sich herum, hielt seinen Hut vor<br />

mein Gesicht und zerrte mich aus dem Zimmer.<br />

Noch am gleichen Abend ließ er August mitteilen, dass er unverzüglich<br />

abreisen werde, wenn sich <strong>der</strong>artige Szenen wie<strong>der</strong>holten.<br />

Ich erfuhr auch, was er zu Grumbkow sagte: ‹Es ist gewiss kein<br />

christliches Leben hier, aber Gott ist mein Zeuge, dass ich kein<br />

Vergnügen daran gefunden habe und noch so rein bin, als ich von<br />

Hause hergekommen und mit Gottes Hilfe beharren werde bis an<br />

mein Ende.›<br />

Mama kann beruhigt sein, Papa ist ihr treu geblieben. Die Venus<br />

in dem Gemach, <strong>der</strong>en Körper wie Elfenbein schimmerte, ist die<br />

Gräfi n Formera, angeblich die schönste Mätresse von König August.<br />

Heute wird Tartuffe gespielt, ich gehe sogleich hin; anschließend<br />

diniere ich bei König August, dann folgt noch ein Ball. Lebe wohl!<br />

Liebe mich, wie ich dich liebe! Wenn dir die Ohren nicht klingen,<br />

ist es nicht meine Schuld, denn die Gräfi n von Flemming und ich<br />

sprechen immer von dir. Ich liebe dich so, dass ich dir gern meinen<br />

Platz abträte, um dir eine Freude zu machen. Lebe wohl! Ich bin<br />

dein Diener. Madame Dumesnil, Monsieur Dupré, Favier, Saint-<br />

Dénis, Beaufort und die Mademoiselles Clement, Vaurinville, Corretté,<br />

Romainville und an<strong>der</strong>e Tänzer und Tänzerinnen und Figurantinnen<br />

rufen mich,<br />

<strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> Philosoph.<br />

Während er Sand über die Tinte streute, dachte er: Die Französische<br />

Akademie defi niert einen Philosophen als einen Mann, <strong>der</strong> sich aus<br />

403


Freigeisterei außerhalb <strong>der</strong> Pfl ichten und gewöhnlichen Bindungen<br />

des bürgerlichen Lebens glaubt. Nun, ich bin ein Philosoph. Ich<br />

sehne mich danach, <strong>der</strong> stickigen Atmosphäre des Berliner Hofes<br />

zu entfl iehen, ich sehne mich nach Musik, nach französischem<br />

Theater, nach Eleganz und Freiheit, und vielleicht sehne ich mich<br />

auch nach erotischen Genüssen.<br />

Während er sich für den Abend umkleidete, überbrachte ein Lakai<br />

einen Brief von König August.<br />

<strong>Friedrich</strong> las und sah erstaunt auf.<br />

«August möchte mich nach <strong>der</strong> Theateraufführung persönlich<br />

unter vier Augen sprechen», sagte er leise, «was bedeutet dies?<br />

Worüber will er mit mir sprechen, über Wilhelmines Heirat?<br />

Er erwartet mich in seinem Schlafzimmer im ersten Stock des<br />

Schlosses, nicht in den offi ziellen Räumen des zweiten Stockes; es<br />

scheint eine private Unterredung zu sein.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> das Schlafzimmer des Königs betrat, blieb er überrascht<br />

stehen und betrachtete verwun<strong>der</strong>t die hohe Gestalt, die in<br />

<strong>der</strong> Mitte des Zimmers stand.<br />

Mon Dieu, dachte <strong>Friedrich</strong>, ist August während <strong>der</strong> letzten<br />

Stunden noch gewachsen? Während er langsam in das Zimmer<br />

ging, betrachtete er den König genauer und musste sich beherrschen,<br />

um nicht laut zu lachen.<br />

Er wirkt größer, dachte er amüsiert, weil er Schuhe mit sehr hohen<br />

Absätzen trägt, seine Lockenperücke ist auch ungewöhnlich<br />

hoch, so wirkt er natürlich größer, mon Dieu, hat er das nötig?<br />

Wenn ich König bin, werde ich nie versuchen, mit Tricks größer zu<br />

scheinen, als ich bin.<br />

August lächelte <strong>Friedrich</strong> an: «Guten Abend, Königliche Hoheit,<br />

setzen Sie sich.» Er wies auf einen Sessel, <strong>der</strong> neben einem kleinen<br />

Tisch stand, setzte sich <strong>Friedrich</strong> gegenüber und klingelte nach<br />

einem Diener.<br />

«Serviere Er Champagner.»<br />

Champagner, dachte <strong>Friedrich</strong> irritiert, worüber will er mit mir<br />

reden?<br />

August schwieg, bis <strong>der</strong> Champagner serviert wurde, hob sein<br />

Glas und sagte langsam: «Auf Ihr Wohl, Königliche Hoheit.»<br />

404


«Auf Ihr Wohl, Majestät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> nippte an dem Champagner und spürte, wie er langsam<br />

nervös und unsicher wurde.<br />

August lehnte sich zurück und musterte <strong>Friedrich</strong> einen Augenblick,<br />

dann beugte er sich etwas vor und fragte: «Wie gefällt Ihnen<br />

Dresden, Königliche Hoheit?»<br />

«Majestät, die Stadt und Ihr Hof sind für mich faszinierend, ich<br />

genieße jeden Ball, die Opern, die Konzerte, die Gespräche, ich<br />

lerne hier eine völlig neue Welt kennen.»<br />

August lächelte: «Ich freue mich, dass es Ihnen hier gefällt. Ich<br />

habe Sie zu mir gebeten, um mit Ihnen ein vertrauliches Gespräch<br />

von Mann zu Mann zu führen.»<br />

Von Mann zu Mann, dachte <strong>Friedrich</strong>, mon Dieu, für ihn bin ich<br />

anscheinend ein richtiger Mann.<br />

August trank etwas Champagner, betrachtete <strong>Friedrich</strong> und<br />

sagte dann langsam: «Ich habe Sie beobachtet, Königliche Hoheit,<br />

und ich weiß, dass Sie in die Gräfi n Orzelska verliebt sind. Ich kann<br />

Ihre Gefühle verstehen, aber ich bin nicht bereit, die Gräfi n mit<br />

einem an<strong>der</strong>en Mann zu teilen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> spürte verärgert, dass er errötete, und erwi<strong>der</strong>te hastig:<br />

«Majestät, ich muss gestehen, dass die Gräfi n mir gefällt, aber<br />

ich weiß, dass die Gräfi n nur Sie liebt, und ich werde nie ein Liebesverhältnis<br />

zerstören.»<br />

August betrachtete <strong>Friedrich</strong> erneut: «Ich glaube Ihnen, und ich<br />

möchte Ihnen einen Vorschlag machen: Ihre Verliebtheit in die<br />

Gräfi n Orzelska ist oberfl ächlich, Sie begehren die Frau, Sie wollen<br />

wissen, was körperliche Liebe bedeutet, das ist verständlich für einen<br />

jungen Mann, nun, was ist mit <strong>der</strong> Gräfi n Formera?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah August erstaunt an: «Ich verstehe nicht, was Eure<br />

Majestät meinen.»<br />

August begann zu lachen: «Ich meine, dass die Gräfi n Formera<br />

Eure Königliche Hoheit die Liebeskunst lehren soll.»<br />

«Die Liebeskunst, Majestät, nun ja, ich … ich bin bereit, ich akzeptiere<br />

Ihren Vorschlag, ich denke, wenn ich einmal heirate, so<br />

ist es besser, wenn ich über gewisse Dinge Bescheid weiß, aber was<br />

wird mein Vater sagen? Sie wissen wahrscheinlich, welche Spannungen<br />

es zwischen uns gibt.»<br />

405


«Gewiss, aber machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ihr Vater<br />

wird nichts von Ihren Erlebnissen erfahren. Nach dem Diner wird <strong>der</strong><br />

Ball beginnen, Sie können sich unauffällig entfernen, gehen Sie in<br />

das Nymphenbad, dort wird die Gräfi n Formera Sie erwarten.»<br />

Während des Diners aß <strong>Friedrich</strong> nur wenig, und als das Dessert<br />

serviert wurde, spürte er, wie sein Herz wild klopfte.<br />

Mon Dieu, dachte er, nach dieser Nacht bin ich ein Mann.<br />

Als <strong>der</strong> Ball begann, verließ er unauffällig den Saal, ging langsam<br />

zum Zwinger und über den Hof, <strong>der</strong> von Fackeln erleuchtet war.<br />

Er sah nervös zu den Paaren, die dort auf und ab gingen, hoffte,<br />

dass niemand ihn erkannte, und atmete erleichtert auf, als er den<br />

Pavillon betrat.<br />

Er blieb einen Augenblick stehen, versuchte, seine Aufregung zu<br />

bekämpfen, ging langsam die Treppe empor und dann nach rechts<br />

zu <strong>der</strong> Treppe, die in das Nymphenbad hinabführte.<br />

Er ging einige Stufen hinunter und blieb überrascht stehen.<br />

Neben dem Brunnen in <strong>der</strong> Mitte des Raumes stand eine mittelgroße,<br />

schlanke Gestalt, sie trug einen schlichten, weißen, knöchellangen<br />

Samtmantel, ein weißer seidener Schleier verhüllte<br />

Kopf und Gesicht, er sah zwei Augenschlitze und ging unsicher<br />

hinunter.<br />

Was für eine merkwürdige Maskerade, dachte er, dann stand er<br />

vor <strong>der</strong> Gestalt und hörte sie fl üstern: «Königliche Hoheit, folgen<br />

Sie mir bitte.»<br />

Er ging Treppen hinauf und hinunter und schritt durch lange<br />

Galerien, schließlich blieb sie vor einer Tür stehen, schloss sie auf,<br />

und als er das Gemach betrat, sah er sich erstaunt um.<br />

Seine Augen wan<strong>der</strong>ten von den Wandspiegeln zu den brennenden<br />

Kerzen, er betrachtete den Alkoven und erinnerte sich.<br />

In dieses Zimmer hat August uns vor einigen Tagen geführt, in<br />

diesem Zimmer werde ich zum Mann.<br />

Die weiße Gestalt blieb stehen, legte den Schleier ab, und er sah<br />

das Gesicht <strong>der</strong> Gräfi n Formera.<br />

Er trat zu ihr, betrachtete die dunklen Augen und die langen<br />

schwarzen Wimpern und fragte: «Madame, warum verschleiern Sie<br />

sich? Auf dem Weg hierher ist uns niemand begegnet, warum soll<br />

406


man Sie nicht erkennen? Mich darf man nicht erkennen, es wäre<br />

besser gewesen, wenn ich eine Maske getragen hätte.»<br />

Sie lächelte ihn an: «Seine Majestät hat dafür gesorgt, dass uns<br />

niemand begegnet. Königliche Hoheit, ich war Muslimin, und als<br />

<strong>der</strong> Sultan mich dem König schenkte, trat ich zum christlichen<br />

Glauben über, aber einige Bräuche meiner Religion habe ich beibehalten,<br />

den Schleier zum Beispiel. Als junges Mädchen habe ich<br />

angefangen, ihn zu tragen, und König August liebt es, wenn ich<br />

ihn verschleiert empfange, es bereitet ihm Vergnügen, mich zu<br />

entschleiern und zu entkleiden, verstehen Sie, was ich meine?»<br />

«Ja», stammelte <strong>Friedrich</strong>, «ja, ich verstehe Sie.» Mon Dieu, dachte<br />

er beklommen, wie entkleidet man eine Frau?<br />

Die Gräfi n beobachtete ihn, lächelte, ging zu einem Tischchen,<br />

wo eine Flasche Champagner stand, füllte die beiden Kristallschalen<br />

und trat zu <strong>Friedrich</strong>: «Auf Ihr Wohl, Königliche Hoheit, entspannen<br />

Sie sich.»<br />

Er verspürte plötzlich Durst, leerte die Schale, die Gräfi n füllte<br />

sie erneut, und nach dem zweiten Glas Champagner merkte <strong>Friedrich</strong>,<br />

dass seine Aufregung allmählich nachließ.<br />

Sie trat zu ihm und strich mit den Fingerspitzen <strong>der</strong> rechten<br />

Hand leicht über sein Gesicht.<br />

«Der König sagte, du bist noch Jungfrau, ist das wahr?»<br />

«Jungfrau?»<br />

«Hast du schon einmal mit einer Frau geschlafen?»<br />

«Nein», er spürte, dass er errötete, und ärgerte sich darüber.<br />

«Entspanne dich», im nächsten Augenblick öffnete sie den Mantel,<br />

ließ ihn auf den Teppich gleiten und stand nackt vor <strong>Friedrich</strong>.<br />

Er starrte sie an und senkte verlegen die Augen.<br />

Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände: «Ich verstehe deine Hemmungen,<br />

sie sind überfl üssig, die Erotik gehört zum Leben wie an<strong>der</strong>e<br />

sinnliche Genüsse, ein Glas Wein zum Beispiel, ein Bankett,<br />

ein Konzert, ein Ball, eine Oper, Verse.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah die Gräfi n erstaunt an: «Sie haben recht, ein Konzert<br />

und Verse sind sinnliche Genüsse.»<br />

Sie knöpfte langsam seinen Rock auf und ließ ihn zu Boden gleiten,<br />

dann entfernte sie seine Halsbinde und öffnete langsam die<br />

Knöpfe seines Hemdes.<br />

407


<strong>Friedrich</strong> stand regungslos und ließ sie gewähren. Plötzlich<br />

spürte er, wie ihre Finger seinen nackten Oberkörper berührten, er<br />

schloss die Augen und genoss die warme Flut, die ihn durchströmte,<br />

und das Gefühl einer wohligen Schwäche.<br />

Zwei Wochen später saßen <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und August am<br />

frühen Morgen in einer Kutsche, um von Schloss Moritzburg in<br />

die umliegenden Wäl<strong>der</strong> zur Jagd zu fahren.<br />

«Ich hoffe, dass Sie viel Wild erlegen», sagte August, während die<br />

Kutsche langsam über das Kopfsteinpfl aster holperte, «früher, als<br />

ich noch gesund war, liebte ich es auch, das Wild zu jagen, aber seit<br />

an meinem rechten Fuß zwei Zehen abgenommen werden mussten,<br />

nun ja, seitdem lasse ich mir das Wild zutreiben. Die Damen, die<br />

uns begleiten, werden mich unterhalten, bis Sie zurückkehren, es<br />

ist schade, dass Ihr Sohn unpässlich ist, wie fühlte er sich heute?»<br />

«Er sieht blass aus, er kränkelt schon seit Tagen, und die Ärzte<br />

sind ratlos, sie reden von Überanstrengung, nun ja, vielleicht hat er<br />

die Feste zu sehr genossen; nach unserer Rückkehr wird er wie<strong>der</strong><br />

sein geregeltes Leben führen, und dann wird es ihm bald wie<strong>der</strong><br />

besser gehen.»<br />

«Ich hoffe es. Ich habe noch einmal die Artikel unseres geheimen<br />

Vertrages durchgelesen, ich möchte die Unterzeichnung bis zu<br />

meinem Besuch in Berlin verschieben, um meinen Sohn vorzubereiten<br />

und ihn zur Einwilligung zu überreden. Ich bin überzeugt,<br />

dass er unserem Vertrag zustimmt, <strong>der</strong> Inhalt berücksichtigt die<br />

Interessen unser bei<strong>der</strong> Staaten: Sie verpfl ichten sich, mir eine bestimmte<br />

Anzahl von Truppen zu stellen, um die Polen zu zwingen,<br />

die Erblichkeit <strong>der</strong> polnischen Krone den Wettinern zuzuerkennen.<br />

Sie geben mir die Prinzessin Wilhelmine zur Gattin und leihen<br />

mir vier Millionen Taler, die Mitgift nicht eingerechnet.<br />

Sie überlassen mir als Pfand für die vier Millionen die Lausitz.<br />

Ich sichere <strong>der</strong> Prinzessin ein Witwengehalt von 200 000 Talern<br />

zu und die Erlaubnis, nach meinem Tod an einem beliebigen Ort<br />

zu wohnen.<br />

Die Prinzessin darf ihre Religion in Dresden frei ausüben. Ich<br />

werde für sie eine eigene Kapelle errichten. Ich bin überzeugt, dass<br />

mein Sohn diese Vereinbarungen akzeptieren wird.»<br />

408


Sternemann stand an einem Fenster, beobachtete, wie die Jagdgesellschaft<br />

den Schlosshof verließ, und begab sich dann zu <strong>Friedrich</strong>.<br />

An <strong>der</strong> Türschwelle blieb er überrascht stehen und betrachtete<br />

unschlüssig den angekleideten Prinzen.<br />

«Mit Verlaub, Königliche Hoheit, wäre es nicht besser, wenn Sie<br />

ruhig im Bett blieben und sich erholten?»<br />

«Ich erhole mich am besten, wenn ich heute ganz allein Abschied<br />

von diesem Schloss und den vergangenen Wochen in Dresden<br />

nehme. Ich bin zwar körperlich zu schwach, um an <strong>der</strong> Jagd teilzunehmen,<br />

aber ich könnte unserem Gastgeber Gesellschaft leisten;<br />

dazu verspüre ich wenig Lust, also bin ich noch etwas kränker als<br />

in Wahrheit. Höre Er, Sternemann, dieses Schloss fasziniert mich,<br />

ich möchte es noch einmal für mich allein genießen.»<br />

«Mit Verlaub, Königliche Hoheit, Schloss Pillnitz hat mich mehr<br />

beeindruckt. Ich werde nie vergessen, wie unsere Barke sich <strong>der</strong><br />

weit geschwungenen Treppe des Palais näherte, ein Palais, das direkt<br />

am Fluss liegt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte: «Pillnitz ist ein Schloss, das den gegenwärtigen<br />

Geschmack spiegelt: Alles muss chinesisch sein, Pagodendächer,<br />

Szenen aus China an den Fassaden, laternenartige Schornsteine<br />

und so weiter, nun, ich bevorzuge ein Schloss mit Türmen,<br />

das an einem See liegt.»<br />

Er verließ sein Zimmer, durchschritt langsam die Räume und<br />

blieb hin und wie<strong>der</strong> stehen, betrachtete die Le<strong>der</strong>wände mit Bil<strong>der</strong>n<br />

aus <strong>der</strong> antiken Mythologie, verweilte einen Augenblick im<br />

Steinsaal und betrachtete das Hirschgeweih über <strong>der</strong> Tür.<br />

«Dies ist also <strong>der</strong> berühmte 66-En<strong>der</strong>, den mein Großvater anno<br />

96 hier erlegt hat», sagte er leise, «jetzt, zweiunddreißig Jahre später,<br />

weilt <strong>der</strong> dritte künftige preußische König in Moritzburg.»<br />

Er ging weiter, verließ das Schloss durch einen Seitenausgang,<br />

<strong>der</strong> in den Park führte, und ging am Ufer des Sees entlang.<br />

Nach einer Weile drehte er sich um und betrachtete das ockerfarbige<br />

Schloss, die massiven Rundtürme, und beobachtete fasziniert,<br />

wie sich <strong>der</strong> Bau in dem klaren blauen Wasser des Sees spiegelte.<br />

Morgen fahren wir zurück nach Dresden, dachte er, und drei<br />

Tage später reisen wir ab, dann geht es zurück nach Potsdam. Ende<br />

409


Mai wird König August nach Berlin kommen, ein erfreuliches Zwischenspiel.<br />

Ob die Gräfi n Orzelska ihn begleiten wird? Anschließend<br />

beginnt ein Höllenleben: Ich muss Papa nach Ostpreußen begleiten,<br />

und nach unserer Rückkehr werden wir den Spätsommer<br />

und Herbst in Wusterhausen verbringen.<br />

Plötzlich fühlte er sich bedrückt und deprimiert, Potsdam und<br />

Wusterhausen sind ein Gefängnis, dachte er, wie lange werde ich<br />

dieses Leben noch ertragen?<br />

Man müsste fl iehen, aber wohin? Für eine Flucht benötigt man<br />

Freunde, aber ich habe keine wirklichen Freunde, unter den Offi zieren<br />

habe ich Kameraden, aber keinen Freund. Borcke ist vielleicht<br />

mein Freund, ich kann ihm viele meiner Gefühle und Gedanken<br />

anvertrauen, aber er ist gleichzeitig mein Aufpasser, er würde mir<br />

bei einer Flucht nicht helfen.<br />

Nun, wenn es in Wusterhausen völlig unerträglich wird, werde<br />

ich mich an Dresden erinnern, an die Feste, an die Bewun<strong>der</strong>ung,<br />

die man mir entgegenbrachte, an die Nächte mit <strong>der</strong> Formera; in<br />

Dresden habe ich die schönsten Wochen meines bisherigen Lebens<br />

verbracht, vielleicht wird es die schönste Zeit in meinem Leben<br />

bleiben.<br />

Er ging langsam weiter und sah dann erneut zurück zum<br />

Schloss.<br />

Irgendwann, dachte er, werde ich für mich persönlich ein Schloss<br />

bauen, das Moritzburg ähnelt, ein Schloss an einem See mit zwei<br />

Rundtürmen, und in einem <strong>der</strong> Türme werde ich eine Bibliothek<br />

und ein Arbeitszimmer für mich einrichten.<br />

410


5<br />

An einem Nachmittag im Mai begab sich Dr. Eller zu <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm.<br />

Als er das Arbeitszimmer betrat, stand <strong>der</strong> König hastig auf und<br />

ging seinem Leibarzt entgegen.<br />

«Nun, wie geht es dem Fritz, lieber Doktor? Heute ist <strong>der</strong> 27.<br />

Mai., übermorgen, am 29., wird mein Freund, <strong>der</strong> König von Polen,<br />

in Berlin ankommen. Wird mein Sohn bis dahin so kräftig sein,<br />

dass er beim Empfang meines Gastes anwesend sein kann?»<br />

Eller hüstelte und antwortete zögernd: «Majestät, Seine Königliche<br />

Hoheit ist seit dem Morgen zwar fi eberfrei, aber <strong>der</strong> Kronprinz<br />

ist insgesamt noch zu schwach, um an Empfängen und an<strong>der</strong>en<br />

Festlichkeiten teilnehmen zu können. Ich habe jetzt eine an<strong>der</strong>e<br />

Medizin verordnet, die den Appetit anregen soll, aber allmählich<br />

weiß ich nicht mehr, was ich noch verordnen soll.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging langsam auf und ab, dann blieb er vor<br />

dem Arzt stehen: «Diese Krankheit ist für mich ein Rätsel, und sie<br />

beunruhigt mich: Das Fieber begann schon kurz nach unserer Abreise<br />

aus Dresden, seit unserer Ankunft in Berlin wird mein Sohn<br />

von Tag zu Tag magerer, und bis jetzt haben we<strong>der</strong> Sie noch die<br />

an<strong>der</strong>en Ärzte eine Diagnose stellen können. Es muss doch einen<br />

Grund für die Krankheit meines Sohnes geben.»<br />

Eller überlegte und erwi<strong>der</strong>te vorsichtig: «Majestät, manchmal<br />

wird ein Mensch krank, wenn er unter einem seelischen Konfl ikt<br />

leidet.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte den Arzt an und rief ungeduldig: «Ein<br />

seelischer Konfl ikt! Das ist doch lächerlich, unter welchem seelischen<br />

Konfl ikt sollte mein Sohn leiden? Er hat wun<strong>der</strong>volle Wochen<br />

in Dresden verbracht, wahrscheinlich kann und will er sich<br />

nicht mehr an Berlin und Potsdam gewöhnen!»<br />

«Majestät, ich gestehe, dass ich die Krankheit Seiner Königlichen<br />

Hoheit nicht diagnostizieren kann, aber <strong>der</strong> Kronprinz ist krank, und<br />

ich befürchte, dass er Sie auch nicht im Frühsommer auf Ihrer Reise<br />

nach Ostpreußen begleiten kann, es würde ihn überanstrengen.»<br />

411


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Arzt einen Augenblick nachdenklich<br />

an, dann sagte er leise: «Wenn die Kin<strong>der</strong> gesund sind, dann weiß<br />

man nicht, dass man sie liebhat.»<br />

Am Abend des 29. Mai betrat Wilhelmine leise <strong>Friedrich</strong>s Schlafzimmer,<br />

verweilte einen Augenblick an <strong>der</strong> Tür und betrachtete die<br />

abgemagerte Gestalt des Bru<strong>der</strong>s, <strong>der</strong> neben dem Fenster in einem<br />

Ohrensessel saß und las. Sie ging langsam zu ihm.<br />

«Fritz, ich hoffe, ich störe dich nicht.»<br />

Er sah auf und lächelte die Schwester an.<br />

«Du störst nie.»<br />

Sie setzte sich ihm gegenüber auf einen Schemel und betrachtete<br />

erstaunt den Schlafrock aus blauem Samt.<br />

Er beobachtete ihre Augen und sagte mit einem sarkastischen<br />

Unterton in <strong>der</strong> Stimme: «Du wun<strong>der</strong>st dich, dass ich in kostbaren<br />

Samt gekleidet bin, nun, Papa hat ihn anfertigen lassen, anscheinend<br />

sorgt er sich sehr um meine Gesundheit. Heute früh weilte er<br />

einen Augenblick bei mir und sprach freundlich mit mir, er hofft,<br />

dass ich wie<strong>der</strong> ganz gesund werde, bis er nach Ostpreußen aufbricht.<br />

Er wünscht, dass ich ihn begleite, und ich hoffe, dass ich bis<br />

dahin noch zu schwach bin, wenn nicht, nun, dann werde ich den<br />

Ärzten eine kleine Komödie vorspielen.»<br />

«Fritz, ich weiß, dass du diese Inspektionsreisen hasst, aber ich<br />

wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du gesund wirst. Wie fühlst<br />

du dich wirklich?»<br />

«Nun, um die Wahrheit zu sagen, es geht mir viel besser als<br />

vor einigen Tagen, ich könnte morgen nach dem Gottesdienst an<br />

<strong>der</strong> Festtafel teilnehmen, aber ich werde kränker sein, als ich bin,<br />

weil ich keine Lust habe, dem Kurprinzen von Sachsen den Vortritt<br />

zu lassen, dies erwartet Papa von mir, er hat es im Laufe unserer<br />

Unterhaltung angedeutet. Ich bin Kurprinz und Kronprinz wie <strong>der</strong><br />

Wettiner, warum soll ich ihm den Vortritt lassen? Vielleicht zeige<br />

ich mich am Morgen für einige Stunden, am Montag ist Truppenschau,<br />

da möchte ich dabei sein, weniger um Papa eine Freude<br />

zu bereiten als vielmehr, um den ausländischen Gästen zu zeigen,<br />

dass Preußen allmählich zu einer bedeutenden mitteleuropäischen<br />

Macht wird, mit <strong>der</strong> man nicht umspringen kann, wie man will.»<br />

412


Wilhelmine sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Preußen, eine bedeutende<br />

Macht?»<br />

«Militärisch sind wir besser gerüstet als unsere Nachbarn. Aber<br />

nun erzähle endlich von Augusts Ankunft.»<br />

«Er hat zuerst Mama besucht, sie empfi ng ihn an <strong>der</strong> Tür ihres<br />

dritten Vorzimmers. Er reichte ihr die Hand und führte sie in das<br />

Audienzzimmer, wo wir ihm vorgestellt wurden. Er sieht majestätisch<br />

aus, doch in seinem Wesen ist er leutselig und verbindlich,<br />

allerdings scheint er auch gebrechlich zu sein, er kann nicht lange<br />

stehen. Mama bat ihn, sich zu setzen, was er lange nicht tun wollte,<br />

endlich nahm er auf einem Taburett Platz.<br />

Mama setzte sich ihm gegenüber, wir blieben stehen, und er entschuldigte<br />

sich mehrfach bei mir und unseren Schwestern wegen<br />

seiner Unhöfl ichkeit. Er betrachtete mich sehr aufmerksam und<br />

zog sich nach einer Stunde zurück.<br />

Dann besuchte uns <strong>der</strong> Kurprinz. Er sprach nur wenig und ist<br />

nicht so leutselig und verbindlich wie sein Vater. Er verweilte nicht<br />

lange, und dann verbrachten wir den restlichen Tag mit Kartenspiel<br />

und Hofklatsch, ach Fritz, ich würde Berlin so gerne verlassen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte: «In einigen Monaten wird Dresden deine neue<br />

Heimat sein. König August hat dir also gefallen?»<br />

Wilhelmine sah nachdenklich vor sich hin.<br />

«Er ist ein angenehmer Mann, ich werde bestimmt zufrieden an<br />

seiner Seite leben, ich habe mich inzwischen an den Gedanken gewöhnt,<br />

dass ich ihn mit Mätressen werde teilen müssen, ich werde<br />

versuchen, an seiner Seite zu repräsentieren, so gut ich es vermag,<br />

aber ich werde diesen Mann nie lieben, und irgendwie, ich weiß es<br />

nicht, aber ich fi nde, man muss den Mann, den man heiratet, auch<br />

lieben können.»<br />

«Wilhelmine, du stellst hohe Ansprüche an eine fürstliche Ehe,<br />

in diesen Ehen gibt es selten Liebe, ausgenommen vielleicht die<br />

geplanten Ehen mit <strong>Friedrich</strong> Ludwig und Amalie. Freue dich auf<br />

Dresden, du wirst dort in einer Umgebung leben, wo du deine musikalischen<br />

und literarischen Interessen pfl egen kannst.»<br />

Die Geschwister sahen einan<strong>der</strong> eine Weile schweigend an, dann<br />

sagte Wilhelmine: «Du hast recht, ich sollte mich auf mein künftiges<br />

Leben in Dresden freuen. Was liest du jetzt?»<br />

413


«Ich lese den ‹Cid› von Corneille. Im sechsten Auftritt des dritten<br />

Aufzuges sagt Don Diègue: ‹Die Liebe ist nur ein Vergnügen,<br />

die Ehe ist eine Pfl icht.› Für einen Fürsten gibt es keine Liebe in <strong>der</strong><br />

Ehe, obwohl …»<br />

Er schwieg, und Wilhelmine betrachtete erstaunt sein ernstes<br />

Gesicht und fühlte sich verunsichert.<br />

Manchmal, dachte sie, wirkt er so abweisend und reserviert,<br />

auch mir gegenüber, er ist nicht mehr so offen wie früher, manchmal<br />

weiß ich nicht mehr, was er wirklich denkt.<br />

Sie zuckte zusammen, als eine Uhr die volle Stunde schlug, und<br />

erhob sich hastig.<br />

«Mon Dieu, ich vergesse die Zeit. Verzeihe, Fritz, aber ich muss<br />

dich verlassen und mich umkleiden, Mama gibt nachher einen<br />

großen Empfang: Der Herzog von Weißenfels, <strong>der</strong> sächsische Generalleutnant,<br />

wird kommen, Graf Moritz von Sachsen, die Grafen<br />

von Manteuffel, Lagnasko und Brühl – sie sind die Günstlinge des<br />

Königs –, und natürlich werden auch die Damen nicht fehlen, die<br />

Gräfi nnen Bilinska und Orzelska – beide sind natürliche Töchter<br />

des Königs. Entschuldige mich, ich komme morgen wie<strong>der</strong> und erzähle<br />

dir von dem Empfang.»<br />

Sie küsste ihn auf die Stirn, eilte hinaus, und <strong>Friedrich</strong> sah <strong>der</strong><br />

Schwester nach und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.<br />

«Die Gräfi n Orzelska», sagte er leise, «sie ist in Berlin, sie ist tatsächlich<br />

in Berlin, ich muss am Montag an <strong>der</strong> Truppenschau teilnehmen,<br />

weil ich sie dort bestimmt sehen werde. Die Gräfi n weilt in Berlin.»<br />

Er versuchte, sich wie<strong>der</strong> auf Corneille zu konzentrieren, aber<br />

zwischen den Buchstaben sah er immer wie<strong>der</strong> das Gesicht <strong>der</strong><br />

Gräfi n Orzelska, schließlich legte er das Buch zur Seite und dachte<br />

an die Truppenschau am Montag.<br />

Wie wird sie mir gegenübertreten, reserviert, höfi sch, liebenswürdig,<br />

und plötzlich spürte er, dass er von einer merkwürdigen<br />

Nervosität ergriffen wurde.<br />

Niemand darf merken, was ich für sie empfi nde, dachte er, hoffentlich<br />

gelingt es mir, mich vor Papa, den Offi zieren und Hofl euten<br />

zu verstellen.<br />

Gegen acht Uhr servierte Sternemann das Abendessen.<br />

414


Während er Weißwein einschenkte, beugte er sich etwas zu<br />

<strong>Friedrich</strong> hinunter und sagte leise: «Die Kammerfrau <strong>der</strong> Gräfi n<br />

Orzelska gab mir einen Brief für Sie, sie wartet im Vorzimmer auf<br />

Ihre Antwort. Sie ist übrigens als Page verkleidet, um Eure Königliche<br />

Hoheit nicht in Schwierigkeiten zu bringen», und er legte<br />

diskret einen Brief neben den Teller.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete einige Sekunden lang ungläubig das Schreiben,<br />

dann öffnete er mit zitternden Fingern den Brief, überfl og die<br />

Zeilen, las ihn noch einmal und atmete tief durch.<br />

«Mon Dieu, Sternemann, ich glaube, ich träume, die Gräfi n<br />

möchte mich sehen, sofern meine Gesundheit es erlaubt. Sie fragt,<br />

an welchem Abend ich zu ihr kommen kann; das klingt nach einem<br />

Rendezvous, nicht wahr?»<br />

Der Diener lächelte verständnisvoll: «Ja, Königliche Hoheit, das<br />

klingt nach einem Rendezvous.»<br />

«Ich möchte sie so bald wie möglich besuchen, also morgen, aber<br />

wie kann ich unbemerkt das Schloss verlassen?»<br />

«Überlassen Sie das mir, Königliche Hoheit, ich kenne die versteckten<br />

Treppen und Nebenausgänge des Schlosses, wichtig ist,<br />

wann Sie das Schloss verlassen. Ich schlage vor: nach elf Uhr, dann<br />

besteht nicht die Gefahr, dass Seine Majestät überraschend bei<br />

Ihnen auftaucht, zu dieser späten Stunde unterhält er sich wahrscheinlich<br />

mit dem König von Polen, o<strong>der</strong> die Majestäten verbringen<br />

den Abend im Tabakskollegium. Sie müssten am Morgen<br />

spätestens gegen fünf Uhr wie<strong>der</strong> hier sein, wenn Seine Majestät<br />

aufsteht; es ist zwar möglich, dass er nach einem Fest länger<br />

schläft, aber das weiß man nicht.»<br />

«Er hat recht, bringe Er mir Papier und Tinte.»<br />

<strong>Friedrich</strong> kritzelte hastig einige Zeilen, siegelte den Brief und<br />

gab ihn dem Diener. Während Sternemann das Zimmer verließ, las<br />

er noch einmal den Brief <strong>der</strong> Gräfi n.<br />

«Sie wohnt im Palais <strong>der</strong> Familie von Katte», sagte er leise, «sie<br />

hat das Palais gemietet, weil es zurzeit nicht bewohnt wird; Katte,<br />

Hans Hermann von Katte – er hat mir damals in Wusterhausen geholfen,<br />

dass ich unbemerkt im Schloss verschwinden konnte, das war<br />

vor zweieinhalb Jahren, sie wohnt im Katte‘schen Palais, vielleicht ist<br />

das ein gutes Omen.»<br />

415


Er betrachtete den Spargel, die zerlassene Butter, den geräucherten<br />

Schinken, und zum ersten Mal nach vielen Wochen verspürte<br />

er wie<strong>der</strong> Hunger.<br />

Er nahm ein Stück Weißbrot, betrachtete es und lachte leise auf:<br />

«Weißbrot statt Schwarzbrot, Papa sorgt sich anscheinend wirklich<br />

um mich.»<br />

Am nächsten Abend standen <strong>Friedrich</strong> und Sternemann kurz nach<br />

elf Uhr vor dem Tor des Palais.<br />

Während <strong>der</strong> Diener den Türklopfer betätigte, spürte <strong>Friedrich</strong>,<br />

dass sein Herz wild klopfte und er fast nicht mehr atmen konnte.<br />

Nach wenigen Augenblicken hörten sie eilige Schritte, <strong>der</strong> Riegel<br />

wurde zurückgeschoben, die Tür öffnete sich, die Kammerfrau<br />

ließ sie ein, schob sofort den Riegel wie<strong>der</strong> vor und knickste: «Königliche<br />

Hoheit, bitte folgen Sie mir.»<br />

Er sah, dass sie einen siebenarmigen Kerzenleuchter hielt, und<br />

während er hinter ihr eine breite Treppe emporstieg, wurde er innerlich<br />

ruhiger und sah sich um. Sie gingen durch Säle und Galerien,<br />

und in dem fl ackernden Kerzenlicht sah <strong>Friedrich</strong>, dass alle<br />

Möbel, Spiegel und Bil<strong>der</strong> mit schwarzen Tüchern verhängt waren.<br />

Er verspürte eine merkwürdige Angst und blieb stehen: «Warum<br />

ist das Mobiliar mit Tüchern verhängt?»<br />

«Königliche Hoheit, die Tücher sollen Möbel, Spiegel und Bücher<br />

schonen.»<br />

«Warum verhängt man alles mit schwarzen Tüchern?»<br />

«Das weiß ich nicht, Königliche Hoheit.»<br />

Sie gingen weiter, und <strong>Friedrich</strong> spürte, dass seine Angst immer<br />

stärker wurde. Was für ein merkwürdiges Palais, dachte er, es<br />

wirkt wie ein Geisterschloss. Irgendwann öffnete die Kammerfrau<br />

eine Tür: «Königliche Hoheit, bitte», und zu Sternemann: «Er wartet<br />

hier auf Seine Königliche Hoheit», sie knickste vor <strong>Friedrich</strong><br />

und verschwand.<br />

Er betrat zögernd das Zimmer, das nur von wenigen Kerzen erhellt<br />

war, atmete auf, als er keine schwarzen Tücher sah, und betrachtete<br />

erstaunt die Bücherregale, die bis zur Decke reichten.<br />

Bin ich in einer Bibliothek? Das ist wohl kaum <strong>der</strong> richtige Ort<br />

für ein Rendezvous. Dann sah er das Himmelbett mit den wein-<br />

416


oten Samtvorhängen und ging verwirrt bis zur Mitte des Raumes.<br />

Dort stand ein kleiner run<strong>der</strong> Eichentisch, und auf ihm lag ein<br />

Buch.<br />

<strong>Friedrich</strong> ging zu dem Tisch und wollte eben das Buch näher<br />

betrachten, da hörte er eine Frauenstimme: «Willkommen, Königliche<br />

Hoheit, ich freue mich, dass Sie gekommen sind.»<br />

Er zuckte zusammen, sah einen schwarz gekleideten Pagen sich<br />

nähern und erkannte die Gräfi n.<br />

Er verspürte eine Mischung aus Freude, Verlangen und Furcht<br />

und stammelte: «Madame, ich freue mich über unser Wie<strong>der</strong>sehen,<br />

die Männerkleidung steht Ihnen ausgezeichnet, sie passt zu Ihnen,<br />

sie …» Er schwieg, holte Luft und sagte: «Ich bitte um Vergebung,<br />

Madame, aber in Männerklei<strong>der</strong>n sind Sie noch begehrenswerter<br />

als in Damenroben.»<br />

Sie trat vor ihn und sah ihn schweigend an.<br />

Er spürte, dass er unsicher wurde, und um das Schweigen zu brechen,<br />

fragte er: «Madame, warum sind Sie schwarz gekleidet?»<br />

«Nun, ich habe meine Kleidung den Farben in diesem Palais angepasst,<br />

Sie haben gesehen, dass hier alles mit schwarzen Tüchern<br />

verhängt ist, wie in einem Trauerhaus, aber wir sollten jetzt nicht<br />

an Tod und Trauer denken.»<br />

Sie ging zu einem Tischchen, goss Champagner in zwei Gläser,<br />

reichte <strong>Friedrich</strong> ein Glas und sagte: «Auf Ihre Zukunft, Königliche<br />

Hoheit.»<br />

«Auf Ihr Wohl, Madame.»<br />

Er trank einen Schluck Champagner, sah sich um und sagte:<br />

«Dieses Zimmer ist nicht das Zimmer einer Dame, es ist wie eine<br />

Bibliothek.»<br />

Die Gräfi n lächelte: «Sie haben recht, es ist nicht das Zimmer<br />

einer Dame, son<strong>der</strong>n eines jungen Mannes. Es ist das Zimmer des<br />

jungen Herrn von Katte, und ich wohne hier, weil ich gerne lese. Er<br />

besitzt eine interessante Bibliothek, Sie fi nden hier alle antiken und<br />

viele französische und italienische Dichter.»<br />

«Sie interessieren sich für Literatur!», rief <strong>Friedrich</strong>. «Da haben<br />

wir eine Gemeinsamkeit», und fl üchtig dachte er: Das ist auch<br />

eine Gemeinsamkeit mit Katte, ob ich ihm noch einmal begegne?<br />

Könnte er <strong>der</strong> Freund sein, den ich suche?<br />

417


Die Gräfi n beobachtete nachdenklich <strong>Friedrich</strong>s Miene und fühlte,<br />

dass er sich innerlich von ihr entfernte, gleichzeitig spürte sie<br />

einen feinen Stich Eifersucht.<br />

«Woran denken Sie, Königliche Hoheit?»<br />

Mein Gott, was für eine dumme Frage, dachte sie verärgert, er<br />

wird mir natürlich nicht die Wahrheit sagen.<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen.<br />

«Madame, im Augenblick denke ich an viele Dinge, ich …»<br />

Er zögerte, nahm allen Mut zusammen, sah die Gräfi n an und<br />

fragte: «Madame, warum wollten Sie mich heute sehen?»<br />

Sie trat dicht vor ihn und sah ihn einen Augenblick nachdenklich<br />

an.<br />

«Ich will offen zu Ihnen sprechen: König August ist immer noch<br />

ein guter Liebhaber, aber er ist ein alter Mann, ich sehne mich schon<br />

seit langem nach einem jungen Mann, mit dem ich mich unterhalten<br />

kann, über Literatur zum Beispiel. Mein Gefühl sagt mir, dass<br />

Sie <strong>der</strong> richtige Partner für mich sind, aber ich weiß auch, dass wir<br />

nur wenige Tage für uns haben werden. Sie sind ein künftiger König<br />

und werden irgendwann eine politische Ehe schließen müssen,<br />

aber ich musste Sie sehen während meines Berliner Aufenthaltes.»<br />

<strong>Friedrich</strong> glaubte, nicht richtig zu hören: «Sie wollen mich also<br />

um meiner selbst willen sehen? Für Sie bin ich zunächst ein Mann<br />

und nicht <strong>der</strong> künftige König?»<br />

«Ja, Königliche Hoheit.»<br />

«Nennen Sie mich nicht Königliche Hoheit, ich weiß immer noch<br />

nicht Ihren Vornamen.»<br />

Die Gräfi n lächelte: «Mein Vorname ist Anna.»<br />

«Anna, ein melodischer Name. Anna, warum soll es für uns keine<br />

gemeinsame Zukunft geben? Du bist die Tochter eines Königs.»<br />

«Ich bin ein Bastard, <strong>Friedrich</strong>, ich bin nicht ebenbürtig, du<br />

musst mich vergessen, wenn ich Berlin verlasse.»<br />

Er betrachtete die dunklen Augen und sagte leise: «Ich werde<br />

dich nie vergessen.»<br />

In diesem Augenblick spürte er ein körperliches Verlangen nach<br />

ihr wie noch nie zuvor, er riss sie an sich und küsste sie.<br />

Als ihre Lippen sich voneinan<strong>der</strong> lösten, atmete sie tief durch:<br />

«Du bist inzwischen ein richtiger Mann geworden.» Die Formera<br />

418


hat ihn wahrhaftig die Liebeskunst gelehrt, dachte sie, knöpfte seinen<br />

Uniformrock auf und streifte ihn ab.<br />

«Jetzt bist du an <strong>der</strong> Reihe.»<br />

<strong>Friedrich</strong> stutzte einen Augenblick, dann lachte er leise auf: «Du<br />

hast recht, es ist ein Vergnügen, wenn wir uns gegenseitig entkleiden,<br />

es ist wie die Ouvertüre zu einer Oper.»<br />

Einige Stunden später verließ er leise das Bett und kleidete sich an.<br />

Als er den Degen nahm, <strong>der</strong> auf dem Tisch lag, sah er das aufgeschlagene<br />

Buch und las den Titel: «Michel de Montaigne. Essais.»<br />

Er nahm das Buch, überfl og das Inhaltsverzeichnis, und seine<br />

Augen verweilten bei <strong>der</strong> Überschrift des 27. Kapitels: «Über die<br />

Freundschaft», er blätterte hastig in den Seiten, und dann wan<strong>der</strong>ten<br />

seine Augen erwartungsvoll über die Zeilen: «… Aristoteles<br />

sagt deshalb, dass den guten Gesetzgebern die Freundschaft mehr<br />

am Herzen gelegen hat als die Gerechtigkeit … Die Freundschaft<br />

lebt vom ungehin<strong>der</strong>ten Gedankenaustausch …»<br />

In diesem Augenblick hörte er Annas Stimme: «Du willst schon<br />

gehen?»<br />

Er legte das Buch auf den Tisch und setzte sich auf die Bettkante:<br />

«Ich will nicht gehen, aber ich muss jetzt in das Schloss zurückkehren.<br />

Wenn mein Vater erwacht und mich nicht fi ndet, nun, du<br />

kennst meinen Vater.»<br />

«Ich verstehe dich, du kannst Montaigne nehmen und darin lesen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> beugte sich über Anna und berührte mit seinem Mund<br />

fl üchtig ihre Lippen.<br />

«Ich denke, dass ich Montaigne in meiner geheimen Bibliothek<br />

fi nden werde, die mein Lehrer Duhan inzwischen für mich eingerichtet<br />

hat.»<br />

«Eine heimliche Bibliothek? Wie bezahlst du die Bücher? Dein<br />

Taschengeld reicht wahrscheinlich nicht.»<br />

«Nun, die Berliner Bankiers gewähren mir Kredit, und bis jetzt ist<br />

alles gut gelaufen, das heißt, mein Vater hat noch nichts gemerkt.»<br />

Anna sah <strong>Friedrich</strong> einen Moment verblüfft an und sank lachend<br />

in die Kissen: «Mon Dieu, <strong>der</strong> künftige preußische König macht<br />

Schulden, und <strong>der</strong> regierende sparsame König merkt nichts, mon<br />

Dieu, ist das komisch.»<br />

419


Sie schwieg einen Moment, dann sah sie <strong>Friedrich</strong> an und sagte<br />

leise: «Irgendwann wird dein Vater von den Schulden erfahren, wie<br />

willst du dich verteidigen?»<br />

«Das weiß ich noch nicht, vielleicht erfährt er nichts von den<br />

Schulden, irgendetwas wird mir als Ausrede einfallen, ich habe<br />

mich daran gewöhnt, mich ihm gegenüber zu verstellen.»<br />

Sie sah <strong>Friedrich</strong> nachdenklich an: «Glaubst du, dass Verstellung<br />

die richtige Lösung ist, um mit deinem Vater zu einer Verständigung<br />

zu kommen?»<br />

«Ja, Anna, ich muss Komödie spielen, ich muss eine Doppelfi gur<br />

sein.»<br />

Er trat zu dem Bett und küsste ihren Mund.<br />

«Ich werde dich immer lieben, Anna.»<br />

420


6<br />

Zwei Wochen später gingen <strong>Friedrich</strong> und <strong>der</strong> Leutnant von<br />

Borcke im Park des Potsdamer Schlosses auf und ab.<br />

«Sie werden mir fehlen», sagte <strong>Friedrich</strong> nach einer Weile, «Sie<br />

waren stets ein interessanter Gesprächspartner, und ich habe Sie<br />

nie als Aufpasser empfunden, son<strong>der</strong>n als …»<br />

Er zögerte etwas: «Sie waren ein Freund für mich.»<br />

Borcke sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Ein Freund? Das ist eine große<br />

Ehre für mich, Königliche Hoheit.»<br />

Im Stillen dachte er: Der Prinz ist einsam, sonst würden sich seine<br />

Gefühle nicht auf mich konzentrieren, wenn er mich nicht mehr<br />

sieht, wird er mich vergessen und sich irgendwann einem an<strong>der</strong>en<br />

Menschen zuwenden, er sucht nach einer emotionalen Bezugsperson;<br />

ob er sie je fi nden wird?<br />

«Königliche Hoheit, ich freue mich für Sie, dass Sie nach <strong>der</strong><br />

Abreise des Königs einen erholsamen Sommer verbringen werden,<br />

und ich hoffe, dass Sie bald wie<strong>der</strong> ganz gesund sind.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Ein erholsamer Sommer? Mein<br />

Vater hat für die Dauer seiner Abwesenheit meinen Tag genau<br />

geregelt: Am Vormittag werde ich zwei Stunden lang in <strong>der</strong> Ingenieurwissenschaft<br />

unterrichtet. Punkt zwölf Uhr soll ich mit<br />

Kalckstein und Senning speisen, und ich darf weitere sechs Gäste<br />

zur Mittagstafel einladen. Nach <strong>der</strong> Mahlzeit habe ich eine Stunde<br />

lang Fechtunterricht, anschließend werde ich bis vier Uhr von<br />

Senning unterrichtet. Danach kann ich angeblich tun, was ich will,<br />

aber es darf nicht gegen das Gebot Gottes o<strong>der</strong> meines Vaters sein,<br />

ich darf schießen, hetzen, jagen, und Kalckstein muss mich immer<br />

begleiten. Ich darf Einladungen zur Tafel am Mittag o<strong>der</strong> Abend<br />

annehmen, und ich darf meine Mutter zweimal wöchentlich besuchen.<br />

Ich darf keine Nacht außerhalb von Potsdam verbringen und<br />

soll mich um zehn Uhr zur Ruhe begeben, das ist mein erholsamer<br />

Sommer.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sah <strong>Friedrich</strong> den Leutnant an: «Sie<br />

kehren zu Ihrem Landgut zurück, um familiäre Angelegenheiten<br />

421


zu regeln, nun, da wir Abschied nehmen, will ich offen zu Ihnen<br />

reden: Ich werde meine freie Zeit so gestalten, wie ich es will, und<br />

dies bedeutet, dass ich meine Mutter mindestens vier Mal wöchentlich<br />

besuche, ich muss sie und meine Schwester trösten, weil<br />

aus <strong>der</strong> Heirat mit König August nichts wurde. Der Kurprinz hat<br />

aus irgendwelchen Gründen seine Zustimmung verweigert. Mein<br />

Vater plant, meine Schwester mit dem mittellosen ältlichen Herzog<br />

von Weißenfels zu verheiraten, weil er für meine Schwester während<br />

des Besuches von August Interesse gezeigt hat. Meine Mutter<br />

und Wilhelmine sind unglücklich, und ich kann sie verstehen: Dieser<br />

Weißenfels ist sächsischer Generalleutnant, und <strong>der</strong> Titel des<br />

Herzogs ist nur ein Titel, also ein Herzog ohne Land!<br />

Wenn ich nicht in Monbijou weile, werde ich mich in das Haus<br />

des Kantors Ritter zurückziehen und die Bücher lesen, die Duhan<br />

inzwischen besorgt hat. Überdies hat meine Mutter König August<br />

überredet, dass sein Komponist und Flötenmeister Quantz mich<br />

unterrichtet. Er wird zwar nur wenige Wochen jährlich in Berlin<br />

weilen können, aber etwas Unterricht ist besser als kein Unterricht.»<br />

«Ich verstehe Sie, Königliche Hoheit, aber seien Sie vorsichtig,<br />

man weiß nicht, wann Seine Majestät aus Ostpreußen zurückkehrt,<br />

vielleicht Anfang August, wahrscheinlich Mitte August,<br />

weil er dann nach Wusterhausen aufbrechen will.»<br />

«Mein Freund, ich danke Ihnen für die Ratschläge. Machen Sie<br />

sich keine Sorgen um mich – ich werde die Situation meistern.<br />

Leben Sie wohl, wir werden korrespondieren, und nun werde ich<br />

mich in das Haus des Kantors begeben und zum ersten Mal meine<br />

kleine Bibliothek besichtigen.»<br />

«Königliche Hoheit, ich verlasse Sie nur ungern, aber nach dem<br />

plötzlichen Tod meines Vaters muss ich als ältester Sohn meine<br />

Mutter bei <strong>der</strong> Verwaltung unserer Län<strong>der</strong>eien unterstützen. Ich<br />

hoffe in Ihrem Interesse, dass sich durch Ihre Krankheit das Verhältnis<br />

zu Seiner Majestät entspannt hat, <strong>der</strong> König hat sich große<br />

Sorgen um Sie gemacht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lachte kurz auf: «Ja, er hat sich um mich gesorgt, und<br />

seine Sorgen waren wahrscheinlich echt, das schlichte Gemüt<br />

meines Vaters kennt keine Verstellung, aber ich befürchte, unser<br />

422


Verhältnis wird sich nicht verbessern, son<strong>der</strong>n weiter verschlechtern,<br />

weil ich so leben möchte, wie ich es will. Irgendwann wird er<br />

mein Doppelleben entdecken und dann – ich darf nicht daran denken,<br />

und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, ich weiß nur, dass<br />

ich nicht bereit bin, mich seinem Willen zu unterwerfen.»<br />

Sie sahen sich eine Weile stumm an, und einer spontanen Regung<br />

folgend umarmte <strong>Friedrich</strong> den Leutnant.<br />

«Gehen Sie jetzt», sagte er leise, «gehen Sie rasch, so ist <strong>der</strong> Abschied<br />

für mich halbwegs erträglich.»<br />

Er ließ den Leutnant los, Borcke verbeugte sich und eilte davon.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah ihm nach, und je kleiner die Gestalt wurde, desto<br />

verlassener und einsamer fühlte er sich.<br />

«Er war ein Freund», sagte er leise. «Werde ich wie<strong>der</strong> einen neuen<br />

Freund fi nden?»<br />

Am Nachmittag jenes Tages saß Doris Ritter allein in <strong>der</strong><br />

Wohnstube des elterlichen Hauses und beugte sich über ihren<br />

Stickrahmen. Hin und wie<strong>der</strong> sah sie auf und betrachtete zufrieden<br />

das Blumenmuster aus roten Rosen und weißen Lilien,<br />

das auf dem schwarzen Taftstoff entstand. Als es halb fünf Uhr<br />

schlug, huschte die Dienstmagd in das Zimmer.<br />

«Verzeihung, aber Seine Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz, ist<br />

eben gekommen.»<br />

«Der Kronprinz?»<br />

In diesem Augenblick betrat <strong>Friedrich</strong> den Raum, und Doris<br />

sprang auf, senkte den Kopf und knickste so tief wie möglich.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die aschblonden Haare, die zu einer schlichten<br />

Frisur hochgesteckt waren, und genoss für einige Sekunden das<br />

Gefühl, in diesem Haus als Kronprinz und künftiger König behandelt<br />

zu werden.<br />

«Mademoiselle, bitte stehen Sie auf. Ich weile als Privatmann<br />

in Ihrem Haus und möchte in Muße lesen, Etikette und Förmlichkeiten<br />

gehören zu meinem Leben am Hof, in Ihrem Haus bin ich<br />

nur ein junger Mann, <strong>der</strong> seinen Lesehunger stillen will.»<br />

Doris erhob sich und sah ihn unsicher an.<br />

Er musterte die sanften grauen Augen und dachte: Sie ist ein<br />

bie<strong>der</strong>es, wohlerzogenes, langweiliges Bürgermädchen.<br />

423


Doris betrachtete den mittelgroßen, schmalen jungen Mann,<br />

spürte, dass ihr Herz anfi ng zu klopfen, spürte, dass sie errötete,<br />

und senkte verlegen die Augen.<br />

«Königliche Hoheit», stammelte sie, «es tut mir leid, dass meine<br />

Eltern nicht im Haus sind, aber Ihr Besuch ist unerwartet. Ich meine,<br />

Sie sind natürlich immer willkommen; hätten meine Eltern von<br />

ihrem Besuch gewusst, dann wären sie nicht ausgegangen. Mein<br />

Vater musste zum Herrn Pastor und wird erst am Abend zurückkehren,<br />

meine Mutter wird wahrscheinlich in einer halben Stunde<br />

wie<strong>der</strong> hier sein.»<br />

<strong>Friedrich</strong>s Augen glitten über die schlanke Gestalt und er dachte:<br />

Meine Anwesenheit verunsichert sie.<br />

«Mademoiselle, ich will Sie nicht weiter bei Ihrer Stickarbeit stören,<br />

ich gehe jetzt nach oben in mein Lesezimmer, den Schlüssel<br />

habe ich, und Monsieur Duhan hat mir beschrieben, wo <strong>der</strong> Raum<br />

liegt.»<br />

Im ersten Stock schloss er das Zimmer auf, ging hinein und sah<br />

sich beglückt um: An den vier Wänden standen Bücherregale, die<br />

bis zur Decke reichten, und auf den Regalen reihte sich ein Buch<br />

an das an<strong>der</strong>e.<br />

«Mon Dieu», sagte er leise, «ich werde Jahre benötigen, um alle<br />

diese Bücher zu lesen.»<br />

Vor dem Fenster standen ein Tisch und ein Stuhl, auf dem Tisch<br />

lagen Papier, Fe<strong>der</strong>kiele, ein Tintenfass, eine Büchse mit Streusand<br />

und ein Fe<strong>der</strong>messer. In einer Ecke stand ein Schreibpult. Er trat<br />

zum Fenster und sah hinunter in einen Hof, <strong>der</strong> mit Steinen gepfl<br />

astert war.<br />

Duhan hat an alles gedacht, überlegte <strong>Friedrich</strong>, sogar an ein<br />

Schreibpult, falls ich lieber im Stehen studieren möchte, und das<br />

Zimmer liegt so, dass man mich von <strong>der</strong> Straße aus nicht sehen<br />

kann.<br />

«Studieren», sagte er leise, «ja, studieren, mein Unterricht hat<br />

viele Wissensgebiete überhaupt nicht berührt. Wahrscheinlich bin<br />

ich <strong>der</strong> ungebildetste Thronfolger Europas, nun, das wird sich än<strong>der</strong>n.»<br />

Er ging an den Regalen entlang, bis er die Essays von Montaigne<br />

fand, setzte sich auf den Stuhl, begann den Essay über die Freund-<br />

424


schaft zu lesen, und wie<strong>der</strong>holte laut die Sätze, die ihn beson<strong>der</strong>s<br />

beeindruckten: «Die Freundschaft lebt vom ungehin<strong>der</strong>ten Gedankenaustausch<br />

… Die Zuneigung zu den Frauen kann man mit <strong>der</strong><br />

Freundschaft nicht gleichsetzen … Das Liebesfeuer ist … eine Art<br />

Fieberglut, die auf- und abschwillt, in <strong>der</strong> Freundschaft dagegen<br />

herrscht eine allgemeine Wärme, die den ganzen Menschen erfüllt<br />

und die außerdem immer gleich wohlig bleibt; eine dauernde stille,<br />

ganz süße und ganz feine Wärme, die nicht sengt und nicht verletzt<br />

… Bei <strong>der</strong> Freundschaft sind Sehnsucht und Genuss identisch,<br />

sie steigt, sie gedeiht, sie wächst durch ihren Genuss erst recht,<br />

denn sie bleibt etwas Geistiges, und die Seele veredelt sich in ihr …<br />

Aber in einer Freundschaft, wie ich sie meine, geht eine so vollständige<br />

Verschmelzung <strong>der</strong> zwei Seelen miteinan<strong>der</strong> vor sich, dass<br />

an dem Punkte, wo sie sich treffen, keine Naht mehr zu entdecken<br />

ist. Die Zweisamkeit ist verschwunden. Wenn ich sagen soll, warum<br />

ich ihn so lieb hatte, kann ich mein Gefühl nur in die Worte<br />

kleiden: Weil er es war, weil ich es war … Unsere Seelen sind ihren<br />

Weg so einig zusammen gegangen, sie haben sich so liebevoll ineinan<strong>der</strong><br />

versenkt und waren bis auf den Grund so ohne Geheimnisse<br />

voreinan<strong>der</strong>, dass ich ihn nicht nur innerlich so genau kannte<br />

wie mich, son<strong>der</strong>n dass ich, wenn es um mich ging, lieber auf ihn<br />

als auf mich baute.»<br />

<strong>Friedrich</strong> legte das Buch zur Seite und sah nachdenklich vor sich<br />

hin.<br />

Ein Freund, dachte er, ich brauche einen Freund, einen Menschen,<br />

dem ich vertrauen kann, einen Menschen, mit dem ich über<br />

meine Wünsche und Ziele sprechen kann; mit Mama und Wilhelmine<br />

kann ich über die englische Heirat reden, aber nicht über<br />

meine Wünsche, was Preußen betrifft.<br />

Er zuckte zusammen, als leise an die Tür geklopft wurde, und<br />

rief: «Sie können eintreten.»<br />

Er sah überrascht, dass Doris Ritter das Zimmer mit einem Tablett<br />

betrat.<br />

Sie errötete, knickste und stellte das Tablett auf den Tisch.<br />

«Meine Mutter schickt Ihnen etwas zur Stärkung, Königliche<br />

Hoheit, darf ich Ihnen Kaffee eingießen?»<br />

«Gerne, <strong>der</strong> Kaffee duftet wun<strong>der</strong>bar.»<br />

425


Er ging zu dem Tisch und betrachtete erstaunt die faustdicken<br />

braunen, mit Zucker bestreuten Ballen, die auf einem Teller lagen.<br />

«Was ist das für Gebäck?»<br />

Sie sah ihn erstaunt an: «Königliche Hoheit, das sind Pfannkuchen,<br />

eine Berliner Spezialität. Meine Mutter verwendet immer<br />

viel Butter und viele Eier für den Teig, die Pfannkuchen werden<br />

mit Konfi türe gefüllt, in heißem Öl gebacken und dann in Zucker<br />

gewälzt, nun ja, es ist ein einfaches Gebäck, an <strong>der</strong> Hoftafel werden<br />

wahrscheinlich nur Torten serviert.»<br />

Er lächelte spöttisch, tat zwei Zuckerstücke in den Kaffee und<br />

sagte: «Torten? Die werden nur bei beson<strong>der</strong>en Anlässen aufgetragen,<br />

ansonsten essen wir trockenen Hefekuchen wie die Bürger.»<br />

Er nahm einen Ballen, biss ein Stück ab und sagte: «Köstlich,<br />

man schmeckt die Butter und die Eier, sehen Sie, große Mengen<br />

Butter, Eier und dann noch Zucker, das ist zu teuer für das Budget<br />

unseres Küchenmeisters, deswegen wurden Pfannkuchen noch nie<br />

serviert.»<br />

«Zu teuer? Oh, ich werde meine Mutter bitten, dass Sie jedes<br />

Mal, wenn Sie unser Haus besuchen, Pfannkuchen backt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lachte.<br />

«Sie bürden Ihrer Frau Mutter eine Menge Arbeit auf, nur weil<br />

ich während <strong>der</strong> Abwesenheit meines Vaters jeden Tag einige Stunden<br />

hier weilen werde, um zu lesen.»<br />

Jeden Tag, dachte sie, ich werde ihn jeden Tag sehen, sie spürte,<br />

dass sie errötete, und sah verlegen zu Boden.<br />

Sie ist unsicher, dachte er, sind alle Untertanen unsicher, wenn<br />

sie dem künftigen König gegenüberstehen?<br />

«Mademoiselle, Monsieur Duhan erzählte mir, dass Sie Klavier<br />

spielen. Meine Mutter wird während des Sommers einige Konzerte<br />

in Monbijou veranstalten, meine Schwester und ich, wir werden<br />

auch vorspielen, meine Schwester begleitet mein Flötenspiel auf<br />

dem Klavier. Wären Sie bereit, mich ab morgen jeden Tag auf dem<br />

Klavier zu begleiten? Es wäre für mich eine Vorbereitung auf die<br />

Konzerte, mit meiner Schwester kann ich nicht oft üben, weil ich<br />

sie nicht jeden Tag sehe. Ich will Ihre Zeit nicht zu sehr beanspruchen,<br />

eine Stunde täglich würde genügen.»<br />

Sie glaubte, nicht richtig zu hören, und sah ihn erstaunt an.<br />

426


«Königliche Hoheit», stammelte sie, «es ist eine Ehre für mich,<br />

wenn ich Sie auf dem Klavier begleiten darf. Ich muss jetzt gehen,<br />

Sie wollen sicherlich lesen.»<br />

Sie knickste, eilte zur Tür, drehte sich um, holte Luft und sagte:<br />

«Ich werde meiner Mutter keine zusätzliche Arbeit aufbürden, Königliche<br />

Hoheit; ich kann nämlich auch Pfannkuchen backen.»<br />

Sie huschte hinaus, und <strong>Friedrich</strong> sah ihr belustigt nach. Sie ist<br />

nett und unkompliziert, dachte er, ich werde ihr eine Kleinigkeit<br />

schenken, als Dank dafür, dass sie mein Flötenspiel begleitet.<br />

Er verspeiste genüsslich den Pfannkuchen, vertiefte sich dann erneut<br />

in Montaigne, überfl og die Zeilen und wie<strong>der</strong>holte laut: «Diese<br />

Freundschaft war, wie gesagt, etwas ganz an<strong>der</strong>es als die üblichen<br />

Freundschaften … Seit dem Tag, an dem ich ihn verlor (er wird für<br />

mich immer eine bittere, eine heilige Erinnerung bleiben, es war<br />

ja Euer Wille, Ihr Götter), ist mein Leben nur noch ein Dahinsiechen,<br />

selbst die Freuden, die sich mir noch bieten, können mich nicht<br />

trös ten, son<strong>der</strong>n vermehren nur den Schmerz, dass ich ihn verloren<br />

habe, wir teilten alles; es ist mir, als ob ich ihn um seinen Anteil<br />

brächte.»<br />

<strong>Friedrich</strong> legte das Buch zur Seite, sah nachdenklich vor sich hin<br />

und sagte leise: «Weil er es war, weil ich es war … was sagte Vergil<br />

in <strong>der</strong> Aeneis? Er wird für mich immer eine bittere, eine heilige<br />

Erinnerung bleiben.»<br />

Er stand auf, ging langsam auf und ab, schließlich trat er zum<br />

Fenster und sah hinunter in den Hof.<br />

Werde ich jemals einen solchen Freund haben, wie Montaigne<br />

ihn besaß? Er verlor ihn, weil er starb, dieser Tod des Freundes<br />

muss für Montaigne grausam gewesen sein, hat er diesen Verlust je<br />

verwunden? Kann man den Tod eines wirklichen Freundes jemals<br />

verschmerzen? Dennoch wünsche ich mir einen solchen Freund,<br />

wie Montaigne ihn besaß, und, mon Dieu, es kann auch geschehen,<br />

dass man den Freund nicht durch den Tod verliert, dass man<br />

gemeinsam alt wird.<br />

Fünf Tage später eilte Doris am frühen Abend zu ihrer Mutter<br />

in die Küche und zeigte ihr freudestrahlend einen kleinen Ballen<br />

blaues Tuch.<br />

427


«Mutter, sehen Sie, <strong>der</strong> Kronprinz hat mir heute wie<strong>der</strong> etwas<br />

geschenkt: Stoff für ein Kleid!»<br />

Frau Ritter betrachtete nachdenklich das Tuch.<br />

«Mein Kind, es gefällt mir nicht, dass <strong>der</strong> Prinz dir etwas<br />

schenkt; vorgestern brachte er dir Bän<strong>der</strong> für die Haare, gut, er<br />

will sich erkenntlich zeigen, dass du ihn auf dem Klavier begleitest.<br />

Aber es kann sich herumsprechen, und dann werden böse Zungen<br />

über dich reden.»<br />

«Mutter, ich kann die Geschenke des Kronprinzen doch nicht<br />

ablehnen, es würde ihn kränken.»<br />

Frau Ritter überlegte.<br />

«Du hast recht: Es würde ihn kränken, und ich glaube auch nicht,<br />

dass er mit seinen Geschenken unlautere Absichten verfolgt und<br />

dich verführen will, aber ich habe Angst vor dem Gerede <strong>der</strong> Leute.<br />

Wie rasch kann ein junges Mädchen seinen guten Ruf verlieren.<br />

Ich werde ab morgen anwesend sein, wenn ihr spielt, und wenn<br />

man dann darüber redet, kann ich sagen, dass du mit ihm nicht allein<br />

warst. Eines noch: Du darfst niemandem erzählen, dass er dir<br />

etwas geschenkt hat – abgesehen davon, dass die Nachbarn dann<br />

ein Liebesverhältnis vermuten, werden sie auch neidisch; wahrscheinlich<br />

beneidet man uns schon jetzt, weil <strong>der</strong> künftige König<br />

unser Haus aufsucht.»<br />

«Ja, Mutter.»<br />

Sie ging in ihr Zimmer, betrachtete die bunten Bän<strong>der</strong> und den<br />

blauen Stoff und dachte nach.<br />

Wie kann ich verhin<strong>der</strong>n, dass meine Mutter anwesend ist, wenn<br />

wir musizieren? Ich möchte mit ihm allein sein. Die Geschenke –<br />

vielleicht sind sie doch nicht harmlos, vielleicht hat er sich in mich<br />

verliebt, ich habe mich ja auch in ihn verliebt; ich darf mich keinen<br />

Illusionen hingeben, er wird natürlich eine Prinzessin heiraten,<br />

aber man hört immer wie<strong>der</strong>, dass diese fürstlichen Ehen ohne Zuneigung<br />

geschlossen werden. Mein Gott, ich darf nicht daran denken,<br />

sollte es mir bestimmt sein, die heimliche Liebe des künftigen<br />

Königs zu sein?<br />

Sie ging eine Weile unruhig auf und ab und dachte: Ich muss mit<br />

einem Menschen darüber reden, Mutter hat es zwar verboten, aber<br />

<strong>der</strong> Nachbarin kann ich mich anvertrauen, sie ist verschwiegen.<br />

428


Sie eilte in das gegenüberliegende Haus, wo in <strong>der</strong> Küche eine<br />

stattliche Frau in mittleren Jahren auf einem hölzernen Schemel<br />

saß und ein totes Huhn rupfte.<br />

«Guten Tag, Frau Marthe, störe ich?»<br />

Die Frau sah auf und lächelte: «Nein, mein Täubchen, du störst<br />

nie, leiste mir ein wenig Gesellschaft.»<br />

Doris setzte sich auf eine Holzbank, betrachtete die toten Hühner,<br />

die um Marthe lagen und noch gerupft werden mussten, und<br />

sagte: «Ich helfe Ihnen gerne, ich weiß, wie man Hühner rupft.»<br />

Wie soll ich die Rede auf den Kronprinzen bringen?<br />

Sie arbeitete eine Weile still vor sich hin, dann sah Marthe auf,<br />

betrachtete das Mädchen forschend und sagte: «Es geht mich nichts<br />

an, aber seit einigen Tagen beobachte ich, dass <strong>der</strong> Kronprinz am<br />

Nachmittag in euer Haus kommt.»<br />

Doris spürte verärgert, dass sie errötete, und antwortete hastig:<br />

«Mein Vater hat erlaubt, dass <strong>der</strong> ehemalige Lehrer des Prinzen<br />

in einem Zimmer unseres Hauses eine Bibliothek einrichtet, <strong>der</strong><br />

Prinz kommt zu uns, weil er lesen will, im Schloss ist dies anscheinend<br />

nicht möglich.»<br />

Marthe lachte: «Nun, man hört, dass <strong>der</strong> König die Liebhabereien<br />

des Prinzen hasst und verabscheut, aber sage mir, mein Täubchen,<br />

warum errötest du? Es ist doch nicht unschicklich, wenn <strong>der</strong><br />

Prinz in eurem Hause seine Bücher liest.»<br />

Doris sah langsam auf und erwi<strong>der</strong>te zögernd: «Frau Marthe,<br />

es … es sind nicht nur die Bücher, <strong>der</strong> Prinz bat mich, sein Flötenspiel<br />

auf dem Klavier zu begleiten.»<br />

Marthe legte das Huhn zur Seite und musterte neugierig das<br />

Gesicht des jungen Mädchens.<br />

Sie hat sich in den Prinzen verliebt, dachte sie, interessant, nun ja,<br />

warum nicht, er ist ein gutaussehen<strong>der</strong> junger Mann, er benimmt<br />

sich wahrscheinlich höfl icher und umgänglicher als <strong>der</strong> König.<br />

«Du begleitest das Flötenspiel des Prinzen auf dem Klavier, mein<br />

Gott, das ist eine große Ehre für dich, mein Täubchen.»<br />

Doris errötete erneut und strich verlegen ihre weiße Leinenschürze<br />

glatt.<br />

Marthe nahm ein an<strong>der</strong>es Huhn, und während sie es rupfte, beobachtete<br />

sie lauernd die Miene des jungen Mädchens.<br />

429


Ich spüre, dass sie mir noch etwas sagen will, dachte sie, nun, ich<br />

kann warten. Nach einigen Sekunden atmete Doris tief durch, sah<br />

die Nachbarin an und sagte: «Frau Marthe, ich muss Ihnen noch<br />

etwas erzählen. Der Prinz schenkte mir bunte Bän<strong>der</strong> und Stoff<br />

für ein Kleid.»<br />

Marthe sah überrascht auf: «Mein Gott, welches Glück für dich,<br />

mein Täubchen! Die Geschenke beweisen, dass <strong>der</strong> Prinz sich für<br />

dich interessiert, er mag dich, er hat sich wahrscheinlich in dich<br />

verliebt.»<br />

Doris glaubte, nicht richtig zu hören.<br />

«Denken Sie wirklich, dass er eine gewisse Zuneigung empfi ndet?»<br />

«Selbstverständlich, die Geschenke sind ein Beweis.»<br />

Doris atmete erleichtert auf.<br />

«Ich bin glücklich, Frau Marthe, dass Sie meine geheimen Vermutungen<br />

bestätigen, es ist nämlich so, nun ja, ich habe mich<br />

in den Prinzen verliebt. Es gibt allerdings ein Problem: Meine<br />

Mutter fürchtet um meinen guten Ruf, deshalb will sie ab jetzt<br />

anwesend sein, wenn <strong>der</strong> Prinz und ich musizieren.»<br />

«Ich verstehe, mein Täubchen, du möchtest mit dem Prinzen lieber<br />

allein sein. Höre, wenn er wirklich Zuneigung für dich empfi<br />

ndet, dann wird ihn die Anwesenheit deiner Mutter nicht daran<br />

hin<strong>der</strong>n, dir irgendwann seine Gefühle zu gestehen.»<br />

Doris sprang plötzlich auf. «Sie haben recht, Frau Marthe, entschuldigen<br />

Sie mich bitte, ich muss über unser Gespräch nachdenken.»<br />

Die Nachbarin sah ihr lange nach und sagte dann leise: «Wer<br />

hätte das je gedacht: Der Kronprinz hat sich anscheinend in die<br />

Tochter unseres Kantors verliebt, <strong>der</strong> künftige König und die Kantorstochter,<br />

das muss ich morgen sofort meiner Schwester erzählen.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> zwei Tage später das Musikzimmer betrat, saß Doris<br />

allein am Klavier und übte Tonleitern.<br />

«Wo ist Ihre Frau Mutter?»<br />

«Sie besucht eine kranke Nachbarin, sie wird bald zurück sein,<br />

Königliche Hoheit.»<br />

430


<strong>Friedrich</strong> gab dem jungen Mädchen ein Päckchen.<br />

«Ich habe Ihnen etwas Perlenstickerei für das neue Kleid mitgebracht,<br />

es sind keine echten Perlen, dafür reicht mein Taschengeld<br />

nicht, ich hoffe, dass ich Ihnen trotzdem eine kleine Freude bereite.»<br />

Doris sprang auf und trat so dicht vor <strong>Friedrich</strong>, dass er unwillkürlich<br />

einen Schritt zurückwich.<br />

«Königliche Hoheit, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll,<br />

die Geschenke, ich freue mich unsäglich darüber, aber Sie müssen<br />

mir doch nichts schenken – trotzdem vielen, vielen Dank!»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die lachenden Augen und ging instinktiv<br />

einen weiteren Schritt zurück.<br />

Mon Dieu, dachte er, sie ist in mich verliebt, ihre Augen beweisen<br />

es, aber ich, nun, ich empfi nde nichts für sie, sie ist für mich<br />

eine Klavierpartnerin, mehr nicht. Mon Dieu, wie kann ich mich<br />

dieser Situation entziehen? Ich will weiter hier in Ruhe lesen, aber<br />

das gemeinsame Musizieren werde ich allmählich einschlafen lassen.<br />

Er ging einen Schritt auf sie zu und sagte lächelnd: «Mademoiselle,<br />

mein Vater kehrt bald nach Potsdam zurück, deswegen werde<br />

ich mich in den künftigen Wochen meinen Pfl ichten als Kronprinz<br />

widmen müssen, dies bedeutet, dass Sie mich heute vorerst zum<br />

letzten Mal auf dem Klavier begleiten werden.»<br />

Sie spürte einen feinen Stich von Enttäuschung, nahm sich zusammen<br />

und erwi<strong>der</strong>te: «Selbstverständlich, Königliche Hoheit.»<br />

Vorerst zum letzten Mal, dachte sie, dies bedeutet, dass wir<br />

künftig zusammen spielen werden, wenn er Zeit hat.<br />

Während sie musizierten, betrat Frau Ritter leise das Zimmer<br />

und setzte sich auf einen Stuhl.<br />

Sie betrachtete das Gesicht <strong>der</strong> Tochter und spürte, dass etwas<br />

passiert war.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> das Haus verließ, ging sie zu Doris und umarmte<br />

sie.<br />

«Mein Kind, du wirkst so traurig, was ist passiert?»<br />

Das junge Mädchen begann zu weinen und fl üsterte: «Mutter,<br />

er wird vorerst nicht mehr mit mir musizieren, er hat Verpfl ichtungen<br />

als künftiger König.»<br />

431


«Gott sei Dank, mein Kind, ich bin froh darüber, so wird es hoffentlich<br />

kein Gerede über dich und den Prinzen in Potsdam geben.»<br />

432


7<br />

Am Abend des 14. August 1728 veranstaltete Sophie Dorothea<br />

in Monbijou ein Konzert. Während <strong>der</strong> Diener die Türen zum Garten<br />

öffnete, um die warme Abendluft hereinzulassen, glitten die<br />

Augen <strong>der</strong> Königin zufrieden über die Gäste, und sie sagte leise zu<br />

Frau von Kamecke: «Was für ein herrlicher Sommer: Nun ist <strong>der</strong><br />

König schon zwei Monate weg, zwei Monate, während <strong>der</strong>er ich<br />

so leben konnte, wie ich wollte. Wahrscheinlich kommt er erst in<br />

ungefähr einer Woche zurück, und dann, mon Dieu, Wusterhausen;<br />

aber heute will ich nicht daran denken, son<strong>der</strong>n das Konzert<br />

meiner Kin<strong>der</strong> genießen.»<br />

Sie sah stolz hinüber zu dem Klavierfl ügel, vor dem Wilhelmine<br />

saß und ein Notenheft aufschlug, während <strong>Friedrich</strong> neben ihr<br />

stand und auf seiner Flöte einige Tonleitern spielte.<br />

Nach einer Weile sah er auf, nickte seiner Mutter kurz zu, und<br />

Sophie Dorothea straffte sich und sagte feierlich zu den Anwesenden:<br />

«Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass <strong>der</strong> König heute<br />

vierzig Jahre alt wird. Lei<strong>der</strong> weilt er an diesem denkwürdigen<br />

Geburtstag nicht unter uns, aber ich hielt es für angebracht, diesen<br />

Tag trotzdem zu feiern, und lud Sie deswegen zu einem Konzert<br />

ein, das meine beiden ältesten Kin<strong>der</strong> zu Ehren ihres Vaters geben.»<br />

Sie schwieg einen Augenblick und fuhr fort: «Ich sagte: ein denkwürdiger<br />

Geburtstag – nun, mit <strong>der</strong> Vollendung des vierzigsten<br />

Lebensjahres beginnt für einen Mann ein neuer Lebensabschnitt,<br />

nämlich das Alter. Ab jetzt rückt <strong>der</strong> Tod immer näher, und man<br />

muss sich fragen: Wie viele Jahre sind mir noch vergönnt? Zehn<br />

Jahre? Zwanzig Jahre? Nun, ich hoffe, dass Seine Majestät noch<br />

lange lebt, und nun wollen wir die Musik genießen; meine Kin<strong>der</strong><br />

werden Händel spielen.»<br />

Sie sah zu <strong>Friedrich</strong>, und bald war <strong>der</strong> Raum von einer langsamen<br />

Melodie erfüllt. Rothenburg, <strong>der</strong> neben Dubourgay saß,<br />

neigte sich etwas zu seinem Nachbarn und fl üsterte: «Wie kann<br />

man anlässlich eines Geburtstages vom Tod reden? Man gewinnt<br />

433


den Eindruck, Ihre Majestät wartet auf den baldigen Tod des Königs.»<br />

«Das ist auch mein Eindruck, aber hören Sie nur: Der Kronprinz<br />

spielt jetzt allein auf <strong>der</strong> Flöte, dieser Quantz aus Dresden scheint<br />

tatsächlich ein guter Lehrer zu sein.»<br />

Eine Stunde später war das Konzert beendet, <strong>Friedrich</strong> legte die<br />

Flöte auf den Flügel und lächelte Wilhelmine an, die das Notenheft<br />

schloss.<br />

«Wir haben gut gespielt, Wilhelmine», sagte er leise und wandte<br />

sich zum Publikum, das laut applaudierte.<br />

Sophie Dorothea genoss einige Augenblicke den Applaus für<br />

ihre Kin<strong>der</strong>, dann begab sie sich mit den Damen in das Spielzimmer<br />

neben dem Musiksalon.<br />

«Seine Majestät ist nicht anwesend, so können wir unbesorgt um<br />

Geld spielen», und sie legte einige Goldmünzen neben ihre Karten.<br />

Wilhelmine ging in das Spielzimmer, und <strong>Friedrich</strong> nahm ein<br />

Glas Wein von einem Tablett, das ein Lakai ihm reichte, und ging<br />

zu den Gesandten Englands und Frankreichs.<br />

«Das Spiel Eurer Königlichen Hoheit war wun<strong>der</strong>voll, es war<br />

göttlich», sagte Rothenburg, und <strong>Friedrich</strong> genoss für einen Augenblick<br />

die Schmeichelei des Gesandten.<br />

«Ich bedauere, dass Sie unseren Hof verlassen und nach Madrid<br />

gehen, ich habe mich immer gerne mit Ihnen unterhalten.»<br />

«Königliche Hoheit, ich bedauere ebenfalls, dass ich Berlin verlassen<br />

muss. An<strong>der</strong>erseits ist meine Versetzung nach Madrid eine<br />

Art Beför<strong>der</strong>ung; dieser Posten ist schwieriger als mein bisheriger<br />

in Berlin, weil sich in Madrid die Interessen <strong>der</strong> europäischen Großmächte<br />

kreuzen. Mein Nachfolger ist Monsieur de Sauveterre, ich<br />

bin überzeugt, Königliche Hoheit, dass er Ihre Interessen, was die<br />

englische Heirat betrifft, bestens vertreten wird.»<br />

«Ich hoffe es», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> und ging hinüber in das Spielzimmer.<br />

Dort zeigte <strong>der</strong> russische Son<strong>der</strong>botschafter von Mardefeld den<br />

Damen ein Porträt <strong>der</strong> vierzehnjährigen russischen Prinzessin Nathalia,<br />

<strong>der</strong> Schwester des Zaren.<br />

434


«Meine Damen, sieht die Großfürstin nicht entzückend aus?»<br />

In diesem Augenblick betraten Rothenburg und Dubourgay das<br />

Spielzimmer. Wilhelmine betrachtete das Porträt, reichte es <strong>Friedrich</strong><br />

und sagte lächelnd: «Die reizende Russin kann vielleicht eines<br />

Tages deine Braut werden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lachte: «Ich werde noch in vielen Jahren an keine Braut<br />

denken. Aber wenn es dann so weit ist, eine zu wählen, werde ich<br />

mir nichts vorschreiben lassen! Und ich will doch sehr hoffen, dass<br />

mein Herr Vater dann daran denkt, wie es ihm wohl gefallen hätte,<br />

eine Frau wi<strong>der</strong> Willen zu nehmen.»<br />

Sophie Dorothea atmete auf. Gott sei Dank, dachte sie, er wird<br />

auf <strong>der</strong> Vermählung mit Amalie bestehen.<br />

Rothenburg sagte leise zu Dubourgay: «Ich bedauere es, dass ich<br />

den Berliner Hof jetzt verlasse. Die Worte des Kronprinzen sind<br />

eine Kriegserklärung an den König, <strong>der</strong> Konfl ikt wird sich zuspitzen,<br />

Ihnen stehen Monate voller Spannung bevor. Was meinen Sie,<br />

wer siegen wird, <strong>der</strong> Vater o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sohn?»<br />

Dubourgay überlegte einige Minuten: «Ich weiß es nicht, am<br />

Ende arrangieren sich die Parteien meistens, aber vor dem Ende<br />

eines Konfl ikts gibt es meistens einen Höhepunkt. Ich weiß nicht,<br />

wie dies alles weitergehen wird.»<br />

<strong>Friedrich</strong> ging zum Spieltisch seiner Mutter, betrachtete ihre<br />

Karten, beugte sich zu ihr hinunter und fl üsterte: «Mama, Sie<br />

müssen jetzt den Herzkönig ausspielen.»<br />

Im gleichen Augenblick zuckte er zusammen, weil er hörte, dass<br />

sich schwere, polternde Schritte näherten.<br />

Mon Dieu, das muss Papa sein, dachte er. Er kehrt früher zurück<br />

als erwartet, nun, ich darf zweimal wöchentlich in Monbijou weilen.<br />

In diesem Augenblick stürmte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm in das Musikzimmer,<br />

sah sich um und eilte in das Spielzimmer. Die Zorna<strong>der</strong><br />

auf seiner Stirn schwoll an, als er <strong>Friedrich</strong> erblickte, dann sah er<br />

die Münzen auf dem Spieltisch <strong>der</strong> Gattin, eilte hin und fegte Karten<br />

und Münzen mit <strong>der</strong> rechten Hand zu Boden.<br />

«Was erlauben Sie sich, habe ich Ihnen nicht verboten, um Geld<br />

zu spielen?»<br />

Sophie Dorothea sah den Gatten bestürzt an, aber im gleichen<br />

435


Moment wandte er sich zu <strong>Friedrich</strong> und schrie: «Warum treibst<br />

du dich schon wie<strong>der</strong> in Monbijou herum?»<br />

Ehe <strong>Friedrich</strong> antworten konnte, sagte Sophie Dorothea: «Beruhigen<br />

Sie sich, heute ist Ihr Geburtstag, da habe ich Ihnen zu Ehren<br />

ein kleines Konzert gegeben, überdies darf <strong>Friedrich</strong> mich zweimal<br />

wöchentlich besuchen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte die Gattin einen Moment an und<br />

schrie: «Was kümmern Sie sich um meinen Geburtstag! Ich habe<br />

angeordnet, dass Ihr missratener Sohn Sie zweimal in <strong>der</strong> Woche<br />

besuchen darf. Was höre ich, als ich vorhin in Potsdam eintraf und<br />

meinen Sohn sehen will? Der junge Herr ist in Monbijou, er ist<br />

in dieser Woche bereits zum fünften Mal in Monbijou, und auch<br />

während <strong>der</strong> vergangenen Wochen war er mindestens dreimal hier.<br />

Er übertritt meine Befehle, er verweigert mir offen den Gehorsam,<br />

damit nicht genug, erfahre ich, dass er während des Aufenthaltes<br />

des polnischen Königs sich heimlich mit <strong>der</strong> Gräfi n Orzelska getroffen<br />

hat. Mein Sohn, <strong>der</strong> preußische Thronfolger, verkehrt mit<br />

lie<strong>der</strong>lichen Weibern! Ich hoffte, er würde seiner künftigen Gattin<br />

unschuldig begegnen.»<br />

Sophie Dorothea wedelte nervös mit ihrem Fächer.<br />

«Ich verstehe Ihre Aufregung nicht, je<strong>der</strong> Fürst hat voreheliche<br />

Erfahrungen.»<br />

«Der preußische König ist nicht je<strong>der</strong> Fürst», schrie <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm, «<strong>der</strong> preußische König muss ein Vorbild für seine Untertanen<br />

sein, folglich hat er keine Mätressen! Nun, wir werden bald<br />

nach Wusterhausen reisen, und dort, liebe Frau, werde ich Ihnen<br />

und Ihrem Muttersöhnchen zeigen, wer <strong>der</strong> Herr des Hauses Hohenzollern<br />

ist.»<br />

Er wandte sich zu <strong>Friedrich</strong> und schrie: «Merke dir, ich erfahre<br />

alles über deinen Lebenswandel, und ich bedarf dazu keiner bezahlten<br />

Spione. Es ist unglaublich, du hast ein Verhältnis mit einer<br />

Kurtisane!»<br />

In diesem Augenblick kochte in <strong>Friedrich</strong> eine Wut empor wie<br />

noch nie zuvor, und er rief: «Die Gräfi n Orzelska ist keine Kurtisane,<br />

son<strong>der</strong>n eine ehrenwerte Dame!»<br />

«Schweige!», brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, trat vor den Sohn und<br />

begann, ihn zu ohrfeigen. Die Anwesenden sahen sich entsetzt an,<br />

436


dann trat Sophie Dorothea zu dem Gatten: «Ich bitte Sie, hören Sie<br />

auf, es sind ausländische Gesandte anwesend.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm hielt inne, sah die Gattin an und sagte zu<br />

<strong>Friedrich</strong>: «Du wirst mit mir sofort nach Potsdam fahren, und deine<br />

Mutter wirst du erst in Wusterhausen wie<strong>der</strong> sehen.»<br />

Wilhelmine sah, wie Vater und Bru<strong>der</strong> den Raum verließen, und<br />

sagte zur Königin: «Oh Mama, während <strong>der</strong> vergangenen Wochen<br />

haben wir wie im Himmel gelebt, in Wusterhausen werden wir in<br />

ein Fegefeuer fallen.»<br />

Am frühen Abend des 27. August trafen die königliche Familie und<br />

ihr Gefolge in Wusterhausen ein. <strong>Friedrich</strong> betrat nie<strong>der</strong>geschlagen<br />

sein Zimmer und sah verzweifelt hinunter in den Hof, während<br />

Sternemann seine Koffer auspackte.<br />

Papa will so lange wie möglich hier bleiben, dachte er, das sind<br />

auf jeden Fall zwei, wenn nicht sogar drei Monate.<br />

In diesem Augenblick wurde Kalckstein gemeldet.<br />

«Verzeihen Sie die Störung, Königliche Hoheit, aber ich weiß<br />

nicht, wann ich wie<strong>der</strong> ungestört mit Ihnen reden kann. Sie wissen<br />

ja, dass die nächsten Wochen <strong>der</strong> Jagd gewidmet sind. Ich überbringe<br />

Ihnen eine gute und eine schlechte Nachricht; welche wollen Sie<br />

zuerst hören?»<br />

<strong>Friedrich</strong> wandte sich langsam um und erwi<strong>der</strong>te: «Ich möchte<br />

zuerst die schlechte Nachricht hören.»<br />

«Eure Königliche Hoheit baten mich, nach <strong>der</strong> Rückkehr aus<br />

Dresden mit Seiner Majestät über eine Kavaliersreise zu sprechen,<br />

über eine Reise, die den geistigen Horizont Eurer Hoheit erweitern<br />

und gleichzeitig die Persönlichkeit Eurer Hoheit entwickeln soll.<br />

Nun, gestern ergab sich eine Gelegenheit, mit Seiner Majestät über<br />

Ihren Wunsch zu sprechen, zumal Seine Majestät gestern gut gelaunt<br />

war.»<br />

Kalckstein schwieg einen Augenblick und fuhr fort: «Seine Majestät<br />

hat die Reise verboten. Seine Majestät meint, wenn Sie ihn<br />

regelmäßig auf den Inspektionsreisen begleiten, wird Ihr geistiger<br />

Horizont genug erweitert, weil Sie während dieser Reisen lernen,<br />

wie ein künftiger preußischer König sein Land regieren soll.<br />

Gleichwohl ist Seine Majestät bereit, Ihnen eine Kavaliersreise zu<br />

437


erlauben, allerdings erst, wenn Sie verheiratet sind und einen Sohn<br />

gezeugt haben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte Kalckstein an und rief: «Wie bitte? Angenommen,<br />

ich heirate in drei o<strong>der</strong> vier Jahren, dann dauert es noch mindestens<br />

ein Jahr, bis ich Vater werde, vielleicht ist mein erstes Kind<br />

eine Tochter, dann dauert es vielleicht noch ein o<strong>der</strong> zwei Jahre,<br />

bis ein Sohn zur Welt kommt, in jedem Fall bin ich dann für eine<br />

Kavaliersreise zu alt.»<br />

Er schwieg, und Kalckstein beobachtete, dass <strong>der</strong> Blick <strong>der</strong> großen,<br />

blauen Augen allmählich kühl und reserviert wurde, dann lachte<br />

<strong>Friedrich</strong> spöttisch auf und erwi<strong>der</strong>te: «Mein Vater befürchtet<br />

anscheinend, dass ich, wenn ich jetzt meine Kavaliersreise antrete,<br />

nicht mehr nach Preußen zurückkehren werde, er rechnet damit,<br />

dass, wenn ich Frau und Kind in Berlin lasse, ich zurückkehre, weil<br />

ich meine Frau nicht seiner Wut ausliefern möchte.»<br />

Kalckstein sah <strong>Friedrich</strong> überrascht an: «Königliche Hoheit, was<br />

sind das für Gedanken? Man gewinnt den Eindruck, dass Sie an<br />

Flucht denken.»<br />

«Beruhigen Sie sich, ich denke nicht an eine Flucht, und nun<br />

erzählen Sie mir die gute Nachricht.»<br />

Kalckstein betrachtete die Augen des Prinzen, die ihn nun<br />

offen anlächelten, atmete auf und fuhr fort: «Seit <strong>der</strong> Szene in<br />

Schloss Monbijou haben Graf Finck und ich uns des Öfteren über<br />

Ihre Erziehung unterhalten – mit dem Ergebnis, dass wir glauben,<br />

Ihre Entwicklung nicht weiter beeinfl ussen zu können. Sie sind<br />

an<strong>der</strong>s veranlagt als Seine Majestät, Sie haben an<strong>der</strong>e Interessen,<br />

wir sehen uns nicht mehr in <strong>der</strong> Lage, Sie zu einem Ebenbild Seiner<br />

Majestät zu formen. Wir haben Seine Majestät um unsere<br />

Entlassung gebeten und vorgeschlagen, Ihnen Gesellschafter zu<br />

geben, junge Offi ziere, mit denen Sie sich unterhalten können,<br />

wie es Ihnen beliebt. Diese Gesellschafter sind keine Aufpasser,<br />

aber vielleicht üben die jungen Herren einen guten Einfl uss auf<br />

Sie aus. Seine Majestät ist mit unserem Vorschlag einverstanden,<br />

bat uns aber, noch bis zum Frühjahr zu bleiben, weil Seine Majestät<br />

in aller Ruhe Ihre künftigen Gesellschafter auswählen will,<br />

er hofft, dass die jungen Offi ziere im Laufe <strong>der</strong> Zeit Ihre Freunde<br />

werden.»<br />

438


<strong>Friedrich</strong> sah den Erzieher nachdenklich an und erwi<strong>der</strong>te: «Ich<br />

bedauere es aufrichtig, wenn Sie und Graf Finck mich verlassen:<br />

Sie waren immer nachsichtig mit mir. An<strong>der</strong>erseits kann ich Sie<br />

verstehen. Die jungen Offi ziere sollen also meine Freunde werden,<br />

o<strong>der</strong> meint mein Vater, sie sollen meine Kameraden werden?»<br />

Kalckstein sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Ich verstehe Sie nicht, Kamerad<br />

o<strong>der</strong> Freund, das ist doch gleich, ein Kamerad ist immer ein<br />

Freund, und ein Freund ist immer ein Kamerad.»<br />

<strong>Friedrich</strong> ging langsam auf und ab, blieb vor Kalckstein stehen<br />

und sagte ernst: «Für mich gibt es einen Unterschied zwischen<br />

einem Freund und einem Kameraden: Montaigne sagt, dass die<br />

Freundschaft vom ungehin<strong>der</strong>ten Gedankenaustausch lebt, in <strong>der</strong><br />

Freundschaft herrscht eine allgemeine Wärme, die den ganzen<br />

Menschen erfüllt, in <strong>der</strong> Freundschaft veredelt sich die Seele, eine<br />

Freundschaft bedeutet für mich: Weil er es war, weil ich es war.»<br />

Kalckstein sah <strong>Friedrich</strong> unsicher an und überlegte: «Königliche<br />

Hoheit, ich vermute, dass Seine Majestät, was Ihre Gesellschafter<br />

betrifft, nicht an Freunde dachte, son<strong>der</strong>n mehr an Kameraden.»<br />

An <strong>der</strong> Abendtafel herrschte nach dem Gebet des kleinen August<br />

Wilhelm ein ungemütliches Schweigen. Während die Suppe serviert<br />

wurde, sah Sophie Dorothea verstohlen zu <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> am<br />

unteren Ende <strong>der</strong> Tafel saß und keine Miene verzog.<br />

Wie lange soll er, <strong>der</strong> künftige König, noch unten an <strong>der</strong> Tafel<br />

sitzen, dachte sie; aber es ist wenig sinnvoll, während <strong>der</strong> künftigen<br />

Wochen mit meinem Mann darüber zu sprechen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm löffelte hungrig die Suppe, wischte mit <strong>der</strong><br />

Serviette über den Mund, trank sein Glas Wein in einem Zug,<br />

stellte das Glas hart auf den Tisch und sah <strong>Friedrich</strong> streng an.<br />

«Nun, mein Sohn, ich weiß, dass du die Parforcejagden nicht<br />

liebst, und ich will dich nicht zwingen, daran teilzunehmen, du<br />

kannst die kommenden Tage und Wochen im Schloss verbringen,<br />

in deinem Zimmer wohlgemerkt. Du wirst dein Zimmer nur zu<br />

den Mahlzeiten verlassen, und du wirst natürlich am Abend im<br />

Tabakskollegium anwesend sein. Ich verbiete dir, tagsüber in den<br />

Räumen deiner Mutter zu weilen. Du wirst we<strong>der</strong> französische<br />

Romane lesen noch wirst du die Flöte spielen, Bücher und Flöte<br />

439


werden deine Erzieher aufbewahren. Du kannst in <strong>der</strong> Bibel lesen.<br />

Wenn du bereit bist, an den Jagden teilzunehmen, darfst du wie<strong>der</strong><br />

deine Mutter besuchen, Romane lesen und musizieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak.<br />

Wusterhausen soll für mich ein Gefängnis werden, dachte er,<br />

Papa hofft, mich mit diesen Maßnahmen zu unterwerfen, nun, ich<br />

werde ihm beweisen, dass ich stark bin, ich werde an keiner Jagd<br />

teilnehmen und meine Tage im Zimmer verbringen, bis wir dieses<br />

sogenannte Schloss verlassen.<br />

Er sah den Vater an und sagte: «Ja, Papa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte und trank genüsslich ein weiteres<br />

Glas Wein.<br />

Sophie Dorothea und Wilhelmine sahen einan<strong>der</strong> verzweifelt<br />

an, dann straffte die Königin sich und fragte: «Warum darf mein<br />

Sohn mich nicht besuchen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte die Gattin einen Augenblick an und<br />

schrie: «Warum? Sie wollen wissen, warum? Nun, wenn mein<br />

missratener Sohn Sie besucht, werden doch nur neue Intrigen gesponnen<br />

im Hinblick auf die englische Heirat. Sie werden auch<br />

Wilhelmine tagsüber nicht sehen, meine Tochter wird ebenfalls in<br />

ihrem Zimmer bleiben und darüber nachdenken, ob sie nicht doch<br />

den Herzog von Weißenfels heiraten will.»<br />

Sophie Dorothea sah den Gatten ernst an und erwi<strong>der</strong>te langsam:<br />

«Meine älteste Tochter wird nur den Prinzen von Wales heiraten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm leerte sein Glas Wein in einem Zug und schrie:<br />

«Sie wird den Prinzen von Wales nicht heiraten, und wenn Sie diese<br />

absurde Idee nicht aufgeben, wird Ihre Tochter überhaupt nicht heiraten,<br />

sie wird eine alte Jungfer werden und erleben, dass ihre jüngeren<br />

Schwestern verheiratet werden, zunächst Frie<strong>der</strong>ike Luise.»<br />

Sophie Dorothea starrte den Gatten an: «Frie<strong>der</strong>ike Luise? Wie<br />

meinen Sie das?»<br />

«Frie<strong>der</strong>ike Luise wird im nächsten Frühjahr den Erbprinzen<br />

Karl von Ansbach ehelichen und irgendwann Markgräfi n von Ansbach<br />

sein.»<br />

Die Königin glaubte, nicht richtig zu hören: «Markgräfi n? Frie<strong>der</strong>ike<br />

ist die Tochter eines Königs und soll durch ihre Heirat zur<br />

Markgräfi n absteigen?»<br />

440


«Liebe Frau, ich muss sechs Töchter verheiraten. Die Verbindung<br />

mit Ansbach hat sich während <strong>der</strong> letzten Monate ergeben, im Übrigen<br />

gehören die Ansbacher familiär zu den Hohenzollern.»<br />

«Es ist eine weite familiäre Verbindung», erwi<strong>der</strong>te Sophie Dorothea.<br />

Wilhelmine blickte starr vor sich hin. Nach einer Weile hob sie<br />

den Kopf und sah den Vater an: «Papa, warum verheiraten Sie meine<br />

jüngere Schwester vor mir?»<br />

«Warum?», schrie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, «Sie träumen immer noch<br />

von <strong>der</strong> englischen Heirat, wachen Sie endlich auf, ich bin bereit,<br />

Sie sofort zu verheiraten, aber nicht nach England!»<br />

Er spürte, dass ein unendlicher Zorn ihn überkam, nahm seinen<br />

Suppenteller und warf ihn Wilhelmine an den Kopf.<br />

Sie wich im letzten Moment geschickt aus, <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

ergriff wütend den Unterteller und versuchte, ihn <strong>Friedrich</strong> an den<br />

Kopf zu werfen, aber <strong>der</strong> Teller landete auf <strong>der</strong> Tafel.<br />

Die Anwesenden sahen einan<strong>der</strong> entsetzt an, und Grumbkow<br />

sagte leise zu Seckendorff: «Wo wird dies alles enden? Ich glaube,<br />

dass in keiner europäischen Fürstenfamilie solche Zustände herrschen<br />

wie bei den Hohenzollern.»<br />

Die Lakaien servierten Schweinebraten und Erbsen mit Speck,<br />

und bis zum Ende <strong>der</strong> Mahlzeit sprach niemand mehr ein Wort.<br />

Ich werde meine Kin<strong>der</strong> tagsüber sehen, sagte sich Sophie Dorothea,<br />

die Ramen muss eben aufpassen, wann <strong>der</strong> König zurückkehrt.<br />

Er wirft uns Teller an den Kopf, überlegte <strong>Friedrich</strong>, dieser<br />

Herbst wird eine Hölle werden, ich spüre, dass ich das Leben an<br />

diesem Hof nicht mehr lange ertrage.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> nach dem Tabakskollegium in sein Zimmer zurückkehrte,<br />

überreichte Sternemann ihm ein Päckchen: «Fräulein von<br />

Sonsfeld hat dies vorhin gebracht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> entfernte das Papier, betrachtete das Buch und sagte<br />

leise: «Die Komödianten, von Paul Scarron.»<br />

Er schlug die erste Seite auf und sah einen Brief von Wilhelmine.<br />

Er las ihn und setzte sich nachdenklich auf das Bett.<br />

«Sie will mir regelmäßig heimlich Lektüre schicken», sagte er<br />

leise, «das ist lieb von ihr, aber was sind das für Zustände? Das ist<br />

441


doch kein Leben – ich kann nur heimlich lesen und Flöte spielen,<br />

ich darf Mama und Wilhelmine nicht sehen, Mama darf uns nicht<br />

sehen. So geht es nicht weiter, aber wie soll es weitergehen, wie<br />

kann es weitergehen?»<br />

442


8<br />

Drei Tage später wan<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> unruhig in seinem Zimmer<br />

auf und ab, schließlich trat er zum Fenster und betrachtete abwechselnd<br />

die angeketteten Bären und Adler im Hof und den wolkenlosen,<br />

blauen Sommerhimmel.<br />

Wenn ich mein eigener Herr wäre, dachte er, würde ich an einem<br />

solchen Nachmittag ausreiten, stattdessen bin ich ein Gefangener<br />

in diesem Schloss. Mon Dieu, wie langsam die Zeit vergeht, wie<br />

könnte ich die Langeweile vertreiben? Ich habe keine Lektüre und<br />

keine Flöte, aber ich habe Papier, Tinte und Fe<strong>der</strong>, ich könnte versuchen,<br />

Verse über das, was in mir vorgeht, zu schreiben.<br />

Er setzte sich an den Tisch, nahm einen Bogen Papier, tauchte die<br />

Fe<strong>der</strong> in das Tintenfass und schrieb langsam: «Ich hab mich aus <strong>der</strong><br />

Tabagie gedrückt …»<br />

Er hielt kurz inne, dann schrieb er weiter: «Sonst wär‘ ich ohne<br />

Hexerei erstickt.»<br />

Er legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite, überlegte einige Minuten, wusste<br />

plötzlich die nächsten Reime und schrieb dann ohne Pause weiter:<br />

Dort kann man herzlich Langeweile spüren,<br />

Geredet wird allein vom Bataillieren.<br />

Mir, <strong>der</strong> ich friedlicher Gemütsart bin,<br />

Will dieses Thema gar nicht in den Sinn.<br />

Die Flucht ergreifend, eile ich zum Mahl,<br />

Nicht etwa, weil ich gar so hungrig bin,<br />

Nein, um mit einem Zuge den Pokal<br />

Zu leeren auf die teure Königin.<br />

Er las die Reime und sagte leise: «Mein erstes Gedicht, mein erster<br />

Vers. Verse schreiben, auch das ist eine Möglichkeit, um mit<br />

schwierigen Lebenssituationen fertig zu werden. Schreiben lenkt<br />

ab und beruhigt, und wenn man einen guten Vers geschrieben hat,<br />

so ist das auch ein kleiner Erfolg», und spontan nahm er einen neuen<br />

Bogen Papier.<br />

443


Liebe Schwester,<br />

ich schicke Dir mein erstes Gedicht, Du wirst bestimmt eine Gelegenheit<br />

fi nden, es Mama zu zeigen.<br />

Den Roman von Scarron habe ich mit großem Vergnügen gelesen,<br />

dabei kam mir ein Einfall.<br />

Wir könnten die kaiserliche Clique und an<strong>der</strong>e lächerliche Hofleute<br />

und auch Verwandte nach den Romanfi guren benennen und<br />

uns ganz offen über sie bei <strong>der</strong> Tafel unterhalten, dann denken<br />

alle, wir unterhalten uns über den Roman, also: Grumbkow ist La<br />

Rancune, Seckendorff ist La Rappinière, <strong>der</strong> Markgraf von Schwedt<br />

ist Saldagne, Frau von Kamecke ist die dicke Madame Bouvillon,<br />

und unser Vater? Er ist natürlich <strong>der</strong> kleine dicke Ragotin, <strong>der</strong> im<br />

Roman einen Hanswurst darstellt, ihm gelten die Ränke La Rancunes,<br />

er erlebt die überraschendsten Abenteuer, die stets einen für<br />

ihn misslichen, für den Leser erheiternden Ausgang nehmen.<br />

<strong>Friedrich</strong> legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite, stand auf und ging nachdenklich<br />

auf und ab.<br />

«Ich halte es in diesem Schloss nicht länger aus», sagte er leise,<br />

«ich muss hinaus in die freie Natur. Die Parforcejagden sind zwar<br />

wi<strong>der</strong>lich, aber ich werde morgen zu Papa gehen und ihm sagen,<br />

dass ich an den Jagden teilnehmen möchte. Er wird innerlich triumphieren,<br />

dass er mich in die Knie gezwungen hat, aber es ist die<br />

einzige Möglichkeit, diesem Schloss zu entrinnen.»<br />

Am späten Nachmittag des folgenden Tages stand er am Fenster<br />

und wartete auf die Rückkehr <strong>der</strong> Jagdgesellschaft.<br />

Als es anfi ng zu dämmern, ritten <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und sein<br />

Gefolge in den Hof. <strong>Friedrich</strong> beobachtete, wie sein Vater schwerfällig<br />

vom Pferd stieg, und spürte, dass sein Herz aufgeregt klopfte.<br />

Wie wird er mich empfangen, dachte er beklommen, wartete<br />

noch einige Minuten, dann ging er zum Schlafzimmer des Königs,<br />

klopfte an, und als drinnen alles ruhig blieb, öffnete er vorsichtig<br />

die Tür und blieb überrascht stehen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm war nur mit Hemd und Hose bekleidet und<br />

stand auf einer Waage, wo gewöhnlich Getreidesäcke gewogen<br />

wurden.<br />

444


Eversmann betrachtete den Zeiger <strong>der</strong> Waage und sagte seufzend:<br />

«Majestät, lei<strong>der</strong> muss ich Ihnen sagen, dass Sie während <strong>der</strong><br />

Jagd kein Gramm abgenommen haben, Sie wiegen so viel wie am<br />

Morgen.»<br />

Mon Dieu, dachte <strong>Friedrich</strong> erstaunt, stellt er sich vor und nach<br />

je<strong>der</strong> Jagd auf die Waage? Wenn er abnehmen will, müsste er weniger<br />

essen und trinken; und es gelang ihm nur mühsam, einen<br />

Lachanfall zu unterdrücken.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stieg von <strong>der</strong> Waage herunter und brummte<br />

unwirsch: «Himmelkreuzdonnerwetter, die Ärzte empfehlen mir<br />

Bewegung an <strong>der</strong> frischen Luft, sie behaupten, dies sei notwendig,<br />

wenn man abnehmen will, wahrscheinlich reden sie Unsinn.»<br />

<strong>Friedrich</strong> trat einen Schritt in das Zimmer und sagte halblaut:<br />

«Guten Abend, Papa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm fuhr herum, und als er den Sohn sah, stürzte<br />

er sich auf ihn, packte ihn am Kragen und schrie: «Was fällt dir<br />

ein, dich hier einfach blicken zu lassen? Habe ich dir erlaubt, mein<br />

Zimmer zu betreten?»<br />

«Nein, Papa, ich bitte um Verzeihung, Papa, ich wollte Sie bitten<br />

…»<br />

«Schweige», brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm», du hast mich um nichts<br />

zu bitten, du hast zu gehorchen!»<br />

Er stieß den Sohn von sich weg, <strong>Friedrich</strong> taumelte und lehnte<br />

sich erschöpft an die Wand.<br />

«Papa …»<br />

«Ich will dich hier nicht mehr sehen, hinaus mit dir, cito, cito!»<br />

<strong>Friedrich</strong> eilte in sein Zimmer und sank erschöpft auf das Bett.<br />

Nach einigen Minuten setzte er sich auf und sagte leise: «Warum<br />

hat er mich nicht angehört? Warum hat er mich hinausgeworfen?<br />

Gibt es denn keine Möglichkeit mehr, sich zu verständigen?<br />

Es muss doch möglich sein, eine Art Burgfrieden zu schließen,<br />

ich muss darüber nachdenken, etwas wird mir bestimmt einfallen.»<br />

Einige Tage später stand <strong>Friedrich</strong> am Fenster seines Zimmers und<br />

beobachtete deprimiert den Regen, <strong>der</strong> seit dem frühen Morgen an<br />

die Fensterscheiben schlug. Es ist fast Mitte September, dachte er,<br />

445


jetzt beginnt <strong>der</strong> Herbst, zwei Monate bleiben wir bestimmt noch<br />

hier. Seit dem Auftritt neulich hat Papa kein Wort mehr mit mir<br />

gesprochen, er ignoriert mich an <strong>der</strong> Tafel und in <strong>der</strong> Tabagie, das<br />

halte ich nicht länger aus, es gibt für mich im Augenblick nur einen<br />

Weg: Ich muss mich ihm äußerlich unterwerfen, es ist wohl am<br />

besten, wenn ich ihm einen Brief schreibe, einen unterwürfi gen<br />

Brief.<br />

Er lachte leise auf: «Ein unterwürfi ger Brief», sagte er leise, «worin<br />

ich meine Unschuld an <strong>der</strong> gegenwärtigen Situation darlege.»<br />

Er setzte sich an den Tisch, überlegte kurz, lachte spöttisch und<br />

begann zu schreiben:<br />

446<br />

Wusterhausen, Sonnabend, den 11. September 1728<br />

Mein lieber Papa,<br />

ich habe mich lange nicht unternehmen mögen, zu meinem lieben<br />

Papa zu kommen, teils weil es mir abgeraten, vornehmlich aber,<br />

weil ich mich noch einen schlechteren Empfang als den ordinären,<br />

sollte vermuten sein, und aus Furcht, meinen lieben Papa mehr mit<br />

meinem gegenwärtigen Bitten zu verdrießen, habe es lieber schriftlich<br />

tun wollen. Ich bitte also meinen lieben Papa, mir gnädig zu<br />

sein, und kann hierbei versichern, dass nach langem Nachdenken<br />

mein Gewissen mir nicht das Mindeste gezeihet hat, worin ich mir<br />

etwas zu reprochieren haben sollte, hätte ich aber wi<strong>der</strong> mein Wissen<br />

und Willen getan, das meinen lieben Papa verdrossen habe, so<br />

bitte ich hiermit untertänigst um Vergebung, und hoffe, dass mein<br />

lieber Papa den grausamen Hass, den ich aus allem Seinem Tun<br />

habe wahrnehmen können, werde fahren lassen; ich könnte mich<br />

sonsten gar nicht darein schicken, da ich sonsten immer gedacht<br />

habe, einen gnädigen Vater zu haben, und ich nun das Konträre<br />

sehen sollte. Ich fasse dann das beste Vertrauen, und hoffe, dass<br />

mein lieber Papa dieses alles nachdenken und mir wie<strong>der</strong> gnädig<br />

sein wird; indessen versichere ich Ihm, dass ich doch mein Tage<br />

nicht mit Willen fehlen werde.<br />

Er legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite und überlas zufrieden den Brief.<br />

«Papa muss mir jetzt entgegenkommen», sagte er leise, «er kann<br />

nicht an<strong>der</strong>s nach diesen demütigen Worten.»


Am frühen Abend des folgenden Tages las er die Antwort des Vaters.<br />

Der König an den Kronprinzen<br />

September 1728<br />

Sein eigensinniger böser Kopf, <strong>der</strong> nicht seinen Vater liebet; denn<br />

wenn man nun Alles tut, abson<strong>der</strong>lich seinen Vater liebet, so tut<br />

man, was er haben will, nicht wenn er dabei steht, son<strong>der</strong>n wenn<br />

er nicht Alles sieht. Zum An<strong>der</strong>n weiß er wohl, dass ich keinen<br />

effeminierten Kerl leiden kann, <strong>der</strong> keine menschlichen Inklinationen<br />

hat, <strong>der</strong> sich schämt, nicht reiten noch schießen kann, und<br />

dabei malpropre ist an seinem Leibe, seine Haare wie ein Narr sich<br />

frisieret und nicht verschneidet, und ich Alles dieses tausendmal<br />

reprimandieret, aber Alles umsonst und keine Besserung in nichts<br />

ist. Zum An<strong>der</strong>en hoffärtig, recht bauernstolz ist, mit keinem<br />

Menschen spricht, als mit welchen, und nicht populär und affable<br />

ist, und mit dem Gesicht Grimassen macht, als wenn er ein Narr<br />

wäre, und in nichts meinen Willen tut, als mit <strong>der</strong> Force angehalten;<br />

nichts aus Liebe, und er alles dazu nichts Lust hat, als seinem<br />

eigenen Kopf folgen, sonsten alles nichts nütze ist.<br />

Dieses ist die Antwort.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte auf die Zeilen und legte den Brief langsam auf den<br />

Tisch.<br />

«Das ist doch nicht möglich», sagte er leise, «Papa glaubt meinen<br />

Worten nicht, spürt er, dass meine Demut nicht aufrichtig<br />

war? Und nun? Ich halte es in diesem Schloss nicht länger aus,<br />

ich möchte ausreiten, den Spätsommer genießen … ob ich noch<br />

einmal versuche, mit ihm zu reden? Wenn er mich wie<strong>der</strong> hinauswirft,<br />

was dann? Ich werde einige Tage warten, bevor ich ihn aufsuche.»<br />

Drei Tage später stand <strong>Friedrich</strong> am Spätnachmittag am Fenster seines<br />

Zimmers und wartete auf die Rückkehr <strong>der</strong> Jagdgesellschaft.<br />

Es dämmerte schon, als sie in den Hof ritt.<br />

447


Papa wird jetzt auf die Waage klettern, dachte er, hoffentlich wiegt<br />

er heute weniger als am Morgen, er wird sich waschen und umkleiden,<br />

das dauert höchstens fünfzehn Minuten, bleiben noch fünfzehn<br />

Minuten bis zur Abendtafel, Zeit genug für ein Gespräch.<br />

Als er das Zimmer des Vaters betrat, spürte er, dass dieser gut<br />

gelaunt war, und atmete erleichtert auf.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete den Sohn mit ernsten Augen:<br />

«Was willst du?»<br />

«Papa, ich bitte um Vergebung, dass ich ohne Ihre Erlaubnis zu<br />

Ihnen komme.»<br />

«Keine langen Reden, was willst du?»<br />

<strong>Friedrich</strong> holte Luft: «Ich habe lange über Ihren Brief nachgedacht,<br />

Papa. Sie haben recht mit Ihren Vorwürfen.»<br />

Er schwieg und sah zu Boden.<br />

«Ich verspreche Ihnen, mich zu bessern, Papa, und ich bitte um<br />

Ihre Erlaubnis, an den Jagden teilnehmen zu dürfen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte den Sohn misstrauisch und ging im<br />

Zimmer auf und ab.<br />

Dann trat er zu <strong>Friedrich</strong> und sagte langsam: «Ich sehe, dass du<br />

während <strong>der</strong> vergangenen Tage nachgedacht hast. Du darfst an den<br />

Jagden teilnehmen, aber wehe dir, wenn ich erfahre, dass du dich in<br />

den Wäl<strong>der</strong>n verdrückt hast, um zu lesen o<strong>der</strong> Flöte zu spielen.»<br />

Am Nachmittag des folgenden Tages ging Sternemann unruhig in<br />

<strong>Friedrich</strong>s Zimmer auf und ab.<br />

Wo ist <strong>der</strong> Kronprinz, fragte er sich, heute war keine Jagd, weil<br />

<strong>der</strong> König eine Besprechung mit Grumbkow und Seckendorff hatte,<br />

die Unterredung ist längst zu Ende, wo bleibt <strong>der</strong> Prinz?<br />

In diesem Augenblick betrat <strong>Friedrich</strong> das Zimmer und sank erschöpft<br />

auf das Bett.<br />

«Mon Dieu, Sternemann, das ist noch einmal gutgegangen.»<br />

Der Diener trat zu <strong>Friedrich</strong>: «Königliche Hoheit, ich habe mir<br />

Sorgen gemacht, ich wusste, dass Sie bei Ihrer Majestät waren, was<br />

ist passiert?»<br />

<strong>Friedrich</strong> richtete sich auf: «Meine Mutter, Wilhelmine und ich<br />

dachten, dass die Konferenz meines Vaters bis zum Abend dauern<br />

würde; wir saßen gemütlich im Schlafzimmer, sprachen über die<br />

448


englische Heirat, plötzlich rief die Ramen: ‹Der König kommt!›<br />

Meine Schwester kroch unter das Bett, und ich fl üchtete in den<br />

Abort.<br />

Wenige Sekunden später polterte mein Vater herein, sank in den<br />

Ohrensessel und schlief sofort ein. Wir litten Höllenqualen, weil<br />

wir nicht wagten, uns zu bewegen.<br />

Der König schlief zwei Stunden, dann erwachte er, ging hinaus,<br />

und dann endlich konnten auch Wilhelmine und ich das Zimmer<br />

verlassen.»<br />

Der Diener atmete auf: «Königliche Hoheit, ich dachte, es wäre<br />

Ihnen etwas zugestoßen, es geht mich nichts an, Königliche Hoheit,<br />

aber Sie müssen vorsichtig sein.»<br />

«Ich weiß, Sternemann.»<br />

Er setzte sich an den Tisch und schrieb einen Brief an den Leutnant<br />

von Borcke:<br />

Lieber Borcke,<br />

kein Mensch liebt und schätzt Sie so wie ich. Schenken Sie mir die<br />

Hälfte <strong>der</strong> gegenseitigen Neigung, die die Freundschaft for<strong>der</strong>t.<br />

Morgen Parforcejagd, übermorgen, am Sonntag, Parforcejagd<br />

und Montag wie<strong>der</strong> Parforcejagd.<br />

Wir haben hier das dümmste Sammelsurium einer bunt zusammengewürfelten<br />

und schlecht ausgesuchten Gesellschaft, denn<br />

we<strong>der</strong> die Gemüter noch die Jahre, noch die Neigungen <strong>der</strong>er, die<br />

sich zusammensetzen, stimmen überein. Ich bin <strong>der</strong> Dinge, die ich<br />

sehe, so überdrüssig, dass ich sie aus meinem Gedächtnis auslöschen<br />

möchte, als wären sie nie darin gewesen. Immerhin kann<br />

ich Ihnen sagen, dass mein Vergnügen im Tabakskollegium darin<br />

besteht, Nüsse zu knacken – ein Vergnügen, <strong>der</strong> Stätte, an <strong>der</strong> wir<br />

uns befi nden, durchaus würdig.<br />

Der König ist immer noch schlechter Laune. Er schilt alle Welt<br />

aus, ist mit niemandem zufrieden, nicht mal mit sich selber. Wir<br />

haben hier täglich verfl uchte Auftritte, mir ist das so über, dass ich<br />

lieber betteln wollte, als noch länger in dieser Weise zu leben.<br />

<strong>Friedrich</strong> legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite und starrte vor sich hin.<br />

«Das ist doch kein normales Leben», sagte er leise, «was ist das<br />

für ein Familienleben? Meine Schwester und ich, wir besuchen<br />

449


heimlich unsere Mutter und müssen uns verstecken, wenn Papa<br />

überraschend auftaucht. Eines steht fest: Die Situation wird nicht<br />

besser werden, son<strong>der</strong>n schlimmer, zwischen Papa und mir wird es<br />

keinen Frieden und kein Arrangement geben, son<strong>der</strong>n höchstens<br />

kurze Waffenstillstände. Im Januar werde ich siebzehn, wer weiß,<br />

wann ich heirate und einen eigenen Haushalt bekomme, <strong>der</strong> Papas<br />

ständige Kontrolle beendet. Es gäbe eine Möglichkeit, diesem unwürdigen<br />

Leben zu entrinnen: die Flucht.<br />

Wohin könnte ich fl iehen? Nach Frankreich? Wie soll ich dort<br />

meinen Unterhalt bestreiten? Nach England? Ja, das wäre eine<br />

Möglichkeit, ich könnte dort bei meinen Verwandten leben und auf<br />

Papas Tod warten. Wie kann ich fl iehen? Ich benötige zuverlässige<br />

Helfer, und die habe ich im Augenblick nicht. Meine Offi zierskameraden<br />

schätzen mich, ich bin bei ihnen beliebt, aber eine Flucht<br />

würden sie bestimmt nicht unterstützen. Ein Freund, ein wirklicher<br />

Freund würde mir vielleicht helfen, aber ich habe keinen Freund.<br />

Im Augenblick gibt es nur eine Möglichkeit: Ich müsste versuchen,<br />

Papa davon zu überzeugen, dass ich, trotz unserer Meinungsverschiedenheiten,<br />

ein Sohn bin, <strong>der</strong> ihn liebt; vielleicht wird er dann<br />

gnädiger und hört auf, mich zu beschimpfen und zu schlagen.»<br />

Er stand auf und ging nachdenklich auf und ab.<br />

Mitte Oktober, überlegte er, kommt Suhm für ein paar Tage nach<br />

Wusterhausen, Papa will ihm zu Ehren die Hubertusjagd bereits<br />

im Oktober veranstalten. Bei dieser Gelegenheit werde ich nicht<br />

unten an <strong>der</strong> Tafel sitzen, son<strong>der</strong>n meinem Vater gegenüber, so<br />

schreibt es die Etikette vor, und die Jagdetikette ist für Papa heilig.<br />

Ich werde ihm also gegenübersitzen und ihm eine kleine Komödie<br />

vorspielen, ich werde ihm sagen, dass ich ihn liebe, vielleicht glaubt<br />

er die Komödie …<br />

<strong>Friedrich</strong> lachte leise auf und sagte: «Papa und sein schlichtes<br />

bäuerliches Gemüt werden sich von dieser Komödie täuschen lassen.»<br />

450


Am Abend des 20. Oktober saß <strong>Friedrich</strong> Wilhelm gutgelaunt an<br />

<strong>der</strong> Abendtafel unter den Bäumen, betrachtete die Tischgesellschaft,<br />

und einige Sekunden lang ruhten seine Augen zufrieden<br />

auf <strong>Friedrich</strong>.<br />

Der Bengel hat sich heute nicht verdrückt, dachte er, son<strong>der</strong>n ist<br />

mitgeritten, vielleicht wird er allmählich doch noch vernünftig.<br />

Während die Lakaien Platten mit Rehrücken und Hirschbraten<br />

auftrugen, lächelte er den sächsischen Gesandten an: «Dieser<br />

Herbsttag heute war so mild und sonnig, es war fast ein Spätsommertag,<br />

ich hoffe, dass Sie mit <strong>der</strong> Jagd zufrieden sind.»<br />

«Ich bin sehr zufrieden, Majestät, ich habe mehr Wild erlegt, als<br />

ich erwartete.»<br />

<strong>Friedrich</strong> aß langsam ein Stück Rehrücken, trank hin und wie<strong>der</strong><br />

einen Schluck Wein und spürte, dass er allmählich nervös wurde.<br />

Mon Dieu, dachte er, ich wusste nicht, dass es mir so schwerfallen<br />

würde, Papa zu sagen, dass ich ihn liebe, wie fange ich es nur<br />

an?<br />

Er trank erneut einen Schluck Wein, und als <strong>der</strong> Lakai nachschenkte,<br />

dachte er plötzlich: Ich muss mir Mut antrinken, dann<br />

fällt es mir leichter.<br />

Er leerte das Glas in einem Zug, winkte dem Lakaien, leerte ein<br />

zweites Glas, ließ sich erneut einschenken und atmete tief durch.<br />

Sophie Dorothea, die ihrem Sohn gegenübersaß, beobachtete,<br />

wie er trank, und spürte, dass sie nervös wurde.<br />

Mon Dieu, dachte sie besorgt, will er sich betrinken? Warum?<br />

Ein betrunkener Kronprinz, wie peinlich, was sollen die ausländischen<br />

Gesandten denken!<br />

In diesem Augenblick sagte <strong>Friedrich</strong> zu Suhm: «Ich trinke<br />

zu viel, ich trinke nur wi<strong>der</strong>willig, und morgen werde ich wahrscheinlich<br />

krank sein, aber ich habe Grund zu trinken. Mein Leben<br />

als Kronprinz ist eine einzige Hölle. Jede Minute meines Tageslaufes<br />

ist geregelt, alles, was ich liebe, ist verboten: Bücher, Musik,<br />

kostbare Klei<strong>der</strong>, alles verbietet mir mein Vater, aber ich liebe ihn<br />

trotzdem.»<br />

Suhm sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an.<br />

Er liebt seinen Vater, dachte er irritiert, wie soll ich das verstehen?<br />

451


<strong>Friedrich</strong> trank sein Glas in einem Zug leer, winkte den Lakaien<br />

herbei, und während dieser nachschenkte, sagte <strong>Friedrich</strong> laut zu<br />

Suhm: «Mein Vater verbietet mir nicht nur, meinen Interessen<br />

nachzugehen, er zwingt mich zu Dingen, die ich hasse und verabscheue.»<br />

In diesem Augenblick bemerkte <strong>der</strong> Gesandte, dass die Königin<br />

ihm leicht zuwinkte und verzweifelt zu ihrem Sohn sah.<br />

Er nickte ihr zu und sagte leise zu <strong>Friedrich</strong>: «Königliche Hoheit,<br />

ich bitte Sie, schweigen Sie, Seine Majestät könnte Sie hören.»<br />

<strong>Friedrich</strong> trank einen weiteren Schluck Wein, und plötzlich<br />

spürte er, dass ein Gefühl von Euphorie und Stärke in ihm hochstieg,<br />

und er sprach noch etwas lauter: «Mein Vater zwingt mich,<br />

an <strong>der</strong> Tabagie teilzunehmen, eine dümmere Männerrunde gibt<br />

es wahrscheinlich in ganz Europa nicht, den ganzen Abend über<br />

wird geraucht, getrunken und dummes Zeug geredet, mein Vater<br />

zwingt mich, an den wi<strong>der</strong>lichen Parforcejagden teilzunehmen, er<br />

zwingt mich, am Sonntag die heuchlerischen Predigten <strong>der</strong> Pastoren<br />

anzuhören, er zwingt mich, den ganzen Tag die Uniform zu<br />

tragen, auch in meiner Freizeit, das ist das Leben eines künftigen<br />

Königs. Aber ich liebe meinen Vater trotzdem.»<br />

Er winkte erneut dem Lakaien, und während das Glas gefüllt<br />

wurde, fl üsterte Suhm: «Königliche Hoheit, bitte, wenn Seine Majestät<br />

dies hört.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte den Gesandten an und rief: «Das ist immer noch<br />

nicht alles: Er verbietet mir die Kavaliersreise, die einem künftigen<br />

König zusteht, er hin<strong>der</strong>t mich daran, dass ich meinen geistigen<br />

Horizont erweitere, aber ich werde ihm schon zeigen, aus welchem<br />

Holz ich geschnitzt bin!»<br />

Plötzlich spürte er ein Gefühl <strong>der</strong> Überlegenheit und presste<br />

seine Hand so stark auf den Arm des Gesandten, dass dieser vor<br />

Schmerz zusammenzuckte.<br />

«Ich werde ihm zeigen, wer ich bin, aber ich liebe ihn trotz<br />

allem.»<br />

In diesem Augenblick spürte Sophie Dorothea, dass sie diese<br />

Szene nicht länger ertrug. Sie stand auf und entfernte sich diskret.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah ihr erstaunt nach und betrachtete dann<br />

<strong>Friedrich</strong>.<br />

452


Täusche ich mich, o<strong>der</strong> hat <strong>der</strong> Bengel die ganze Zeit über geredet?<br />

Er wandte sich zu Suhm: «Was hat mein Sohn gesagt?»<br />

«Majestät», stammelte <strong>der</strong> Gesandte, «Seine Königliche Hoheit<br />

hat zu viel getrunken.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm begann, laut zu lachen: «Wie bitte? Der Französling<br />

hat zu viel getrunken? Er stellt sich nur so, aber was sagt<br />

er denn?»<br />

Mein Gott, was soll ich antworten, fragte sich Suhm verzweifelt.<br />

«Majestät, Seine Königliche Hoheit hat mich in den Arm gekniffen<br />

und gesagt, obgleich Sie ihn zwingen, zu viel zu trinken, habe<br />

er Sie doch lieb.»<br />

«Sie fallen auf seine Tricks herein, ich sage Ihnen, er stellt sich<br />

nur betrunken.»<br />

In diesem Augenblick erwachte <strong>Friedrich</strong> aus seiner Euphorie.<br />

Seine Augen wan<strong>der</strong>ten sekundenlang zwischen Suhm und dem<br />

König hin und her und er dachte: Ich muss aufhören zu trinken<br />

und die Komödie zu Ende spielen.<br />

«Königliche Hoheit», sagte Suhm leise, «es wäre besser, wenn<br />

Sie sich jetzt zur Ruhe begeben.»<br />

Doch <strong>Friedrich</strong> sprang auf und rief: «Bevor ich mich zurückziehe,<br />

möchte ich meinem Vater die Hand küssen», und zu <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm, «ich liebe Sie, Papa.»<br />

Der König sah seinen Sohn erstaunt an, dann lachte er und<br />

streckte ihm die rechte Hand über den Tisch.<br />

<strong>Friedrich</strong> küsste die Hand und sagte: «Ich möchte auch Ihre an<strong>der</strong>e<br />

Hand küssen, Papa.»<br />

Er küsste abwechselnd die Hände des Vaters und rief: «Ich liebe<br />

Sie von ganzem Herzen, Papa!»<br />

Die Anwesenden erhoben sich und riefen: «Es lebe <strong>der</strong> Kronprinz!»<br />

<strong>Friedrich</strong> ging dann um den Tisch herum zu seinem Vater, umarmte<br />

ihn, kniete nie<strong>der</strong> und sagte: «Ich liebe Sie von ganzem Herzen,<br />

Papa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete den Sohn und spürte, dass die<br />

Tränen in ihm aufstiegen. Er unterdrückte sie mühsam, strich<br />

<strong>Friedrich</strong> über den Kopf und sagte sanft: «Nun, das ist schon gut,<br />

werde du nur ein ehrlicher Kerl, Fritz.»<br />

453


Die Anwesenden erhoben sich und riefen: «Es lebe <strong>der</strong> Kronprinz!»<br />

<strong>Friedrich</strong> stand auf und sah seinen Vater ernst an: «Papa, erlauben<br />

Sie, dass ich mich jetzt zurückziehe.»<br />

«Ja, ruhe dich aus, Fritz, <strong>der</strong> Tag war bestimmt anstrengend für<br />

dich.»<br />

<strong>Friedrich</strong> küsste erneut die Hände des Vaters und eilte hinweg.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah ihm nach und dachte: Vielleicht wird<br />

doch noch alles gut, und in diesem Augenblick fühlte er sich zum<br />

ersten Mal in jenem Herbst in dem Jagdschloss glücklich.<br />

Grumbkow neigte sich zu Seckendorff und sagte leise: «Der<br />

Prinz hat dem König soeben eine perfekte Komödie vorgespielt. Ich<br />

bin gespannt, wie es weitergeht.»<br />

Als sie sich wenig später zum Tabakskollegium begaben, zog<br />

Grumbkow Seckendorff zur Seite und sagte leise: «Wir müssen<br />

aufpassen, ich erhielt heute einen Bericht von Reichenbach: England<br />

ist wie<strong>der</strong> an Heiratsverhandlungen interessiert. In London<br />

weiß man inzwischen, dass <strong>der</strong> Prinz Eugen Preußen noch fester<br />

an sich binden will, das versucht England zu verhin<strong>der</strong>n und winkt<br />

mit Heiratsverhandlungen. Wenn das Verhältnis zwischen dem<br />

Prinzen und Jupiter sich tatsächlich entspannt, ist Jupiter womöglich<br />

mit einer Doppelheirat einverstanden.»<br />

«Gütiger Himmel, das muss unterbunden werden.»<br />

«Selbstverständlich, ich werde das schon regeln.»<br />

Im Tabakskollegium trank <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sein erstes Glas Bier<br />

genüsslich in einem Zug, dann entzündete er behaglich seine erste<br />

Pfeife, sah sich zufrieden um, und immer wie<strong>der</strong> hörte er <strong>Friedrich</strong>s<br />

Stimme: «Ich liebe Sie von ganzem Herzen, Papa.»<br />

Er schenkte sich ein weiteres Glas ein und rief gutgelaunt:<br />

«Meine Herren, was sagen Sie zu meinem Sohn? Gewiss, er hat<br />

heute etwas zu viel getrunken, aber das stört mich nicht. Wenn<br />

er Geschmack an Wein und Bier entwickelt, so beweist dies, dass<br />

er anfängt, ein richtiger Mann zu werden. Ich hoffe inständig,<br />

dass er nun anfängt, das weibische französische Getue abzulegen.<br />

Dieser Abend ist seit langem ein erfreulicher Abend für mich; <strong>der</strong><br />

Kronprinz fängt endlich an, sich so zu entwickeln, wie ich es mir<br />

454


wünsche. Meine Herren, wir trinken jetzt auf den künftigen preußischen<br />

König!»<br />

«Auf den künftigen preußischen König!», riefen die Offi ziere.<br />

Grumbkow hob sein Glas und lächelte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm an:<br />

«Auf die aufgehende Sonne, Majestät, ich hoffe, dass die Wünsche<br />

Eurer Majestät sich erfüllen werden, aber ich erachte es für meine<br />

Pfl icht, Ihnen zu sagen, dass ich meine Bedenken habe.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Minister irritiert an: «Wie meinen<br />

Sie das?»<br />

Grumbkow zögerte und erwi<strong>der</strong>te langsam: «Ich möchte Eurer<br />

Majestät nicht den Abend ver<strong>der</strong>ben, aber ich halte es für meine<br />

Pfl icht, Eure Majestät vor einer Enttäuschung zu bewahren.<br />

Seine Königliche Hoheit hat Ihnen eine Komödie vorgespielt, er<br />

hat sich verstellt. Erinnern Sie sich, Majestät, Seine Königliche<br />

Hoheit versuchte in <strong>der</strong> Vergangenheit stets, während einer Jagd<br />

zu verschwinden. Wenn Sie nicht in Potsdam weilen, frönt er<br />

bestimmt seinen Liebhabereien; es ist unwahrscheinlich, dass<br />

Seine Königliche Hoheit künftig auf Bücher und Musik verzichten<br />

wird. Er wollte Sie vorhin umgarnen und in Sicherheit wiegen,<br />

ich glaube nicht, dass Seine Königliche Hoheit sich än<strong>der</strong>n<br />

wird.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah Grumbkow unsicher an, dann musterte<br />

er Seckendorff: «Was ist Ihre Meinung?»<br />

«Mit Verlaub, Majestät, ich glaube nicht, dass <strong>der</strong> Charakter und<br />

die Interessen Seiner Königlichen Hoheit sich während <strong>der</strong> vergangenen<br />

Wochen geän<strong>der</strong>t haben. Seine Königliche Hoheit hat Ihnen<br />

eine Komödie vorgespielt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah die beiden Männer bestürzt an, dann<br />

trank er einen Schluck Bier und sagte leise: «Eine Komödie? Mein<br />

Sohn ein Komödiant? Er ist ein halber Welfe, sein Onkel in England<br />

ist auch ein Komödiant, nun, ich werde abwarten und den<br />

Bengel beobachten.»<br />

Am 6. November regnete es seit dem frühen Morgen, und als <strong>der</strong><br />

Regen nicht aufhörte, kehrte die Jagdgesellschaft früher als gewöhnlich<br />

zum Schloss zurück.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm begab sich in den Salon seiner Gattin, mus-<br />

455


terte die anwesenden Damen und sagte: «Ich möchte mit meiner<br />

Frau unter vier Augen sprechen.»<br />

Sophie Dorothea beobachtete, wie die Damen das Zimmer verließen,<br />

und spürte, dass sie nervös wurde.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm setzte sich auf einen Stuhl, betrachtete die<br />

Königin einen Augenblick und sagte: «Liebe Frau, ich habe Nachrichten,<br />

die Sie erfreuen werden. Heute erhielt ich einen Brief von<br />

Reichenbach, er schreibt, dass <strong>der</strong> englische Hof daran interessiert<br />

ist, erneut über eine Heirat Wilhelmines zu verhandeln. Es ist nun<br />

an <strong>der</strong> Zeit, die Glocke für unsere Wilhelmine zu gießen und endlich<br />

zu wissen, was die Englän<strong>der</strong> im Schilde führen, ich will mich<br />

von ihnen nicht länger nasführen lassen.<br />

Wenn wir morgen in Berlin eintreffen, schreiben Sie sofort, dass<br />

man Ihnen positiv mitteilen solle, woran ich mich in <strong>der</strong> Sache zu<br />

halten habe, weil ich sonst an<strong>der</strong>e Maßnahmen ergreife.»<br />

Sophie Dorothea glaubte, nicht richtig zu hören: «Mon Dieu, wir<br />

verlassen Wusterhausen, und ich soll an meine Schwägerin schreiben.<br />

In London ist man also immer noch an einer Vermählung unserer<br />

Kin<strong>der</strong> interessiert.»<br />

«Liebe Frau, ich muss Ihnen gestehen, dass dieses erneute Interesse<br />

unserer englischen Verwandten mir schmeichelt. Als Vater<br />

wünsche ich natürlich, dass meine Tochter eines Tages Königin<br />

von England wird. Markgräfi n von Schwedt o<strong>der</strong> Fürstin von Weißenfels,<br />

das wäre ein Abstieg.»<br />

Er betrachtete die Gattin einen Augenblick und fuhr fort: «Ich<br />

bin nach wie vor gegen eine Doppelheirat, ich möchte keine verwöhnte<br />

englische Prinzessin an unserem sparsamen Hof, schreiben<br />

Sie auch dies an Ihre Schwägerin.»<br />

«Selbstverständlich, ich schreibe an Caroline alles, was Sie wünschen.»<br />

Im Stillen dachte sie: Ich werde <strong>Friedrich</strong>s Vermählung nicht erwähnen,<br />

wichtig ist zunächst, dass Wilhelmine endlich den Prinzen<br />

von Wales ehelicht.<br />

«Ich bin erstaunt, dass England wie<strong>der</strong> an einer Heirat interessiert<br />

ist – warum?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm überlegte: «Ich kenne mich in <strong>der</strong> Außenpolitik<br />

nicht beson<strong>der</strong>s aus, aber Graf Seckendorff versucht seit einigen<br />

456


Wochen, mich zu einem noch engeren Bündnis an den Kaiser zu<br />

überreden. Er sagt, dass Wien bereit ist, mir die Herrschaft über<br />

Jülich und Berg zu garantieren. Wahrscheinlich befürchtet man in<br />

London, dass ich mich zu sehr an den Kaiser binde; aus diesem<br />

Grund erwägt man in London eine Vermählung meiner Tochter<br />

mit dem Prinzen von Wales, dies bedeutet, dass ich zum Verbündeten<br />

Englands gegen den Kaiser würde.»<br />

«Die diplomatischen Entwicklungen muss man abwarten», erwi<strong>der</strong>te<br />

Sophie Dorothea, «aber was ist mit <strong>der</strong> Doppelheirat? Mein<br />

Bru<strong>der</strong> und meine Schwägerin werden sie for<strong>der</strong>n.»<br />

«Ich bin nach wie vor gegen eine Doppelheirat, und ich habe mir<br />

während <strong>der</strong> letzten Wochen in Wusterhausen überlegt, wie ich<br />

den Fritz umformen kann.»<br />

Nein, dachte Sophie Dorothea entsetzt, nein, das darf nicht<br />

sein.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging einen Augenblick im Zimmer umher<br />

und fuhr fort: «Ich werde die Gouverneure im Frühjahr entlassen.<br />

Fritz wird siebzehn Jahre, das ist ein Alter, in dem Erzieher überfl<br />

üssig sind. Ich werde ihm drei Offi ziere als Gesellschafter geben,<br />

und ich hoffe, dass sie einen guten Einfl uss auf ihn haben werden.<br />

Ich habe mich für den Oberstleutnant von Rochow entschieden,<br />

er ist ein ernster, ruhiger Mann und soll den Fritz ein bisschen<br />

erziehen, er ist also halb Erzieher, halb Gesellschafter, die beiden<br />

jüngeren Offi ziere sind nur Gesellschafter: Leutnant von Keiserlingk<br />

und Leutnant von Keith.»<br />

Sophie Dorothea sah den Gatten erstaunt an: «Keiserlingk? Der<br />

kurländische Edelmann, <strong>der</strong> musiziert, komponiert und Gedichte<br />

schreibt? Sie wollen <strong>Friedrich</strong> einen Mann als Gesellschafter geben,<br />

<strong>der</strong> die Interessen und Vorlieben meines Sohnes teilt? Interessen,<br />

die Sie verabscheuen?»<br />

«Ich weiß, liebe Frau, nun, ich möchte meinem Sohn eine Freude<br />

bereiten, überdies hoffe ich, dass Rochow und Keith den Einfl uss<br />

von Keiserlingk ausgleichen.»<br />

Er schwieg einen Moment, trat zu <strong>der</strong> Gattin und sah sie ernst<br />

an: «Liebe Frau, dies ist mein letzter Versuch, den Fritz zu einem<br />

König zu formen, <strong>der</strong> nur an das Wohl des Volkes denkt und <strong>der</strong><br />

seine privaten Interessen dem Staat unterordnet, wenn dies nicht<br />

457


gelingt, dann … ich weiß nicht, wie es dann weitergehen wird.»<br />

Während dieser Unterredung stand <strong>Friedrich</strong> in seinem Zimmer am<br />

Fenster und beobachtete, wie <strong>der</strong> Regen an die Scheiben schlug.<br />

Wir werden bald abreisen, dachte er, Gott sei Dank, dann ist<br />

wie<strong>der</strong> ein Herbst in Wusterhausen überstanden, aber in einigen<br />

Monaten werden wir erneut hier weilen, das halte ich nicht länger<br />

aus; ich habe versucht, mich mit Papa zu arrangieren, aber mein<br />

Brief hat ihn nur noch mehr erzürnt und meine Komödie an <strong>der</strong><br />

Tafel hat ihn<br />

nicht überzeugt. Zwischen Papa und mir wird es nie zu einer<br />

Verständigung kommen. Die Situation wäre erträglich, wenn ich<br />

wüsste, dass ich in absehbarer Zeit heirate, aber die englische Heirat<br />

liegt im Augenblick in weiter Ferne. Ich halte diesen Zustand<br />

nicht länger aus, mein heimliches Leben mit Büchern, Papas Schläge,<br />

es kann nicht so weitergehen, es gibt nur eine Möglichkeit, diesem<br />

Leben zu entrinnen: Flucht.<br />

Er öffnete das Fenster und sah hinaus in den Regen.<br />

«Ich muss fl iehen», sagte er leise, «ich werde fl iehen, aber wohin?<br />

Nach Frankreich? Nach England? Egal, wenn sich eine Gelegenheit<br />

ergibt, werde ich fl iehen.»<br />

458


9<br />

Am Spätnachmittag des 24. Januar 1729 eilte <strong>Friedrich</strong> im Berliner<br />

Stadtschloss durch abgelegene Gänge zu Wilhelmines Appartement.<br />

Vor <strong>der</strong> Tür blieb er einen Augenblick stehen, holte Luft und<br />

sah sich vorsichtig um. Mon Dieu, dachte er, das ist gutgegangen,<br />

niemand hat mich gesehen.<br />

Er betrat den Vorraum und sah erstaunt, dass Fräulein von<br />

Sonsfeld unruhig auf und ab ging.<br />

«Madame –», sie drehte sich um und atmete erleichtert auf: «Königliche<br />

Hoheit, Gott sei Dank, dass Sie noch einmal kommen,<br />

ich befürchtete, dass Sie keine Zeit haben, weil Sie morgen nach<br />

Potsdam abreisen. Ich bin völlig hilfl os: Ihre Königliche Hoheit<br />

weint seit Stunden, weil sie einen neuen, einen dritten Rückfall<br />

hat, die Blattern sind erneut ausgebrochen. Ihre Königliche Hoheit<br />

befürchtet, dass, wenn sie die Krankheit überlebt, ihr Gesicht völlig<br />

von Narben entstellt sein wird.<br />

Ich redete ihr gut zu, sagte ihr, dass ich ebenfalls in meiner Jugend<br />

diese Krankheit überlebte und keine Narben zurückbehielt,<br />

aber sie weint immerzu.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah bekümmert vor sich hin: «Meine arme Schwester,<br />

ihr bleibt nichts erspart, ich verstehe nicht, dass mein Vater<br />

sie völlig isoliert. Gewiss, die Pocken sind ansteckend, aber es gibt<br />

genug Damen am Hof, die diese Krankheit überlebt haben und vor<br />

Ansteckung sicher sind. Madame, bitte passen Sie auf, dass mich<br />

niemand hier entdeckt.»<br />

Er ging in das Schlafzimmer, setzte sich neben das Bett und<br />

nahm Wilhelmines Hand. Sie zuckte zusammen, öffnete die Augen<br />

und versuchte, ihn anzulächeln.<br />

«Fritz, danke, dass du gekommen bist, ich weiß nicht, wie ich dir<br />

danken soll. Du hast Papas Verbot übertreten und mich während<br />

<strong>der</strong> vergangenen Wochen immer besucht, ohne deine Besuche wäre<br />

ich vor Einsamkeit verzweifelt.»<br />

«Wilhelmine, ich kann mich nicht anstecken, weil ich als Kind<br />

459


die Pocken hatte, es war für mich selbstverständlich, dass ich dich<br />

jeden Tag besuchte, und was dein Gesicht betrifft, sei unbesorgt: Ist<br />

mein Gesicht durch Narben verunstaltet?»<br />

Sie richtete sich auf und betrachtete prüfend das ovale, blasse<br />

Antlitz des Bru<strong>der</strong>s.<br />

«Deine Haut ist makellos, das ist wichtig für einen künftigen<br />

König. Was mich betrifft, mon Dieu, ob ich hässlich aussehe o<strong>der</strong><br />

nicht, ist wahrscheinlich unwichtig, ich habe im Augenblick wenig<br />

Hoffnung, dass ich jemals den Prinzen von Wales heiraten werde.<br />

Von Mama erhielt ich heute früh einen kurzen Brief: In London<br />

besteht man auf einer Doppelheirat, es ist zum Verzweifeln. Zuerst<br />

schrieb Tante Caroline, dass sie mit meiner Vermählung einverstanden<br />

ist, und jetzt redet sie wie<strong>der</strong> von Doppelheirat, und du<br />

weißt, dass Papa niemals in eine Doppelheirat einwilligen wird.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte: Soll ich Wilhelmine in meine Pläne einweihen?<br />

Nach einer Weile sagte er: «Die Briefe unserer Tante spiegeln<br />

wahrscheinlich nur die augenblickliche politische Situation. England<br />

pokert, was die Heirat betrifft; in London weiß man wahrscheinlich,<br />

dass seit Ilgens Tod im letzten Dezember die Bündnisverhandlungen<br />

mit Wien stagnieren; folglich kann man bei deiner<br />

Verheiratung For<strong>der</strong>ungen stellen, nämlich die Doppelheirat. Wenn<br />

Papa sich noch enger an Wien bindet, wird man in London von<br />

dieser For<strong>der</strong>ung wie<strong>der</strong> Abstand nehmen, England ist an einem<br />

Bündnis mit uns interessiert, wegen unseres Heeres.»<br />

«Ich hoffe, dass du recht hast, aber wir reden immer von mir, ich<br />

habe dir noch nicht zum Geburtstag gratuliert. Ich wünsche dir<br />

alles Glück <strong>der</strong> Erde für das neue Lebensjahr.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Danke, mein Geburtstag ist unwichtig,<br />

ich bin ein Jahr älter geworden, mehr nicht, ich bin dem<br />

Tod ein Stück näher gerückt.»<br />

«Fritz, du bist jetzt siebzehn Jahre und redest vom Tod, das Leben<br />

liegt noch vor dir.»<br />

«Das Leben, was für ein Leben? Ein Leben nach <strong>der</strong> Uhr, unterbrochen<br />

von Papas Schlägen und Demütigungen, er hat mich<br />

übrigens heute zum Oberst ernannt, das war sein Geburtstagsgeschenk.»<br />

460


«Oberst? Du bist jetzt wirklich Oberst? Oberst <strong>Friedrich</strong> von<br />

Hohenzollern, du hast jetzt den gleichen militärischen Rang wie<br />

Papa, ich bin so stolz auf dich.»<br />

<strong>Friedrich</strong> stand auf und ging unruhig hin und her.<br />

«Wilhelmine, die Beför<strong>der</strong>ung än<strong>der</strong>t nichts an dem zerrütteten<br />

Verhältnis zwischen Papa und mir. Diese Beför<strong>der</strong>ung ist eine<br />

wi<strong>der</strong>willige Anerkennung meiner Leistungen als Offi zier: Meine<br />

Soldaten exerzieren vorbildlich, die mir unterstellten Offi ziere leben<br />

nach dem preußischen Ehrenkodex, sie saufen und huren nicht<br />

und machen keine Schulden.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und setzte sich wie<strong>der</strong> neben das<br />

Bett.<br />

«Wilhelmine, dir sage ich, was ich noch zu keinem Menschen gesagt<br />

habe: Ich bin gerne Offi zier, und ich lege Wert darauf, dass bei<br />

meinen Soldaten Zucht und Ordnung herrschen, aber mein Stolz verbietet<br />

mir, dies Papa zu sagen. Ich gönne ihm diesen Triumph nicht.»<br />

«Warum? Wenn er wüsste, dass du gerne Offi zier bist, würde<br />

sich euer Verhältnis wahrscheinlich bessern.»<br />

«Nein, zwischen uns liegen Welten.»<br />

Er schwieg, dann sagte er langsam: «Wilhelmine, mache dir keine<br />

Sorgen wegen <strong>der</strong> englischen Heirat, wenn ich in London bin,<br />

werde ich die Sache vorantreiben.»<br />

Sie sah ihn erstaunt an: «Das verstehe ich nicht.»<br />

Er zögerte einen Augenblick, atmete tief durch und antwortete:<br />

«Wilhelmine, du bist <strong>der</strong> erste Mensch, dem ich meine Pläne anvertraue:<br />

Ich bin entschlossen, bei passen<strong>der</strong> Gelegenheit aus Preußen<br />

zu fl iehen und mich über Frankreich nach England zu begeben,<br />

ich werde mich unserem Onkel gegenüber feierlich verpfl ichten,<br />

meine Cousine Amalie zu heiraten, und dann dürfte deiner Heirat<br />

nichts mehr im Wege stehen.»<br />

Wilhelmine glaubte, nicht richtig zu hören.<br />

Sie setzte sich langsam auf und starrte den Bru<strong>der</strong> einige Sekunden<br />

an.<br />

«Fritz, meinst du es ernst, du willst fl iehen?»<br />

«Ja, bei passen<strong>der</strong> Gelegenheit.»<br />

Sie sank zurück in die Kissen und betrachtete nachdenklich den<br />

dunkelblauen Betthimmel.<br />

461


Nach einer Weile setzte sie sich auf und umklammerte die Hände<br />

des Bru<strong>der</strong>s.<br />

«Fritz, ich verstehe, dass du fl iehen willst, aber bitte, tue es nicht,<br />

bleibe in Preußen. Du bist Offi zier, und wenn du fl iehst, bist du in<br />

Papas Augen ein Deserteur, und du weißt, dass auf Desertion die<br />

Todesstrafe steht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lachte spöttisch auf: «In England bin ich in Sicherheit,<br />

unsere Verwandten werden mich bestimmt nicht ausliefern, und<br />

wenn er mich in Abwesenheit zum Tode verurteilt, nun, das ist<br />

sein Problem, im Übrigen glaube ich nicht, dass er den Thronfolger<br />

und eigenen Sohn zum Tod verurteilen wird, das würde eine Welle<br />

<strong>der</strong> Empörung in Europa auslösen und vielleicht zur völligen außenpolitischen<br />

Isolierung Preußens führen.»<br />

«Fritz, denke an das Schicksal des Zarewitsch: Der Zar hat seinen<br />

Sohn nach Russland gelockt und dann vor Gericht gestellt.»<br />

«Liebe Schwester, erstens ist Preußen nicht Russland, zweitens<br />

war <strong>der</strong> Zarewitsch in eine Verschwörung gegen seinen Vater<br />

verwickelt, das war eine völlig an<strong>der</strong>e Situation. Ich bin in keine<br />

Verschwörung gegen Papa verwickelt, ich möchte nur als freier<br />

Mensch leben, in Ruhe Papas Tod abwarten und dann als König<br />

nach Preußen zurückkehren.»<br />

«Ich verstehe dich, aber was wird aus Mama und mir nach deiner<br />

Flucht? Papa verdächtigt uns bestimmt <strong>der</strong> Hilfe, er wird uns<br />

in irgendein Schloss verbannen, vielleicht lässt er sich von Mama<br />

scheiden; ich habe nie zu dir darüber gesprochen, um deinen Hass<br />

auf Papa nicht noch mehr zu steigern, aber wenn unsere Eltern sich<br />

stritten, hat er schon öfter zu Mama gesagt, er werde sich scheiden<br />

lassen, jedenfalls hat sie es mir so erzählt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte: «Wilhelmine, ich glaube, du liest zu viele Romane.<br />

Papa liebt Mama, er würde sich nie scheiden lassen. Glaube<br />

mir, wenn sein erster Zorn verraucht ist, lebt ihr weiter am Hof<br />

wie bisher.»<br />

Es entstand eine Pause, und als Wilhelmine die großen, blauen<br />

Augen des Bru<strong>der</strong>s betrachtete, zuckte sie unmerklich zusammen<br />

und lehnte sich an die Kissen.<br />

Wie kalt seine Augen blicken, dachte sie, wie eisig und gleichzeitig<br />

zynisch, ist das mein kleiner Bru<strong>der</strong>, den ich über alles liebe? Es<br />

462


ist im Augenblick unmöglich, ihn von diesem verrückten Fluchtplan<br />

abzubringen, ich kann ihm nur Ratschläge geben und hoffen,<br />

dass er sie beherzigt.<br />

«Fritz, eine Flucht muss bis ins kleinste Detail durchdacht und<br />

vorbereitet werden, vor allem benötigst du verschwiegene Helfer.<br />

Gibt es unter den Offi zieren welche, denen du vertrauen kannst?<br />

Bedenke, dass auch Hilfe bei einer Desertion als Desertion gilt. Gibt<br />

es Offi ziere, die ein solches Wagnis auf sich nehmen würden?»<br />

Nach einer Weile antwortete <strong>Friedrich</strong> zögernd: «Im Augenblick<br />

wüsste ich keinen Offi zier, <strong>der</strong> als Fluchthelfer taugen würde, aber<br />

was nicht ist, kann noch werden. In einigen Wochen werden mir<br />

drei Offi ziere als Gesellschafter zugeteilt, ich weiß noch nicht, wer<br />

es ist, aber vielleicht ist einer von ihnen bereit, mir bei <strong>der</strong> Flucht<br />

zu helfen.»<br />

«Angenommen, es wäre so, wie willst du aus Berlin o<strong>der</strong> Potsdam<br />

fl iehen? Das ist fast unmöglich, überall stehen Wachen, und<br />

bisher wurde fast je<strong>der</strong> Deserteur verhaftet.»<br />

«Ich werde nicht aus Berlin o<strong>der</strong> Potsdam fl iehen, das ist natürlich<br />

zu gefährlich, aber irgendwann werde ich Papa wie<strong>der</strong> auf einer<br />

Reise begleiten, und wenn er nach Süden o<strong>der</strong> Westen reist,<br />

ergibt sich bestimmt eine Gelegenheit. Ich werde fl iehen, wenn wir<br />

nicht auf preußischem Territorium weilen.»<br />

Er schwieg und sagte dann leise: «Wilhelmine, ich halte es an<br />

diesem Hof nicht länger aus, wenn ich in Potsdam weile, vergeht<br />

kein Tag, ohne dass es einen dramatischen Auftritt zwischen Papa<br />

und mir gibt: Er beschimpft mich, er schlägt mich vor den Augen<br />

<strong>der</strong> Offi ziere – bedenke, als künftiger König bin ich ihr oberster<br />

Kriegsherr, vielleicht bin ich als König gezwungen, Krieg zu führen,<br />

wie können sie mich respektieren, wenn ich ständig gedemütigt<br />

werde?»<br />

«Fritz, sie haben bestimmt Mitleid mit dir, ganz Europa hat inzwischen<br />

Mitleid, ich bin davon überzeugt, dass Papas Verhalten<br />

dir gegenüber von den meisten Offi zieren verurteilt wird.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Mitleid, ich brauche kein Mitleid,<br />

ein Fürst, <strong>der</strong> von seinen Untertanen bemitleidet wird, verliert seine<br />

Autorität. Ich möchte meine Autorität bewahren, und deswegen<br />

muss ich fl iehen.» Er stand auf: «Ich muss jetzt gehen. Ich hoffe,<br />

463


dass dein Teint die Blattern übersteht. Ich werde dir regelmäßig<br />

schreiben, und Mama wird mir über deine Genesung berichten.<br />

Sei guten Mutes, und eines noch: Erzähle niemandem, auch nicht<br />

Mama o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sonsfeld, von unserem Gespräch.»<br />

Wilhelmine lächelte: «Ich werde schweigen wie ein Grab. Ich<br />

danke dir, dass du mich in deine Pläne einweihst, und denke noch<br />

einmal in Ruhe über deinen Plan nach. Überstürze nichts – mein<br />

Gefühl sagt mir, dass du unglücklich wirst, wenn du fl iehst. Denke<br />

an die Menschen, die du an <strong>der</strong> Flucht beteiligst; ihr Schicksal hängt<br />

vom Gelingen <strong>der</strong> Flucht ab. Ich bitte dich, halte hier in Preußen<br />

durch, bis du König wirst.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete nachdenklich die Schwester. Sie meint es<br />

gut mit mir, dachte er, ich muss sie beruhigen. Er beugte sich über<br />

sie und küsste sie auf die Stirn. «Du hast recht, ich werde noch<br />

einmal über meine Lage nachdenken. Lebe wohl, wir sehen uns bei<br />

Ikes Hochzeit am 30. Mai.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> am 31. März das Arbeitszimmer seines Vaters betrat,<br />

sah er drei Offi ziere, die respektvoll dem König lauschten, <strong>der</strong> gutgelaunt<br />

ein Jagdabenteuer erzählte.<br />

<strong>Friedrich</strong> blieb an <strong>der</strong> Tür stehen und betrachtete die Männer.<br />

Das sind wahrscheinlich meine künftigen Gesellschafter, überlegte<br />

er, <strong>der</strong> große, schlanke ältere Herr wird wahrscheinlich eher<br />

ein Aufpasser als ein Gesellschafter sein, immerhin ist sein Gesichtsausdruck<br />

nicht streng, son<strong>der</strong>n gütig. Wir werden wahrscheinlich<br />

miteinan<strong>der</strong> auskommen. Ob die beiden jüngeren Offi<br />

ziere meine Freunde werden können, ob sie mich bei <strong>der</strong> Flucht<br />

unterstützen werden?<br />

In diesem Augenblick bemerkte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm den Sohn.<br />

«Komm, Fritz, ich möchte dir deine künftigen Gesellschafter<br />

vorstellen. Oberst von Rochow, er ist nicht nur dein Gesellschafter,<br />

son<strong>der</strong>n auch ein Mentor, du hast ja den Telemach gelesen<br />

und weißt also, welche Aufgaben <strong>der</strong> Mentor hat. Leutnant von<br />

Keiserlingk, mit ihm wirst du dich bestimmt gut unterhalten<br />

können, er teilt deine Interessen und hat während seiner Kavaliersreise<br />

halb Europa bereist. Leutnant von Keith, er ist ein<br />

unternehmungslustiger junger Mann, er wird dir hoffentlich<br />

464


eibringen, dass die Jagd keine Strapaze, son<strong>der</strong>n ein Vergnügen<br />

ist.»<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte die kräftige Gestalt Keiserlingks und rätselte:<br />

Merkwürdig, wieso hat Papa mir einen Gesellschafter gegeben, <strong>der</strong><br />

meine Interessen teilt? Gleichwohl, an meinen Fluchtplänen än<strong>der</strong>t<br />

diese Entscheidung nichts, sie kommt zu spät. Er betrachtete die<br />

großen grauen Augen Keiths, die ihn anstrahlten, und spürte, dass<br />

dieser junge Offi zier ihm ganz ergeben sein würde.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat zu Rochow und sagte ernst: «Meine Instruktionen<br />

erhalten Sie noch schriftlich, aber ich möchte, dass mein<br />

Sohn sie hört, ihm muss bewusst werden, dass diese Instruktionen<br />

mein bitterer Ernst sind. Mein Sohn ist faul, seine Neigungen gehen<br />

nur zu oberfl ächlichen Beschäftigungen und Vergnügungen. Sie sollen<br />

ihm jeden Tag vorhalten, dass alle effeminierten Beschäftigungen<br />

für einen Mann unanständig sind, diese Beschäftigungen taugen für<br />

einen Gecken, ein Geck aber ist ein Lump und ein schurkischer Kerl,<br />

<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Welt zu nichts taugt als zu Nasenstübern. Wenn mein<br />

Sohn geht, lacht, spricht, so schneidet er Grimassen, wenn er reitet<br />

o<strong>der</strong> geht, so hält er sich schief, wer den Kopf aber zwischen den Ohren<br />

hängen lässt, <strong>der</strong> ist ein Lumpenkerl. Sie sollen ihm die Schlafmütze<br />

aus dem Kopf vertreiben, dass er lebendiger wird. Mein Sohn<br />

ist hochmütig, er soll lernen, gegen alle Leute höfl ich zu sein. Sie<br />

müssen ihm beibringen, dass er alle Leute, groß und klein, fein frägt,<br />

dadurch erfährt man alles und wird klug. Achten Sie darauf, dass<br />

er regelmäßig betet und in <strong>der</strong> Bibel liest, er soll künftig gern und<br />

willig gehorchen, nicht mehr mit mürrischem Gesicht, denn was mit<br />

mürrischem Gesicht geschieht, ist so gut wie nicht getan. Versuchen<br />

Sie, aus meinem Sohn einen braven Kerl und Offi zier zu machen,<br />

will es dann nicht anschlagen, so ist es ein Unglück.»<br />

Während <strong>Friedrich</strong> Wilhelm redete, spürte <strong>Friedrich</strong>, wie erneut<br />

Hass auf den Vater in ihm hochstieg, und er sah verärgert zu Boden.<br />

Er demütigt mich vor meinen neuen Gesellschaftern, dachte er<br />

erbittert, was werden sie von mir denken?<br />

Als <strong>der</strong> König schwieg, senkte sich eine bedrohliche Stille über<br />

das Zimmer, und Rochow und die beiden Leutnants sahen einan<strong>der</strong><br />

verlegen und hilfl os an.<br />

465


Schließlich straffte Rochow sich und sagte: «Majestät, ich werde<br />

tun, was ich kann.<br />

Morgen beginnen die Exerziermonate, die für die Offi ziere ebenso<br />

anstrengend sind wie für die Rekruten, erlauben Sie den jungen<br />

Herren, den Nachmittag zu verbringen, wie sie wollen, schließlich<br />

müssen sie einan<strong>der</strong> etwas kennenlernen, und während <strong>der</strong> Exerziermonate<br />

haben sie wenig Zeit dafür.»<br />

«Sie haben recht, Rochow», und zu den jungen Leuten, «hinaus<br />

an die frische Luft, auf die Pferde!»<br />

Während sie in den Hof hinuntergingen, fragte Keith: «Was<br />

möchten Sie unternehmen, Königliche Hoheit? Wollen Sie reiten<br />

o<strong>der</strong> lieber fechten?»<br />

<strong>Friedrich</strong> blieb stehen und musterte die Offi ziere: «Ich möchte<br />

Sie kennenlernen», im Stillen dachte er: Ich muss herausfi nden, ob<br />

sie mir bei einer Flucht behilfl ich sein können.<br />

Er lächelte seine Gesellschafter an: «Mein Vater sagte: ‹Auf die<br />

Pferde›, wir reiten also aus, und Sie erzählen mir von Ihrer Familie, Ihren<br />

Interessen», und zu Keiserlingk: «Sie müssen mir irgendwann Ihre<br />

Kavaliersreise schil<strong>der</strong>n, im Augenblick ist mein sehnlichster Wunsch<br />

eine solche Reise, ich möchte Preußen so gern für einige Zeit verlassen,<br />

aber mein Vater erlaubt mir keine Bildungsreise. Er möchte, dass ich<br />

hier in Preußen versauere und verdumme.»<br />

Keiserlingk und Keith sahen einan<strong>der</strong> unsicher an und beide<br />

dachten: Hoffentlich werden wir nicht in den Konfl ikt zwischen<br />

König und Kronprinz hineingezogen.<br />

466


10<br />

An einem Nachmittag Anfang August betrat <strong>Friedrich</strong> unangemeldet<br />

das Zimmer von Keiserlingk im Potsdamer Schloss.<br />

Der Leutnant sah von seiner Lektüre auf und erschrak, als er<br />

die fl ackernden Augen des Kronprinzen sah. Er legte das Buch zur<br />

Seite und stand unsicher auf.<br />

«Königliche Hoheit, ist etwas passiert?»<br />

«Verzeihen Sie die Störung, Sie lesen gerade, nun, ich störe ungern<br />

einen Menschen, <strong>der</strong> liest – was lesen Sie?»<br />

«Die Poetik des Aristoteles, Königliche Hoheit.»<br />

«Aristoteles, ich will ihn schon seit geraumer Zeit lesen, aber<br />

irgendwie fehlt mir die nötige Ruhe und Muße, nun, wahrscheinlich<br />

werde ich während <strong>der</strong> kommenden Wochen und Monate Zeit<br />

für Aristoteles haben.» Er schwieg und ging eine Weile unruhig<br />

auf und ab, dann blieb er vor Keiserlingk stehen und sagte: «Vorhin<br />

erfuhr ich, dass Preußen und Hannover kurz vor einem Krieg<br />

stehen.»<br />

«Preußen und Hannover wollen gegeneinan<strong>der</strong> ins Feld ziehen?<br />

Aber die Hohenzollern und die Welfen sind doch miteinan<strong>der</strong> verwandt!»<br />

«Ja, aber Verwandte mögen sich nicht immer, manchmal hassen<br />

sie einan<strong>der</strong>, wie zum Beispiel mein Vater und mein Onkel, <strong>der</strong><br />

König von England. Die Affäre ist lächerlich, aber mein Vater ist<br />

überempfi ndlich, was seine Werber betrifft. Sie haben zehn Hannoveraner<br />

mit den üblichen Methoden für unsere Armee angeworben:<br />

Zuerst wurden sie mit Wein, Bier und Branntwein betrunken<br />

gemacht, dann unterschrieben sie den Vertrag, <strong>der</strong> sie verpfl ichtet,<br />

im preußischen Heer zu dienen. Daraufhin wurden unsere Werber<br />

in Hannover festgehalten, sie sind zurzeit in einer Art von Ehrenhaft.<br />

Es gibt eine Grenzwiese, um <strong>der</strong>en Besitz sich Hannover und<br />

Preußen schon seit Jahrzehnten streiten. Preußische Bauern haben<br />

auf dieser Wiese im Juni Heu gemäht, hannoversche Bauern<br />

entrissen ihnen das Heu und brachten es in ihre Scheunen. Dies<br />

467


alles ist amüsant und lächerlich und könnte gütlich geregelt werden,<br />

aber mein Vater ist im Augenblick nicht dazu bereit, weil er<br />

von Wien wahrscheinlich gegen England aufgehetzt wird, weil er<br />

seinen Schwager hasst und weil er zurzeit an Gichtanfällen leidet.<br />

An solchen Tagen ist er beson<strong>der</strong>s reizbar, unausstehlich, und terrorisiert<br />

seine Umgebung.»<br />

Er schwieg, ging auf und ab, blieb dann vor Keiserlingk stehen<br />

und sagte: «Wenn es zum Krieg zwischen Hannover und Preußen<br />

kommt, dann wird meine Schwester wahrscheinlich nie den<br />

Prinzen von Wales heiraten. Ich habe versucht, die Situation zu<br />

entschärfen, und einen Brief an meinen Onkel geschrieben und<br />

ihm versichert, dass ich freundschaftliche Gefühle für ihn empfi<br />

nde, ungeachtet <strong>der</strong> militärischen Lage, in wenigen Tagen werden<br />

nämlich ungefähr 40 000 Preußen gegen Hannover marschieren.»<br />

Keiserlingk starrte <strong>Friedrich</strong> einen Moment an, dann ging er<br />

zu ihm und sagte ernst: «Königliche Hoheit, Sie sind preußischer<br />

Offi zier. Haben Sie die Absicht, nicht gegen die Hannoveraner zu<br />

kämpfen?»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte <strong>Friedrich</strong> leise: «Sie haben<br />

meine Worte richtig interpretiert, und ich möchte Ihnen nun einen<br />

Plan anvertrauen, den ich schon seit einiger Zeit verfolge: Ich will<br />

Preußen verlassen und warte auf eine günstige Gelegenheit, <strong>der</strong><br />

bevorstehende Krieg lässt mir nicht mehr viel Zeit, ich muss in<br />

England sein, bevor er ausbricht. Wenn ich in London bin, kann<br />

ich vielleicht für meine Schwester trotz allem noch die Heirat arrangieren,<br />

und ich denke, dass <strong>der</strong> Prinz von Wales an guten Beziehungen<br />

zum künftigen preußischen König interessiert ist.»<br />

Er sah Keiserlingk an und fuhr fort: «Ich kenne Sie nun seit einigen<br />

Monaten, und ich vertraue Ihnen. Wären Sie bereit, mir bei<br />

<strong>der</strong> Flucht zu helfen?»<br />

Keiserlingk glaubte, nicht richtig zu hören, überlegte und fragte<br />

dann: «Königliche Hoheit, habe ich Sie richtig verstanden, Sie wollen<br />

aus Preußen fl iehen?»<br />

«Ja, ich bin fest dazu entschlossen.»<br />

Da trat Keiserlingk zu <strong>Friedrich</strong> und sah ihn ernst an: «Königliche<br />

Hoheit, ich kann Sie verstehen, aber bedenken Sie, wenn Sie<br />

fl iehen, gelten Sie als Deserteur, und auf Desertion steht die Todes-<br />

468


strafe. Selbst wenn die Flucht gelingt, so kann <strong>der</strong> König Sie aus<br />

England entführen lassen, ein preußischer Deserteur ist nirgendwo<br />

in Europa sicher.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Sie sehen die Lage zu pessimistisch.<br />

In England würde mein Onkel für meine Sicherheit sorgen,<br />

aber angenommen, es würde meinem Vater gelingen, mich nach<br />

Preußen zurückzuführen – glauben Sie wirklich, dass er mich zum<br />

Tode verurteilen wird? Er hasst mich, aber ich bin sein Fleisch und<br />

Blut, und ich glaube nicht, dass er den eigenen Sohn zum Tode verurteilt.<br />

Ein solches Urteil würde ganz Europa empören, Preußen<br />

wäre außenpolitisch völlig isoliert.»<br />

«Mit Verlaub, Königliche Hoheit, Europa wäre zwar empört, aber<br />

die Außenpolitik hängt von an<strong>der</strong>en Faktoren ab: Preußen besitzt<br />

eine starke, schlagkräftige Armee und ist deswegen als Bündnispartner<br />

für alle Großmächte interessant, abgesehen davon: überlegen<br />

Sie, welche Konsequenzen Ihre Flucht für die Königin und<br />

die Prinzessin Wilhelmine hätte. Ihr Vater würde Ihre Majestät<br />

und die Prinzessin wahrscheinlich verbannen, und sie müssten den<br />

Rest ihres Lebens auf entlegenen Schlössern verbringen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> ging nachdenklich auf und ab und sagte dann: «Mein<br />

Vater würde wahrscheinlich im ersten Zorn so reagieren, aber er<br />

liebt meine Mutter, er liebt auch meine Schwester und alle seine<br />

Kin<strong>der</strong>, irgendwann dürften sie an den Hof zurückkehren.»<br />

Er schwieg, sah Keiserlingk an und sagte: «Ich schließe aus Ihren<br />

Einwänden, dass Sie mir nicht helfen werden.»<br />

«Sie haben mich richtig verstanden, Königliche Hoheit, und ich<br />

bitte Sie eindringlich, versuchen Sie nicht zu fl iehen. Sie würden<br />

Unglück über sich bringen; ich versichere Ihnen, dass ich über<br />

dieses Gespräch schweigen werde, ich werde es vergessen, für mich<br />

ist dieses Gespräch nie geführt worden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Keiserlingk an und spürte, wie Enttäuschung in<br />

ihm aufstieg, gleichzeitig wusste er, dass <strong>der</strong> Offi zier recht hatte<br />

mit seinen Bedenken, aber er versuchte, sie zu verdrängen, und<br />

sagte: «Sie handeln wie ein loyaler Offi zier, das werde ich mir merken.»<br />

Er verließ das Zimmer, und Keiserlingk sah ihm erstaunt nach.<br />

Was bedeuten seine letzten Worte, fragte er sich, es klang so, als<br />

469


ob ich trotz meiner Weigerung, ihm bei <strong>der</strong> Flucht zu helfen, beim<br />

künftigen preußischen König nicht in Ungnade fallen werde.<br />

<strong>Friedrich</strong> eilte in sein Zimmer, sank resigniert auf einen Stuhl<br />

und starrte hilfl os auf den Holzfußboden.<br />

«Keiserlingk will mir nicht helfen», sagte er leise, «wie soll es<br />

weitergehen? Ich muss nach England, bevor <strong>der</strong> Krieg ausbricht.<br />

Jetzt gibt es nur noch einen Menschen, den ich um Hilfe bitten<br />

kann, Keith. Er hat während <strong>der</strong> letzten Wochen immer aufgepasst,<br />

ob Papa nicht unverhofft auftaucht, wenn Quantz mich unterrichtete.<br />

Warum habe ich ihn nicht sofort gefragt? Nun, Keiserlingk<br />

teilt meine geistigen Interessen, ich hätte nie gedacht, dass er ablehnt,<br />

mir bei <strong>der</strong> Flucht zu helfen. Keith hingegen – er interessiert<br />

sich nicht für Literatur und Philosophie, er passt auf, dass ich ungestört<br />

lesen und musizieren kann, er ist wahrscheinlich eher bereit,<br />

mir zu helfen. Er wollte heute ein Pferd zureiten», und <strong>Friedrich</strong><br />

sprang auf und eilte zum Marstall.<br />

Er beobachtete aus einiger Entfernung, wie <strong>der</strong> Leutnant das<br />

Pferd einem Reitknecht übergab, und ging gemächlich zu ihm.<br />

Keith strahlte, als er den Kronprinzen sah.<br />

«Königliche Hoheit, hätten Sie Lust zu einem Ausritt?»<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte Keith, versuchte, ihn einzuschätzen, dann lächelte<br />

er und sagte: «Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.»<br />

Während sie langsam über den Exerzierplatz zum Schloss gingen,<br />

legte <strong>Friedrich</strong> den Arm um den Leutnant: «Wir haben uns<br />

während <strong>der</strong> vergangenen Wochen gut verstanden, heute möchte<br />

ich Sie um etwas bitten. Ich will schon seit längerer Zeit aus<br />

Preußen fl iehen, ich kann hier nicht länger leben, Sie wissen ja,<br />

wie mein Vater mich behandelt. Da ein Krieg zwischen Preußen<br />

und Hannover auszubrechen droht, habe ich nicht mehr viel Zeit.<br />

Ich muss vor Kriegsausbruch nach England, ich möchte dort bis zu<br />

meiner Thronbesteigung leben und versuchen, die Heirat meiner<br />

Schwester zu arrangieren. Würden Sie mir bei <strong>der</strong> Flucht helfen?»<br />

Keith starrte den Kronprinzen fassungslos an: «Königliche Hoheit,<br />

Sie wollen fl iehen? Sie sind Offi zier, eine Flucht wäre gleichbedeutend<br />

mit einer Desertion!»<br />

«Ich weiß», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> ungeduldig, «ich werde die Flucht<br />

so vorbereiten, dass sie gelingt, aber ich brauche einen Fluchthelfer.»<br />

470


Keith überlegte: Der Prinz kann gut organisieren, das beweist<br />

er bei seinem Regiment, er wird auch eine Flucht so organisieren,<br />

dass sie erfolgreich verläuft. Er ist <strong>der</strong> künftige König, wenn ich<br />

ihm helfe, so wird er sich als König erkenntlich zeigen und mich<br />

beför<strong>der</strong>n, er wird meiner Familie Län<strong>der</strong>eien schenken … es ist in<br />

meinem Interesse, wenn ich ihm helfe.<br />

Er sah <strong>Friedrich</strong> an und sagte ernst: «Königliche Hoheit, es ist<br />

eine große Ehre für mich, wenn ich Ihnen helfen darf, allerdings<br />

muss die Angelegenheit sehr diskret behandelt werden. Wer ist<br />

über Ihre Pläne unterrichtet?»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete auf: «Meine Schwester und Keiserlingk wissen,<br />

dass ich fl iehen will.»<br />

«Mit mir also drei Menschen, das ist mehr als genug. Königliche<br />

Hoheit, ich bitte Sie, von jetzt an mit niemandem darüber zu sprechen.<br />

Je mehr Leute davon wissen, umso größer ist die Gefahr, dass<br />

Seine Majestät davon erfährt. Ich werde Ihnen helfen, wann wollen<br />

Sie fl iehen?»<br />

«Das weiß ich noch nicht genau, so bald wie möglich, ich warte<br />

auf eine günstige Gelegenheit.»<br />

Keith sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Sie haben noch keinen genauen<br />

Plan entwickelt?»<br />

«Nein, wegen <strong>der</strong> unsicheren militärischen Lage werde ich improvisieren<br />

müssen.»<br />

Keith überlegte erneut: Eine improvisierte Flucht, das ist gefährlich,<br />

aber wer nicht wagt, <strong>der</strong> gewinnt auch nicht.<br />

«Königliche Hoheit, wenn Sie mich rufen, so bin ich bereit.»<br />

«Ich danke Ihnen, Sie sind ein wirklicher Freund.»<br />

Einige Tage später betrat Quantz am Nachmittag das Wohnzimmer<br />

<strong>Friedrich</strong>s und blieb an <strong>der</strong> Schwelle überrascht stehen. Er betrachtete<br />

den Schlafrock aus Goldbrokat, den <strong>Friedrich</strong> trug, und<br />

die offenen, leicht gelockten schulterlangen Haare des Prinzen.<br />

«Mit Verlaub, Königliche Hoheit, ich kann verstehen, dass Sie<br />

während des Musikunterrichtes keine Uniform tragen wollen, aber<br />

ist es nicht gefährlich? Seine Majestät weilt in Potsdam.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lachte: «Keine Sorge, mein Vater hat eine längere<br />

Unterredung mit Grumbkow und Seckendorff wegen <strong>der</strong> poli-<br />

471


tischen Differenzen mit Hannover, ich hörte an <strong>der</strong> Tafel, dass die<br />

Konferenz wahrscheinlich bis zum Abend dauern wird, überdies<br />

passt Keith auf und wird uns rechtzeitig warnen.»<br />

Nach ungefähr einer Stunde stürzte Keith in das Zimmer und<br />

rief: «Königliche Hoheit, <strong>der</strong> König kommt!», und zu Quantz:<br />

«Kommen Sie!», er nahm den Kasten, <strong>der</strong> die Flöten enthielt, schob<br />

den Lehrer in die kleine Kammer, die zum Heizen <strong>der</strong> Öfen diente,<br />

gab ihm den Kasten und atmete auf.<br />

<strong>Friedrich</strong> sprang auf und wollte den Schlafrock ausziehen, in<br />

diesem Augenblick stürmte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm in das Zimmer und<br />

blieb schwer atmend vor dem Sohn stehen. Er musterte ihn zornig<br />

und brüllte: «Du bist ein preußischer Offi zier, du weißt, dass ich<br />

von meinen Offi zieren erwarte, dass sie auch während ihrer Freizeit<br />

die Uniform tragen!»<br />

Er ging zu <strong>Friedrich</strong>, packte ihn an den Schultern und schrie:<br />

«Du bist ein Lump, ein Taugenichts, endlich habe ich dich einmal<br />

erwischt und mit eigenen Augen gesehen, dass du meine Befehle<br />

missachtest!»<br />

Er hob die Hände und begann, <strong>Friedrich</strong> zu ohrfeigen. Dieser taumelte<br />

an die Wand und hob die Hände schützend vor das Gesicht.<br />

«Lump!», schrie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, bemerkte in diesem Augenblick<br />

die offenen Haare, riss <strong>Friedrich</strong> die Hände vom Gesicht und<br />

ohrfeigte ihn erneut.<br />

<strong>Friedrich</strong> spürte, dass sein Gesicht anfi ng zu brennen, und dachte:<br />

«Ich muss standhalten, ich darf ihn jetzt nicht anfl ehen, mit<br />

den Schlägen aufzuhören, diesen Triumph gönne ich ihm nicht. Er<br />

wird irgendwann von selbst aufhören, aber ich muss aus Preußen<br />

fl iehen, ich muss!»<br />

Nach einer Weile ließ <strong>Friedrich</strong> Wilhelm erschöpft die Hände<br />

sinken und starrte den Sohn hasserfüllt an.<br />

Dann sah er die offenen Haare und schrie: «Ein preußischer Offi<br />

zier schwänzt die Haare zu einem kurzen Zopf, zum Donnerwetter,<br />

du wirst mich noch ins Grab bringen! Sternemann!»<br />

Der Kammerdiener eilte herbei und stand zitternd vor dem König.<br />

Dieser wandte sich zu <strong>Friedrich</strong> und schrie: «Ziehe endlich den<br />

weibischen Rock aus!», und zu Sternemann: «Er wird den Lumpen<br />

sofort verbrennen!»<br />

472


Während <strong>der</strong> Kammerdiener den Schlafrock nahm und fl uchtartig<br />

das Zimmer verließ, sah <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sich misstrauisch um.<br />

<strong>Friedrich</strong> folgte den Augen des Vaters und dachte: Hoffentlich<br />

fängt er nicht an, das Zimmer zu durchsuchen, wenn er Quantz<br />

entdeckt, mon Dieu, ich darf nicht daran denken.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat vor den Sohn, sah ihm gerade in die Augen<br />

und fragte: «Wie hast du den Schlafrock bezahlt? Dein Taschengeld<br />

reicht nicht, und dieser brokate Lumpen war bestimmt<br />

nicht billig.»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak, und während er verzweifelt über eine Ausrede<br />

nachdachte, sagte <strong>der</strong> König: «Ich kann mir schon denken, wer<br />

den Firlefanz bezahlt: deine Mutter; sie tut ja alles für ihr geliebtes<br />

Söhnchen, nun, ich werde ihre jährliche Apanage kürzen, damit sie<br />

nicht noch mehr Geld für Firlefanz ausgibt.»<br />

Nein, dachte <strong>Friedrich</strong>, Mama darf nicht leiden, sie ist unschuldig,<br />

ob ich ihm meine Schulden beichte? Wer weiß, wie er dann<br />

reagiert? Jetzt ist nicht <strong>der</strong> richtige Augenblick.<br />

«Ziehe deine Uniform an und schwänze deine Haare», brummte<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm und ging zur Tür.<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete auf. Er hat Quantz nicht entdeckt, Gott sei Dank.<br />

In diesem Moment gewahrte <strong>der</strong> König den Leutnant von Keith<br />

und starrte ihn einen Moment an, dann brüllte er: «Verschwinden<br />

Sie, ich will Sie nicht mehr sehen, Sie sind ab sofort nicht länger<br />

<strong>der</strong> Gesellschafter des Kronprinzen, ich werde Sie in eine entlegene<br />

Garnison versetzen, fort mit Ihnen!»<br />

Keith sah <strong>Friedrich</strong> hilfl os an und eilte hinweg.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah ihm fassungslos nach, dann sah er den Vater an:<br />

«Papa, warum schicken Sie ihn fort, er ist ein loyaler Offi zier, er<br />

ist mein Freund.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte den Sohn und erwi<strong>der</strong>te leise:<br />

«Ich weiß, dass er dein Freund ist, ich habe weiß Gott nichts gegen<br />

Freundschaften im Offi zierskorps, ich begrüße sie sogar, weil<br />

es den Korpsgeist stärken kann, aber über deine Freundschaft mit<br />

Keith wird geredet, man vermutet …»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fuhr ruhig fort: «Ich will offen<br />

zu dir sprechen: Man erzählt, dass deine Freundschaft mit Keith<br />

erotischer Natur ist.»<br />

473


<strong>Friedrich</strong> glaubte, nicht richtig zu hören: «Wie bitte? Das ist eine<br />

Verleumdung, Papa. Zwischen Keith und mir gab es nie intime<br />

Vertraulichkeiten, ich bin ein normaler junger Mann, das schwöre<br />

ich Ihnen.»<br />

«Schon gut, ich glaube dir, deine Liaison zur Gräfi n Orzelska ist<br />

für mich <strong>der</strong> Beweis, dass du zumindest ein normaler Mann bist.»<br />

Er betrachtete nachdenklich den Sohn und fuhr fort: «Ich will<br />

weiteren Gerüchten vorbeugen, <strong>der</strong>artige Gerüchte schaden dem<br />

Ansehen des Kronprinzen bei <strong>der</strong> Armee und im Volk, deswegen<br />

werde ich Keith sofort nach Wesel versetzen. Dieser Keith war übrigens<br />

<strong>der</strong> Grund meines Besuches. Du wirst einen an<strong>der</strong>en Gesellschafter<br />

bekommen, es wird ein Offi zier sein, <strong>der</strong> mein vollstes<br />

Vertrauen besitzt, und dies, Fritz, ist mein letzter Versuch, dich zur<br />

Raison zu bringen, mein allerletzter Versuch. Wenn dieser Offi zier<br />

es nicht schafft, dich so zu biegen, wie ich es möchte, dann schafft<br />

es keiner, und was Rochow betrifft, nun, ich schätze ihn, er versucht<br />

wahrscheinlich, dich so zu formen, wie ich es möchte, aber<br />

<strong>der</strong> Erfolg ist bisher mehr als bescheiden.»<br />

Der König verließ das Zimmer, und <strong>Friedrich</strong> sank resigniert auf<br />

einen Stuhl.<br />

«Nun ist alles aus», fl üsterte er, «ich verliere meinen Fluchthelfer,<br />

und <strong>der</strong> neue Gesellschafter wird mir bestimmt nicht helfen,<br />

ein Offi zier, <strong>der</strong> das volle Vertrauen meines Vaters besitzt, mon<br />

Dieu, damit sind meine Fluchtpläne vorerst erledigt.»<br />

In diesem Augenblick spürte er eine Hand auf seiner Schulter<br />

und hörte die vertraute Stimme von Quantz: «Königliche Hoheit,<br />

es tut mir leid, aber ich kann Sie nicht länger unterrichten, die Verhältnisse<br />

am preußischen Hof erlauben es mir nicht; es war ein<br />

glücklicher Zufall, dass <strong>der</strong> König mich nicht entdeckt hat; das sind<br />

keine normalen Arbeitsbedingungen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Quantz ernst an.<br />

«Ich verstehe Sie, und ich respektiere Ihre Entscheidung, Sie haben<br />

recht. Ich danke Ihnen für den Unterricht, ich glaube, ich habe<br />

viel gelernt, und irgendwann werde ich ein Flötenkonzert komponieren.»<br />

Als Quantz gegangen war, trat <strong>Friedrich</strong> zum Fenster und starrte<br />

hinunter in den Hof: Ob ich Papa meine Schulden beichte? Ich will<br />

474


nicht, dass Mama leidet und noch weniger Geld zur Verfügung hat,<br />

aber … ich kann es ihm nicht beichten, ich habe Angst vor ihm,<br />

er wird mich wie<strong>der</strong> schlagen. Ich muss fl iehen, die Situation hier<br />

wird immer unerträglicher. Aber wer soll mir bei <strong>der</strong> Flucht helfen?<br />

Am Morgen des 6. November saß Sophie Dorothea in ihrem<br />

Schlafzimmer in Wusterhausen vor dem Frisiertisch und blätterte<br />

nervös in einem Kalen<strong>der</strong>buch, während die Kammerfrau Ramen<br />

eifrig die dunkelbraunen Haare ihrer Herrin bürstete. Nach einer<br />

Weile sah Sophie Dorothea auf und sagte zur Ramen: «Sie kann<br />

aufhören.»<br />

Die Kammerfrau legte die Bürste zur Seite und wartete auf weitere<br />

Befehle.<br />

Nach einigen Sekunden sah sie im Spiegel, dass die großen blauen<br />

Augen <strong>der</strong> Königin sich mit Tränen füllten, dann hielt Sophie<br />

Dorothea die Hände vor das Gesicht und begann, laut zu weinen.<br />

Die Kammerfrau sah die Königin einige Sekunden bestürzt an<br />

und fragte dann vorsichtig: «Mit Verlaub, Majestät, was ist passiert?»<br />

Sophie Dorothea sah auf und sagte leise: «Ich erwarte ein Kind.<br />

Zuerst dachte ich, dass ich nun allmählich in die Jahre komme, in<br />

denen die Gebärfähigkeit aufhört, aber die Übelkeit am Morgen<br />

und mein ständiger Hunger auf heiße Schokolade waren immer<br />

Anzeichen für eine Schwangerschaft. Mon Dieu, musste das passieren?<br />

Es war ein Augenblick <strong>der</strong> Schwäche, ich hoffte, meinen<br />

Mann günstig zu stimmen, was Wilhelmines Heirat betrifft, und<br />

dies ist das Ergebnis: eine neue Schwangerschaft.»<br />

«Mit Verlaub, Majestät, ich habe es vermutet, aber ich wollte keine<br />

indiskreten Fragen stellen; ich weiß, dass Sie keine Kin<strong>der</strong> mehr<br />

wollen, aber Seine Majestät wird sich bestimmt darüber freuen.<br />

Sie werden erleben, dass die Laune des Königs sich bessert, und<br />

vielleicht kehrt mit dem neuen Kind wie<strong>der</strong> Frieden in die Familie<br />

ein.»<br />

Sophie Dorothea seufzte: «Das Verhältnis zwischen König und<br />

Kronprinz wird sich wegen meiner Schwangerschaft bestimmt<br />

nicht entspannen. Wenn mein Mann am Nachmittag von <strong>der</strong> Jagd<br />

475


zurückkehrt, werde ich es ihm sagen, vielleicht nimmt er wenigstens<br />

so viel Rücksicht auf mich und verlässt sein geliebtes Wusterhausen<br />

früher als geplant.»<br />

In diesem Augenblick näherten sich schwere Tritte <strong>der</strong> Tür, die<br />

Frauen horchten auf, und im nächsten Augenblick stand <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm im Zimmer.<br />

Seine Augen glitten über den weißen seidenen Morgenrock <strong>der</strong><br />

Gattin und er dachte: Warum musste ich ausgerechnet eine verschwendungssüchtige<br />

Welfi n heiraten?<br />

Dann sah er Sophie Dorotheas verweintes Gesicht, erschrak, eilte<br />

zu ihr und nahm sie in die Arme.<br />

«Liebe Frau, Sie weinen am frühen Morgen, was ist passiert?»<br />

Sophie Dorothea sah im Spiegel die unförmige Gestalt des Gatten,<br />

sie sah sein aufgedunsenes Gesicht und empfand plötzlich in<br />

dem trüben Tageslicht einen körperlichen Abscheu vor ihm wie<br />

noch nie zuvor.<br />

Sie befreite sich aus seiner Umarmung, sprang auf, funkelte<br />

ihn zornig an und schrie: «Ich erwarte ein Kind, mein vierzehntes<br />

Kind, das ist passiert!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte sie einen Augenblick verblüfft an,<br />

dann ging er zu ihr und nahm sie in die Arme.<br />

«Ein Kind! Ich bin so glücklich, Fiekchen, ein Kind, vielleicht ist<br />

es wie<strong>der</strong> ein Sohn, dann habe ich endlich mein Vierergespann!»<br />

Sie stieß ihn von sich und schrie: «Hören Sie endlich auf, mich<br />

Fiekchen zu nennen, und das Wort Vierergespann kann ich auch nicht<br />

mehr hören: Sie haben drei Söhne, und die Thronfolge ist gesichert!<br />

Das Kind wird wahrscheinlich Ende Mai zur Welt kommen, dann<br />

bin ich dreiundvierzig Jahre, meine älteste Tochter ist dann fast<br />

einundzwanzig Jahre. Ich bekomme dieses Kind in einem Alter, in<br />

dem ich schon Großmutter sein könnte, ja, ich könnte Großmutter<br />

sein, wenn es Ihnen gelungen wäre, Wilhelmine zu verheiraten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm spürte, wie Wut in ihm aufstieg, aber er<br />

beherrschte sich und erwi<strong>der</strong>te: «Die bedauerliche Tatsache, dass<br />

meine älteste Tochter noch ledig ist, hängt mit Ihren verbohrten<br />

englischen Heiratsplänen zusammen.»<br />

«Wie bitte? Sie sind schuld, dass Wilhelmine noch nicht verheiratet<br />

ist, weil Sie sich gegen eine Doppelheirat sträuben! Ich denke<br />

476


stets an das Glück meiner Kin<strong>der</strong> und wünsche, dass sie standesgemäß<br />

heiraten, aber das interessiert Sie nicht, es ist Ihnen gleichgültig,<br />

mit wem Sie Ihre Töchter vermählen, für Sie ist nur wichtig,<br />

dass Ihre Töchter heiraten und ein Esser weniger an Ihrer Tafel<br />

sitzt!<br />

Wissen Sie überhaupt, wie unglücklich sich Frie<strong>der</strong>ike in Ansbach<br />

fühlt? In jedem Brief schreibt sie, dass die Hofl eute gegen sie<br />

intrigieren und ihr Gatte sie vernachlässigt, weil er sich nur mit <strong>der</strong><br />

Falkenjagd beschäftigt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah schuldbewusst auf den Teppich.<br />

«Liebe Frau, ich weiß, dass Ike unglücklich ist, aber es dauert<br />

eben eine gewisse Zeit, bis ein junges Paar sich aneinan<strong>der</strong> gewöhnt<br />

hat. Sie dürfen sich in Ihrem Zustand nicht aufregen, überdies habe<br />

ich wenig Zeit, die Jagdgesellschaft wartet.»<br />

«Die Jagdgesellschaft, natürlich, die Jagd ist für Sie das Wichtigste<br />

im Leben, die Jagd, die Tabagie und die Armee. Eines sollen<br />

Sie wissen, und ich meine es ernst: Dies war meine letzte Schwangerschaft,<br />

Sie werden mein Schlafgemach nie mehr betreten, hören<br />

Sie, nie mehr!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg einen Moment betroffen, dann sagte<br />

er ruhig: «Ich respektiere Ihren Wunsch, liebe Frau, es ist allerdings<br />

nicht üblich, <strong>der</strong>artige intime Gespräche vor den Augen und<br />

Ohren <strong>der</strong> Dienerschaft zu führen. Ist dies nicht unter <strong>der</strong> Würde<br />

einer Welfi n?»<br />

Sie sahen einan<strong>der</strong> einen Augenblick schweigend an, und Sophie<br />

Dorothea dachte: Dies ist also das Ende meines unglücklichen Ehelebens.<br />

Ich werde nun Gott sei Dank meine Ruhe haben, aber was<br />

wird mir in dieser Ehe noch bevorstehen, <strong>der</strong> Konfl ikt zwischen<br />

ihm und <strong>Friedrich</strong> wird wahrscheinlich eskalieren.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete erneut den weißen seidenen<br />

Schlafrock und dachte: Ich hätte nie gedacht, dass mein Eheleben<br />

so abrupt endet. War meine Ehe glücklich? Nein, es gab nur wenige<br />

Augenblicke des Glücks, ich war glücklich in ihrem Schlafgemach,<br />

ansonsten waren wir uns fremd.<br />

«Liebe Frau, die Jagdgesellschaft wartet. Ich kam, um Ihnen<br />

zu sagen, dass heute, im Laufe des Tages, <strong>der</strong> neue Gesellschafter<br />

des Kronprinzen eintreffen wird. Dieser junge Offi zier genießt<br />

477


mein volles Vertrauen, er ist vor einigen Monaten zum Premierleutnant<br />

und Adjutant des Regiments beför<strong>der</strong>t worden, und im<br />

letzten Jahr wurde er zum Ritter des Johanniterordens geschlagen.<br />

Er ist mir treu ergeben, ich bin davon überzeugt, dass er <strong>der</strong><br />

Einzige im Offi zierskorps ist, <strong>der</strong> den Fritz in die richtige Bahn<br />

lenken kann; dieser junge Offi zier ist so begabt, er wird eines<br />

Tages bestimmt einer meiner Generäle sein.»<br />

Sophie Dorothea sah den Gatten erstaunt an: «Mon Dieu, ich<br />

habe noch nie gehört, dass Sie einen Ihrer Offi ziere so loben, wer<br />

ist <strong>der</strong> junge Mann?»<br />

«Hans Hermann von Katte, Sie haben ihn vor einigen Jahren in<br />

diesem Schloss an unserer Tafel gesehen.»<br />

«Der junge Herr von Katte, ja, ich erinnere mich, er ist von Familie,<br />

ich freue mich, dass Sie diesen jungen Mann zum Gesellschafter<br />

meines Sohnes erwählt haben.»<br />

«Liebe Frau, ich freue mich, dass Sie mit meiner Wahl einverstanden<br />

sind. Herr von Katte wird im Laufe des Tages hier eintreffen,<br />

ich bitte Sie, sich um den jungen Mann zu kümmern, bis ich<br />

von <strong>der</strong> Jagd zurück bin, ich habe gehört, dass er es versteht, mit<br />

Damen angenehm zu plau<strong>der</strong>n.»<br />

Als die Tür sich hinter dem König schloss, sagte Sophie Dorothea<br />

zur Ramen: «Der König hat gut gewählt, <strong>der</strong> Kronprinz soll<br />

sofort nach <strong>der</strong> Jagd zu mir kommen.»<br />

Als die Sonne unterging, ritt die Jagdgesellschaft in den Schlosshof.<br />

<strong>Friedrich</strong> sprang erleichtert vom Pferd, übergab es dem Stallknecht<br />

und eilte in das Schloss.<br />

Vor <strong>der</strong> Tür seines Zimmers stand die Ramen.<br />

«Königliche Hoheit, Sie sollen sofort zu Ihrer Majestät kommen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> stutzte: Aha, dachte er, es gibt Neuigkeiten aus England.<br />

Als er Sophie Dorotheas Salon betrat, blieb er einen Augenblick<br />

stehen, musterte die Damen, und dann sah er schließlich Katte und<br />

spürte, dass ein Gefühl von Freude ihn durchströmte. Er ging zu<br />

seiner Mutter und beugte sich über ihre Hand.<br />

«Sie wünschen, mich zu sprechen, Mama?»<br />

478


Bevor Sophie Dorothea antworten konnte, sah <strong>Friedrich</strong> Katte<br />

an und sagte: «Ich freue mich, Sie hier zu sehen, aber was führt Sie<br />

nach Wusterhausen?»<br />

Sophie Dorothea erwi<strong>der</strong>te: «Mein lieber Sohn, <strong>der</strong> König ist<br />

endlich vernünftig geworden, er hat Herrn von Katte zu deinem<br />

Gesellschafter ernannt, eine glückliche Wahl, Herr von Katte ist<br />

nämlich von Familie.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete den jungen Mann, spürte beim Anblick <strong>der</strong><br />

dunklen Augenbrauen ein leises Unbehagen, verdrängte dieses Gefühl<br />

und ging zu dem Offi zier.<br />

«Willkommen in Wusterhausen, ich freue mich, dass Sie mein<br />

neuer Gesellschafter sind.»<br />

Katte verbeugte sich: «Königliche Hoheit, es ist für mich eine<br />

Ehre, Ihr Gesellschafter zu sein.»<br />

In diesem Augenblick betrat ein Lakai das Zimmer: «Majestät,<br />

die Abendtafel beginnt erst in einer Stunde, Seine Majestät hat<br />

noch eine Unterredung mit dem Grafen Seckendorff.»<br />

Sophie Dorothea lächelte <strong>Friedrich</strong> und Katte an: «Mein Sohn,<br />

Sie haben jetzt Zeit, um sich mit Ihrem Gesellschafter ungestört<br />

zu unterhalten.»<br />

Die beiden jungen Männer gingen schweigend in <strong>Friedrich</strong>s<br />

Zimmer.<br />

Dort streifte <strong>Friedrich</strong> den regennassen Mantel ab, warf ihn<br />

achtlos auf die Truhe, ging zum Fenster und starrte in den dunklen<br />

Novemberabend.<br />

Er beobachtete, wie die Regentropfen an <strong>der</strong> Scheibe herunterfl<br />

ossen, und überlegte: Papa hat Katte zum Gesellschafter bestimmt,<br />

Katte hat mir damals vor vier Jahren geholfen, als ich zu<br />

früh von <strong>der</strong> Jagd zurückkehrte, er kümmerte sich um mein Pferd;<br />

wird er mir auch bei meinen Fluchtplänen helfen?<br />

Ich mag ihn, aber irgendwie habe ich Angst. Doch wovor? Vor<br />

ihm? Nein, nicht vor ihm, es ist etwas an<strong>der</strong>es, wovor ich Angst<br />

habe, aber was? Ach, das sind dumme Gedanken, ich werde Mamas<br />

Rat befolgen und die Zeit bis zur Abendtafel nutzen, um ihn besser<br />

kennenzulernen.<br />

Er wandte sich um, betrachtete Katte einen Augenblick und<br />

sagte: «Kommen Sie zu mir, ich möchte Ihnen etwas zeigen.»<br />

479


Katte trat zum Fenster und sah hinunter in den menschenleeren<br />

Hof.<br />

<strong>Friedrich</strong> wartete einen Augenblick und fragte: «Haben Ihre Augen<br />

sich an die Dunkelheit gewöhnt?»<br />

«Ja, Königliche Hoheit.»<br />

«Sehen Sie dort unten die Bären an <strong>der</strong> Kette?»<br />

«Ja, Königliche Hoheit.»<br />

«Meine Situation ist ähnlich: Ich fühle mich hier in Preußen angekettet<br />

und in Wusterhausen beson<strong>der</strong>s, nun, eines Tages werde<br />

ich die Ketten abwerfen.»<br />

Er schwieg und wartete auf eine Reaktion.<br />

Katte erschrak: Was meint <strong>der</strong> Prinz, fragte er sich, er ist <strong>der</strong><br />

künftige König, ich darf mir seine Gunst nicht verscherzen, ich<br />

muss genau überlegen, was ich antworte.<br />

Er sah <strong>Friedrich</strong> an: «Ich verstehe Ihre Situation, Königliche<br />

Hoheit.» Er schwieg einen Moment und fuhr fort: «War die Jagd<br />

erfolgreich?»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete Katte: Er lenkt ab, dachte er, nun, vielleicht<br />

ist es ganz gut so.<br />

Er ging im Zimmer auf und ab, blieb dann vor Katte stehen, sah<br />

ihm in die Augen und sagte: «Sie fragen nach <strong>der</strong> Jagd, nun, für<br />

mich war sie erfolgreich: Ich habe zwar kein Wild erlegt, aber ich<br />

habe versucht, mich in die Poetik des Aristoteles einzulesen.»<br />

«Aristoteles, Königliche Hoheit? Das ist eine dornige Lektüre,<br />

Aristoteles skizziert, gibt Stichworte und lässt es oft genug mit<br />

kaum noch verständlichen Andeutungen sein Bewenden haben.»<br />

«Sie haben die Poetik gelesen?»<br />

«Selbstverständlich, Königliche Hoheit, diese Lektüre ist beson<strong>der</strong>s<br />

schwierig, weil sie nicht vollständig überliefert ist, aber man<br />

muss Aristoteles lesen, wenn man die Tragödien <strong>der</strong> griechischen<br />

Dichter, ich denke dabei an Aischylos, Sophokles und Euripides,<br />

richtig verstehen will, und man versteht auch Corneille und Racine<br />

besser, wenn man Aristoteles gelesen hat.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte Katte fasziniert an und rief: «Das sind genau die<br />

Gründe, warum ich die Poetik lese, ich fi nde es hochinteressant, dass<br />

es anscheinend ungeschriebene Gesetze für den Aufbau einer Tragödie<br />

gibt: Handlungsaufbau, Charaktere, Gedankenführung, sprach-<br />

480


liche Form, Melodik und Inszenierung. Ich habe inzwischen einige<br />

Stücke <strong>der</strong> drei griechischen Dichter gelesen, und Sophokles hat<br />

mich am meisten beeindruckt, weil in seinen Stücken das Tragische<br />

sowohl als Schicksal in Erscheinung tritt, gegen das sich <strong>der</strong> Mensch<br />

vergeblich aufzulehnen sucht, wie als Schuld des Individuums.»<br />

Er schwieg einen Moment und fuhr fort: «Die Schuld des einzelnen<br />

Menschen ist ein Problem, worüber ich schon länger nachdenke,<br />

ohne eine Antwort gefunden zu haben.»<br />

«Wie meinen Sie das, Königliche Hoheit?»<br />

«Glauben Sie, dass ein Mensch moralisch schuldig werden kann<br />

am Tod eines an<strong>der</strong>en Menschen?»<br />

Katte überlegte: «Vielleicht, lassen Sie mich nachdenken.»<br />

Er sah hinaus in den Regen und sagte dann: «Königliche Hoheit,<br />

in <strong>der</strong> preußischen Armee desertieren viele Soldaten. Angenommen,<br />

ein Soldat hilft einem Kameraden beim Fluchtversuch, die<br />

Flucht gelingt o<strong>der</strong> auch nicht, jedenfalls wird <strong>der</strong> Helfer entdeckt<br />

und gemäß den Gesetzen zum Tode verurteilt, das könnte eine moralische<br />

Schuld sein, weil <strong>der</strong> Deserteur wusste, in welche Gefahr<br />

er seinen Kameraden bringt. An<strong>der</strong>erseits gibt es die Lehre von <strong>der</strong><br />

Prädestination, die sagt, dass das Schicksal eines jeden Menschen<br />

vorherbestimmt ist; wenn diese Lehre richtig ist, gäbe es keine moralische<br />

Schuld.»<br />

<strong>Friedrich</strong> erwi<strong>der</strong>te lächelnd: «Nun, wir werden dieses Problem<br />

heute nicht lösen, aber ich glaube, dass wir noch viele interessante<br />

Gespräche führen werden, und ich mag keine Etikette bei solchen<br />

Gesprächen, hören Sie auf, mich Königliche Hoheit zu nennen.»<br />

Katte sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Mit Verlaub, wie soll ich Sie<br />

anreden?»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete Katte, dann trat er zu ihm und legte seine<br />

Hände auf die Schultern des jungen Mannes.<br />

«Ich spüre, dass wir Freunde werden können, wollen Sie mein<br />

Freund sein?»<br />

Katte sah <strong>Friedrich</strong> überrascht an: «Ihr Freund, Königliche Hoheit?»<br />

Der Freund des künftigen preußischen Königs, dachte er voller<br />

Genugtuung, diese Freundschaft ist gleichbedeutend mit einer<br />

glänzenden militärischen Laufbahn …<br />

481


«Königliche Hoheit, es wäre eine große Ehre für mich, <strong>der</strong><br />

Freund des preußischen Kronprinzen zu sein, aber ich weiß nicht,<br />

ob ich dieser Freundschaft würdig bin.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Katte ernst an: «Du bist dieser Freundschaft würdig,<br />

Hermann, ich werde dich Hermann rufen, Hans Hermann<br />

ist zu lang, und du wirst mich <strong>Friedrich</strong> nennen. Überdies bist du<br />

nicht <strong>der</strong> Freund des Kronprinzen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Freund des Menschen<br />

<strong>Friedrich</strong> von Hohenzollern, du verstehst, was ich meine?»<br />

«Selbstverständlich, Königliche … selbstverständlich, <strong>Friedrich</strong>,<br />

ich hoffe, dass ich dich nicht enttäusche.»<br />

Warum macht er diesen Unterschied zwischen dem Kronprinzen<br />

und dem Menschen <strong>Friedrich</strong>? Nun, das muss er wissen, für die Offi<br />

ziere, die Hofl eute und das Volk werde ich <strong>der</strong> Freund des Kronprinzen<br />

sein und irgendwann <strong>der</strong> Freund des Königs und als Freund<br />

wahrscheinlich auch sein engster Berater.<br />

<strong>Friedrich</strong> legte den Arm um Katte: «Ich spüre, dass du mich<br />

nicht enttäuschen wirst. Komm, die Abendtafel wartet auf uns in<br />

<strong>der</strong> grässlichen Tabagie, dort wird immer gespeist, wenn es draußen<br />

stürmt o<strong>der</strong> regnet o<strong>der</strong> schneit.»<br />

Als die jungen Männer das Tabakskollegium betraten, war die<br />

Tischgesellschaft bereits versammelt, und die Diener servierten<br />

den Linseneintopf.<br />

Die Damen und Herren sahen verblüfft, dass <strong>der</strong> Kronprinz den<br />

Arm um Katte gelegt hatte, und Sophie Dorothea atmete auf: Er<br />

scheint sich mit seinem neuen Gesellschafter zu verstehen, dachte<br />

sie, kein Wun<strong>der</strong>, schließlich ist Katte von Familie.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm runzelte die Stirn und rief ungehalten:<br />

«Meine jungen Herren, Pünktlichkeit gehört zu den vornehmsten<br />

Pfl ichten eines preußischen Offi ziers», und zu <strong>Friedrich</strong>: «Ich will<br />

heute ausnahmsweise über deine Unpünktlichkeit hinwegsehen.<br />

Ich kann verstehen, dass du über <strong>der</strong> Unterhaltung mit einem meiner<br />

begabtesten und fähigsten Offi ziere die Zeit vergessen hast»,<br />

und zu Katte: «Ich freue mich, dass mein Sohn sich anscheinend<br />

mit Ihnen gut versteht. Ich hoffe, dass Sie einen guten Einfl uss auf<br />

ihn haben und ihn so zurechtbiegen, wie ich es mir wünsche, vor<br />

allem hoffe ich, dass Sie ihm die französischen Flausen aus dem<br />

Kopf vertreiben.»<br />

482


Inzwischen standen sie bei ihren Stühlen am unteren Ende <strong>der</strong><br />

Tafel, und Katte verneigte sich vor dem König: «Selbstverständlich,<br />

Majestät.»<br />

Gütiger Himmel, dachte er und setzte sich, was erwartet <strong>der</strong> König?<br />

Für mich ist <strong>der</strong> künftige König wichtig, nicht <strong>der</strong> regierende.<br />

Während er Essig in die Suppe träufelte, sagte er leise zu <strong>Friedrich</strong>:<br />

«Verzeih, ich musste so antworten.»<br />

«Ich weiß, die noble Gesellschaft hier soll ruhig wissen, dass du<br />

mein Freund bist.»<br />

Er vermischte die Suppe mit Essig und sagte laut: «Ich entsinne<br />

mich noch gut an deinen ersten Besuch in Wusterhausen, Hermann,<br />

damals empfahlst du dem Koch, einen Linseneintopf mit<br />

etwas Essig zu würzen, du siehst, unser Küchenmeister hat deinen<br />

Rat befolgt.»<br />

Die Damen und Herren sahen sich verstohlen an, und Frau von<br />

Kamecke sagte leise zu ihrer Nachbarin: «Ich glaube, wir sollten<br />

den jungen Katte hegen und pfl egen, <strong>der</strong> Kronprinz scheint ihn zu<br />

mögen.»<br />

Grumbkow betrachtete Katte und sagte leise zu Seckendorff: «Er<br />

ist also <strong>der</strong> Günstling <strong>der</strong> aufgehenden Sonne, Hans Hermann von<br />

Katte. Wer hätte das gedacht.»<br />

«Ja», erwi<strong>der</strong>te Seckendorff, «Günstlinge muss man immer im<br />

Auge behalten, Günstlinge sind interessant, weil sie entwe<strong>der</strong> hoch<br />

aufsteigen o<strong>der</strong> tief fallen, das ist ihr Schicksal, einen Mittelweg<br />

gibt es nicht.»<br />

483


3. Kapitel


486<br />

1<br />

Am 30. März 1730 regnete es in Potsdam seit den Morgenstunden.<br />

Am Nachmittag kam ein heftiger Wind auf und peitschte den<br />

Regen gegen die Fensterscheiben, während am Horizont eine neue<br />

schwarze Wolkenfront heranzog. Am Spätnachmittag war es in<br />

den Häusern so dunkel, dass die Handwerker und Ladenbesitzer<br />

Talglichter und Kerzen entzündeten, um weiter arbeiten zu können.<br />

Im Schloss waren nur die Räume des Königs und des Kronprinzen<br />

erleuchtet. In <strong>Friedrich</strong>s Wohnraum saßen die Leutnants<br />

von Spaen und von Ingersleben am Schachtisch, Keiserlingk stand<br />

neben ihnen und verfolgte aufmerksam das Spiel. Ingersleben<br />

schob seinen weißen Turm vor den schwarzen König: «Matt!», rief<br />

er triumphierend, «die nächste Partie wirst du gewinnen.»<br />

«Wo ist Katte?», fragte Spaen, während er die Schachfi guren neu<br />

aufstellte.<br />

«Seine Königliche Hoheit hat ihn zu Dubourgay geschickt, um<br />

Neuigkeiten zu erfahren. Der Streit zwischen Hannover und Preußen<br />

wegen <strong>der</strong> Werber und <strong>der</strong> Wiesen ist ja nun endgültig beendet,<br />

und zwischen beiden Län<strong>der</strong>n herrschen Friede und Freude,<br />

nun, man muss abwarten.»<br />

Er sah in die an<strong>der</strong>e Ecke des Zimmers, wo <strong>Friedrich</strong> und Rochow<br />

sich über eine Landkarte beugten.<br />

<strong>Friedrich</strong>s Augen wan<strong>der</strong>ten über Sachsen, schließlich nahm<br />

er einen Zirkel und zeigte mit <strong>der</strong> Spitze auf einen kleinen Ort:<br />

«Mühlberg, hier veranstaltet König August sein militärisches<br />

Lustlager, den ganzen Monat Juni soll das Spektakel dauern. Ich<br />

verspüre wenig Lust, meinen Vater dorthin zu begleiten, ein Monat<br />

in Dresden mit Konzerten und Opernaufführungen würde<br />

mir besser gefallen. In Mühlberg muss ich täglich Truppenparaden<br />

über mich ergehen lassen, und Mitte Juli werde ich meinen Vater<br />

auf seiner Reise in den Westen begleiten. Anschließend residieren<br />

wir in Wusterhausen, ein schrecklicher Sommer steht mir bevor.»<br />

Rochow sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Manchmal verstehe ich Sie<br />

nicht, Königliche Hoheit. Sie sagen oft, dass es Ihr sehnlichster


Wunsch ist, Preußen zu verlassen, um an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong> kennenzulernen,<br />

während <strong>der</strong> kommenden Wochen wird sich Ihr Wunsch<br />

erfüllen, und nun möchten Sie hierbleiben.»<br />

«Herr von Rochow, mit an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n meine ich Frankreich,<br />

England, Italien, Griechenland, und vor allem möchte ich allein<br />

reisen, ohne meinen Vater. Die Reisen nach Sachsen und in die<br />

westlichen Provinzen bedeuten für mich eine Tortur. Sie wissen<br />

doch, dass es zwischen meinem Vater und mir seit Wochen täglich<br />

fürchterliche Auftritte gibt, die mich demütigen und erniedrigen,<br />

ich versuche zu gehorchen, aber er merkt es anscheinend nicht.»<br />

Rochow erwi<strong>der</strong>te zögernd: «Mit Verlaub, Königliche Hoheit,<br />

Seine Majestät weiß schon lange, dass Sie heimlich Ihren Interessen<br />

frönen, dies erbittert ihn natürlich, und Sie müssen zugeben,<br />

dass Seine Majestät sehr gelassen reagierte, als er im Januar erfuhr,<br />

dass Sie einem Bankier 7 000 Taler schulden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Gewiss, er tobte nicht, ich sehe ihn<br />

noch vor mir stehen und sagen: ‹Ich bezahle es mit Pläsier, denn am<br />

Gelde fehlet es mir nicht; wofern du deine Conduite und Aufführung<br />

än<strong>der</strong>st und ein honettes Herz bekommst.›<br />

Er bezahlte meine Schulden und erließ am gleichen Tag ein Edikt,<br />

worin es heißt, dass ‹wer einem Mitglied <strong>der</strong> königlichen Familie<br />

Geld leiht, zu Zwangsarbeit und nach Befi nden auch mit dem Tod<br />

bestraft werden soll›. Abgesehen von mir, leidet inzwischen die ganze<br />

Familie unter seiner Tyrannei. Meine Mutter ist guter Hoffnung<br />

und muss von ihm hören, dass er sich von ihr scheiden lassen wird,<br />

wenn sie nicht in seine Heiratspläne für Wilhelmine einwilligt. Diese<br />

Pläne sind völlig absurd, we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Markgraf von Schwedt noch<br />

<strong>der</strong> Herzog von Weißenfels sind für meine Schwester eine standesgemäße<br />

Partie.»<br />

«Königliche Hoheit, Seine Majestät würde sich nie von Ihrer<br />

Majestät scheiden lassen. Erinnern Sie sich, dass Seine Majestät<br />

mit Ihnen Ende Februar sofort von Potsdam nach Berlin geeilt ist,<br />

weil man um das Leben <strong>der</strong> Königin fürchten musste!»<br />

«Das ist wahr, Herr von Rochow», er schwieg, und vor seinem<br />

inneren Auge sah er den Vater am Bettrand sitzen, er sah, dass er<br />

die Hände Sophie Dorotheas nahm, und hörte ihn sagen: ‹Fieke, ich<br />

habe dich nun vierundzwanzig Jahre. Ich wünsche, dich auch zu<br />

487


ehalten, so lange ich lebe. Mit dem Kind mag es Gott machen, wie<br />

er will, wenn er mir dich nur lässt.›<br />

Es gibt Momente <strong>der</strong> Harmonie in unserer Familie, aber es gibt<br />

keine dauerhafte Harmonie, ich weiß nicht, wie lange ich dies noch<br />

ertragen kann.»<br />

Rochow schwieg und dachte im Stillen: Der Prinz ist leichtsinnig,<br />

bei seinen Kameraden redet er hin und wie<strong>der</strong> von Flucht, ich<br />

erfuhr es über etliche Ecken und sah deshalb bisher keine Notwendigkeit,<br />

dies dem König zu melden, es kann dummes Gerede sein,<br />

aber vielleicht muss ich es irgendwann dem König sagen. Gott behüte,<br />

dass es jemals so weit kommt.<br />

Er betrachtete <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> den Zirkel langsam nach Süddeutschland<br />

wan<strong>der</strong>n ließ.<br />

Nach einer Weile sah <strong>Friedrich</strong> auf und sagte nachdenklich: «Ich<br />

habe Angst vor den Reisen mit meinem Vater, an<strong>der</strong>erseits …»<br />

Er schwieg und führte den Zirkel weiter durch Süddeutschland.<br />

Rochow beobachtete ihn besorgt.<br />

Was geht in ihm vor, fragte er sich, plant er wirklich eine Flucht?<br />

In diesem Augenblick hörten sie, dass sich schwere Schritte näherten,<br />

die vom dumpfen Schlag eines Stockes auf den Holzfußboden<br />

begleitet wurden. Die Leutnants sahen einan<strong>der</strong> erschrocken<br />

an, sprangen auf und standen stramm, Rochow stellte sich hinter<br />

den Kronprinzen.<br />

Ich muss ihn vor den Wutausbrüchen seines Vaters schützen,<br />

dachte er.<br />

<strong>Friedrich</strong> fuhr zusammen, legte langsam den Zirkel auf die Landkarte<br />

und blieb sitzen. Er starrte hilfl os vor sich hin und dachte:<br />

Er kommt, um mich zu prügeln. Warum? Was habe ich während<br />

<strong>der</strong> letzen Wochen falsch gemacht? Nach <strong>der</strong> Bezahlung meiner<br />

Schulden habe ich mich korrekt verhalten, es ist unmöglich, dass er<br />

bereits von meinen neuen Schulden erfahren hat.<br />

In diesem Augenblick betrat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm das Zimmer, eilte<br />

zu <strong>Friedrich</strong> und schrie: «Stehe auf!»<br />

<strong>Friedrich</strong> erhob sich, im gleichen Augenblick packte <strong>der</strong> König<br />

ihn an <strong>der</strong> Gurgel und schleifte ihn zur Mitte des Zimmers, ließ<br />

ihn los, ohrfeigte ihn und brüllte: «Knie nie<strong>der</strong> und küsse mir die<br />

Füße!»<br />

488


Die Offi ziere sahen einan<strong>der</strong> entsetzt an, <strong>Friedrich</strong> sank auf die<br />

Knie, berührte mit den Lippen die Stiefelspitzen, dann sah er den<br />

Vater an und fragte mit tränenerstickter Stimme: «Warum demütigen<br />

Sie mich fortwährend? Kein Prinz des Hauses Hohenzollern<br />

hat je eine solche Schmach erdulden müssen.»<br />

«Warum? Warum? Du solltest deine Mutter verfl uchen, sie ist<br />

schuld an deiner schlechten Erziehung. Ich hatte einen Lehrer, <strong>der</strong><br />

ein Ehrenmann war. Ich erinnere mich stets einer Geschichte, die<br />

er mir in meiner Jugend erzählte: In Karthago war ein Mann wegen<br />

mehrerer Verbrechen zum Tode verurteilt worden. Während<br />

er zur Richtstatt geführt wurde, bat er, mit seiner Mutter sprechen<br />

zu dürfen. Man ließ sie kommen. Er trat dicht an sie heran, wie um<br />

ihr etwas ins Ohr zu sagen, und biss ihr das Ohr ab. ‹Ich behandele<br />

dich so›, sagte er zu ihr, ‹damit du ein Beispiel für alle Eltern bist,<br />

die ihre Kin<strong>der</strong> nicht in <strong>der</strong> Übung <strong>der</strong> Tugenden erzogen haben.›<br />

Mache du die Anwendung darauf!»<br />

<strong>Friedrich</strong> und die Offi ziere starrten den König entsetzt an, dann<br />

spürte <strong>Friedrich</strong>, wie Hass auf den Vater in ihm emporstieg, und<br />

dieses Gefühl verdrängte seine Angst. Er stand auf, sah dem Vater<br />

in die Augen und sagte langsam: «Meine Mutter ist unschuldig, sie<br />

hat meine Erziehung nicht beeinfl usst, weil sie es gar nicht konnte,<br />

Sie allein haben bestimmt, wie ich erzogen werden sollte.»<br />

«Schweig! Deine Mutter hat versucht, dich zu beeinfl ussen,<br />

wann immer es möglich war. Versuche nicht, mich für dumm zu<br />

verkaufen, ich möchte nicht wissen, wie oft du heimlich bei ihr<br />

warst. Du, Wilhelmine und deine Mutter, ihr habt immer gegen<br />

mich gearbeitet, das spüre ich seit langer Zeit, ich kann es zwar<br />

nicht beweisen, aber ich spüre es.»<br />

Er schwieg, starrte den Sohn hasserfüllt an, und <strong>Friedrich</strong> senkte<br />

die Augen.<br />

Er ist nicht so dumm, wie wir dachten, überlegte er.<br />

«Sieh mich an!», schrie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Ich hatte gehofft,<br />

dass <strong>der</strong> junge Katte einen guten Einfl uss auf dich ausübt, aber seit<br />

er dein Gesellschafter ist, hat dein Benehmen sich nicht geän<strong>der</strong>t,<br />

du bist nach wie vor ein Französling; aber merke dir: Ein an<strong>der</strong>er<br />

Offi zier, dessen Gesicht und Benehmen mir nicht gefallen, kann<br />

seinen Abschied nehmen, du aber, du bist mein Sohn, du musst<br />

489


Offi zier bleiben, und ich verspreche dir, ich werde ab heute jeden<br />

Tag härter werden, und du weißt, dass ich mein Wort halte. Knie<br />

nie<strong>der</strong> und küsse mir die Füße!»<br />

<strong>Friedrich</strong> sank zu Boden, und als seine Lippen erneut die Spitzen<br />

<strong>der</strong> Stiefel berührten, versetzte <strong>der</strong> König dem Sohn einen Fußtritt<br />

und schrie: «Du bist ein elen<strong>der</strong> Feigling, dass du dir alles gefallen<br />

lässt. Wenn mein Vater mich so behandelt hätte, dann hätte ich<br />

mich erschossen o<strong>der</strong> wäre gefl ohen, aber dazu fehlt es dir an Mut,<br />

du bist nur ein Feigling!»<br />

Er eilte hinweg, und die Offi ziere sahen einan<strong>der</strong> hilfl os und<br />

verlegen an.<br />

<strong>Friedrich</strong> stand langsam auf, ging zum Tisch, setzte sich und<br />

sagte leise: «Meine Herren, lassen Sie mich jetzt bitte allein.»<br />

Er saß am Tisch, starrte auf die Landkarte und versuchte, seine<br />

Gedanken zu ordnen.<br />

Schließlich stand er auf, öffnete ein Fenster, beobachtete, wie <strong>der</strong><br />

Regen allmählich in einen Wolkenbruch überging, und genoss für<br />

einen Augenblick die kühle, feuchte Luft.<br />

«So geht es nicht weiter», sagte er leise, «wie waren Papas<br />

Worte: Er an meiner Stelle hätte sich eine solche Behandlung<br />

nicht gefallen lassen, er hätte sich erschossen o<strong>der</strong> wäre gefl ohen.<br />

Tod o<strong>der</strong> Flucht? Ich will eines Tages in Preußen regieren,<br />

ich will König werden, also bleibt nur die Flucht. Die Reise nach<br />

Sachsen ist eine günstige Gelegenheit, und Katte muss mir helfen,<br />

er ist jetzt <strong>der</strong> Einzige, <strong>der</strong> mir helfen kann. Merkwürdig,<br />

warum habe ich ihn bis jetzt nicht in meine Fluchtpläne eingeweiht?<br />

Nach jener entsetzlichen Szene mit dem Vorhangstrang im Januar<br />

war ich schon einmal zur Flucht entschlossen und bat Spaen,<br />

einen Reisewagen in Leipzig zu bestellen. Warum bin ich nicht<br />

gefl ohen? Es gab keinen vertrauenswürdigen Fluchthelfer. Warum<br />

habe ich Katte nicht eingeweiht?»<br />

Er schloss das Fenster und sah hinaus in den Regen.<br />

Es war eine unbestimmte Angst, dachte er. Angst wovor? Befürchtete<br />

ich, dass mein Freund mir von <strong>der</strong> Flucht abraten würde?<br />

Nein, er wird mir helfen, auch wenn er mir abraten sollte, wie Wilhelmine<br />

und Keiserlingk. Wovor habe ich Angst?<br />

490


Er ging zurück zum Tisch, setzte sich und betrachtete gedankenverloren<br />

die Landkarte.<br />

Ich wollte Katte nicht in diese Angelegenheit hineinziehen, weil<br />

auch ein Fluchthelfer mit dem Tod bestraft wird, er ist mein Freund,<br />

ich möchte ihn nicht verlieren, aber jetzt, nach dieser Szene heute,<br />

sehe ich keine an<strong>der</strong>e Möglichkeit. Die Flucht muss gründlich<br />

durchdacht und vorbereitet werden, dann gelingt sie auch. Ich werde<br />

alles tun, um sein Leben nicht in Gefahr zu bringen.<br />

Seine Augen wan<strong>der</strong>ten über die Karte, die Zirkelspitze berührte<br />

einen Ort in Süddeutschland, und er las den Namen Sinsheim.<br />

«Sinsheim», fl üsterte er, und plötzlich konnte er sich nicht mehr<br />

beherrschen und begann zu weinen.<br />

Während <strong>Friedrich</strong> über seine Flucht nachdachte, standen Grumbkow<br />

und Seckendorff an einem Schlossfenster und betrachteten die<br />

Kuriere, Soldaten und Lakaien, die über den Hof eilten.<br />

«Ihre Majestät wird die Nie<strong>der</strong>kunft wahrscheinlich überleben»,<br />

sagte Grumbkow, «<strong>der</strong> König ist überzeugt, dass sie einen Sohn zur<br />

Welt bringt, heute vertraute er mir an, dass dieser Sohn den Namen<br />

August Ferdinand tragen wird: August, um das Bündnis mit Sachsen<br />

zu stärken, und Ferdinand, weil die Prinzessin Philippine Charlotte<br />

im Mai mit dem Erbprinzen Karl von Braunschweig-Bevern verlobt<br />

wird und weil Seine Majestät mit dem Vater des Bräutigams, mit<br />

dem Herzog Ferdinand Albrecht, befreundet ist. Sauveterre nennt<br />

übrigens seit einigen Tagen das ungeborene Kind ‹das Kind <strong>der</strong><br />

Schmerzen›. Er hat recht, abgesehen von <strong>der</strong> Krankheit muss die Königin<br />

während <strong>der</strong> letzten Wochen vor allem seelisch gelitten haben.<br />

Sie wissen ja, dass ich auf Befehl des Königs Ihre Majestät mehrmals<br />

aufsuchte, ihr den Herzog von Weißenfels und den Markgrafen von<br />

Schwedt als Schwiegersöhne vorschlug, und stets wies sie mich zurück.<br />

Als ich ihr riet, dem König wenigstens halbe Zusicherungen<br />

zu geben, bezeichnete sie mich als Schurken. Ihr Herz hängt an <strong>der</strong><br />

englischen Heirat, aber für Seine Majestät ist dieses Kapitel inzwischen<br />

abgeschlossen, schade, dass sie dies nicht einsehen will; durch<br />

ihre Sturheit entfremdet sie sich dem König immer mehr.»<br />

Seckendorff lächelte süffi sant: «Die Verlobung <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Philippine Charlotte wird die Partei des Kaisers am Hof stärken,<br />

491


weil <strong>der</strong> künftige Schwiegersohn ein Neffe <strong>der</strong> Kaiserin ist. Seit<br />

Ilgens Tod und seit Knyphausen die auswärtige Politik lenkt, hat<br />

die englische Partei am Hof eine gewisse Macht erlangt.»<br />

«Vielleicht, aber Seine Majestät ist fest entschlossen, die Prinzessin<br />

Wilhelmine nicht mit dem Prinzen von Wales zu vermählen, er ist<br />

verärgert über die Antworten aus England, die keine Antworten sind.<br />

Seine Majestät glaubt, dass England kein wirkliches Interesse an einer<br />

Vermählung des Prinzen von Wales mit seiner Tochter hat.»<br />

In diesem Augenblick sah Grumbkow Hans Hermann von Katte<br />

über den Hof gehen und sagte zu Seckendorff: «Der junge Herr<br />

von Katte trägt den Kopf sehr hoch, er erzählt jedem, dass er mit<br />

dem Kronprinzen eng befreundet ist, das ist unvorsichtig, seine<br />

Kameraden werden neidisch werden und versuchen, gegen ihn zu<br />

intrigieren.»<br />

«Ich glaube nicht, dass <strong>der</strong> Kronprinz irgendwelchen Verleumdungen<br />

glauben wird, einmal, weil er Katte zugetan ist, zum an<strong>der</strong>en<br />

schätze ich ihn so ein, dass er sich ein eigenes Urteil über die<br />

Offi ziere bildet.»<br />

«Sie haben recht, <strong>der</strong> Kronprinz wird sich wahrscheinlich nicht<br />

von seinem Freund abwenden, aber die Meinung Seiner Majestät<br />

wird beeinfl usst werden.<br />

Seit einigen Wochen wächst in dem König ein Misstrauen gegenüber<br />

Katte. Der König glaubt, dass <strong>der</strong> junge Mann keinen guten<br />

Einfl uss auf den Kronprinzen hat, was nicht verwun<strong>der</strong>lich ist: Katte<br />

teilt die musischen Interessen des Prinzen, er spielt Flöte, interessiert<br />

sich für Literatur; was den König aber am meisten irritiert, ist<br />

Kattes Einstellung zur Religion. Der junge Mann glaubt an die Prädestination<br />

und versucht, den Kronprinzen zu überzeugen, dass ein<br />

Mensch sich ohne eigenen Willen, somit ohne Schuld, <strong>der</strong> über ihn<br />

verhängten Sünde zu ergeben habe. Sie wissen, dass <strong>der</strong> König die<br />

Lehre von <strong>der</strong> Prädestination ablehnt; ich bin gespannt, wie lange<br />

Katte noch <strong>der</strong> Gesellschafter des Kronprinzen bleiben wird.»<br />

In diesem Augenblick kam ein Page und überreichte Grumbkow<br />

einen Brief. Der Minister betrachtete das Siegel: «Ein Schreiben<br />

von Reichenbach», er öffnete den Brief, las und erbleichte: «Mon<br />

Dieu, das hätte ich nicht für möglich gehalten, das ist wahrscheinlich<br />

eine Folge dieses Vertrages von Sevilla.»<br />

492


Seckendorff sah Grumbkow fragend an, und dieser sagte leise:<br />

«Die englische Heirat.»<br />

Als Katte <strong>Friedrich</strong>s Zimmer betrat und den Freund sah, <strong>der</strong> still<br />

vor sich hin weinte, blieb er einen Augenblick unschlüssig stehen.<br />

Wahrscheinlich gab es wie<strong>der</strong> einen Auftritt mit dem König,<br />

überlegte er, und fühlte sich auf einmal so hilfl os wie nie zuvor.<br />

Ich bin sein Freund und müsste ihm eine Stütze sein, aber ich<br />

weiß einfach nicht, was ich tun soll, um das Verhältnis zwischen<br />

Vater und Sohn zu entspannen. Die Situation zwischen <strong>Friedrich</strong><br />

und seinem Vater ist inzwischen so verfahren, dass wahrscheinlich<br />

nur ein Donnerschlag, ein Gewitter zu einer Lösung führt, mit <strong>der</strong><br />

alle Beteiligten leben können.<br />

Er ging langsam zu dem Freund und legte behutsam die Hände<br />

auf seine zitternden Schultern.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah auf, und als er Katte erblickte, spürte er eine Mischung<br />

aus Zuneigung und Erleichterung.<br />

Sie sahen sich einen Augeblick schweigend an, dann senkte<br />

<strong>Friedrich</strong> den Kopf und sagte leise: «Heute zwang er mich, ihm vor<br />

den Augen <strong>der</strong> anwesenden Offi ziere die Füße zu küssen.»<br />

Katte erschrak: «Wie bitte? Er hat …»<br />

Mein Gott, dachte er, dieser König und Vater kennt allmählich<br />

seine Grenzen nicht mehr, er wird immer unberechenbarer, er ist<br />

wahrscheinlich allmählich zu allem fähig. In seiner Wut lässt er<br />

sich eines Tages hinreißen und tötet den Prinzen, nein, so weit<br />

wird er nicht gehen, irgendwo in seiner Seele müssen doch noch<br />

väterliche Gefühle schlummern.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Katte an und fl üsterte: «Ich weiß nicht, wie es weitergehen<br />

soll, lange werde ich dieses Hundeleben nicht mehr ertragen<br />

können.»<br />

Katte erschrak erneut.<br />

Was hat er vor? Will er sich umbringen?<br />

«<strong>Friedrich</strong>, bitte, ich verstehe dich, aber du musst Geduld haben,<br />

irgendwann wirst du König sein.»<br />

«Irgendwann, aber wann? Mein Vater ist nicht gesund, aber er<br />

kann trotzdem noch einige Jahre leben, und diese Jahre werden für<br />

mich eine einzige Hölle sein.»<br />

493


Sie schwiegen erneut, dann sagte Katte zögernd: «Ich überbringe<br />

dir eine gute und eine schlechte Nachricht, welche willst du zuerst<br />

hören?»<br />

«Die schlechte Nachricht.»<br />

«Dein Vater hat mir verboten, dich in das sächsische Lager zu<br />

begleiten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen und starrte Katte entsetzt an: «Er<br />

hat dir verboten … warum nur, warum?»<br />

Katte betrachtete erstaunt die verzweifelten Augen des Freundes:<br />

«<strong>Friedrich</strong>, was hast du? Mein Gott, du wirst so blass, fühlst du<br />

dich nicht wohl?»<br />

Meine Flucht, dachte <strong>Friedrich</strong>, wer wird mir bei <strong>der</strong> Flucht helfen?<br />

«<strong>Friedrich</strong>, was hast du, was ist passiert?»<br />

Der Kronprinz wich dem Blick des Freundes aus: «Ich hatte mich<br />

so darauf gefreut, einige unbeschwerte Wochen mit dir in Sachsen<br />

an diesem glänzenden Hof zu verbringen, dies ist eine neue Grausamkeit<br />

meines Vaters, sie ist noch schrecklicher als seine Prügel,<br />

er weiß wahrscheinlich, dass ich seelisch leide und Kummer empfi<br />

nde, wenn er uns für längere Zeit trennt.»<br />

Katte beobachtete den Freund und spürte, wie ein Unbehagen in<br />

ihm aufstieg.<br />

Warum sieht er mich nicht an, wenn er mit mir spricht? Verheimlicht<br />

er etwas vor mir?<br />

«Ich fühle wie du: Eine Trennung von einigen Wochen ist für mich<br />

genauso schmerzlich, aber es gibt für dich inzwischen einen Silberstreif<br />

am Horizont, willst du nicht meine gute Nachricht hören?»<br />

<strong>Friedrich</strong> nickte und vermied es, weiterhin Katte anzusehen.<br />

«Dubourgay erzählte mir, dass übermorgen, am 2. April, Sir<br />

Charles Hotham eintreffen wird. Er überbringt die Antwort deines<br />

Onkels auf den letzten Brief deiner Mutter. Er soll erneut über<br />

die Verheiratung deiner Schwester verhandeln, und ich bin davon<br />

überzeugt, dass jetzt ein Ehevertrag geschlossen wird, weil Sir Hotham<br />

als Son<strong>der</strong>gesandter deinem Vater bestimmt gefallen wird:<br />

Sein Stammbaum reicht bis zu Wilhelm dem Eroberer zurück, er<br />

ist ein Schwager Lord Chesterfi elds und Oberst <strong>der</strong> Grenadiere zu<br />

Pferde des britischen Königs.»<br />

494


<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen und starrte Katte einen Augenblick<br />

verblüfft an, dann stand er auf und ging langsam im Zimmer umher.<br />

«Es ist ein Wun<strong>der</strong>! England ergreift die Initiative und verhandelt<br />

erneut über die Heirat. So weit ich mich erinnern kann,<br />

ging bis jetzt eine Anfrage wegen <strong>der</strong> Heirat immer von Preußen<br />

aus.»<br />

Er blieb stehen und atmete tief durch.<br />

Wilhelmines Heirat erleichtert meine Fluchtpläne, dachte er, sie<br />

wird bestimmt dafür sorgen, dass England mir nach meiner Flucht<br />

Asyl gewährt, in spätestens einem Jahr bin ich wahrscheinlich in<br />

England, nun, ein Jahr ist ein überschaubarer Zeitraum.<br />

Katte unterbrach seine Gedanken: «Verstehst du, warum dein<br />

Onkel plötzlich wie<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Heirat interessiert ist?»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte einen Augenblick.<br />

«Wahrscheinlich hängt es mit dem Vertrag von Sevilla zusammen,<br />

<strong>der</strong> im November letzten Jahres zwischen England, Frankreich<br />

und Spanien geschlossen wurde: England setzte seine überseeischen<br />

For<strong>der</strong>ungen durch und überließ einem spanischen Infanten die<br />

Toskana, Parma und Piacenza. Da diese Gebiete zum habsburgischen<br />

Territorium gehören, muss England Streitkräfte sammeln für den<br />

Krieg gegen den Kaiser, <strong>der</strong> irgendwann ausbrechen wird. England<br />

benötigt Verbündete auf dem Festland, und wer wäre als Bündnispartner<br />

besser geeignet als Preußen mit seinem starken Heer?»<br />

Er hielt einen Augenblick inne, dann ging er zu Katte und umarmte<br />

ihn: «Mon Dieu, Hermann, ich glaube allmählich, dass wir<br />

die längste Zeit in Preußen waren. Höre, England ist an einem militärischen<br />

Bündnis mit Preußen interessiert und will die Allianz<br />

mit <strong>der</strong> Heirat festigen, aber England war in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

auch immer an einer Doppelheirat interessiert, vielleicht lebt jetzt<br />

auch wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Plan meiner Vermählung mit Amalie auf, vielleicht<br />

ist mein Vater inzwischen doch bereit, eine Doppelheirat zu<br />

akzeptieren, solange die Verhandlungen laufen …»<br />

Er schwieg plötzlich und dachte: Ich werde meine Fluchtpläne<br />

aufschieben, vielleicht erübrigt sich eine Flucht, und ich werde Katte<br />

vorerst nicht einweihen, son<strong>der</strong>n den Gang <strong>der</strong> Verhandlungen<br />

abwarten.<br />

495


«Du wolltest noch etwas sagen, <strong>Friedrich</strong>.»<br />

«Nun, solange die Verhandlungen laufen, könnte ich Sir Hotham<br />

diskret auf meine Schulden ansprechen, vielleicht ist England bereit,<br />

sie zu zahlen, schließlich gehört Wilhelmine bald zur englischen<br />

Königsfamilie, und ich werde die doppelte Summe nennen,<br />

um eine fi nanzielle Reserve zu haben. Dieser Tag ist seit Monaten<br />

<strong>der</strong> erfreulichste Tag, weil ich wie<strong>der</strong> eine Möglichkeit sehe, um<br />

<strong>der</strong> Hölle in Potsdam zu entkommen.»<br />

496


2<br />

Am Abend des 4. April saß <strong>der</strong> englische Son<strong>der</strong>gesandte Sir Hotham<br />

im hell erleuchteten Festsaal des Charlottenburger Schlosses<br />

an einer langen Tafel neben <strong>Friedrich</strong> Wilhelm.<br />

Die kühlen grauen Augen des Englän<strong>der</strong>s betrachteten erstaunt<br />

die Tischdecke aus weißem Damast, das Silbergeschirr, die kristallenen<br />

Gläser, die silbernen Kerzenleuchter und die Schalen mit<br />

weißen und gelben Narzissen.<br />

Merkwürdig, sinnierte er, in London hört man nur, dass <strong>der</strong> Soldatenkönig<br />

in seiner Hofhaltung spart, wo er kann; an dieser Tafel<br />

merkt man nichts davon, und die Speisenfolge war bis jetzt ebenfalls<br />

aufwendig: Austern, Aal in Dillsauce, gebackener Karpfen, gebratene<br />

Havelfi sche, dazu Tokaier – ihm muss an <strong>der</strong> Verheiratung<br />

seiner ältesten Tochter sehr gelegen sein.<br />

In diesem Augenblick erschienen Lakaien mit neuen Platten,<br />

und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte genüsslich und sagte zu Hotham:<br />

«Ah, jetzt kommt <strong>der</strong> Schinken, er wurde in Champagner gegart,<br />

das Rezept für diese Delikatesse habe ich von meinem Minister<br />

Grumbkow.»<br />

In Champagner gegart, dachte Hotham, <strong>der</strong> preußische König<br />

scheut tatsächlich keine Kosten.<br />

«Die Gemüsebeilage», fuhr <strong>Friedrich</strong> Wilhelm fort, «ist frischer<br />

Spargel, er wird in den Gewächshäusern meines Ministers Grumbkow<br />

gezüchtet.»<br />

Hotham lächelte Grumbkow an, <strong>der</strong> ihm gegenübersaß: «In London<br />

erzählt man, dass in Ihrem Haus besser gespeist wird als an <strong>der</strong><br />

Tafel des Königs von Frankreich.»<br />

Grumbkow verzog den Mund zu einem Lächeln: «Mylord, ich<br />

glaube, das ist übertrieben.»<br />

Während ein Lakai Schinken und Spargel auf den Teller des Königs<br />

legte, ruhten die Augen des Englän<strong>der</strong>s unauffällig auf Grumbkow:<br />

Er ist mein Gegner, dachte er, er hat die englische Heirat<br />

immer bekämpft, Gott sei Dank hat Seckendorff den Hof verlassen<br />

und weilt hoffentlich lange in seinem Kurbad.<br />

497


Seine Augen wan<strong>der</strong>ten weiter zu Knyphausen. Er befürwortet<br />

die Heirat, dachte <strong>der</strong> Gesandte, aber ist er mächtig genug, um<br />

mich zu unterstützen? Der verschlagene Grumbkow besitzt wahrscheinlich<br />

mehr Einfl uss.<br />

Während ein Lakai zerlassene Butter über den Spargel goss, betrachtete<br />

Hotham die Offi ziere und ihre Damen, und dann sah er<br />

Katte, <strong>der</strong> am unteren Ende <strong>der</strong> Tafel saß. Dieser junge Mann ist<br />

also <strong>der</strong> Busenfreund des Kronprinzen, man muss ihn im Auge<br />

behalten, weil er wahrscheinlich <strong>der</strong> engste Ratgeber des künftigen<br />

preußischen Königs wird.<br />

Er aß nachdenklich ein Stückchen Schinken und lächelte Grumbkow<br />

erneut an: «Köstlich, Ihr Küchenmeister muss mir das Rezept<br />

verraten.»<br />

Er trank einen Schluck Tokaier und stutzte: Merkwürdig,<br />

warum ist <strong>der</strong> Kronprinz nicht anwesend? Die Königin ist mit<br />

den Kin<strong>der</strong>n im Berliner Schloss geblieben, das ist verständlich<br />

wegen ihrer Schwangerschaft, aber <strong>der</strong> Thronfolger hat schließlich<br />

Repräsentationspfl ichten. Seit meiner Ankunft habe ich ihn<br />

noch nicht gesehen, es sieht so aus, als ob <strong>der</strong> König ihn vor mir<br />

versteckt.<br />

Er zögerte etwas und wandte sich dann an <strong>Friedrich</strong> Wilhelm:<br />

«Mit Verlaub, Majestät, wo ist Seine Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz?»<br />

«Ich habe befohlen, dass <strong>der</strong> Bengel in Potsdam bleibt, er liebt<br />

das üppige Leben zu sehr, überdies wird er in Sachsen genügend<br />

Gelegenheit haben, Galatafeln zu genießen, weil wir den Monat<br />

Juni in Mühlberg verbringen.»<br />

«Oh, dann wird <strong>der</strong> neue Gesandte, Sir Dickens, Sie nicht antreffen,<br />

er kommt ungefähr Mitte Juni nach Berlin. Mit Ihrer Erlaubnis<br />

würde ich ihn nach Sachsen begleiten, um ihn Eurer Majestät<br />

vorzustellen.»<br />

«Gerne, aber ich glaube, dann sind Sie schon in England, unsere<br />

Verhandlungen werden bestimmt nicht bis Juni dauern.»<br />

Hotham zuckte unmerklich zusammen und schob nachdenklich<br />

eine Stange Spargel in den Mund.<br />

Dann fragte er <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Wann werden Eure Majestät<br />

nach Sachsen aufbrechen?»<br />

498


«Ende Mai, bis dahin wird meine Frau sich von <strong>der</strong> Geburt erholt<br />

haben.»<br />

Ende Mai, dachte Hotham, ich habe zwei Monate Zeit, um diese<br />

leidige Heiratsaffäre zu regeln, notfalls muss ich in Sachsen weiter<br />

mit dem König verhandeln.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm winkte einem Lakaien, und während <strong>der</strong><br />

Diener Wein einschenkte, lehnte sich <strong>der</strong> König behaglich zurück:<br />

«Dieses ungeborene Kind ist das vierzehnte Kind meiner Ehe, ich<br />

hätte nie gedacht, dass ich mit fast zweiundvierzig Jahren noch<br />

einmal Vater werde, nun, es ist Gottes Wille, und vielleicht bin<br />

ich in einem Jahr sogar Großvater, meine zweitälteste Tochter, die<br />

Markgräfi n von Ansbach, sehnt sich nach einem Sohn und Erben.»<br />

Er hob sein Glas und rief: «Man muss die Töchter verheiraten!<br />

Auf das Wohl <strong>der</strong> Markgräfi n von Ansbach! Auf das Wohl Wilhelmines<br />

und des Prinzen von Wales!»<br />

Die Anwesenden sahen einan<strong>der</strong> erstaunt an, hoben die Gläser<br />

und riefen: «Auf das Wohl <strong>der</strong> Prinzessin Wilhelmine!»<br />

Knyphausen wandte sich zur Gräfi n Finck, die neben ihm saß,<br />

und fl üsterte: «Die Heirat ist also beschlossene Sache, das ging rascher,<br />

als ich dachte, zwei Unterredungen zwischen Sir Hotham<br />

und dem König haben genügt.»<br />

Hotham hob zögernd sein Glas: «Auf das Wohl <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Wilhelmine.»<br />

In diesem Augenblick sah er, dass Grumbkow sich zum König<br />

neigte und leise fragte: «Darf man Eurer Majestät gratulieren?»<br />

«Ja.»<br />

«Doppelt?»<br />

«Nein.»<br />

Grumbkow sah zu Hotham, <strong>der</strong> einen Schluck Wein trank, und<br />

stutzte.<br />

Mon Dieu, dachte er, <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> wird ja blass unter seinen<br />

geschminkten Wangen, interessant.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm leerte sein Glas und sagte gutgelaunt zu Hotham:<br />

«Ich bin sehr erfreut, dass meine Tochter dem englischen<br />

König gefällt. Er kann sie für seinen Sohn haben, sobald es ihm<br />

beliebt.<br />

499


Sie ist zwar nicht mehr so hübsch wie vor drei Jahren wegen <strong>der</strong><br />

Blatternarben, die Gott sei Dank gut verheilt sind, aber sie ist ein<br />

braves, gutes Mädchen, das ihren Gatten befriedigen wird.<br />

Ich will offen zu Ihnen sprechen: Im Stillen war es immer mein<br />

Wunsch, dass sie ihren Vetter heiratet und einmal Königin von<br />

England wird, <strong>der</strong> Markgraf von Schwedt und <strong>der</strong> Herzog von Weißenfels<br />

wären Notlösungen gewesen. Morgen können wir über den<br />

Ehevertrag verhandeln.»<br />

Hotham lächelte: «Mit dem größten Vergnügen, Majestät, allerdings<br />

müsste ich morgen einen Bericht über unsere Unterredungen<br />

schreiben und König Georg um weitere Instruktionen bitten.»<br />

«Selbstverständlich, dann sprechen wir übermorgen in Potsdam<br />

über den Ehevertrag, und nun, meine Damen und Herren, müssen<br />

wir die Verlobung meiner Tochter, <strong>der</strong> künftigen Prinzessin von<br />

Wales, feiern, auf zum Tanz!»<br />

Er gab den Musikern auf <strong>der</strong> Empore ein Zeichen, stand auf und<br />

legte seine Hand auf die Schulter des Englän<strong>der</strong>s: «Kommen Sie.»<br />

Grumbkow beobachtete nachdenklich, wie <strong>der</strong> König den englischen<br />

Gesandten herumwirbelte, er beobachtete, wie die Offi -<br />

ziere und die Damen anfi ngen zu tanzen, dann begab er sich<br />

in eine Ecke des Saales und dachte nach: Der König war immer<br />

gegen die Doppelheirat, sein Schwager hat sie immer gefor<strong>der</strong>t.<br />

Über die Doppelheirat ist seit Hothams Ankunft entwe<strong>der</strong> nicht<br />

gesprochen worden, o<strong>der</strong> England gibt in diesem Punkt nach und<br />

ist mit <strong>der</strong> einfachen Hochzeit einverstanden. Nun, das werde ich<br />

herausfi nden, es gibt jedenfalls nur eine Möglichkeit, auch die<br />

einfache Heirat zu verhin<strong>der</strong>n: Reichenbach muss wie<strong>der</strong> negative<br />

Berichte über den Prinzen von Wales, sicherheitshalber auch über<br />

die Prinzessin Amalie schicken, und er muss auch berichten, dass<br />

die Welfen in England unbeliebt sind und es fraglich ist, ob sie die<br />

englische Krone behalten werden. Nachher werde ich an Seckendorff<br />

einen ausführlichen Brief über diesen Abend schreiben. Im<br />

Augenblick ist es besser, wenn er dem Hof noch einige Wochen<br />

fernbleibt.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm blieb schwer atmend stehen und sagte zu Hotham:<br />

«Ich wollte meine Frau und meine Tochter mit <strong>der</strong> freudigen<br />

Nachricht überraschen, wenn ich wie<strong>der</strong> im Berliner Schloss bin,<br />

500


aber ich kann diese frohe Botschaft nicht länger vor ihnen verheimlichen,<br />

heute ist einer <strong>der</strong> schönsten Tage meines Lebens, heute ist<br />

ein wahrer Freudentag!»<br />

Er sah sich suchend um und winkte Katte herbei.<br />

«Sie reiten jetzt sofort zu meiner Frau und sagen ihr und Wilhelmine,<br />

dass ich heute die Verlobung Wilhelmines bekanntgegeben<br />

habe.»<br />

An jenem Abend saß Wilhelmine in ihrem Salon im Berliner<br />

Schloss und beschäftigte sich mit einer Stickarbeit, während Fräulein<br />

von Sonsfeld ihr das letzte Kapitel des Romans «Die Prinzessin<br />

von Cleve» vorlas:<br />

«Frau von Cleve führte ein Leben, das keine Aussicht ließ, sie<br />

könne je ihren Sinn än<strong>der</strong>n. Einen Teil des Jahres verbrachte sie in<br />

jenem Stift, den an<strong>der</strong>en zu Hause: Ihre Zurückgezogenheit und<br />

ihre Werke waren gottgefälliger, als wenn sie im strengsten Kloster<br />

gelebt hätte. Ihr kurzes Leben hinterließ Beispiele unnachahmlicher<br />

Tugend.»<br />

Sie legte das Buch zur Seite, und Wilhelmine sah von ihrem<br />

Stickrahmen auf.<br />

«Ich weiß nicht, wie oft Sie mir diesen Roman vorgelesen haben,<br />

aber ich bin immer von neuem fasziniert: Die Prinzessin verzichtet<br />

auf ihre große Liebe, weil sie sich am Tod des Gatten moralisch<br />

schuldig fühlt. Gibt es eine moralische Schuld am Tod eines<br />

Menschen? Der Prinz von Cleve ist gestorben, warum fühlt sie sich<br />

schuldig an seinem Tod?»<br />

Fräulein von Sonsfeld erwi<strong>der</strong>te: «Wenn ein Mensch glaubt, dass<br />

er moralisch am Tod eines an<strong>der</strong>en Menschen schuldig ist, so ist<br />

das seine subjektive Meinung, möglicherweise ist er nicht schuldig,<br />

aber er muss dieses Schuldgefühl innerlich verkraften, und die<br />

Prinzessin von Cleve hat es nicht verkraftet.»<br />

Wilhelmine überlegte: «Angenommen, ein Mensch verarbeitet<br />

innerlich diese Schuld, wird er sich än<strong>der</strong>n?»<br />

«Selbstverständlich, Königliche Hoheit, er kann zum Menschenverächter<br />

werden, er ist vielleicht nicht mehr bereit o<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Lage, einen Menschen zu lieben, sei es die Gattin, die Kin<strong>der</strong>, die<br />

Neffen und Nichten.»<br />

501


Wilhelmine legte den Stickrahmen zur Seite, stand auf und<br />

ging unruhig auf und ab. Dann blieb sie vor ihrer Hofmeisterin<br />

stehen.<br />

«Ich fühle mich so nervös und unruhig seit <strong>der</strong> Ankunft von Sir<br />

Hotham, ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren. Mein Vater<br />

hat mit ihm wahrscheinlich über meine Heirat gesprochen, nun,<br />

ich möchte den Prinzen von Wales heiraten, weil ich dadurch <strong>der</strong><br />

stickigen, sparsamen, unkultivierten Luft des Berliner Hofes entkomme,<br />

aber mein Bru<strong>der</strong> hat dann keinen Menschen mehr, dem<br />

er sich anvertrauen kann.»<br />

Sie ging zu ihrem Schreibsekretär, öffnete eine geheime Schublade,<br />

nahm einen Brief und sagte: «Dieses Schreiben meines Bru<strong>der</strong>s<br />

erhielt ich vor einigen Wochen, hören Sie: ‹Ich bin in <strong>der</strong> größten<br />

Verzweifl ung. Was ich immer befürchtete, ist mir endlich soeben<br />

wi<strong>der</strong>fahren: Der König hat gänzlich vergessen, dass ich sein Sohn<br />

bin, und mich wie den niedrigsten aller Menschen behandelt. Ich<br />

trat heute Morgen wie gewöhnlich in sein Zimmer. Kaum hatte er<br />

mich erblickt, als er mich am Kragen packte und in <strong>der</strong> grausamsten<br />

Weise mit seinem Stock auf mich losschlug. Ich suchte vergeblich,<br />

mich zu wehren, er war in einem so schrecklichen Zorn, dass<br />

er sich nicht mehr beherrschte, und er hielt erst inne, als sein Arm<br />

vor Müdigkeit erlahmte. Ich habe zu viel Ehrgefühl, um <strong>der</strong>artige<br />

Behandlungen zu ertragen, und bin entschlossen, auf diese o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e Weise ihnen ein Ende zu machen.›»<br />

Sie legte den Brief wie<strong>der</strong> in die Schublade und sah ratlos vor<br />

sich hin.<br />

Die Hofmeisterin betrachtete Wilhelmine und sagte zögernd:<br />

«Königliche Hoheit, ich verstehe Ihre Sorgen, <strong>der</strong> letzte Satz – mein<br />

Gott, ich wage kaum, es zu sagen –, <strong>der</strong> letzte Satz klingt, als ob<br />

Seine Königliche Hoheit sich das Leben nehmen will.»<br />

Wilhelmine sah auf: «Nun, das glaube ich nicht, mein Bru<strong>der</strong><br />

liebt das Leben, und er will König werden. Ich befürchte, dass er<br />

immer noch daran denkt zu fl iehen, er sprach zu mir darüber im<br />

Januar 29, und ich versuchte, ihm diesen gefährlichen Plan auszureden,<br />

dann sprachen wir nicht mehr darüber. Ich hoffte, er habe<br />

den Gedanken an Flucht aufgegeben, aber nach diesem Brief bin ich<br />

mir nicht mehr sicher.»<br />

502


Fräulein von Sonsfeld erwi<strong>der</strong>te: «Königliche Hoheit, Ihr Bru<strong>der</strong><br />

ist intelligent, er weiß bestimmt, was passiert, wenn seine Flucht<br />

misslingt, überdies benötigt er Helfer.»<br />

«Sein Freund Katte wird ihm bestimmt helfen.»<br />

«Katte? Das bezweifl e ich, Königliche Hoheit, <strong>der</strong> junge Herr<br />

von Katte macht auf mich einen sehr verständigen Eindruck, er<br />

wird bestimmt versuchen, den Kronprinzen an einer Flucht zu hin<strong>der</strong>n.»<br />

«Ich hoffe, dass Sie Recht haben, aber <strong>der</strong> Gedanke, meinen Bru<strong>der</strong><br />

allein in Preußen zu lassen, belastet mich, ich kann ihn zwar<br />

auch jetzt nicht vor den Schlägen des Königs schützen, aber er kann<br />

zu mir immer offen reden.»<br />

«Seine Königliche Hoheit kann auch mit Herrn von Katte offen<br />

über alles sprechen, das gehört zu einer wirklichen Freundschaft.»<br />

«Gewiss, aber eine Freundschaft zwischen zwei jungen Männern<br />

kann man nicht mit einer Geschwisterbeziehung vergleichen. Geschwister<br />

kennen sich von klein auf, sie haben mehr gemeinsame<br />

Erlebnisse, als man sie mit einem Freund haben kann, überdies ist<br />

<strong>Friedrich</strong> für mich zunächst <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> und dann erst <strong>der</strong> künftige<br />

preußische König. Ein Freund des Kronprinzen wird in ihm stets<br />

den künftigen König sehen und immer auch an die eigene Zukunft<br />

denken.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte Fräulein von Sonsfeld: «Mit<br />

Verlaub, Königliche Hoheit, Sie sollten die gemeinsamen Erlebnisse<br />

zwischen Geschwistern nicht überbewerten, die gemeinsamen Erlebnisse<br />

mit einem Freund können viel wichtiger und intensiver<br />

sein, und was Herrn von Katte betrifft, so bin ich davon überzeugt,<br />

dass er dem Kronprinzen zutiefst ergeben ist und nicht an seine<br />

militärische Laufbahn unter dem künftigen König denkt.»<br />

«Gewiss, er verehrt meinen Bru<strong>der</strong>, er verehrt auch mich im Stillen,<br />

nun, man kann es ihm nicht verbieten, aber bei den Offi zieren<br />

prahlt er auch ein wenig mit <strong>der</strong> Freundschaft zu meinem Bru<strong>der</strong>.»<br />

In diesem Augenblick hörten sie, dass Schritte sich <strong>der</strong> Tür näherten,<br />

sahen, dass die Tür sich öffnete und Sophie Dorothea mit<br />

einigen Hofdamen in das Zimmer rauschte. Die Königin eilte zu<br />

Wilhelmine, umarmte sie freudestrahlend und rief triumphierend:<br />

«Meine liebe Prinzessin von Wales», und zu <strong>der</strong> Hofmeisterin:<br />

503


«Mylady, ab heute werde ich Sie nur noch mit Mylady anreden»,<br />

und zu Wilhelmine: «Mein liebes Kind, Ihr Vater hat heute in<br />

Charlottenburg Ihre Verlobung mit dem Prinzen von Wales bekanntgegeben,<br />

Herr von Katte überbrachte soeben die Nachricht.»<br />

Wilhelmine starrte ihre Mutter an, löste sich aus <strong>der</strong> Umarmung<br />

und trat einen Schritt zurück. Sie sah Katte an <strong>der</strong> Tür stehen und<br />

dachte: Ich träume, dies ist nur ein Traum, und ich werde bald erwachen.<br />

Sophie musterte erstaunt die Tochter und sagte gereizt: «Warum<br />

stehen Sie wie ein Salzsäule herum? Freuen Sie sich nicht?»<br />

Wilhelmine betrachtete die Königin und ging langsam zu ihr.<br />

«Ich freue mich, Mama, natürlich freue ich mich, aber ich kann<br />

es noch nicht glauben. Seit Jahren wird über meine Heirat mit dem<br />

Prinzen von Wales geredet und verhandelt, immer wie<strong>der</strong> wurden<br />

die Verhandlungen abgebrochen. Ist es ein Wun<strong>der</strong>, dass ich daran<br />

zweifele, ob ich meinen Vetter jemals heiraten werde?»<br />

«Ich kann Sie verstehen, aber, mon Dieu, Ihr Vater hat die Verlobung<br />

öffentlich verkündet, warum zweifeln Sie?»<br />

«Ich zweifele nicht, aber erlauben Sie, Mama, dass ich mit Herrn<br />

von Katte einen Augenblick unter vier Augen, ich meine natürlich<br />

unter sechs Augen, spreche.»<br />

Sophie Dorothea sah zu <strong>der</strong> Hofmeisterin: «Meinetwegen, aber<br />

nur wenige Minuten.»<br />

Sie rauschte mit ihren Damen hinaus, und Wilhelmine winkte<br />

Katte, näherzutreten.<br />

«Wie hat mein Bru<strong>der</strong> auf meine Verlobung reagiert?»<br />

«Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz weilt in Potsdam, er war bei<br />

<strong>der</strong> Tafel in Charlottenburg nicht anwesend.»<br />

«Nun ja, das ist nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, mein Vater gönnt<br />

ihm kein Vergnügen. Der König hat die Verlobung verkündet, wie<br />

hat Sir Hotham reagiert?»<br />

«Er hat kein Wort gesagt, Königliche Hoheit, wir waren alle<br />

überrascht. Sir Hotham kam am 2. April an, und zwei Tage später<br />

sind die Verhandlungen beendet, es geht jetzt nur noch um den<br />

Ehevertrag.»<br />

«Danke, Sie können gehen.»<br />

504


Wilhelmine sank auf einen Stuhl, dachte einen Augenblick nach<br />

und sagte: «Etwas verstehe ich nicht, Fräulein von Sonsfeld: England<br />

bestand immer auf <strong>der</strong> Doppelheirat, mein Vater war immer<br />

dagegen. Hat England inzwischen auf die Doppelheirat verzichtet?»<br />

Am Vormittag des 6. April ging Hotham langsam durch die Säle<br />

des Potsdamer Schlosses zum Arbeitszimmer des Königs.<br />

Hin und wie<strong>der</strong> blieb er stehen, atmete tief durch und überlegte:<br />

Der König muss langsam auf diese Heiratsgeschichte eingestimmt<br />

werden. Ich muss die Verhandlungen verzögern und immer wie<strong>der</strong><br />

neue Instruktionen aus London anfor<strong>der</strong>n, vor allem muss ich nach<br />

dieser Audienz den Kronprinzen informieren.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging dem Englän<strong>der</strong> strahlend entgegen:<br />

«Willkommen, Sir Hotham, ich bin so glücklich, dass meine Wilhelmine<br />

doch noch standesgemäß heiraten wird.»<br />

Hotham verzog den Mund zu einem Lächeln: «Majestät, es gibt<br />

drei Königreiche in Großbritannien, England, Schottland und Irland,<br />

die Ihre Königliche Hoheit mit Ungeduld erwarten, aber ich<br />

versichere Ihnen, am ungeduldigsten erwartet <strong>der</strong> Prinz von Wales<br />

die Ankunft <strong>der</strong> Prinzessin.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete amüsiert den Gesandten.<br />

Ein geschickter Diplomat, dachte er, seine Worte sind eine höfi<br />

sche Schmeichelei, schließlich kennt mein Neffe seine Cousine<br />

nicht, aber wie sagt man? Klappern gehört zum Handwerk.<br />

«Es freut mich zu hören, dass meine Wilhelmine in ihrer künftigen<br />

Heimat sehnsüchtig erwartet wird, und deswegen sollten<br />

wir uns jetzt über den Ehevertrag unterhalten. Bitte, nehmen Sie<br />

Platz.»<br />

Während Hotham sich steif auf den Stuhl vor dem Schreibtisch<br />

setzte, lehnte <strong>der</strong> König sich behaglich in seinem Lehnstuhl zurück<br />

und sagte: «Die wichtigste Frage bei einem Ehevertrag ist die<br />

Mitgift. Mein Schwager hat wahrscheinlich gewisse Vorstellungen<br />

über die Höhe <strong>der</strong> Morgengabe.»<br />

Hotham zögerte etwas, dann sah er den König an und sagte<br />

langsam: «Der König von England verzichtet auf die Mitgift seiner<br />

künftigen Schwiegertochter.»<br />

505


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm glaubte, nicht richtig zu hören, und starrte<br />

Hotham einige Sekunden lang an.<br />

«Wie bitte? Mein Schwager verzichtet auf die Mitgift? Dies hätte<br />

ich von ihm am wenigsten erwartet. Warum verzichtet er? Ich bin<br />

inzwischen kein Bettelkönig mehr – in Preußen geht es wirtschaftlich<br />

aufwärts, meine Truhen sind bis oben hin mit Gold gefüllt.<br />

Glaubt mein Schwager etwa, dass ich meiner Tochter keine standesgemäße<br />

Mitgift geben kann?»<br />

Hotham betrachtete unschlüssig seine polierten Fingernägel, jetzt<br />

muss ich es ihm sagen, dachte er, und er sah den König an: «Majestät,<br />

in London ist man bestens über den wirtschaftlichen Aufschwung<br />

Preußens unterrichtet. Lei<strong>der</strong> war bis jetzt noch keine Gelegenheit,<br />

um Eure Majestät über das ganze Angebot des englischen Königs zu<br />

unterrichten. Ich bin beauftragt, über eine Doppelheirat zu verhandeln,<br />

ich darf <strong>der</strong> Vermählung des Prinzen von Wales mit Prinzessin<br />

Wilhelmine zustimmen und einen Vertrag schließen unter <strong>der</strong> Bedingung,<br />

dass es zu einer Verlobung des Kronprinzen mit <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Amalie kommt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte den Gesandten verblüfft an, schwieg<br />

einen Augenblick, dann stand er auf und ging langsam im Zimmer<br />

umher.<br />

Die Augen des Englän<strong>der</strong>s folgten dem König, er betrachtete<br />

die fi nstere Miene und dachte im Stillen, dass jeden Moment einer<br />

<strong>der</strong> berühmten königlichen Wutausbrüche über ihn hereinbrechen<br />

würde.<br />

Nach einer Weile blieb <strong>Friedrich</strong> Wilhelm vor Hotham stehen,<br />

musterte den Englän<strong>der</strong> und sagte nachdenklich: «Mein Schwager<br />

wünscht also immer noch die Doppelheirat, deswegen hat er<br />

Sie geschickt, und deswegen verzichtet er auf die Mitgift. England<br />

wünscht, dass mein Sohn eine englische Prinzessin heiratet. Die<br />

Idee fängt an, mir zu gefallen. Ich hasse meinen Sohn und er mich,<br />

es ist für uns beide am besten, wenn wir uns nicht jeden Tag sehen.<br />

Die Doppelheirat bedeutet auch, dass ich mich vom Kaiser lossage,<br />

wenn England dies wünscht. So verlange ich eine Garantie für Jülich<br />

und Berg, und ich verlange noch mehr.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: «Vor sieben<br />

Jahren weilte mein seliger Schwiegervater einige Tage an meinem<br />

506


Hof. Er wollte meinen Sohn nach <strong>der</strong> Heirat mit Amalie zum Statthalter<br />

in Hannover ernennen. Ich verlange als Mitgift für die Prinzessin<br />

Amalie die Statthalterschaft in Hannover für meinen Sohn,<br />

und ich verzichte auf jede weitere Mitgift.»<br />

Hotham sah <strong>Friedrich</strong> Wilhelm erstaunt an.<br />

Ein merkwürdiger Sinneswandel, dachte er, die Verhandlungen<br />

laufen unproblematischer, als ich dachte.<br />

Er stand auf.<br />

«Ich werde noch heute einen Eilkurier nach London schicken,<br />

Majestät. Ich nehme an, dass Euer Majestät den Kronprinzen über<br />

den Heiratsplan informieren werden.»<br />

«Nein, das geht meinen Sohn nichts an, ich bin sein Vater, und<br />

ich allein entscheide, wann und wen er heiraten wird.»<br />

«Selbstverständlich, Majestät.» Ich werde den Prinzen informieren,<br />

dachte Hotham, er muss wissen, worüber verhandelt wird.<br />

Als die Tür sich hinter dem Englän<strong>der</strong> schloss, sank <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm in seinen Lehnstuhl und lächelte zufrieden vor sich hin.<br />

Die Statthalterschaft von Hannover war ein glücklicher Gedanke,<br />

dachte er, wenn das junge Paar in Hannover residiert, sehe ich sie nicht,<br />

vor allem sehe ich meinen Sohn nicht, und <strong>der</strong> Haushalt des jungen<br />

Paares kostet mich nichts, weil England den Haushalt fi nanziert.<br />

Am frühen Abend des 4. Mai überreichte Hotham dem preußischen<br />

König die Antwort aus London.<br />

«Majestät, ich bitte jetzt formell um die Hand <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Wilhelmine für den Prinzen von Wales. Da Seine Majestät, <strong>der</strong><br />

König von Großbritannien, und das englische Volk sich noch näher<br />

mit <strong>der</strong> preußischen Königsfamilie zu verbinden wünschen, so hat<br />

<strong>der</strong> König von Großbritannien die Prinzessin Amalie als Gemahlin<br />

für den preußischen Kronprinzen bestimmt, und er ist bereit, die<br />

Prinzessin und den Kronprinzen zu Statthaltern von Hannover zu<br />

ernennen bis zu dem Tag, an dem <strong>der</strong> Kronprinz König wird. Prinzessin<br />

Amalie erhält außerdem eine Mitgift von 100 000 Pfund,<br />

und Sie, Majestät, werden von England selbstverständlich unterstützt,<br />

was Ihre Ansprüche auf Jülich und Berg betrifft.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Gesandten einen Augenblick nachdenklich<br />

an und erwi<strong>der</strong>te: «Ich bin glücklich, dass mein Schwa-<br />

507


ger meine Vorschläge akzeptiert, allerdings muss die Entscheidung<br />

wohl erwogen werden, ich muss mich mit meinen Ministern beraten,<br />

in ungefähr einer Woche erhalten Sie meine Antwort.»<br />

Hotham sah den König erstaunt an.<br />

In London akzeptiert man seine Wünsche, warum die lange Bedenkzeit?<br />

Als <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> gegangen war, trat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm zum<br />

Fenster und sah nachdenklich hinunter in den Hof.<br />

Mein Schwager will unbedingt seine Tochter mit meinem Sohn<br />

verheiraten, warum? Verwandtschaftliche Gefühle dürften dabei<br />

kaum eine Rolle spielen, er verfolgt ein bestimmtes Ziel, das heißt:<br />

die englische Regierung verfolgt ein bestimmtes Ziel, mein Schwager<br />

ist ja immer von diesem Parlament abhängig, während ich, <strong>der</strong><br />

Bettelkönig, Gott sei Dank in meinem Reich allein entscheiden<br />

kann.<br />

Während jener Audienz saßen Katte und <strong>Friedrich</strong> im Arbeitszimmer<br />

des Prinzen und studierten die Poetik des Aristoteles.<br />

«Höre, Hermann, was er über die Tragödie schreibt:<br />

‹Erstens. Da nun die Zusammensetzung einer möglichst guten<br />

Tragödie nicht einfach, son<strong>der</strong>n kompliziert sei, und da sie hierbei<br />

Schau<strong>der</strong>erregendes und Jammervolles nachahmen soll (dies ist ja<br />

die Eigentümlichkeit dieser Art von Nachahmung), ist Folgendes<br />

klar: Man darf nicht zeigen, wie makellose Männer einen Umschlag<br />

vom Glück ins Unglück erleben …<br />

Zweitens. Man darf auch nicht zeigen, wie Schufte einen Umschlag<br />

vom Unglück ins Glück erleben …<br />

Drittens. An<strong>der</strong>erseits darf man auch nicht zeigen, wie <strong>der</strong> ganz<br />

Schlechte einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt …<br />

So bleibt <strong>der</strong> Held übrig, <strong>der</strong> zwischen den genannten Möglichkeiten<br />

steht. Dies ist bei jemandem <strong>der</strong> Fall, <strong>der</strong> nicht trotz seiner<br />

sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens,<br />

aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen<br />

Umschlag ins Unglück erlebt, son<strong>der</strong>n wegen eines Fehlers …›»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah auf: «Man bekommt Angst, wenn man Aristoteles<br />

liest: Ein Mensch, dessen Charakter we<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s tugendhaft<br />

noch beson<strong>der</strong>s ver<strong>der</strong>bt ist, begeht einen Fehler, und dieser<br />

508


Fehler löst eine Tragödie aus, eine Tragödie, die zum äußeren Tod<br />

des Helden führt o<strong>der</strong> aber, was noch schlimmer ist, zum inneren<br />

Tod.»<br />

Katte sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Was meinst du mit ‹innerer<br />

Tod›?»<br />

«Nun, wenn ein Mensch eine Tragödie, die er verursacht hat,<br />

seelisch nicht verkraftet, sei es, dass er während seines weiteren<br />

Lebens an Schuldgefühlen leidet, sei es, dass er sich innerlich verän<strong>der</strong>t,<br />

gefühlskalt wird, sich verstellt – das meine ich mit innerem<br />

Tod.»<br />

In diesem Augenblick überbrachte <strong>der</strong> Kammerdiener einen<br />

Brief.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete das Siegel: «Das Schreiben ist von Hotham,<br />

mon Dieu, dieser Brief entscheidet wahrscheinlich mein weiteres<br />

Leben», er brach mit zitternden Fingern das Siegel auf, las, dann<br />

sprang er auf und umarmte den Freund.<br />

«Gerettet, wir sind gerettet: Mein Onkel erklärt sich bereit,<br />

Amalie und mich zu Statthaltern in Hannover zu ernennen, mein<br />

Onkel akzeptiert die Bedingungen meines Vaters, jetzt kann mein<br />

Vater meine Verheiratung nicht länger verweigern; wir werden<br />

in Herrenhausen leben, ohne eine Einmischung meines Vaters<br />

befürchten zu müssen, ich bin fi nanziell nicht mehr von ihm abhängig,<br />

ich werde endlich so leben können, wie ich will, ich werde<br />

mich mit einem Freundeskreis umgeben, <strong>der</strong> meine Interessen teilt,<br />

wir werden über Literatur und Philosophie disputieren, ich werde<br />

Konzerte veranstalten, Opern, Tragödien und Komödien aufführen<br />

lassen, wir werden auch selbst Rollen in diesen Theaterstücken<br />

übernehmen, und du, Hermann, wirst mein engster Berater sein.<br />

Mon Dieu, eine glückliche Zukunft liegt vor uns!»<br />

Katte lächelte: «Ich freue mich mit dir, ich habe diese glückliche<br />

Wendung nicht für möglich gehalten, aber du hast den Brief noch<br />

nicht zu Ende gelesen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überfl og die Zeilen: «Mein Onkel wünscht, dass ich<br />

schriftlich erkläre, ihm die Kosten für meinen Haushalt in Hannover<br />

zurückzuzahlen, wenn ich König bin, ich muss nur das<br />

beigefügte Dokument unterzeichnen. Nun, die Rückzahlung <strong>der</strong><br />

Kosten wird kein Problem sein, die Truhen im Keller des Berliner<br />

509


Schlosses sind bis zum Rand mit Goldstücken gefüllt.» Er nahm<br />

eine Fe<strong>der</strong>, aber im gleichen Augenblick spürte er Kattes Hand auf<br />

seiner Schulter.<br />

«Warte, <strong>Friedrich</strong>, und denke einen Moment nach, bevor du unterschreibst.<br />

Ich will dich jetzt nicht an die Reaktion deines Vaters<br />

erinnern, falls er von diesem von dir unterschriebenen Dokument<br />

erfahren sollte, ich will dich nur an die Zukunft Preußens erinnern.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Katte erstaunt an: «Die Zukunft Preußens, was<br />

willst du damit sagen?»<br />

«Wenn du unterschreibst, begibst du dich in die Abhängigkeit<br />

von England, du wirst zum Vasallen Englands. Angenommen,<br />

du benötigst das Geld deines Vaters bei deiner Thronbesteigung<br />

dringend für an<strong>der</strong>e Projekte, was ist dann mit <strong>der</strong> Rückzahlung?»<br />

«Ich werde meine Schulden bezahlen.»<br />

«Gut. Angenommen, dein Vater lebt noch zehn Jahre o<strong>der</strong> länger,<br />

dann steigen die Summen, die du an England zahlen musst. In<br />

wenigen Jahren kann so viel passieren, wenn du aus irgendwelchen<br />

Gründen die Schulden als König nicht zurückzahlen kannst, dann<br />

bist du vom Wohlwollen <strong>der</strong> englischen Regierung abhängig; dies<br />

bedeutet, dass du außenpolitisch keine freien Entscheidungen mehr<br />

treffen kannst, du wirst dich dann <strong>der</strong> englischen Außenpolitik<br />

beugen müssen, und ob diese Politik immer im Interesse Preußens<br />

ist, das bezweifele ich.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte: «Du hast recht, aber jetzt will ich nur eines,<br />

ich will die Aufsicht meines Vaters abschütteln. Dies gelingt nur,<br />

wenn ich Amalie heirate, und was die Abhängigkeit von England<br />

betrifft, so werde ich zur rechten Zeit einen Weg fi nden, <strong>der</strong> mich<br />

von dieser Abhängigkeit befreit.»<br />

Er setzte sich an den Tisch, nahm die Fe<strong>der</strong> und unterzeichnete<br />

das Dokument.<br />

Ungefähr eine Woche später ging <strong>Friedrich</strong> Wilhelm in seinem Arbeitszimmer<br />

unruhig hin und her.<br />

«Ich muss endlich entscheiden, ob ich das englische Angebot annehme<br />

o<strong>der</strong> nicht, Hotham wartet schon seit Tagen auf meine Ant-<br />

510


wort», sagte er halblaut zu sich selbst. Er blieb stehen und überlegte<br />

erneut: Also noch einmal, was spricht für eine Ehe zwischen Fritz<br />

und Amalie?<br />

Ich muss den Anblick meines Sohnes nicht länger ertragen, weil<br />

er dann in Hannover lebt und ich nicht für die Kosten seines Haushaltes<br />

aufkommen muss.<br />

Was spricht gegen diese Ehe?<br />

Ich soll mich mit England und Frankreich verbünden in einem<br />

Augenblick, wo beide Län<strong>der</strong> kurz davorstehen, mit dem Kaiser<br />

Krieg zu führen. Ich bin aber nach wie vor kaisertreu.<br />

Amalie wird eines Tages Königin von Preußen sein, sie ist verwöhnt<br />

und wird sich wahrscheinlich nie an eine sparsame Hofhaltung<br />

gewöhnen können, sie wird Fritz zu unnötigen Ausgaben<br />

veranlassen, irgendwann wird er deswegen die Armee verkleinern<br />

müssen, und das ist <strong>der</strong> Anfang vom Ende meines Staates und des<br />

Hauses Hohenzollern.<br />

Mein Sohn wird sich natürlich freuen, wenn er nach Hannover<br />

übersiedeln und meiner Aufsicht entrinnen kann.<br />

Was hat Hotham vor einigen Tagen über meinen Sohn gesagt?<br />

‹Wenn ich nicht sehr irre, wird dieser junge Fürst <strong>der</strong>einst eine<br />

große Rolle spielen.›<br />

– Eine große Rolle, es ist nicht nötig, dass er eine große Rolle<br />

spielt, er soll Preußen gut verwalten, dafür sorgen, dass es den Untertanen<br />

wirtschaftlich gutgeht, und er soll für eine schlagkräftige<br />

Armee sorgen, das ist seine große Rolle.<br />

Er ging wie<strong>der</strong> auf und ab und sagte halblaut: «Reichenbachs Berichte<br />

sprechen auch nicht für eine Verheiratung meiner Kin<strong>der</strong><br />

mit den englischen Verwandten; angeblich ist mein Schwager verhasst,<br />

und man muss damit rechnen, dass seine Tage als König von<br />

England gezählt sind. Der Prinz von Wales verbringt seine Zeit<br />

in Bordellen, und Amalie soll ehrgeizig, hochmütig und launisch<br />

sein. Welche Entscheidung ist richtig? Soll ich das englische Angebot<br />

annehmen, soll ich es ablehnen? Hotham wartet,<br />

aber die Antwort muss sehr reifl ich erwogen werden. Ich gebe<br />

mir noch Zeit bis zur Verlobung Philippine Charlottes, dann muss<br />

ich entscheiden, und dann werde ich entscheiden.»<br />

511


Am 19. Mai, gegen fünf Uhr nachmittags, versammelten sich die<br />

königliche Familie und die Familie des Herzogs Ferdinand Albrecht<br />

von Braunschweig-Bevern im Audienzzimmer Sophie Dorotheas.<br />

<strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine standen nebeneinan<strong>der</strong> und musterten<br />

die neue Verwandtschaft.<br />

<strong>Friedrich</strong>s Augen wan<strong>der</strong>ten von <strong>der</strong> hochgewachsenen, stattlichen<br />

Figur des Herzogs zu <strong>der</strong> Herzogin Antoinette, die glücklich<br />

lächelte, dann sah er zu dem großen, schlanken Erbprinzen Karl,<br />

<strong>der</strong> neben seinem Vater stand, er betrachtete das schmale Gesicht<br />

des jungen Mannes und sagte leise zu Wilhelmine: «Ich glaube, unser<br />

künftiger Schwager ist ziemlich aufgeregt, er sieht so blass aus;<br />

angeblich mag er Sanssouci, warum ist er nervös? Er müsste glücklich<br />

sein, dass er als Prinz mit einer Frau verlobt wird, die er mag<br />

und die ihn ebenfalls mag.»<br />

Wilhelmine wandte ihre Augen von <strong>der</strong> Herzogin ab und sagte<br />

leise: «Die Herzogin ist eine warmherzige Frau, wir verstehen uns<br />

gut, dennoch ist dies Verlöbnis ein Skandal und für mich eine Demütigung.<br />

Sanssouci ist die zweite jüngere Schwester, die vor mir<br />

verlobt wird. Mon Dieu, hätte Papa nicht noch warten können?<br />

Philippine ist vierzehn und <strong>der</strong> Bräutigam knapp siebzehn. Ich bin<br />

fast einundzwanzig Jahre alt, und die Verhandlungen über meine<br />

Verheiratung sind immer noch nicht abgeschlossen, weil Papa sich<br />

nicht entscheiden kann. Stattdessen hat er es eilig, meine Schwestern<br />

mit irgendwelchen kleinen Fürsten zu verheiraten. Die preußischen<br />

Prinzessinnen sind inzwischen gute Partien, vorausgesetzt,<br />

Papa knausert nicht bei <strong>der</strong> Mitgift, aber eine Verbindung<br />

mit den Hohenzollern ist inzwischen auch außenpolitisch wichtig<br />

– wegen unserer starken Armee. Papa könnte weiß Gott wählerischer<br />

sein bei seinen künftigen Schwiegersöhnen, und wen sucht<br />

er aus? Einen Markgrafen und einen Erbprinzen aus einer Seitenlinie.<br />

Ikes Mann ist inzwischen wenigstens regieren<strong>der</strong> Markgraf,<br />

aber Karl wird wahrscheinlich noch lange warten müssen, bis er<br />

regieren<strong>der</strong> Herzog wird, erst müssen sein Großvater, dann sein<br />

Vater sterben, und sein Vater ist mit seinen fünfzig Jahren ein<br />

rüstiger Mann. Es ist unglaublich, er verlobt eine Tochter, eine<br />

Königstochter, mit dem Prinzen einer Nebenlinie, das verstehe,<br />

wer will.»<br />

512


«Diese Verbindung mit Braunschweig-Bevern passt zu Papas<br />

schlichtem Gemüt», antwortete <strong>Friedrich</strong> mit einem bitteren Unterton<br />

in <strong>der</strong> Stimme, «Papa ist mit Herzog Ferdinand schon lange befreundet,<br />

und außerdem ist unser künftiger Schwager ein Neffe <strong>der</strong> Kaiserin,<br />

das bedeutet eine familiäre Verbindung mit dem Haus Habsburg,<br />

und die Habsburger sind für Papa lei<strong>der</strong> nach wie vor wichtig.»<br />

«Eine Verbindung mit England ist für uns ebenso wichtig, England<br />

ist ein reiches Land, Braunschweig-Bevern hingegen, mon<br />

Dieu, sie sollen arm sein wie die Kirchenmäuse. Der Herzog hat<br />

acht Kin<strong>der</strong>, fünf Söhne und drei Töchter, die er verheiraten muss,<br />

angeblich leben sie in Wolfenbüttel sparsam und bescheiden in<br />

einem kleinen Schloss, nun, wir leben auch sparsam, aber wir<br />

könnten uns inzwischen eine üppige Hofhaltung leisten. Ich verstehe<br />

Papa nicht, er könnte eine seiner Töchter standesgemäß mit<br />

einem künftigen König verheiraten, doch er zögert und kann sich<br />

nicht entscheiden.»<br />

«Er kann sich nicht entscheiden, weil England auf <strong>der</strong> Doppelheirat<br />

besteht, allerdings verstehe ich sein Zögern ebenfalls nicht,<br />

er müsste doch froh sein, wenn er mich nicht mehr sieht und nicht<br />

mehr für meinen Haushalt aufkommen muss.»<br />

In diesem Augenblick öffnete sich die Flügeltür und ein Lakai<br />

rief: «Ihre Majestät, die Königin; Ihre Königliche Hoheit, Prinzessin<br />

Philippine Charlotte.»<br />

Sophie Dorothea betrat, die Tochter an <strong>der</strong> Hand führend, würdevoll<br />

und schwerfällig das Zimmer. Sie geleitete das junge Mädchen<br />

zu dem Erbprinzen und setzte sich dann langsam auf ein Sofa.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die strahlenden Augen <strong>der</strong> Schwester und<br />

musste unwillkürlich lächeln, als er sah, dass sie beim Anblick des<br />

Bräutigams leicht errötete.<br />

Nun trat <strong>der</strong> Staatsminister, Generalleutnant von Borck, in die<br />

Mitte des Zimmers, sah sich lächelnd um und begann zu reden.<br />

<strong>Friedrich</strong> hörte nicht zu, son<strong>der</strong>n betrachtete nachdenklich den<br />

gewölbten Leib seiner Mutter.<br />

Sie trägt das vierzehnte Kind, dachte er erbost, war diese Schwangerschaft<br />

nötig?<br />

Mit dreiundvierzig Jahren ist sie zu alt für eine Nie<strong>der</strong>kunft,<br />

diese Geburt kann sie das Leben kosten.<br />

513


Seine Augen wan<strong>der</strong>ten zu <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, <strong>der</strong> andächtig<br />

den Worten des Ministers lauschte, und <strong>Friedrich</strong> spürte, wie Hass<br />

in ihm emporstieg.<br />

Dieser Fettwanst im Schlafgemach meiner Mutter, dachte er, es<br />

ist wi<strong>der</strong>lich, wi<strong>der</strong>lich und ekelhaft.<br />

Der Minister schwieg, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat zu dem jungen<br />

Paar und sagte lächelnd: «Wenn Ihr Euch nun einan<strong>der</strong> lieben<br />

und haben wollt, so sagt dazu ein deutliches, lautes Ja o<strong>der</strong> Nein,<br />

denn jetzt ist es noch Zeit, eins von beiden zu wählen.»<br />

Philippine Charlotte und Karl sahen sich einen Augenblick an<br />

und sagten fast gleichzeitig: «Ja.»<br />

Dann streifte Karl zitternd den Ring über den linken Ringfi nger<br />

seiner Braut, das junge Mädchen schob langsam den Ring über den<br />

Finger des Bräutigams, lächelte ihn errötend an, und dann küssten<br />

sie die Hände des Königs, gingen zur Königin und dem herzoglichen<br />

Paar, küssten <strong>der</strong>en Hände, und während Karl steif und<br />

verlegen im Zimmer stand, umarmte seine Braut nacheinan<strong>der</strong> die<br />

Geschwister.<br />

Wilhelmine kämpfte mit den Tränen und fl üsterte: «Ich beneide<br />

dich, du heiratest wenigstens einen Mann, den du liebst.»<br />

<strong>Friedrich</strong> küsste die Schwester auf die Stirn und sagte ernst: «Ich<br />

hoffe, dass du glücklich wirst und das Haus Hohenzollern stets<br />

würdig repräsentierst.»<br />

Das junge Mädchen sah den Bru<strong>der</strong> unsicher an: «Selbstverständlich,<br />

Fritz. Ich weiß, was ich dir als künftigem König schuldig<br />

bin, du wirst auf mich stolz sein können.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat zu Karl, schmunzelte und sagte leise:<br />

«Du hast vergessen, deiner Braut einen Kuss zu geben, das wirst du<br />

später vor den erlauchten Herrschaften nachholen.»<br />

Der junge Mann wurde puterrot und stammelte: «Ein Kuss?»<br />

Da begann <strong>der</strong> König zu lachen: «Warum nicht? Ein Brautpaar<br />

darf sich küssen», er trat näher zu Karl und fuhr halblaut fort:<br />

«Nun darfst du ganz frei mit deiner Braut umgehen, mache ihr<br />

Komplimente, küsse ihre Hände, ein Kuss auf den Mund ist ebenfalls<br />

erlaubt.»<br />

Er nickte dem jungen Mann zu, ging zu Herzog Ferdinand, umarmte<br />

ihn und zog ihn in eine Fensternische.<br />

514


Einige Lakaien servierten Wein, <strong>Friedrich</strong> nahm ein Glas, beobachtete<br />

amüsiert, wie Karl, dessen Gesicht immer noch rot war, seine<br />

Braut vorsichtig auf den Mund küsste, sah dann, dass sein Vater<br />

und <strong>der</strong> Herzog sich angeregt unterhielten, und einem plötzlichen<br />

Impuls folgend, ging er langsam näher und verschwand diskret<br />

hinter einem <strong>der</strong> Wandschirme.<br />

Sie können mich nicht sehen, und ich kann alles hören, dachte er,<br />

vielleicht redet Papa über die englische Heirat.<br />

«Ich bin froh», sagte <strong>der</strong> Herzog, «dass mein ältester Sohn verlobt<br />

ist, Sie wissen ja, wie es ist, wenn man viele Kin<strong>der</strong> hat, die<br />

man standesgemäß verheiraten möchte. Ich beneide Sie, von Ihren<br />

sechs Töchtern ist eine vermählt und zwei sind verlobt.»<br />

«Zwei? Meine älteste Tochter ist offi ziell noch nicht verlobt, die<br />

Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte bei diesen Worten zusammen und spürte fast<br />

körperlich das erstaunte Gesicht des Herzogs.<br />

«Das überrascht mich, überall hört man, dass Prinzessin Wilhelmine<br />

den Prinzen von Wales heiraten wird.»<br />

«Es wird darüber geredet, aber es ist noch nicht endgültig entschieden.»<br />

«Ihre älteste Tochter und Ihre an<strong>der</strong>en Töchter sind glänzende Partien,<br />

ich denke dabei nicht an die Mitgift, son<strong>der</strong>n an ihre Bildung,<br />

Ihre Töchter können sich wahrscheinlich geistreicher unterhalten<br />

und besser repräsentieren als meine Töchter, ich habe sie so gut erziehen<br />

lassen, wie es meinen fi nanziellen Verhältnissen entspricht, aber<br />

verglichen mit Ihren Töchtern mangelt es ihnen an einem gewissen<br />

Schliff. Nun, vielleicht kann man bei meinen jüngeren Töchtern noch<br />

etwas nachholen, sie sind noch nicht im heiratsfähigen Alter, aber<br />

meine älteste Tochter, Elisabeth Christine, wird im November fünfzehn.<br />

Bei ihr muss ich mich allmählich nach einer passenden Partie<br />

umsehen, sie ist ein liebes, frommes Mädchen, aber verglichen mit<br />

Ihrer ältesten Tochter kann sie noch nicht repräsentieren.»<br />

«Ist das so wichtig? Ihre Töchter sind Nichten <strong>der</strong> Kaiserin, allein<br />

diese Tatsache zählt; die verwandtschaftliche Verbindung zum<br />

Haus Habsburg macht Ihre Töchter zu guten Partien.»<br />

«Nun ja, man sollte diese Verbindung nicht überschätzen, fi nanziell<br />

haben wir von den Habsburgern keine Unterstützung zu erwarten.»<br />

515


«Auch das ist unwichtig, Sie erwähnten, Ihre älteste Tochter sei<br />

fromm – das ist eine wertvolle Mitgift; meine Wilhelmine mag intelligent<br />

sein, aber sie ist durch ihre Erziehung verformt worden: Sie<br />

glaubt, sie sei etwas Besseres, weil sie geistreich plau<strong>der</strong>n kann und<br />

weil sie eine halbe Welfi n ist. Meine Tochter ist durch ihre Erziehung<br />

verdorben worden, Ihre Töchter hingegen sind wahrscheinlich natürlich<br />

geblieben, aber wir reden und reden und vergessen die Damen.»<br />

Er wartete, bis <strong>der</strong> Vater und <strong>der</strong> Herzog die Fensternische verließen,<br />

dann ging er langsam zu den Damen.<br />

Wilhelmine hatte beobachtet, wie er sich dem König und dem<br />

Herzog näherte, und sah ihn fragend an.<br />

Er beugte sich zu ihr und sagte leise: «Ich glaube, er hat sich<br />

noch nicht entschieden, es wird wohl weiter verhandelt werden.»<br />

In diesem Augenblick öffneten sich die Flügeltüren, Sophie Dorothea<br />

stand auf und sagte: «Die Abendtafel ist gerichtet.»<br />

Der Herzog von Braunschweig-Bevern geleitete die Königin zur<br />

Tafel, gefolgt von <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und <strong>der</strong> Herzogin Antoinette.<br />

<strong>Friedrich</strong> und Wilhelmine gingen am Schluss des Zuges zum Speisesaal.<br />

«Ich vermute», sagte <strong>Friedrich</strong> leise zur Schwester, «dass <strong>der</strong> Herzog<br />

beabsichtigt, sich noch enger mit unserer Familie zu verbinden,<br />

er muss drei Töchter verheiraten, eine von ihnen wird bestimmt<br />

einen unserer jüngeren Brü<strong>der</strong> heiraten, er tut mir schon jetzt leid.<br />

Die Töchter des Herzogs sind lieb und fromm; Gott bewahre mich<br />

vor einer solchen Gattin, ich hoffe aus ganzem Herzen, dass ich<br />

Amalie heiraten kann, sie ist wahrscheinlich weltoffener erzogen<br />

als die Töchter des Herzogs.»<br />

Am Abend des 25. Mai stand <strong>Friedrich</strong> im Arbeitszimmer des Königs<br />

im Potsdamer Schloss vor dem Vater.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte den Sohn kühl und sagte: «Deine<br />

Mutter hat vor einigen Stunden einen gesunden Sohn geboren, er<br />

wird den Namen Ferdinand August tragen. Du wirst noch heute<br />

einen Brief an deine Mutter schreiben und ihr zur glücklichen Geburt<br />

gratulieren, hast du noch Fragen?»<br />

«Nein, Papa, ich bin froh, dass Mama diese Nie<strong>der</strong>kunft überlebt<br />

hat.»<br />

516


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging einige Minuten auf und ab, dann blieb er<br />

vor dem Sohn stehen und sagte: «Du weißt wahrscheinlich inzwischen,<br />

welches Angebot dein Onkel in <strong>der</strong> Heiratsangelegenheit<br />

unterbreitet hat, es gibt genug Spione am Hof, die dich darüber<br />

unterrichtet haben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak und dachte sich: Es ist besser, wenn ich es<br />

nicht abstreite.<br />

«Ja, Papa, ich weiß, welches Angebot mein Onkel Ihnen unterbreitet<br />

hat.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte zufrieden: «Nun, ich glaube, jetzt ist<br />

<strong>der</strong> richtige Zeitpunkt, um dich über den Stand <strong>der</strong> Verhandlungen<br />

zu unterrichten. Ich habe Sir Hotham heute meine Antwort mitgeteilt:<br />

Ich bin bereit zur Heirat Wilhelmines mit dem Prinzen von<br />

Wales, ich verzichte für dich auf die Statthalterschaft in Hannover,<br />

und ich möchte dich nicht eher verheiraten, bis <strong>der</strong> Konfl ikt<br />

zwischen England und dem Kaiser bereinigt ist. Ich möchte den<br />

Zeitpunkt deiner Verheiratung selbst bestimmen, überdies for<strong>der</strong>e<br />

ich nach wie vor Garantien für Jülich und Berg. Hast du noch Fragen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte den König einen Augenblick an und sagte leise:<br />

«Nein, Papa.»<br />

Während er sich zu seinem Appartement begab, versuchte er,<br />

einen klaren Gedanken zu fassen.<br />

In seinem Schlafzimmer öffnete er die Fenster und atmete einen<br />

Augenblick die milde Frühlingsluft ein.<br />

Dann ging er hin und her und überlegte: Mein Onkel wird<br />

wahrscheinlich die For<strong>der</strong>ungen meines Vaters ablehnen, und das<br />

bedeutet, dass die Verhandlungen abgebrochen werden, das muss<br />

ich verhin<strong>der</strong>n. Die Lage kann sich so entwickeln, dass ich aus dem<br />

Heerlager in Sachsen fl iehen muss – soll ich Katte jetzt in meine<br />

Fluchtpläne einweihen?<br />

Er ging einige Minuten auf und ab, blieb stehen und sagte leise:<br />

«Ich werde ihn nicht einweihen, ich möchte ihn nicht gefährden.<br />

Nach meiner Flucht wird er bestimmt vernommen werden, und er<br />

soll dann mit gutem Gewissen sagen können, dass er nichts davon<br />

gewusst hat, wir haben nie über meinen Fluchtplan gesprochen. Ich<br />

werde die Antwort meines Onkels abwarten und dann eine Ent-<br />

517


scheidung treffen, im sächsischen Lager werde ich bestimmt Offi -<br />

ziere fi nden, die mir bei <strong>der</strong> Flucht helfen. Ich werde nach England<br />

gehen, vielleicht kann ich dort etwas für Wilhelmine tun.<br />

Was wird aus Hermann? Ich kann ihm eine mündliche Botschaft<br />

überbringen lassen o<strong>der</strong> eine verschlüsselte Nachricht, aber nach<br />

meiner Flucht ist es für ihn zu gefährlich, ebenfalls aus Preußen<br />

zu fl iehen; mein Vater lässt ihn bestimmt insgeheim überwachen.<br />

Wenn wir uns wie<strong>der</strong>sehen wollen, dann muss er Preußen legal<br />

verlassen, aber wie?»<br />

Er ging zum Fenster und sah hinaus in die Abenddämmerung.<br />

«Es gibt nur eine Möglichkeit», sagte er leise, «er muss seinen<br />

Abschied als Offi zier nehmen und aus <strong>der</strong> preußischen Armee<br />

ausscheiden, er kann auch unter einer an<strong>der</strong>en Fahne seine militärische<br />

Laufbahn fortsetzen, und wenn ich König bin, so werde ich<br />

ihn zurückrufen.»<br />

Einige Tage später, am 29. Mai, gingen <strong>Friedrich</strong> und Katte im Park<br />

des Potsdamer Schlosses spazieren.<br />

Katte sah einige Male zum Himmel und beobachtete, wie das<br />

Tageslicht verdämmerte, dann betrachtete er verstohlen den<br />

Freund, <strong>der</strong> nachdenklich auf den sandigen Weg sah. Katte blieb<br />

plötzlich stehen: «Entschuldige, <strong>Friedrich</strong>, wir wandeln jetzt schon<br />

seit einer Stunde umher und du schweigst, du wolltest mir etwas<br />

sagen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Katte an, dann umarmte er ihn spontan und fl üsterte:<br />

«Verzeih, aber ich dachte daran, dass ich morgen bei Tagesanbruch<br />

Potsdam verlasse und wir uns dann eine lange Zeit nicht<br />

mehr sehen.»<br />

«Auch ich denke seit Tagen daran; gewiss, ein Monat ist eine<br />

lange Zeit, aber auch ein Monat vergeht. Du wirst zurückkehren,<br />

schließlich ist dies ein Heerlager, wo die Soldaten nur repräsentieren<br />

sollen. Du ziehst in keinen richtigen Krieg, dann müssten wir<br />

Angst haben, dass dies ein Abschied für immer ist. Wir werden uns<br />

regelmäßig schreiben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> löste sich von Katte und betrachtete einen Augenblick das<br />

blatternarbige Gesicht und die dunklen, buschigen Augenbrauen.<br />

«Ja, wir werden uns regelmäßig schreiben.»<br />

518


Er schwieg, weil seine Stimme anfi ng zu zittern.<br />

Katte betrachtete die großen Augen des Freundes, die ihn unsicher<br />

ansahen, und spürte eine merkwürdige Furcht.<br />

«<strong>Friedrich</strong>, was bedrückt dich?»<br />

«Du kennst die Antwort meines Vaters auf das großzügige englische<br />

Angebot. Seine Antwort ist faktisch eine Ablehnung, ich<br />

habe Angst, dass England die Verhandlungen abbricht, und ich<br />

versuche seit Tagen, dies zu verhin<strong>der</strong>n; ich habe Hotham etliche<br />

Male gebeten, die Verhandlungen zu verzögern, überdies habe<br />

ich meinem Onkel schriftlich zugesichert und ihm mein Ehrenwort<br />

als preußischer Offi zier gegeben, dass ich nur die Prinzessin<br />

Amalie heiraten werde. Das Ehrenwort eines preußischen Offi -<br />

ziers müsste meinen Onkel überzeugen und ihn dazu bringen,<br />

dass er zunächst <strong>der</strong> einfachen Heirat Wilhelmines mit meinem<br />

Vetter zustimmt, nicht wahr?»<br />

Katte schwieg einen Augenblick und erwi<strong>der</strong>te vorsichtig: «Ich<br />

verstehe deine Hoffnungen, aber denke daran, dass dein Onkel bei<br />

dieser Heiratsfrage auch Rücksicht auf das englische Kabinett und<br />

das Parlament nehmen muss.»<br />

Sie gingen schweigend weiter.<br />

«<strong>Friedrich</strong>, hast du keine Angst vor <strong>der</strong> Reaktion deines Vaters,<br />

wenn er von deiner Zusage bezüglich Amaliens erfährt? Es gibt<br />

überall Spione.»<br />

«Angst? Ja, ich habe Angst vor seiner Reaktion, aber schlimmer,<br />

als es jetzt ist, kann es nicht mehr werden.»<br />

Außerdem, dachte er im Stillen, bin ich wahrscheinlich längst in<br />

England, wenn Papa davon erfährt.<br />

Er legte den Arm um Katte und fuhr fort: «Kannst du dir vorstellen,<br />

in einer an<strong>der</strong>en Armee zu dienen? Unter <strong>der</strong> Fahne des<br />

Königs von Frankreich o<strong>der</strong> England o<strong>der</strong> in Russland?»<br />

Katte sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Was für eine merkwürdige<br />

Idee. Ich bin stolz darauf, ein preußischer Offi zier zu sein, es ist<br />

zwar kein leichtes Leben, die Disziplin ist hart, <strong>der</strong> Sold gering,<br />

aber ein preußischer Offi zier gehört zur Elite des Staates, das Offi<br />

zierkorps ist <strong>der</strong> Erste Stand. In unserem geliebten Frankreich<br />

hingegen ist <strong>der</strong> Klerus <strong>der</strong> Erste Stand, nun, wenn es sein müsste,<br />

könnte ich mir vorstellen, unter den Fahnen <strong>der</strong> Könige von Frank-<br />

519


eich o<strong>der</strong> England zu dienen. Und Russland? Nein, auch nach den<br />

Reformen Peters des Großen ist mir das Land noch zu barbarisch.<br />

Wie kommst du überhaupt auf diese Idee, dass ich in einem an<strong>der</strong>en<br />

Heer dienen könnte?»<br />

<strong>Friedrich</strong> vermied es, den Freund anzusehen.<br />

«Weißt du, manchmal gehen einem Gedanken fl üchtig durch<br />

den Kopf, es hat nichts zu bedeuten.»<br />

«Es wird allmählich dunkel, <strong>Friedrich</strong>, wir sollten zum Schloss<br />

zurückgehen, wer weiß, vielleicht möchte dein Vater noch mit dir<br />

sprechen und dir Instruktionen für dein Benehmen im sächsischen<br />

Lager geben.»<br />

Im Schlosshof umarmten sie sich.<br />

«Auf Wie<strong>der</strong>sehen, <strong>Friedrich</strong>. In vier Wochen erzählst du mir<br />

von deinen Erlebnissen in Sachsen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Katte an und versuchte, sich die Gesichtszüge genau<br />

einzuprägen.<br />

«Auf Wie<strong>der</strong>sehen, Hermann. In einem Monat kann so viel passieren.»<br />

Katte sah <strong>Friedrich</strong> unsicher an.<br />

Ich spüre, dass er mir etwas verschweigt, aber es ist zwecklos,<br />

ihn zu fragen. Wenn er mir etwas anvertrauen will, wird er irgendwann<br />

reden.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah dem Freund nach, bis dieser in <strong>der</strong> Dunkelheit<br />

nicht mehr zu erkennen war.<br />

«Ein Monat», sagte er leise, «wahrscheinlich werden wir uns<br />

viele Monate nicht sehen. In ungefähr fünf Monaten, Anfang November,<br />

sind wir ein Jahr befreundet – ob wir uns in fünf Monaten<br />

wie<strong>der</strong>sehen, o<strong>der</strong> wird es noch länger dauern?»<br />

Er blieb noch einen Augenblick im Hof stehen und ging dann<br />

langsam in sein Appartement.<br />

520


3<br />

Am Nachmittag des 2. Juli saß Sophie Dorothea mit einigen<br />

Hofdamen und Wilhelmine in ihrem Salon im Berliner Schloss<br />

und legte Patiencen.<br />

«Genug für heute, ich habe für jedes meiner lebenden Kin<strong>der</strong><br />

die Karten gelegt, und keine Patience ist aufgegangen, vielleicht<br />

ist dies ein gutes Zeichen. Mon Dieu, <strong>der</strong> König will heute ankommen,<br />

zum ersten Mal in meiner Ehe erwarte ich seine Rückkehr<br />

mit Ungeduld, ich bin gespannt, was er seinem Schwager geantwortet<br />

hat, vielleicht ist er doch zu Konzessionen bereit, was die<br />

Doppelheirat betrifft.»<br />

Wilhelmine sah auf.<br />

«Mama, bitte geben Sie sich keinen Illusionen hin, Sir Hotham<br />

war so liebenswürdig, uns vor seiner Reise nach Sachsen über die<br />

Antwort aus London zu informieren: Die Beziehung zwischen<br />

England und dem Kaiser und die Ansprüche auf die Erbfolge in<br />

Jülich und Berg hätten nichts mit den Heiraten zu tun, die ohne politische<br />

Absichten geschlossen werden müssten, und das englische<br />

Kabinett besteht auf <strong>der</strong> Doppelheirat. Ich glaube inzwischen nicht<br />

mehr daran, dass ich jemals den Prinzen von Wales heiraten werde.»<br />

«Reden Sie keinen Unsinn, vielleicht ist es Hotham in Sachsen<br />

gelungen, Ihren Vater von den Vorzügen einer Doppelheirat zu<br />

überzeugen.»<br />

In diesem Augenblick hörten sie schwere Schritte, und dann riss<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm die Tür auf, ging zu <strong>der</strong> Gattin und beugte sich<br />

über ihre Hand.<br />

«Liebe Frau, ich freue mich, dass Sie gesund sind, wie geht es<br />

dem kleinen Ferdinand?»<br />

«Er ist gesund und gedeiht prächtig.»<br />

Sie sah suchend zur Tür.<br />

«Wo ist <strong>Friedrich</strong>?»<br />

Das Gesicht des Königs verfi nsterte sich: «Ich bin kein Unmensch<br />

und habe <strong>der</strong> prinzlichen Zierpuppe erlaubt, seinen Freund Katte zu<br />

521


esuchen, obwohl <strong>der</strong> Französling bis zu unserer Abreise nach dem<br />

Süden Stubenarrest bei Wasser und Brot verdient hätte. Nun, er hat<br />

in Sachsen bereits seine Prügel für den frommen Streich erhalten.»<br />

«Mon Dieu, was ist denn nun schon wie<strong>der</strong> passiert?»<br />

«Das fragen Sie? Sie müssten es doch am besten wissen, wahrscheinlich<br />

haben Sie ihm diesen Rat gegeben. Der Bengel hat seinem<br />

königlichen Onkel schriftlich zugesichert, dass er nur die<br />

Prinzessin Amalie heiraten werde! Es ist unglaublich, mein Sohn<br />

wagt es, hinter meinem Rücken seine eigene Politik zu verfolgen,<br />

aber das werde ich ihm schon noch austreiben. Solange er in meiner<br />

Gewalt ist, werde ich ihn schurigeln, bis er auf den Knien vor<br />

mir liegt und um Gnade winselt.»<br />

Sophie Dorothea erschrak und wedelte nervös mit dem Fächer.<br />

Es ist <strong>Friedrich</strong>s eigene Entscheidung, sagte sie sich, aber es ist<br />

besser, wenn ich schweige und meinen Mann in dem Glauben lasse,<br />

dass ich meinen Sohn dazu überredet habe, dann verteilt sein Zorn<br />

sich gleichmäßig auf <strong>Friedrich</strong> und mich.<br />

Sie klappte den Fächer zusammen.<br />

«Sie müssen <strong>Friedrich</strong> verstehen, er liebt seine Cousine.»<br />

Der König starrte die Gattin an und schrie: «Reden Sie keinen<br />

Unsinn, wie kann man einen Menschen lieben, den man nie gesehen,<br />

mit dem man sich nie unterhalten hat! Wenn <strong>der</strong> Bengel<br />

behauptet, er liebe seine Cousine, so ist das dummes, schwärmerisches<br />

Geschwätz, und diese Schwärmerei haben Sie beeinfl usst<br />

und herangezüchtet, aber damit ist jetzt Schluss!»<br />

Sophie Dorothea erschrak und fragte vorsichtig: «Sind Sie sicher,<br />

dass <strong>Friedrich</strong> diesen Brief an meinen Bru<strong>der</strong> geschrieben hat?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte die Gattin mit strengen Augen:<br />

«Liebe Frau, zum Glück gibt es in Preußen noch einige loyale Untertanen.<br />

Reichenbach hat von dem Brief erfahren und die Angelegenheit<br />

Grumbkow mitgeteilt, und Grumbkow sagte es mir.»<br />

Sophie Dorothea überlegte: Reichenbach und Grumbkow, etwas<br />

passt nicht in das Bild.<br />

«Finden Sie es nicht merkwürdig, dass Reichenbach Sie nicht direkt<br />

informierte, son<strong>der</strong>n über Grumbkow?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah erstaunt auf: «Ist das so wichtig? Eines<br />

steht fest: Das englische Kabinett intrigiert gegen Grumbkow, sie<br />

522


versuchen, mich gegen ihn aufzuhetzen. In Sachsen überreichte<br />

mir Hotham einige Briefe Grumbkows an Reichenbach; in diesen<br />

Schreiben erhielt mein Gesandter genaue Anweisungen, was er an<br />

mich über den Prinzen von Wales und seine Schwester Amalie berichten<br />

soll. Die Schreiben waren Kopien, also Fälschungen, Grumbkow<br />

war und ist ein loyaler Minister.»<br />

Sophie Dorothea senkte die Augen.<br />

Die Kopien sind bestimmt keine Fälschungen, vermutete sie,<br />

Grumbkow und Seckendorff arbeiten seit Jahren gegen die englische<br />

Heirat und schrecken wahrscheinlich vor keinem Mittel zurück.<br />

Warum ist Seckendorff plötzlich abgereist, als Hotham auftauchte?<br />

Er glaubte wahrscheinlich, dass die englische Partei am<br />

Hof gesiegt hat, wozu sollte er noch länger bleiben? Es ist zwecklos,<br />

dass ich mit meinem Mann darüber rede, er muss selbst die Überzeugung<br />

gewinnen, dass er jahrelang von Grumbkow und Seckendorff<br />

hintergangen wurde.<br />

Sie sah den König an: «Was haben Sie meinem Bru<strong>der</strong> geantwortet?»<br />

«Ich habe ihm schriftlich erklärt, dass ich jede Konzession bezüglich<br />

<strong>der</strong> Doppelheirat ablehne.»<br />

Sophie Dorothea starrte den Gatten fassungslos an, und Wilhelmine<br />

presste ihr Taschentuch vor den Mund, um einen Aufschrei<br />

zu unterdrücken.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schmunzelte: «Ich bin gespannt auf die Antwort<br />

meines Schwagers, und jetzt entschuldigen Sie mich, liebe<br />

Frau, die Arbeit wartet, außerdem hat Rochow mich dringlich um<br />

eine Unterredung gebeten, ich vermute, dass es sich um Fritz handelt,<br />

Gott allein weiß, was <strong>der</strong> Bengel wie<strong>der</strong> angestellt hat.»<br />

Wilhelmine sah ihm nach, und dann begann sie leise zu weinen.<br />

«Mama, es ist alles aus. Papas Antwort bedeutet den Abbruch<br />

<strong>der</strong> Verhandlungen, was soll Onkel Georg antworten, wenn Papa<br />

jede Konzession ablehnt?»<br />

«Beruhigen Sie sich, noch ist nicht das letzte Wort gesprochen,<br />

vielleicht genügt <strong>Friedrich</strong>s Zusicherung bezüglich Amaliens meinem<br />

Bru<strong>der</strong>, ich jedenfalls gebe die Hoffnung noch nicht auf, mein Gefühl<br />

sagt mir, dass Sie eines Tages die Königin von England sind.»<br />

523


Katte löste sich langsam aus <strong>Friedrich</strong>s Umarmung und betrachtete<br />

prüfend das blasse Gesicht des Freundes und die großen blauen<br />

Augen, die unruhig fl ackerten.<br />

«Du bist schmal geworden seit unserem Abschied vor einem<br />

Monat, waren die Paraden in Mühlberg so anstrengend?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah sich im Zimmer um, dann umspielte ein Lächeln<br />

seinen Mund: «Die Truppenschau und die Kriegsspielerei waren<br />

mehr belustigend als anstrengend und auch langweilig, ich vermisste<br />

die Konzerte, die Opernaufführungen, die Bälle, und vor allem<br />

fehlte mir die Gesellschaft <strong>der</strong> Gräfi n Orzelska.»<br />

Katte lächelte.<br />

«Das verstehe ich. Mon Dieu, irgendwie ist es albern, dass erwachsene<br />

Männer Krieg spielen wie die Kin<strong>der</strong>.»<br />

In <strong>Friedrich</strong>s Augen blitzte Spott auf: «König August und mein<br />

Vater haben nicht Krieg gespielt, sie haben ‹Ich bin <strong>der</strong> größte Feldherr<br />

aller Zeiten› gespielt.»<br />

Katte lachte, und <strong>Friedrich</strong> stimmte mit ein.<br />

«Verzeih, ich bin ein unaufmerksamer Gastgeber. Wir müssen<br />

auf deine glückliche Rückkehr anstoßen, was möchtest du trinken?<br />

Champagner o<strong>der</strong> lieber französischen Wein?»<br />

«Champagner sollten wir in Frankreich trinken.»<br />

Katte sah den Freund erstaunt an und klingelte nach seinem<br />

Kammerdiener.<br />

«Bringe Er eine Bouteille Chablis», und zu <strong>Friedrich</strong>: «Das ist<br />

ein hervorragen<strong>der</strong> Weißwein; aber nun erzähle von den letzten<br />

Tagen in Mühlberg, August hat bestimmt ein verschwen<strong>der</strong>isches<br />

Abschiedsfest arrangiert.»<br />

Sie setzten sich an den kleinen runden Tisch.<br />

«Am letzten Abend gab es ein üppiges Gastmahl für 30 000<br />

Mann, <strong>der</strong> Höhepunkt war <strong>der</strong> Nachtisch, ein Ungetüm von einem<br />

Kuchen, 14 Ellen lang, 6 Ellen breit, angeblich wurden drei Tonnen<br />

Milch und eine Tonne Butter zur Herstellung benötigt. Die<br />

Verteilung des Kuchens war <strong>der</strong> Abschluss des Festes, dann marschierten<br />

die Offi ziere eines jeden Regiments an uns vorüber, die<br />

Könige tranken auf das Wohl jeden Regiments, die Offi ziere tranken<br />

ebenfalls, warfen dann die Gläser in die Luft, und dieses Spektakel<br />

wurde von Salutschüssen begleitet. Es war eine Riesenorgie,<br />

524


mein Vater war ziemlich betrunken, was ihn nicht hin<strong>der</strong>te, noch<br />

in <strong>der</strong> Nacht aus Sachsen abzureisen.»<br />

Der Diener servierte den Wein, und Katte hob lächelnd das Kristallglas:<br />

«Auf deine glückliche Rückkehr, <strong>Friedrich</strong>.»<br />

«Auf dein Wohl, Hermann, und auf unsere Freundschaft, vor<br />

allem auf unsere Freundschaft.»<br />

Er trank einen Schluck und stellte das Glas langsam auf den<br />

Tisch.<br />

«Ein guter Tropfen.»<br />

Nach diesen Worten war es einen Augenblick totenstill im Zimmer.<br />

Katte beobachtete erstaunt, dass <strong>Friedrich</strong>s Augen sich allmählich<br />

verdüsterten, und spürte, dass ihn eine merkwürdige Furcht<br />

überkam.<br />

Nach einer Weile hielt er die Stille nicht mehr aus: «<strong>Friedrich</strong>, irgendetwas<br />

bedrückt dich, das spürte ich schon bei deiner Ankunft.<br />

In deinen Briefen schriebst du, wie roh dein Vater dich vor den Augen<br />

<strong>der</strong> Offi ziere behandelte, war es denn schlimmer als sonst?»<br />

«Nein, er hat mich wie üblich geschlagen, zu Boden geworfen,<br />

hat mich angeschrien, ich sei ein Feigling, <strong>der</strong> sich alles gefallen<br />

ließe, wäre er von seinem Vater so behandelt worden, so hätte er<br />

sich erschossen o<strong>der</strong> wäre gefl ohen.»<br />

Er schwieg, dann hob er abrupt das Weinglas und sah Katte ernst<br />

an: «Auf unsere Freundschaft.»<br />

«Auf unsere Freundschaft. Willst du mir nicht erzählen, was<br />

dich bedrückt?»<br />

<strong>Friedrich</strong> schwieg einige Sekunden, dann beugte er sich etwas<br />

vor, betrachtete die Blatternarben, die dunklen Augen und die<br />

schwarzen, buschigen Augenbrauen, lehnte sich zurück und atmete<br />

tief durch.<br />

«Hermann, ich bin inzwischen fest entschlossen, während <strong>der</strong> Reise<br />

in unsere westlichen Provinzen zu entfl iehen. Du wirst uns dieses<br />

Mal sicherlich begleiten. Wirst du mir bei <strong>der</strong> Flucht helfen?»<br />

Katte starrte <strong>Friedrich</strong> entsetzt an: «Du willst fl iehen? Mon<br />

Dieu, du riskierst dein Leben!»<br />

«Ich verstehe deine Reaktion, aber bitte, bevor du dich entscheidest,<br />

höre mir einen Augenblick zu.»<br />

525


Er räusperte sich, dann fuhr er fort: «Du erlebst seit deiner Ankunft<br />

fast täglich, dass mein Vater mich in <strong>der</strong> Öffentlichkeit beschimpft,<br />

schlägt, demütigt, meistens weiß ich nicht einmal, warum;<br />

ich versuche, ein vorbildlicher Offi zier zu sein und ihm nach<br />

außen hin zu gehorchen; er weiß wahrscheinlich, dass ich heimlich<br />

meinen Liebhabereien nachgehe, wahrscheinlich versetzt ihn<br />

dies in Wut. Ein solches Leben ist auf Dauer unerträglich. Wer<br />

weiß, wie lange mein Vater noch leben wird, vielleicht nur noch<br />

ein o<strong>der</strong> zwei Jahre, vielleicht zehn Jahre o<strong>der</strong> noch länger, er ist<br />

zwar ein kranker Mann, aber von seinen Gichtanfällen hat er sich<br />

bis jetzt immer gut erholt.<br />

In jenem schrecklichen Herbst 28 in Wusterhausen begann ich,<br />

an Flucht zu denken. Im Januar 29 sprach ich mit Wilhelmine darüber,<br />

sie riet mir dringend von einer Flucht ab. Meine Mutter weiß<br />

übrigens bis heute nichts von meinen Plänen. Im Sommer 29 weihte<br />

ich Keiserlingk ein, aber er lehnte es ab, mir dabei zu helfen.<br />

Dann weihte ich Keith ein, er lehnte es auch zunächst ab, mir zu<br />

helfen, war dann aber bereit. Er wurde überraschend nach Wesel<br />

versetzt, und ab November warst du mein neuer Gesellschafter.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und sah Katte an.<br />

«Bei deiner Ankunft war ich entschlossen, dich um Hilfe bei<br />

meiner Flucht zu bitten, aber dann …»<br />

Er schwieg und starrte auf die Tischplatte.<br />

Katte wartete geduldig einige Minuten, dann hielt er das Schweigen<br />

nicht länger aus: «Warum hast du mir von deinen Plänen<br />

nichts erzählt? Wir verstehen uns doch, wir vertrauen uns doch<br />

alle unsere Gedanken an, wir sind befreundet, warum hast du geschwiegen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Katte an und erwi<strong>der</strong>te leise: «Ich habe geschwiegen,<br />

weil du mein Freund bist: Ich wollte dein Leben nicht gefährden.<br />

Du weißt, dass ein Fluchthelfer wie ein Deserteur behandelt<br />

wird. Du bist nicht nur ein Kamerad wie die an<strong>der</strong>en Offi ziere,<br />

du bist mein Freund. Ich schwieg also, verschob die Flucht, weil<br />

es meiner Mutter gesundheitlich nicht gutging und man um ihr<br />

Leben fürchtete.»<br />

Er schwieg, trank einen Schluck Wein, beugte sich zu Katte und<br />

sah ihn einen Augenblick an.<br />

526


«Ende März, nach jenem Auftritt mit meinem Vater, als er mir<br />

befahl, ihm die Füße zu küssen, stand mein Entschluss fest: Ich<br />

wollte aus dem sächsischen Lager fl iehen, und ich war entschlossen,<br />

dich in meine Pläne einzuweihen und dich um deine Hilfe zu<br />

bitten.<br />

Dann kam Hotham, die Heiratspläne lebten wie<strong>der</strong> auf, und ich<br />

verschob meine Flucht erneut, bis ich wusste, was aus <strong>der</strong> Heiratsgeschichte<br />

wurde. Du weißt, wie die Antwort meines Vaters<br />

an meinen Onkel lautet: Mein Vater lehnt eine Doppelheirat ab.<br />

Als mein Vater mich über den Stand <strong>der</strong> Dinge informierte, beschloss<br />

ich sofort, aus Sachsen zu fl iehen. Ich bat den sächsischen<br />

Minister, Graf Hoym, um ein Postpferd für einen jungen Offi zier,<br />

<strong>der</strong> inkognito nach Leipzig reisen wollte. Der Graf lehnte meine<br />

Bitte ab und sagte, er wisse, was das inkognito bedeute. In meiner<br />

Verzweifl ung bat ich König August um Hilfe, auch er verweigerte<br />

mir die Unterstützung mit <strong>der</strong> Begründung, meine Flucht aus<br />

Sachsen würde zu diplomatischen Verwicklungen mit Preußen<br />

führen, er wolle die freundschaftlichen Beziehungen zu Preußen<br />

nicht aufs Spiel setzen. Das verstand ich, und ich versprach ihm,<br />

nicht aus Sachsen zu fl iehen. Zuletzt schrieb ich einen Brief an<br />

meinen Onkel und gab ihn Sir Dickens, ich sagte ihm auch, was<br />

in dem Brief stand: Ich würde während <strong>der</strong> Reise nach Ansbach<br />

in den Westen entfl iehen, zunächst nach Frankreich gehen, dort<br />

einige Wochen bleiben und mich dann nach England einschiffen.<br />

Ich bat meinen Onkel auch, den König von Frankreich zu bitten,<br />

dass er mir Schutz gewährt.<br />

Dickens verließ Mühlberg Mitte Juni, er müsste in wenigen Tagen<br />

die Antwort meines Onkels überbringen. Wahrscheinlich wird<br />

London die Heiratsverhandlungen abbrechen, aber ich rechne fest<br />

damit, dass er mir in England Asyl gewähren wird bis zu meiner<br />

Thronbesteigung, und vielleicht kann ich von England aus doch<br />

noch etwas für Wilhelmine tun, vielleicht kann ich meinen Onkel<br />

überreden, <strong>der</strong> einfachen Heirat zuzustimmen.»<br />

Er stand auf, ging unruhig hin und her und blieb dann vor Katte<br />

stehen.<br />

«Nun kennst du meine Pläne, ich habe dir nichts verschwiegen.<br />

Wirst du mir bei <strong>der</strong> Flucht helfen?»<br />

527


Katte stand auf, trat vor <strong>Friedrich</strong> und sah ihn ernst an: «Ich verstehe,<br />

dass du aus Preußen fl iehen willst, aber ich werde dir nicht<br />

dabei helfen; ich denke dabei nicht an mich und an das Schicksal<br />

<strong>der</strong> Fluchthelfer, wenn sie entdeckt werden, ich fürchte mich nicht<br />

vor dem Tod – ich bin Offi zier und muss in einem Krieg immer<br />

damit rechnen, dass mich die Kugel trifft. Gewiss, dein Vater wird<br />

nie einen Krieg anzetteln, aber als Reichsfürst muss er den Kaiser<br />

in einem Krieg mit Truppen unterstützen. Ich denke nicht an<br />

mich, son<strong>der</strong>n an dich, deine Mutter und an Wilhelmine. Egal, ob<br />

deine Flucht glückt o<strong>der</strong> nicht, dein Vater wird deine Mutter und<br />

Schwester verdächtigen, dass sie davon gewusst und dir dabei geholfen<br />

haben. In seiner Wut wird er sie wahrscheinlich lebenslang<br />

vom Hof verbannen, und sie werden ihr Leben unter Bewachung<br />

auf irgendeinem Schloss verbringen. Er wird deine Schwes ter<br />

wahrscheinlich nicht verheiraten, und eine Heirat, egal mit wem,<br />

bedeutet für deine Schwester die Freiheit. Willst du, dass deine<br />

Mutter und Wilhelmine dieses Schicksal <strong>der</strong> Verbannung erleiden?»<br />

«Nein, aber ich kenne meinen Vater. Wenn sein erster Zorn verraucht<br />

ist, wird er sie wie<strong>der</strong> in Gnaden aufnehmen, er liebt seine<br />

Familie, beson<strong>der</strong>s meine Mutter.»<br />

«Gut, angenommen du hast recht, was ist dann mit dir? Egal, ob<br />

deine Flucht glückt o<strong>der</strong> nicht, so ist dein Leben in Gefahr. Gelingt<br />

dir die Flucht, so wird dein Vater dich überall in Europa suchen lassen<br />

– du bist nirgendwo sicher, we<strong>der</strong> in einem entlegenen Schloss<br />

im schottischen Hochland noch in <strong>der</strong> Türkei. Die Werber deines<br />

Vaters werden dich fi nden, nach Preußen bringen, und hier erwartet<br />

dich ein Kriegsgericht. Gelingt dir die Flucht nicht, so erwartet<br />

dich ebenfalls das Kriegsgericht. Angenommen, das Gericht spricht<br />

dich frei, weil du <strong>der</strong> Kronprinz bist – dein Vater wird letztlich die<br />

Entscheidung über dein Schicksal treffen.»<br />

Er schwieg einen Augenblick und fuhr zögernd fort: «Ich glaube<br />

nicht, dass er dich zum Tod verurteilen wird, immerhin bist du sein<br />

Sohn; aber er könnte dich zu lebenslanger Haft verurteilen und<br />

dich zwingen, auf deine Erbrechte zu verzichten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen: «Nein, ich werde nie auf meine Erbrechte<br />

als preußischer Kronprinz verzichten, und was meine Erb-<br />

528


echte als Kurprinz von Brandenburg betrifft, so müsste Wien zustimmen,<br />

und dies ist ein langwieriger juristischer Weg, überdies<br />

würde ein solcher Prozess meinen Vater außenpolitisch endgültig<br />

isolieren, das kann nicht in seinem Interesse sein.»<br />

«Du vergisst, dass Preußen wegen <strong>der</strong> starken Armee ein gefragter<br />

Bündnispartner ist.»<br />

<strong>Friedrich</strong> begann zu lachen: «Die Armee! Eine Armee, die nur<br />

exerziert und noch nie in einem Krieg richtig eingesetzt wurde,<br />

es ist einfach lächerlich: Mein Vater unterhält eine Armee,<br />

baut sie auf und scheut sich davor, sie dem Pulverdampf auszusetzen.»<br />

Er schwieg plötzlich und sagte dann leise: «Du hast recht, auch<br />

wenn meine Flucht gelingt, ist mein Leben in Gefahr, aber mein<br />

Leben ist auch hier, am Hof, in Gefahr, es gibt eine Szene zwischen<br />

meinem Vater und mir, die habe ich noch keinem Menschen<br />

erzählt, auch meiner Mutter und Schwester nicht, weil ich unsere<br />

familiäre Situation nicht noch weiter verschlimmern möchte; dir<br />

erzähle ich, was zwischen meinem Vater und mir vorfi el, und ich<br />

bitte dich, darüber zu schweigen.<br />

Am 24. Januar, an meinem achtzehnten Geburtstag, wurde ich<br />

am frühen Morgen zu meinem Vater gerufen. Früher umarmte er<br />

mich an diesem Tag und wünschte mir Glück für das neue Lebensjahr.<br />

An jenem 24. Januar fasste er mich bei den Haaren, warf mich<br />

zu Boden, bearbeitete mit seinen Fäusten meinen Körper, dann<br />

schleppte er mich zum Fenster und legte mir den Vorhangstrang<br />

um den Hals. Glücklicherweise konnte ich mich aufraffen und seine<br />

Hände fassen, da er aber den Vorhangstrang mit aller Kraft zuzog<br />

und ich befürchtete, er werde mich erdrosseln, rief ich um Hilfe.<br />

Ein Lakai eilte herbei und befreite mich aus den Händen meines<br />

Vaters. Ich befürchte, dass dies nicht sein letzter Versuch war, sich<br />

von mir zu befreien. Sage selbst, ist nicht die Flucht <strong>der</strong> einzige Ausweg,<br />

um mein Leben zu retten? Damals beauftragte ich Spaen, einen<br />

Reisewagen in Leipzig zu bestellen, aber dann verschob ich meine<br />

Flucht erneut, diesmal wegen <strong>der</strong> schlechten Gesundheit meiner<br />

Mutter.»<br />

Katte starrte <strong>Friedrich</strong> entsetzt an und atmete einige Male tief<br />

durch.<br />

529


«Mon Dieu, es ist unglaublich, dein Vater versuchte, dich zu erdrosseln!<br />

Angenommen, es wäre ihm gelungen, so wäre es Mord. Ich<br />

glaube nicht, dass er dich wirklich getötet hätte, schließlich bist du<br />

nicht nur <strong>der</strong> Thronfolger, son<strong>der</strong>n auch sein Sohn, sein eigen Fleisch<br />

und Blut; indes kann ich deine Angst vor ihm nachempfi nden.»<br />

Er betrachtete unschlüssig die Bücherwände.<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete ihn aufmerksam, versuchte, in dem Gesicht<br />

des Freundes zu lesen, nach einigen Minuten hielt er die Stille<br />

nicht länger aus: «Hermann, mein Vater ist unberechenbar, und ich<br />

fürchte, dass er, wenn er einen seiner Wutanfälle hat, vor nichts<br />

zurückschreckt. Ich glaube auch, dass er, wenn <strong>der</strong> Anfall vorüber<br />

ist, Reue und Gewissensbisse empfi ndet, aber ich kann nicht länger<br />

unter solchen Bedingungen in Preußen leben. Wirst du mir bei <strong>der</strong><br />

Flucht helfen, wirst du mit mir zusammen fl iehen?»<br />

Katte erwi<strong>der</strong>te vorsichtig: «Ich entsinne mich noch an jede<br />

Einzelheit unseres Abschiedes Ende Mai. Du fragtest, ob ich<br />

mir vorstellen könnte, in einem ausländischen Heer zu dienen.<br />

Jetzt verstehe ich diese Frage: Du wolltest allein aus Sachsen<br />

fl iehen, und ich sollte aus <strong>der</strong> preußischen Armee ausscheiden,<br />

um dir legal folgen zu können. Die Idee war gut, dennoch, ich<br />

bitte dich inständig, versuche nicht zu fl iehen, du rennst in dein<br />

Unglück; dein Vater versuchte, dich an deinem Geburtstag zu<br />

erdrosseln, ohne dass irgendetwas vorgefallen war; wie wird er<br />

bei einem Fluchtversuch reagieren?! Du musst Geduld haben,<br />

dein Vater ist nicht gesund, vielleicht wirst du rascher König,<br />

als du denkst.»<br />

«Vielleicht ja, vielleicht nein, bis jetzt hat mein Vater sich von<br />

seinen Gichtanfällen immer bestens erholt.»<br />

Er sah Katte eindringlich an und spürte einen feinen Stich von<br />

Enttäuschung.<br />

Er ist mein Freund, dachte er, und nun lässt er mich im Stich,<br />

er darf nicht merken, dass ich von ihm enttäuscht bin; dennoch<br />

empfi nde ich noch das gleiche Gefühl für ihn. Wie merkwürdig:<br />

Er wird mein Freund bleiben, er meint es gut mit mir, er denkt<br />

an mich, nicht an sich, sein Rat ist richtig, und wenn ich diesen<br />

Rat ablehne, so ist das meine Entscheidung, die ich verantworten<br />

muss.<br />

530


«Du wirst mir also nicht helfen. Ich kann deine Entscheidung<br />

verstehen, ich respektiere sie und ich versichere dir, dass sich an<br />

unserer Freundschaft nichts än<strong>der</strong>n wird; ich muss jetzt gehen,<br />

lebe wohl.»<br />

Er ging zur Tür, und im gleichen Augenblick überstürzten sich<br />

Kattes Gedanken: Er will fl iehen, er hat Gründe für seine Flucht,<br />

ich bin <strong>der</strong> einzige Mensch, <strong>der</strong> ihm dabei helfen kann, er bittet<br />

mich um Hilfe, weil ich sein Freund bin – bin ich nicht moralisch<br />

verpfl ichtet, ihm zu helfen? Er ist verzweifelt, wer weiß, welche<br />

Fehler ihm bei den Fluchtvorbereitungen unterlaufen, er braucht<br />

einen Fluchthelfer, allein wird er es nie schaffen.<br />

<strong>Friedrich</strong> öffnete die Tür, im gleichen Moment war Katte neben<br />

ihm und schloss sie wie<strong>der</strong>.<br />

«<strong>Friedrich</strong>, ich habe noch einmal nachgedacht: Ein Freund muss<br />

einem Freund in einer Notlage helfen, sonst ist eine Freundschaft<br />

nichts wert, ich werde dir helfen, ich gebe dir mein Ehrenwort als<br />

preußischer Offi zier.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Katte einen Moment erstaunt an, dann strahlten<br />

seine blauen Augen, er umarmte ihn und rief: «Ich spürte, dass<br />

ich mich auf dich verlassen kann! Ich danke dir, diesen Augenblick<br />

werde ich nie vergessen, du wirst mein bester Freund bleiben, bis<br />

<strong>der</strong> Tod uns scheidet.»<br />

«Wir sollten nicht vom Tod reden, son<strong>der</strong>n vom Leben, und unser<br />

Leben hängt von einem Fluchtplan ab, <strong>der</strong> genau durchdacht ist.<br />

Wir benötigen viel Geld, ich werde versuchen, so viel wie möglich<br />

aufzutreiben.»<br />

«Geld? Ich habe nur Schulden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte einen Augenblick und rief: «Ich schicke dir<br />

morgen den polnischen Weißen Adler, du kannst seine Diamanten<br />

verkaufen und durch falsche Steine ersetzen.»<br />

Katte überschlug den Wert <strong>der</strong> Diamanten: «Wir hätten dann<br />

ein Reisegeld von ungefähr 3 000 Talern, aber ich werde versuchen,<br />

noch mehr Geld aufzutreiben. Wichtiger als das Geld ist <strong>der</strong> Zeitpunkt<br />

unserer Flucht, ich werde mir die Reiseroute genau ansehen,<br />

es ist wahrscheinlich am günstigsten, wenn wir aus den westlichen<br />

Provinzen fl iehen, von dort haben wir den kürzesten Weg zur<br />

Grenze nach Holland o<strong>der</strong> Frankreich.»<br />

531


«Wir sollten die Antwort abwarten, die Sir Dickens bringt, und<br />

dann endgültig entscheiden, ob wir fl iehen.»<br />

Während <strong>Friedrich</strong> und Katte über die Flucht sprachen, stand Rochow<br />

schweigend vor dem König.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte den Offi zier und sagte nach einer<br />

Weile ungeduldig: «Herr von Rochow, Sie wünschten eine Unterredung<br />

unter vier Augen, nun stehen Sie vor mir und schweigen,<br />

ich habe nicht viel Zeit, reden Sie endlich.»<br />

Rochow sah verlegen auf den Holzfußboden: «Majestät, ich weiß<br />

nicht, wie ich es Eurer Majestät sagen soll: In Mühlberg hörte ich,<br />

dass Seine Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz, aus Preußen fl iehen<br />

will, die sächsischen Offi ziere haben darüber geredet, wahrscheinlich<br />

ist es nur dummes Geschwätz, aber ich fühle mich verpfl ichtet,<br />

Eure Majestät darüber zu informieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte Rochow einen Augenblick an, dann<br />

begann er zu lachen: «Mein Sohn will fl iehen? Das glaube ich nicht,<br />

<strong>der</strong> Gedanke ist absurd; abgesehen davon, dass <strong>der</strong> Kronprinz zu<br />

feige ist, um zu fl iehen, so weiß er genau, dass Desertion mit dem<br />

Tod bestraft wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Sohn<br />

sein Leben aufs Spiel setzt, dazu ist <strong>der</strong> Französling zu klug.»<br />

Er ging auf und ab, blieb vor Rochow stehen und sagte: «Mein<br />

Sohn träumt vielleicht von einer Flucht, soll er träumen, allerdings<br />

… angenommen, an dem Geschwätz ist doch ein Körnchen<br />

Wahrheit, und ein Körnchen Wahrheit ist an jedem Geschwätz,<br />

nun, lassen Sie den Kronprinzen überwachen.»<br />

Nach einem kurzen Schweigen fuhr er fort: «Angenommen, er<br />

will wirklich fl iehen, soll ich ihn dann auf die Reise mitnehmen,<br />

o<strong>der</strong> ist er in Potsdam besser aufgehoben?»<br />

Er ging unruhig hin und her, blieb vor Rochow stehen und sagte:<br />

«Der Kronprinz wird mich begleiten, so habe ich ihn besser unter<br />

Kontrolle, sein Freund Katte wird in Berlin bleiben, eine Trennung<br />

<strong>der</strong> jungen Burschen ist für meinen Sohn nur vorteilhaft, <strong>der</strong> junge<br />

Katte übt auf ihn keinen guten Einfl uss aus. Nach <strong>der</strong> Reise werde<br />

ich entscheiden, ob Katte sein Gesellschafter bleiben wird. Ich werde<br />

auch den Kammerdiener Sternemann entlassen, während <strong>der</strong><br />

Reise wird Gummersbach sein Kammerdiener sein, er ist ein Die-<br />

532


ner aus dem Grumbkow‘schen Haushalt, er wird meinen Sohn beobachten<br />

und mir alles berichten. Trotzdem glaube ich nicht, dass<br />

<strong>der</strong> Kronprinz einen Fluchtversuch wagt, er weiß, dass er dabei sein<br />

Leben riskiert.»<br />

Am 9. Juli, einem Sonntag, ging Hotham am Nachmittag unruhig<br />

in seinem Arbeitszimmer auf und ab und sah hin und wie<strong>der</strong> nervös<br />

zur Standuhr.<br />

Wo bleibt Dickens?, überlegte er, er wollte gegen Mittag in Berlin<br />

eintreffen.<br />

In diesem Augenblick wurde Dickens gemeldet und betrat im<br />

Sturmschritt das Zimmer.<br />

«Entschuldigen Sie, dass ich später komme, aber ich wollte dem<br />

König zuerst die günstige Antwort aus England überbringen.»<br />

Hotham sah erstaunt auf: «Eine günstige Antwort? Das habe ich<br />

nicht erwartet.»<br />

Sie setzten sich an den kleinen runden Tisch, und während ein<br />

Diener Wein servierte, sagte Dickens: «Der Kronprinz und seine<br />

Schwester taten mir leid, ihr Leben am Berliner Hof ist unerträglich<br />

für sie, ich bat in London für die Geschwister, schil<strong>der</strong>te, wie<br />

sie unter <strong>der</strong> Behandlung des Vaters leiden, und man schenkte mir<br />

Gehör. Die Antwort aus London müsste für den preußischen König<br />

akzeptabel sein: Der König von England ist damit einverstanden,<br />

dass sein Sohn zunächst nur die Prinzessin Wilhelmine heiratet –<br />

unter <strong>der</strong> Bedingung, dass die Heirat des preußischen Kronprinzen<br />

mit Prinzessin Amalie für die nahe Zukunft zugesagt wird. Der<br />

Kronprinz war vorhin bei <strong>der</strong> Audienz anwesend, und seine Augen<br />

leuchteten auf, als er die Antwort seines Onkels hörte.»<br />

«Was hat <strong>der</strong> König geantwortet?»<br />

«Er muss darüber nachdenken. Er empfängt uns morgen um zwei<br />

Uhr, dann wird er das Angebot seines Schwagers beantworten, und<br />

ich werde ihm dann auch mein Beglaubigungsschreiben als neuer<br />

Gesandter überreichen, heute war keine Zeit mehr dafür.»<br />

«Ich bin wirklich gespannt auf die Antwort des Königs. Wenn<br />

er das Angebot akzeptiert, wird Preußen langfristig ein Vasall<br />

Englands, und Ihre und meine diplomatische Laufbahn ist geebnet,<br />

das Einzige, was fehlt, ist die Entlassung des kaiserfreundlichen<br />

533


Grumbkow; haben Sie inzwischen einen Originalbrief Grumbkows<br />

erhalten?», sagte Hotham.<br />

Dickens öffnete die schwarze Le<strong>der</strong>mappe und reichte ihm einen<br />

Brief.<br />

«Lesen Sie, in diesem Schreiben gibt Grumbkow dem Gesandten<br />

Reichenbach Anweisungen, was er dem preußischen König über<br />

den Prinzen von Wales und Prinzessin Amalie berichten soll. Unser<br />

König ist bestens über diesen Briefwechsel unterrichtet, und er<br />

hat befohlen, dass Sie in seinem Namen dieses Schreiben seinem<br />

Schwager übergeben. Er hofft, dass dem preußischen König dadurch<br />

endlich die Augen über Grumbkow und vielleicht auch über<br />

Seckendorff geöffnet werden.»<br />

Hotham überfl og den Brief und sah nachdenklich vor sich hin.<br />

«Der preußische König ist unberechenbar, man muss ihm diesen<br />

Brief im richtigen Augenblick übergeben. Nur, wann ist <strong>der</strong> richtige<br />

Augenblick?»<br />

Er trank einen Schluck Wein, überlegte und sah Dickens an: «Ich<br />

werde den Brief morgen zur Audienz mitnehmen, vielleicht ergibt<br />

sich eine Situation, wo es angebracht ist, ihn dem König zu überreichen.»<br />

Er zögerte und fuhr fort: «Falls <strong>der</strong> König das Angebot seines<br />

Schwagers ablehnt – wären Sie bereit, eine solche Antwort zu<br />

überbringen? Sie haben während <strong>der</strong> letzten Wochen geschickt<br />

verhandelt, und ich würde während Ihrer Abwesenheit versuchen,<br />

den König doch noch zur Doppelheirat zu überreden, Sie wissen<br />

ja, dass von diesen Heiratsverhandlungen meine weitere diplomatische<br />

Laufbahn abhängt.»<br />

«Selbstverständlich, ich bin noch lange genug am Berliner<br />

Hof.»<br />

Als es zwei Uhr schlug, standen Hotham und Dickens vor dem<br />

preußischen König.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte die Englän<strong>der</strong> wohlwollend an und<br />

sagte: «Ich habe reifl ich über das Angebot meines Schwagers nachgedacht,<br />

und dies ist meine Antwort: Ich fühle mich durch die<br />

Heirat meiner Tochter mit dem Prinzen von Wales sehr geehrt.<br />

Was meinen Sohn betrifft, so ziehe ich die Prinzessin Amalie je<strong>der</strong><br />

534


an<strong>der</strong>en Prinzessin vor, allerdings ist mein Sohn noch sehr jung,<br />

ich schlage deshalb vor, mit <strong>der</strong> Heirat noch zehn Jahre zu warten,<br />

dann besitzt mein Sohn hoffentlich die nötige Reife.»<br />

Hotham erschrak.<br />

Diese Antwort ist faktisch eine Ablehnung des englischen Angebots,<br />

dachte er, mein König wird nicht bereit sein, mit <strong>der</strong> Vermählung<br />

seiner Tochter zehn Jahre zu warten. Für mich ist es eine diplomatische<br />

Nie<strong>der</strong>lage, weil es mir nicht gelungen ist, die Doppelheirat<br />

zu arrangieren und Preußen dadurch in die Abhängigkeit von England<br />

zu bringen. Nun, vielleicht gelingt es mir wenigstens, Grumbkow<br />

zu stürzen, er ist es, <strong>der</strong> versucht, den Soldatenkönig im kaiserlichen<br />

Lager zu halten. Der Sturz Grumbkows würde mein Ansehen<br />

in London wie<strong>der</strong> etwas heben. Der König scheint gut gelaunt zu<br />

sein, ich muss jetzt den passenden Augenblick abwarten und ihm<br />

den Brief überreichen. Er lächelte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm verbindlich an:<br />

«Majestät, Sir Dickens ist <strong>der</strong> neue englische Gesandte.»<br />

Dickens verbeugte sich und überreichte sein Beglaubigungsschreiben.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm las den Brief, dann musterte er Dickens wohlwollend:<br />

«Seien Sie herzlich willkommen in Preußen, ich hoffe,<br />

dass Sie sich rasch einleben werden; an meinem Hof gibt es nicht<br />

so viele Bälle und Bankette wie an an<strong>der</strong>en Höfen, ich bevorzuge<br />

die Jagd in <strong>der</strong> freien Natur, das ist aufregen<strong>der</strong> als steife Bälle und<br />

Konzerte.»<br />

«Majestät, wir Englän<strong>der</strong> lieben die Jagd über alles, und ich freue<br />

mich schon jetzt auf die Jagden in den Wäl<strong>der</strong>n um Berlin.»<br />

«Sie lieben die Jagd? Nun, dann lade ich Sie schon jetzt ein, den<br />

Herbst in Wusterhausen zu verbringen, und im Tabakskollegium<br />

sind Sie auch stets willkommen. Gewöhnlich bitte ich ausländische<br />

Gesandte nicht, an dieser Runde teilzunehmen, aber wenn meine<br />

Wilhelmine den Prinzen von Wales heiratet, bestehen ja sehr enge<br />

verwandtschaftliche Beziehungen zwischen unseren Län<strong>der</strong>n, und<br />

ich würde mich freuen, Sie in dieser Männerrunde zu sehen.»<br />

«Eure Majestät sind zu gütig», sagte Dickens. Mein Gott, dachte<br />

er, glaubt <strong>der</strong> König wirklich noch an eine Heirat seiner Tochter<br />

mit dem Prinzen von Wales? Wie kann man eine Situation nur so<br />

unrealistisch einschätzen!<br />

535


Es entstand eine Pause, Hotham betrachtete die joviale Miene des<br />

preußischen Königs und überreichte ihm den Brief Grumbkows.<br />

«Majestät, da General von Grumbkow abgestritten hat, <strong>der</strong> Verfasser<br />

<strong>der</strong> Briefe zu sein, die ich Eurer Majestät überreicht habe, so<br />

habe ich Befehl von meinem Herrn und König, Eurer Majestät ein<br />

Originalschreiben des Generals vorzulegen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete den Brief, erkannte Grumbkows<br />

Schrift, wusste plötzlich, dass er von seinem Minister hintergangen<br />

wurde, wusste, dass er für die Englän<strong>der</strong> eine lächerliche Figur<br />

war, und eine Wut wie noch nie zuvor stieg in ihm auf.<br />

Er warf den Brief Hotham vor die Füße, schrie: «Meine Herren,<br />

ich habe genug von dem Zeug!», und stürmte aus dem Arbeitszimmer.<br />

Die Englän<strong>der</strong> sahen einan<strong>der</strong> verblüfft an, dann hob Hotham<br />

den Brief auf und sagte: «Ich werde unserem König diesen Vorfall<br />

berichten und so bald wie möglich abreisen. Diese Schmach wurde<br />

nicht mir angetan, son<strong>der</strong>n dem König von England, es ist die<br />

Sache meines Königs, die Genugtuung für die ihm angetane Kränkung<br />

zu bestimmen.»<br />

«Beruhigen Sie sich, <strong>der</strong> König von Preußen wird sich bestimmt<br />

entschuldigen, er hat es bestimmt nicht so gemeint.»<br />

«Ein König muss sich beherrschen können, ich werde keine Entschuldigung<br />

des Soldatenkönigs annehmen.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm die Tür hinter sich zuschlug, wurde ihm<br />

bewusst, wie unmöglich er sich gegenüber Hotham benommen<br />

hatte. Unverzüglich begab er sich in sein Schlafzimmer und ging<br />

unruhig auf und ab. Nach einer Weile sagte er halblaut zu sich<br />

selbst: «Die Galle ist mir zu Kopf gestiegen, in einem solchen Augenblick<br />

muss meine Natur sich Luft machen. Bin ich nicht mein<br />

eigener Herr, und kann ich nicht tun, was ich will? Ich weiß, dass<br />

Grumbkow ein Schurke ist, aber ich habe das Recht, die Minister<br />

zu haben, die mir belieben. Ich werde Borcke sofort zu Hotham<br />

schicken, er soll den Englän<strong>der</strong> beruhigen, sein Bedauern über den<br />

Zwischenfall ausdrücken, er muss ihm versprechen, die Sache in<br />

Ordnung zu bringen; ich möchte nicht, dass Wilhelmines Heirat<br />

an meinem Benehmen scheitert.»<br />

Am Vormittag des 12. Juli betrat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm Sophie Doro-<br />

536


theas Salon. Die Unterhaltung <strong>der</strong> Damen verstummte bei seinem<br />

Eintritt, und alle sahen ihn erwartungsvoll an.<br />

«Ich möchte mit meiner Frau allein sprechen.»<br />

Als die letzte Dame gegangen war, trat er zu seiner Gattin, sah<br />

sie verlegen an und sagte: «Liebe Frau, Hotham ist heute bei Tagesanbruch<br />

aus Berlin abgereist. Ich habe weiß Gott alles versucht, um<br />

ihn zu versöhnen. Als Borcke vorgestern erfolglos zurückkehrte,<br />

ordnete ich an, dass er schriftlich sein Bedauern über den Vorfall<br />

ausdrücken soll, ich lud ihn auch zur Tafel, aber Hotham antwortete,<br />

er könne nicht wie<strong>der</strong> bei Hof erscheinen. Ich weiß, dass Dickens<br />

und Sauveterre ihn beschworen, in Berlin zu bleiben, aber<br />

alle Bemühungen waren umsonst. Es tut mir so leid, liebe Frau, ich<br />

möchte mich bei Ihnen entschuldigen.»<br />

Sophie Dorothea starrte ihren Mann an, dann begann sie, laut<br />

zu weinen.<br />

Nach einer Weile beruhigte sie sich etwas, musterte den König<br />

mit kalten Augen und sagte langsam: «Die Abreise von Hotham bedeutet,<br />

dass die Heiratsverhandlungen endgültig gescheitert sind.<br />

Sie allein sind schuld daran, Sie allein haben das Unglück Ihrer<br />

Tochter und Ihres Sohnes verursacht. Sie haben mein Lebenswerk<br />

zerstört. Ganz Europa wird lachen, wenn die gescheiterte Heirat<br />

bekannt wird. Mit wem wollen Sie Ihre Tochter jetzt vermählen?<br />

Sie wird immer älter, im Juli vollendet sie ihr einundzwanzigstes<br />

Lebensjahr! Mit wem wollen Sie <strong>Friedrich</strong> vermählen? Mein Neffe<br />

und meine Nichte wären die glänzendsten Partien Europas gewesen.»<br />

Sie begann erneut zu weinen, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah sie<br />

hilfl os an.<br />

Nach einer Weile straffte er sich, ging zu <strong>der</strong> Gattin und streichelte<br />

ihre Hände.<br />

«Liebe Frau, beruhigen Sie sich, Fritz ist noch zu jung für eine<br />

Ehe und zu unreif, um die Verantwortung für eine Familie zu tragen,<br />

aber er ist ein künftiger König, für ihn werde ich auch noch<br />

in einigen Jahren eine Heirat arrangieren können, die im Interesse<br />

Preußens ist; was Wilhelmine betrifft, nun, ich habe nachgedacht:<br />

Der Markgraf von Schwedt ist inzwischen als Kandidat uninteressant,<br />

weil die Erbfolge mit vier Söhnen bestens gesichert ist. Ich<br />

537


wünsche natürlich auch, dass Wilhelmine einen regierenden Fürsten<br />

heiratet, ich denke dabei an den Erbprinzen von Bayreuth.»<br />

Sophie Dorothea zuckte zusammen und stand abrupt auf.<br />

«Mon Dieu, wollen Sie wirklich Ihre älteste Tochter mit einem<br />

unbedeutenden Markgrafen verheiraten? Gibt es in ganz Europa<br />

keine an<strong>der</strong>e Partie für eine preußische Königstochter?»<br />

«Liebe Frau, wenn ich einige meiner Töchter mit den Nebenlinien<br />

<strong>der</strong> süddeutschen Hohenzollern verbinde, so stärkt dies unser<br />

Haus, die Ansbacher und die Bayreuther sind von mir wirtschaftlich<br />

abhängig und folglich Verbündete Preußens, wer weiß, was die<br />

Zukunft bringt, Preußen kann nicht genug Verbündete besitzen,<br />

das gilt auch für das Reich, aber beruhigen Sie sich, es ist eine Idee<br />

von mir, nach meiner Rückkehr von <strong>der</strong> Reise werde ich weitere<br />

Entscheidungen treffen.»<br />

Er verließ das Zimmer, und Sophie Dorothea sank weinend auf<br />

ihren Stuhl.<br />

Wilhelmine, dachte sie, eine künftige Markgräfi n von Bayreuth.<br />

Nein, sie darf nicht in diese Ehe einwilligen, ich werde sie unter<br />

Druck setzen, ihr sagen, dass sie sich meine Ungnade zuzieht, dass<br />

ich sie verstoße, wenn sie sich bereit erklärt, den Bayreuther zu<br />

heiraten.<br />

An jenem Nachmittag ging <strong>Friedrich</strong> in seinem Arbeitszimmer<br />

verzweifelt hin und her. Hotham ist abgereist, dachte er, das ist das<br />

Ende <strong>der</strong> Heiratsverhandlungen, für mich gibt es jetzt nur noch<br />

eine Möglichkeit, diesem unwürdigen Leben am Berliner Hof zu<br />

entkommen: Ich muss fl iehen, und ich werde während <strong>der</strong> Reise<br />

entfl iehen. Mon Dieu, wo bleibt Hermann? Wir haben jetzt nur<br />

noch drei Tage, um die Flucht vorzubereiten. Am Samstag, am 15.<br />

Juli, will mein Vater Potsdam bei Sonnenaufgang verlassen.<br />

Er zuckte zusammen, als er hörte, dass schwere Schritte sich<br />

<strong>der</strong> Tür näherten. Dann stand <strong>Friedrich</strong> Wilhelm im Zimmer und<br />

musterte den Sohn mit argwöhnischen Augen.<br />

«Du wirst morgen früh allein nach Potsdam reisen, meine Anwesenheit<br />

hier ist notwendig. Du weißt wahrscheinlich, dass <strong>der</strong><br />

Kirchturm <strong>der</strong> Peterskirche während des Gewitters in <strong>der</strong> letzten<br />

Nacht zerstört wurde, <strong>der</strong> Blitz hat dreimal eingeschlagen. Abgese-<br />

538


hen von <strong>der</strong> Kirche brennen vierundvierzig Häuser, ich muss mich<br />

um meine Untertanen kümmern. Oberstleutnant von Rochow, General<br />

von Buddenbrock und Oberst von Waldow werden dich begleiten,<br />

sie werden auch während <strong>der</strong> Reise ständig in deiner Nähe<br />

sein. Das Tabakskollegium fällt heute aus, ich muss mit Grumbkow<br />

noch einige Angelegenheiten besprechen. Ich verlasse Berlin am<br />

15. Juli bei Sonnenaufgang und hole dich in Potsdam ab. Hast du<br />

noch Fragen, ist etwas unklar?»<br />

«Nein, Papa», und er atmete auf, als <strong>der</strong> Vater das Zimmer verließ.<br />

Er ging zum Fenster, sah hinunter in den Hof und versuchte,<br />

seine Gedanken zu ordnen: Drei Offi ziere werden mich während<br />

<strong>der</strong> Reise bewachen, morgen früh soll ich nach Potsdam reisen, ich<br />

habe nur einen Tag, um die Flucht vorzubereiten, mon Dieu, wo<br />

bleibt Hermann?<br />

In diesem Augenblick betrat Katte das Zimmer, und <strong>Friedrich</strong><br />

erschrak, als er die fl ackernden Augen des Freundes sah.<br />

«<strong>Friedrich</strong>, entschuldige meine Verspätung, aber ich wurde aufgehalten.»<br />

Er zögerte etwas und sagte: «Vorhin erfuhr ich, dass ich dich<br />

nicht auf <strong>der</strong> Reise begleiten darf, es ist ein Befehl des Königs.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Katte einen Moment lang an, dann begriff er, was<br />

<strong>der</strong> Freund gesagt hatte.<br />

«Mon Dieu, ich glaube allmählich, dass mein Vater uns trennen<br />

will. Du darfst uns nicht begleiten, und ich muss morgen früh nach<br />

Potsdam abreisen. Wir haben keine Zeit mehr, um die Flucht vorzubereiten.»<br />

«Wir haben drei Tage bis zur Abreise, das genügt, um Geld zu<br />

beschaffen», erwi<strong>der</strong>te Katte.<br />

In diesem Augenblick erschien ein Page und überreichte <strong>Friedrich</strong><br />

einen Brief.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete das Siegel und sagte: «Der Brief ist von Dickens.»<br />

Er las ihn und strahlte Katte an: «Dickens entschuldigt sich, dass<br />

er mir die Antwort meines Onkels erst jetzt mitteilen kann, aber<br />

er war während <strong>der</strong> letzten Tage damit beschäftigt, Hotham von<br />

<strong>der</strong> Abreise abzuhalten, er erwartet mich heute um zweiundzwan-<br />

539


zig Uhr am Eosan<strong>der</strong>portal, um mir den Brief meines Onkels zu<br />

übergeben.»<br />

Er überlegte einen Augenblick: «Hermann, ich möchte, dass du<br />

das Gespräch mithörst. Wenn ich die Antwort meines Onkels weiß,<br />

können wir weitere Entscheidungen treffen.»<br />

«Weitere Entscheidungen? Willst du damit sagen, dass du nicht<br />

fl iehen wirst?»<br />

«Ich weiß es nicht, ich bin fest entschlossen zu fl iehen, aber vielleicht<br />

können wir die Flucht besser planen, wenn ich die Antwort<br />

meines Onkels weiß.»<br />

Er eilte in sein Schlafzimmer, holte den polnischen Adlerorden<br />

und gab ihn Katte.<br />

«Verkaufe die Edelsteine und lasse sie durch billige Imitationen<br />

ersetzen!» Er ging zu seinem Schreibtisch, öffnete eine geheime<br />

Schublade, entnahm ihr eine Kassette und stellte sie auf den<br />

Tisch.<br />

«Hermann, in dieser Kassette sind die Briefe von meiner Mutter<br />

und Wilhelmine. Mein Vater darf nichts von ihnen wissen, weil sie<br />

beweisen, dass meine Mutter heimlich mit unseren Verwandten<br />

in England korrespondiert hat, überdies wird mein Vater in diesen<br />

Briefen kritisiert und lächerlich gemacht. Er wird König Ragotin<br />

genannt o<strong>der</strong> auch Soldatenkönig, das ist noch harmlos, aber er<br />

wird auch ‹<strong>der</strong> Dicke› genannt, ‹<strong>der</strong> Vielfraß›, ‹<strong>der</strong> Bauer›. Ich darf<br />

nicht daran denken, wie mein Vater reagiert, wenn er diese Briefe<br />

fi ndet. Wirst du sie in deinem Palais aufbewahren?»<br />

«Selbstverständlich, ich werde dafür sorgen, dass mein Kammerdiener<br />

sie im hintersten Kellergewölbe versteckt, dort wird<br />

niemand sie fi nden.»<br />

«Danke, ich lasse die Briefe nachher zu dir bringen.»<br />

Nach <strong>der</strong> Abendtafel begab <strong>Friedrich</strong> sich in das Spielzimmer <strong>der</strong> Königin,<br />

ging langsam zwischen den Tischen auf und ab und beobachtete<br />

amüsiert, dass Goldmünzen neben den Karten lagen.<br />

Nun ja, dachte er, Papa wird heute Abend nicht mehr hier auftauchen.<br />

Er betrachtete die Kerzenleuchter, die Vorhänge und Teppiche, er<br />

hörte die gedämpfte Unterhaltung und das Kichern <strong>der</strong> Damen, er<br />

540


genoss die schwüle Luft im Zimmer, jene Mischung aus Parfum,<br />

Pu<strong>der</strong> und Schweiß, und fragte sich, wann er dieses Zimmer, die<br />

Damen, seine Mutter und Schwester wie<strong>der</strong>sehen würde.<br />

In diesen Räumen, dachte er, war ich immer glücklich.<br />

Gegen halb zehn Uhr ging er zu Sophie Dorothea und Wilhelmine,<br />

die nebeneinan<strong>der</strong> an einem <strong>der</strong> Tische saßen.<br />

«Mama, liebe Schwester, ich möchte mich jetzt zur Ruhe begeben,<br />

morgen muss ich bei Sonnenaufgang Berlin verlassen. Es ist<br />

das erste Mal, dass ich mich auf eine Inspektionsreise freue, sie ist<br />

immerhin eine Abwechslung.»<br />

Sophie Dorothea und Wilhelmine umarmten ihn, und die Königin<br />

sagte: «Mein Sohn, ich freue mich schon jetzt auf unser Wie<strong>der</strong>sehen<br />

im Spätsommer, Sie werden mir regelmäßig schreiben,<br />

nicht wahr?»<br />

«Selbstverständlich, Mama.»<br />

«Auf Wie<strong>der</strong>sehen, Fritz», fl üsterte Wilhelmine und begann, leise<br />

zu weinen.<br />

<strong>Friedrich</strong> hob ihr Gesicht empor: «Bitte, weine nicht, es gibt keinen<br />

Grund für Tränen. Auf Wie<strong>der</strong>sehen.»<br />

Eine Viertelstunde später stand er unter dem Eosan<strong>der</strong>portal und<br />

konnte vor Aufregung kaum atmen. Plötzlich stand Katte neben<br />

ihm, und er spürte, dass seine Nerven sich in <strong>der</strong> Gegenwart des<br />

Freundes etwas beruhigten.<br />

«Wir haben Glück», sagte er leise, «dass heute die Tabagie ausfällt.<br />

Mein Vater und Grumbkow sind jetzt mit Aktenstudium beschäftigt.»<br />

«Ich wun<strong>der</strong>e mich, dass dein Vater Grumbkow nicht entlässt,<br />

<strong>der</strong> Minister hat schließlich gegen die englische Heirat intrigiert,<br />

sein Verhalten ist Hochverrat.»<br />

«Mein Vater lässt ihn nicht fallen, weil er glaubt, nicht auf ihn<br />

verzichten zu können, außerdem will er sein Gesicht wahren, was<br />

ich irgendwie verstehe, aber Grumbkow wird uns nicht auf <strong>der</strong><br />

Reise begleiten, und Reichenbach wird aus London abberufen und<br />

erhält einen Posten in <strong>der</strong> Verwaltung.»<br />

«Was ist mit Seckendorff? Hat er nicht mit Grumbkow zusammen<br />

gegen die englische Heirat gearbeitet?»<br />

541


«Er ist kein preußischer Untertan. Wir werden über sein Gut<br />

Meuselwitz reisen, dort einige Tage verbringen, und wahrscheinlich<br />

wird er uns dann begleiten, mein Vater kann auf seine Gesellschaft<br />

nicht verzichten.»<br />

Eine hohe Gestalt, in einen schwarzen Mantel gehüllt, näherte<br />

sich dem Portal und verschwand im Torbogen. Katte und <strong>Friedrich</strong><br />

folgten und erkannten im schwachen Schein <strong>der</strong> Torlaterne den<br />

Englän<strong>der</strong>.<br />

Dickens sah <strong>Friedrich</strong> ernst an: «Königliche Hoheit, die Nachrichten,<br />

die ich überbringe, werden Sie nicht sehr erfreuen. Seine Majestät<br />

war so gütig, mich über den Inhalt des Briefes zu informieren. Seine<br />

Majestät empfi ndet aufrichtiges Mitgefühl und hegt den ehrlichen<br />

Wunsch, Sie aus Ihrer gegenwärtigen, unerfreulichen Lage zu befreien,<br />

aber Seine Majestät ist davon überzeugt, dass es bei <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

politischen Lage in Europa nicht ratsam ist, wenn Eure<br />

Königliche Hoheit aus Preußen fl iehen. Seine Majestät empfi ehlt Eurer<br />

Königlichen Hoheit dringend, nicht zu fl iehen, son<strong>der</strong>n Geduld zu<br />

haben. Während meines Aufenthaltes in London war keine Zeit mehr,<br />

einen Kurier nach Versailles zu schicken und zu hören, wie man Eure<br />

Hoheit in Frankreich aufnehmen würde, ich habe inzwischen mit<br />

Monsieur Sauveterre über die Angelegenheit gesprochen, er meint,<br />

auch <strong>der</strong> König von Frankreich würde Ihnen von einer Flucht abraten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte Dickens ungläubig an, und es dauerte einige Sekunden,<br />

bis er sich von seiner Überraschung erholt hatte.<br />

«Das ist nicht möglich», sagte er leise, «mein Onkel verweigert<br />

mir das Asyl.»<br />

Dickens betrachtete im Lichtschimmer die verzweifelten Augen<br />

des Kronprinzen und fühlte sich hilfl os.<br />

«Königliche Hoheit, Seine Majestät, <strong>der</strong> König von England, ist<br />

bereit, Ihre Schulden zu bezahlen, aber nur unter einer Bedingung:<br />

Sie müssen versichern, dass Sie nicht versuchen werden zu fl iehen.»<br />

«Ich verspreche, dass ich nicht aus Potsdam fl iehen werde.»<br />

Dickens atmete erleichtert auf: «Gut, wie hoch sind Ihre Schulden?»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte: Es sind 7 000 Taler, aber da ich auch künftig<br />

Schulden haben werde, so nutze ich die Gelegenheit.<br />

542


Er zögerte etwas: «Es handelt sich um eine hohe Summe: 15 000<br />

Taler.»<br />

«Sie werden das Geld erhalten, Königliche Hoheit. Hier ist <strong>der</strong><br />

Brief Seiner Majestät, ich bitte Sie, mich jetzt zu entschuldigen,<br />

Königliche Hoheit.»<br />

Er gab <strong>Friedrich</strong> den Brief und eilte davon.<br />

<strong>Friedrich</strong> las das Schreiben seines Onkels und ging einen Augenblick<br />

ratlos auf und ab. Dann blieb er vor Katte stehen: «Hast du<br />

inzwischen Geld zusammengebracht?»<br />

«Ungefähr 2 000 Taler.»<br />

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, dann sagte Katte:<br />

«<strong>Friedrich</strong>, willst du wirklich unter diesen schlechten Voraussetzungen<br />

fl iehen? Du hast soeben gehört, dass we<strong>der</strong> England noch<br />

Frankreich dir Asyl gewähren werden, beide Herrscher denken<br />

zunächst an ihre eigenen Interessen, beide Könige fürchten wahrscheinlich<br />

das preußische Heer, selbst wenn dir die Flucht gelingt,<br />

so besteht die Gefahr, dass man dich an deinen Vater ausliefert.»<br />

«Du siehst die Lage zu pessimistisch, Hermann, in Frankreich<br />

werde ich mich nur kurze Zeit inkognito aufhalten, und ich glaube<br />

nicht, dass, wenn ich erst einmal in England bin, mein Onkel mich<br />

meinem Vater ausliefern wird, dafür hasst mein Onkel meinen Vater<br />

zu sehr. Mein Entschluss steht fest: Ich werde während <strong>der</strong> Reise<br />

fl iehen, so eine günstige Gelegenheit kehrt nicht so rasch wie<strong>der</strong>.»<br />

Katte betrachtete <strong>Friedrich</strong>s Augen, die im Lichtschimmer<br />

glücklich funkelten, und dachte: Es ist sinnlos, ihn von seinem Plan<br />

abbringen zu wollen, ich muss jetzt genau überlegen, wie ich ihm<br />

helfen kann, obwohl ich ihn nicht begleiten darf.<br />

«Es ist spät, <strong>Friedrich</strong>, ich kann keinen klaren Gedanken mehr<br />

fassen, wir haben noch zwei Tage, um deine Flucht vorzubereiten,<br />

ich werde versuchen, noch mehr Geld aufzutreiben, und ich werde<br />

überlegen, wie ich während <strong>der</strong> Reise zu dir kommen kann. Übermorgen,<br />

am späten Abend, sagen wir gegen 23 Uhr, werde ich in<br />

Potsdam sein, dann besprechen wir die Einzelheiten deiner Flucht,<br />

dann bringe ich auch das Reisegeld mit.»<br />

«Das Reisegeld? Nein, bewahre es bei dir auf, du wirst es benötigen,<br />

wenn du Berlin verlässt, ich hingegen habe unterwegs Kost<br />

und Logis, und etwas Bargeld habe ich immer dabei.»<br />

543


Sie umarmten sich schweigend, und <strong>Friedrich</strong> sah Katte nach, als<br />

er über den Schlosshof ging.<br />

Er ist ein wirklicher Freund, dachte er, gemeinsam wird uns die<br />

Flucht gelingen, und jetzt werde ich mich von Wilhelmine verabschieden.<br />

Als er das Vorzimmer betrat, hörte er, dass die Schwester sich im<br />

Schlafzimmer halblaut mit <strong>der</strong> Amme Mermann unterhielt.<br />

Er klopfte, trat ein und blieb an <strong>der</strong> Türschwelle stehen.<br />

Wilhelmine sah ihn erstaunt an: «Fritz? Ist etwas passiert?»<br />

Sie gab <strong>der</strong> Mermann ein Zeichen, und die Amme verließ das<br />

Zimmer.<br />

Wilhelmine trat zu dem Bru<strong>der</strong> und betrachtete forschend sein<br />

Gesicht. Dann führte sie ihn zu einem Stuhl.<br />

«Setz dich und erzähle in aller Ruhe.»<br />

«Wilhelmine, es ist spät, ich muss morgen früh abreisen, wir<br />

haben nicht viel Zeit, aber ich wollte dich noch einmal sehen und<br />

mich unter vier Augen von dir verabschieden, wir werden uns<br />

wahrscheinlich eine lange Zeit nicht mehr sehen.»<br />

Sie spürte, dass ihr Herz vor Angst anfi ng zu klopfen, und fragte<br />

mit gepresster Stimme: «Fritz, was hast du vor? Mon Dieu, willst<br />

du etwa während <strong>der</strong> Reise fl iehen?»<br />

Er sah sie einen Moment schweigend an: «Ja, Wilhelmine, bete<br />

für mich; das klingt für dich merkwürdig, weil ich nicht fromm<br />

bin, trotzdem, bete für mich.»<br />

«Fritz, ich beschwöre dich, versuche nicht zu fl iehen. Wenn deine<br />

Flucht misslingt, dann, dann, ich darf nicht an Papas Reaktion<br />

denken. Erinnere dich an die Meuterei <strong>der</strong> achtzig Grenadiere vor<br />

einigen Wochen: Sie versuchten, aus Potsdam zu fl iehen, wurden<br />

verhaftet und grausam bestraft: Zwei wurden öffentlich gehenkt,<br />

zwei an<strong>der</strong>en wurden Nasen und Ohren abgeschnitten, alle Übrigen<br />

wurden dreißigmal durch die Gasse geschickt. Fritz, du bist<br />

preußischer Offi zier, wenn du fl iehst, so ist dies Desertion, du riskierst<br />

nicht nur dein Leben, son<strong>der</strong>n auch das deiner Helfer, und du<br />

wirst bestimmt Helfer haben.»<br />

«Wilhelmine, was die Meuterer betrifft, so wurden sie verraten,<br />

und zwar von dem Dominikanerpater Bruns, <strong>der</strong> das Beichtgeheimnis<br />

nicht wahrte, sonst wäre ihre Flucht geglückt.»<br />

544


Er schwieg einen Augenblick, dann nahm er die Hände <strong>der</strong><br />

Schwester: «Wilhelmine, ich habe meine Flucht reifl ich überdacht,<br />

ich kann nicht länger mit Papa zusammen unter einem Dach leben,<br />

er macht mir das Leben zur Hölle, und es wird immer schlimmer<br />

werden; ich werde irgendwo in Europa auf seinen Tod warten und<br />

dann nach Preußen zurückkehren. Ich sage dir nicht, wohin ich<br />

gehen werde und wer mir hilft. Du darfst nichts davon wissen,<br />

weil man dich natürlich befragen wird; sage auch Mama nichts von<br />

meinen Fluchtplänen.»<br />

Sie begann zu weinen: «Fritz, bitte versuche nicht zu fl iehen.»<br />

«Wilhelmine, ich bin achtzehn Jahre und damit alt genug, um<br />

lebenswichtige Entscheidungen zu treffen.»<br />

Er umarmte sie und sagte leise: «Auf Wie<strong>der</strong>sehen, meine liebe,<br />

meine liebste Schwester.»<br />

Er verließ eilig das Zimmer, und Wilhelmine sah ihm fassungslos<br />

nach, dann sank sie auf einen Stuhl und begann, laut zu weinen.<br />

Am Abend des 14. Juli saß <strong>Friedrich</strong> in seinem Arbeitszimmer und<br />

führte den Zirkel langsam über eine Landkarte.<br />

Wir reisen zunächst nach Meuselwitz, dachte er, von dort geht es<br />

nach Leipzig, über Saalfeld, Coburg und Bamberg nach Erlangen,<br />

dann über Nürnberg und Heilbronn nach Ansbach; wir werden<br />

bestimmt einige Tage bei meiner Schwester in Ansbach bleiben,<br />

vielleicht sollte ich von dort aus versuchen zu fl iehen; von Ansbach<br />

reisen wir nach Augsburg, dann nach Ludwigsburg, von dort<br />

nach Mannheim. In <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> Reiseroute las ich, dass<br />

Papa in <strong>der</strong> kleinen Stadt Sinsheim übernachten will, bevor er nach<br />

Mannheim aufbricht.<br />

Er suchte mit dem Zirkel den Ort und starrte nachdenklich auf<br />

die Karte.<br />

Ab Mannheim, machte er sich klar, werden wir nur noch in<br />

fürstlichen Residenzen übernachten: Heidelberg, Frankfurt, Mainz,<br />

Bonn, Köln. Von dort aus ist eine Flucht wahrscheinlich schwieriger<br />

als aus einer kleinen Stadt. Wenn es in Ansbach nicht klappt, werde<br />

ich es von Sinsheim aus versuchen, allerdings – wird es Hermann<br />

gelingen, Berlin zu verlassen? Wo sollen wir uns treffen?<br />

545


Er ging zu dem geöffneten Fenster, sah in die Dunkelheit und<br />

genoss den warmen Sommerabend.<br />

Meine letzte Nacht in Potsdam, dachte er glücklich, diese Stadt<br />

werde ich erst wie<strong>der</strong> betreten, wenn Papa tot ist, und als König<br />

werde ich nur selten hier weilen. Ich werde von Berlin aus regieren,<br />

schließlich ist Berlin die Hauptstadt, und nicht Potsdam.<br />

Als es viertel vor elf schlug, zuckte er zusammen. Hermann<br />

wird am Eingang des Parkes auf mich warten, und er wollte eben<br />

das Fenster schließen, als er unten einen Pfi ff hörte.<br />

Er beugte sich hinaus, erkannte im Mondlicht Katte und Ingersleben,<br />

pfi ff zurück und eilte hinunter.<br />

Als er ankam, gab Katte dem Leutnant einen Wink und zog<br />

<strong>Friedrich</strong> zu einem Nebeneingang, wo niemand sie sehen konnte.<br />

«Ich habe Ingersleben mitgenommen, weil ein nächtlicher Ritt<br />

zu zweit ungefährlicher ist, er weiß von nichts, er soll aufpassen,<br />

dass wir unbemerkt bleiben. Ich habe noch Geld aufgetrieben, wir<br />

verfügen jetzt über 3 000 Taler.»<br />

«Sehr gut, hast du dir inzwischen einen Plan überlegt?»<br />

«<strong>Friedrich</strong>, bist du immer noch entschlossen, zu fl iehen? Die<br />

Voraussetzungen sind denkbar ungünstig.»<br />

«Mein Entschluss ist fester denn jemals.»<br />

«Gut, ich stehe zu meinem Wort, ich werde dir helfen. Im Augenblick<br />

gibt es für mich nur eine Möglichkeit, dich unterwegs zu<br />

treffen: Ich werde um Werbeurlaub bitten, Werbeoffi ziere sind<br />

überall. Ich kann jetzt noch nicht sagen, wo wir uns treffen werden,<br />

aber mein Cousin, <strong>der</strong> Rittmeister von Katte, ist Werbeoffi zier<br />

in Erlangen. Ich werde versuchen, über ihn mit dir zu korrespondieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> nickte: «Das klingt vernünftig.»<br />

«Falls ich dich unterwegs nicht treffen sollte, falls Hin<strong>der</strong>nisse<br />

auftauchen, so teile ich es dir rechtzeitig mit, und für diesen Fall<br />

empfehle ich dir, deine Flucht auf das Ende <strong>der</strong> Reise zu verschieben,<br />

warte bis Wesel, von dort beginnt die Rückreise, und von Wesel<br />

aus bist du rasch in Holland und an <strong>der</strong> Küste und kannst dich<br />

nach England einschiffen.»<br />

«Wesel? Ist es dann nicht zu spät? Vielleicht gelingt die Flucht<br />

aus Wesel nicht, und was ist dann?»<br />

546


«Du musst nicht unbedingt aus Wesel fl iehen, du kannst es vorher<br />

versuchen, wichtig ist, dass du gegen Ende <strong>der</strong> Reise fl iehst,<br />

wenn wir uns nicht treffen. Ein Fluchtversuch gegen Ende <strong>der</strong> Reise<br />

ist ungefährlicher, als wenn du es in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Reise, also von<br />

Süddeutschland aus, versuchst, von Süddeutschland aus ist <strong>der</strong> Weg<br />

zur Grenze länger; aber ich bin davon überzeugt, dass wir uns unterwegs<br />

irgendwo treffen werden.»<br />

«Ich bin auch davon überzeugt, es wird alles gutgehen, Hermann,<br />

in spätestens einem Monat sind wir in England, residieren<br />

in einem <strong>der</strong> Schlösser meines Onkels, in Windsor o<strong>der</strong> im Norden<br />

in Schottland, in Linlithgow, wo meine Urahne Maria Stuart geboren<br />

wurde.»<br />

Sie standen nebeneinan<strong>der</strong> und schwiegen.<br />

Als es Mitternacht schlug, sagte Katte leise: «Ich muss jetzt zurückreiten,<br />

<strong>Friedrich</strong>, wir werden uns bald wie<strong>der</strong>sehen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> umarmte den Freund: «Ich danke dir, ich werde nie<br />

vergessen, dass du mir im wichtigsten Augenblick meines Lebens<br />

geholfen hast.»<br />

«Du musst mir nicht danken, es ist die Pfl icht eines Freundes,<br />

dem an<strong>der</strong>n in einer Notlage zu helfen, und ich helfe dir gerne. Auf<br />

Wie<strong>der</strong>sehen irgendwo in Deutschland.»<br />

Er eilte hinweg, und <strong>Friedrich</strong> sah ihm nach, bis er in <strong>der</strong> Dunkelheit<br />

verschwunden war.<br />

«Wir werden uns bald wie<strong>der</strong>sehen», sagte er leise, und während<br />

er in sein Appartement ging, fühlte er sich glücklich und erleichtert.<br />

Am an<strong>der</strong>en Morgen betrat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm gegen fünf Uhr Sophie<br />

Dorotheas Schlafzimmer.<br />

Sie saß in einem Morgenrock aus roter Seide vor dem Frisierspiegel<br />

und ließ sich von <strong>der</strong> Kammerfrau Ramen die Haare richten.<br />

Sie gab <strong>der</strong> Kammerfrau ein Zeichen, und während die Ramen<br />

hinaushuschte, erhob Sophie Dorothea sich langsam, ging einige<br />

Schritte auf den Gatten zu, blieb vor ihm stehen und musterte ihn<br />

kühl von oben bis unten.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete verlegen den Teppich, dann straffte<br />

er sich und sah die Gattin bittend an.<br />

547


«Liebe Frau, ich möchte mich von Ihnen verabschieden, ich wünsche<br />

Ihnen einen angenehmen Sommer in Monbijou.»<br />

«Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise.»<br />

«Liebe Frau, ich möchte Ihnen auch sagen, wie sehr mich mein<br />

Benehmen gegenüber Sir Hotham reut, glauben Sie mir, ich hätte<br />

Wilhelmine gerne als Prinzessin von Wales und künftige Königin<br />

von England gesehen. Was Fritz betrifft, nun, solange er es so<br />

treibt, lasse ich ihn auf seine Vermählung warten. Ich will, dass er<br />

keinen Willen mehr hat, son<strong>der</strong>n dass ich ihn habe. Graf Seckendorff,<br />

nun, ich gebe zu, dass ich ihn falsch eingeschätzt habe, er hat<br />

mich zum Besten gehabt.»<br />

Sophie Dorothea lächelte spöttisch: «Sie fangen an, etwas vernünftiger<br />

zu reden, aber sobald Sie nur den Kirchturm von Seckendorffs<br />

Gut sehen, wohin Sie zuerst gehen, werden Sie ganz an<strong>der</strong>s denken,<br />

und nach <strong>der</strong> Heimkehr von Ihrer Reise werden Sie Ihre Familie wie<strong>der</strong><br />

rasend machen und mich auch, und wir werden wie stets leiden.»<br />

«Nein, ich verspreche es Ihnen: Sie werden nicht mehr leiden,<br />

dafür liebe ich Sie zu sehr, liebe Frau. Küssen Sie mich!»<br />

Sophie Dorothea blieb regungslos stehen, da ging <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

zu ihr, umarmte sie und küsste sie sanft auf den Mund. Dann<br />

eilte er aus dem Zimmer.<br />

Sophie Dorothea sah ihm nach und atmete auf.<br />

Gott sei Dank, dachte sie, er ist fort, hoffentlich dauert die Reise<br />

länger als geplant.<br />

548


4<br />

Die Kirchenglocken <strong>der</strong> kleinen Residenzstadt Ansbach läuteten<br />

den Abend ein, als die Kutschen des preußischen Königs und<br />

seines Gefolges über die grob gepfl asterten Straßen holperten.<br />

Im Schlosshof standen <strong>der</strong> achtzehnjährige Markgraf Carl Wilhelm,<br />

seine Gattin, die sechzehnjährige Frie<strong>der</strong>ike Luise, einige<br />

Minister und Hofdamen.<br />

Der preußische König und sein Sohn gingen zu dem jungen Paar<br />

und umarmten sie schweigend, dann musterte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

den Schwiegersohn und sagte: «Morgen reden wir über Ihre fi nanzielle<br />

Lage», er betrachtete die Tochter und spürte, dass sein Herz<br />

sich schmerzhaft zusammenzog.<br />

Was ist aus ihr in diesem ersten Ehejahr geworden, dachte er, ihr<br />

frischer Teint ist grau und welk, die Augen strahlen nicht mehr,<br />

son<strong>der</strong>n sehen verquollen aus, als ob sie jeden Tag weine.<br />

Er hob ihr Gesicht sanft zu sich empor: «Mein liebes Kind, zeigen<br />

Sie mir jetzt das Zimmer, wo ich wohnen werde.»<br />

Frie<strong>der</strong>ike Luise sah den Vater einen Augenblick unsicher an,<br />

und dann verstand sie ihn: Er will mich allein sprechen, dachte sie<br />

erleichtert.<br />

«Gerne, Papa», und sie gingen in das Schloss.<br />

Der junge Markgraf sah ihnen nachdenklich nach, dann wandte<br />

er sich zu <strong>Friedrich</strong>: «Ich zeige Ihnen Ihr Appartement.»<br />

Während sie durch verschiedene Säle gingen, sagte <strong>Friedrich</strong>:<br />

«Ich benötige dringend einen neuen Rock für die Empfänge, die<br />

ich in den Residenzen über mich ergehen lassen muss, gibt es in<br />

Ansbach einen guten Schnei<strong>der</strong>?»<br />

Der Markgraf musterte den Schwager erstaunt.<br />

Warum hat er sich nicht schon in Berlin genügend Klei<strong>der</strong><br />

schnei<strong>der</strong>n lassen, fragte er sich, und ganz fl üchtig dachte er an<br />

Gerüchte, die vor einigen Wochen nach Ansbach gedrungen waren:<br />

Man munkelte, dass <strong>der</strong> preußische Kronprinz fl iehen wolle.<br />

Dummes Geschwätz, dachte <strong>der</strong> Markgraf und lächelte den<br />

Schwager an.<br />

549


«Sie können gerne über meinen persönlichen Schnei<strong>der</strong> verfügen,<br />

ich werde anordnen, dass er morgen bei Ihnen erscheint, wäre<br />

Ihnen <strong>der</strong> Vormittag genehm?»<br />

«Ja, gegen zehn Uhr. Bitte, sagen Sie meinem Vater nichts, Sie<br />

wissen ja, wie sparsam er ist.»<br />

Frie<strong>der</strong>ike öffnete eine Tür: «Hier ist Ihr Arbeitszimmer, Papa, und<br />

nebenan das Schlafzimmer.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrat den Raum, ging bis zur Mitte und<br />

betrachtete nachdenklich den verschlissenen Teppich, den ausgefransten<br />

blauen Samt auf den Stühlen und die grauen, löchrigen<br />

Vorhänge an den Fenstern.<br />

Die Vorhänge sind grau vor Schmutz, dachte er, sie müssten gewaschen<br />

werden.<br />

Frie<strong>der</strong>ike folgte den Augen des Vaters und sagte leise: «Im<br />

Schloss müsste viel renoviert werden, aber wir haben kein Geld.»<br />

Plötzlich konnte sie sich nicht länger beherrschen, sank auf einen<br />

Stuhl und begann, laut zu weinen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm setzte sich neben sie auf einen Schemel, streichelte<br />

ihre Hände und wartete, dass sie sich beruhigte.<br />

Nach einer Weile trocknete Frie<strong>der</strong>ike ihre Tränen: «Papa, ich<br />

bin so unglücklich.»<br />

«Ike, das wollte ich nicht, als ich Sie vermählte. Erzählen Sie,<br />

wieso haben Sie kein Geld? Ich gab Ihnen eine Mitgift.»<br />

«Papa, mein seliger Schwiegervater baute das Schloss Unterschwaningen,<br />

das ihn fi nanziell ruinierte, es kostete 15.849 Gulden,<br />

meine Mitgift wurde zur Tilgung <strong>der</strong> Schulden verwendet,<br />

meine fi nanzielle Lage ist erträglich, ich habe gelernt zu sparen;<br />

das Hofl eben ist viel schlimmer: Mit meiner seligen Schwiegermutter<br />

verstand ich mich sehr gut, aber nach ihrem Tod Ende letzten<br />

Jahres wurde alles an<strong>der</strong>s. Seit einigen Monaten spüre ich, dass<br />

<strong>der</strong> Hof gegen mich intrigiert. Nun, Intrigen gibt es an jedem Hof,<br />

das wäre noch zu ertragen, wenn mein Mann hinter mir stehen<br />

würde, aber er interessiert sich nur für die Falkenjagd. Diese Liebhaberei<br />

verschlingt Unsummen, über vierzig Personen warten und<br />

pfl egen die Falken, hinzu kommen Jäger und ausgebildete Falkner,<br />

es werden täglich einhun<strong>der</strong>tfünfzehn Tauben benötigt, um die<br />

550


Falken zu trainieren. Es ist eine grausame Liebhaberei, mir tun die<br />

Tauben immer leid, wenn man sie fl iegen lässt und sie Sekunden<br />

später von einem Falken getötet werden.»<br />

«Ihr Mann besitzt die größte Falknerei im ganzen Reich, eine<br />

Falknerei ist natürlich kostspieliger als meine Jagden in Wusterhausen,<br />

aber es ist nun einmal so, Ike, je<strong>der</strong> Mann frönt einer Liebhaberei;<br />

vielleicht wird euer Verhältnis inniger, wenn ihr Kin<strong>der</strong> habt.»<br />

Frie<strong>der</strong>ike begann erneut zu weinen.<br />

«Kin<strong>der</strong>, Papa», schluchzte sie, «ich wünsche mir so sehr ein<br />

Kind, einen Erben, aber wie kann ich Kin<strong>der</strong> bekommen, Carl vernachlässigt<br />

mich.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm überlegte einen Augenblick und fragte dann<br />

vorsichtig: «Wollen Sie damit sagen, dass er seine ehelichen Pfl ichten<br />

nicht erfüllt?»<br />

Frie<strong>der</strong>ike zögerte und antwortete leise: «Ja, Papa, er hat eine<br />

Geliebte, ein Bauernmädchen, er betrügt mich mit einer Frau von<br />

niedrigster Herkunft. Ich habe Mama nie etwas darüber geschrieben.<br />

Bitte, Papa, erzählen Sie Mama nichts davon, Sie wissen, wie<br />

sehr sie auf die Standesunterschiede achtet.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm erhob sich und strich <strong>der</strong> Tochter beruhigend<br />

über den Kopf.<br />

«Ich werde Ihrer Mutter gegenüber schweigen, aber ich werde<br />

mit meinem Schwiegersohn ein ernstes Wort reden.»<br />

«Danke, Papa, aber seien Sie bitte nicht zu streng mit ihm.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Ich weiß, dass Sie nach meiner Abreise<br />

weiter mit ihm leben müssen.»<br />

Frie<strong>der</strong>ike stand auf: «Wie lange werden Sie bleiben, Papa? Entschuldigen<br />

Sie diese Frage, Papa, aber ich muss es wissen wegen des<br />

Küchenmeisters.»<br />

«Ungefähr eine Woche, ich möchte Ansbach am 30. Juli verlassen.»<br />

«Danke, Papa, entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich habe meinen<br />

Bru<strong>der</strong> noch nicht begrüßt, außerdem habe ich Pfl ichten als<br />

Gastgeberin.»<br />

Frie<strong>der</strong>ike stand neben dem Bru<strong>der</strong> an einem Fenster seines Wohnzimmers,<br />

und einen Augenblick lang beobachteten sie schweigend<br />

die Lakaien und Soldaten, die im Hof eifrig hin- und herliefen.<br />

551


«Hast du dich hier inzwischen etwas eingelebt, Ike? – pardon:<br />

Durchlaucht.»<br />

«Mit ‹Durchlaucht› wird Carl angeredet, meine offi zielle Anrede<br />

ist ‹Königliche Hoheit›. Es wäre mir lieber, wenn man mich auch<br />

‹Durchlaucht› anreden würde, diese unterschiedlichen Anreden erschweren<br />

meine Stellung am Hof. Nun ja, Papa wird alles regeln,<br />

aber nun erzähle von dir, wie war die Reise?»<br />

«Anstrengend und nicht beson<strong>der</strong>s aufregend, wir verbrachten<br />

zwei Tage in Meuselwitz, und natürlich konnte Papa sich<br />

nicht von diesem wi<strong>der</strong>lichen Seckendorff trennen, du hast gesehen,<br />

dass er uns begleitet. Nun, ich habe seit Würzburg jeden<br />

Tag den kräftigen Wein genossen, <strong>der</strong> hier angebaut wird.»<br />

«Ich freue mich, dass dir dieser herbe Tropfen schmeckt, ich werde<br />

veranlassen, dass <strong>der</strong> Kellermeister dir eine Kiste nach Potsdam<br />

schickt.»<br />

«Sende den Wein nach Berlin zu Mama, sie kann ihn für mich<br />

aufheben, Papa muss nicht alles wissen. Übrigens lernte ich in Erlangen<br />

den Rittmeister von Katte kennen, er ist ein Vetter meines<br />

besten Freundes.»<br />

«Ich beneide dich, du hast also einen richtigen Freund, einen<br />

Menschen, dem du voll vertrauen kannst.»<br />

«Ja, Ende letzten Jahres befahl Papa dem Leutnant von Katte,<br />

mein Gesellschafter zu sein, lei<strong>der</strong> musste er in Berlin bleiben, wir<br />

korrespondieren über seinen Vetter. Als wir uns sahen, hatte er<br />

allerdings noch keinen Brief für mich.»<br />

«Ich habe diesen Rittmeister von Katte etliche Male hier gesehen, er<br />

soll ein ausgesprochen tüchtiger Werbeoffi zier sein und den Hohenzollern<br />

treu ergeben», sagte Frie<strong>der</strong>ike, «aber jetzt entschuldige mich, ich<br />

muss mich um die Abendtafel kümmern, wir essen in einer Stunde.»<br />

Sie eilte hinaus, und <strong>Friedrich</strong> ging langsam auf und ab und versuchte,<br />

seine Gedanken zu ordnen.<br />

«Er ist den Hohenzollern treu ergeben», sagte er leise, «folglich<br />

müsste er auch mir treu ergeben sein.»<br />

Am nächsten Vormittag erschien <strong>der</strong> Schnei<strong>der</strong> des Markgrafen,<br />

nahm <strong>Friedrich</strong>s Maße und fragte: «Wann soll <strong>der</strong> Rock fertig sein,<br />

Königliche Hoheit?»<br />

552


<strong>Friedrich</strong> dachte nach: Vielleicht kommt Hermann nach Ansbach,<br />

und wir fl iehen von hier aus, und er antwortete: «Wir verlassen<br />

Ansbach am 30. Juli, schafft Er es bis übermorgen? Da ist ein<br />

Ball, und ich möchte den Rock dann anziehen.»<br />

«Selbstverständlich, Königliche Hoheit, ich werde noch heute<br />

mit dem Zuschneiden beginnen, zum Glück habe ich einen genügenden<br />

Vorrat an rotem Samt. Erlauben Sie mir eine Bemerkung,<br />

Königliche Hoheit, ist Samt nicht etwas zu warm für die Jahreszeit?<br />

Ich habe auch genügend rote Seide vorrätig.»<br />

«Die Abende und Nächte könnten kühl sein, nehme Er Samt.»<br />

«Wie Sie wünschen, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah dem Schnei<strong>der</strong> nach, als er das Zimmer verließ,<br />

und lächelte vor sich hin.<br />

Wenn <strong>der</strong> gute Mann wüsste, was ich vorhabe. Auf <strong>der</strong> Überfahrt<br />

nach England werde ich wahrscheinlich einen warmen Rock<br />

benötigen.<br />

Er sah zur Uhr.<br />

Bis zur Mittagstafel sind es noch zwei Stunden, ich sollte die Zeit<br />

nutzen und mir das Städtchen etwas genauer ansehen.<br />

Als er den Schlosshof betrat, begegnete er dem Rittmeister<br />

von Katte, <strong>der</strong> vom Pferd stieg, und im gleichen Augenblick marschierten<br />

einige hochgewachsene junge Männer in den Hof.<br />

Als <strong>der</strong> Rittmeister <strong>Friedrich</strong> sah, eilte er auf ihn zu.<br />

«Königliche Hoheit, was für ein glücklicher Zufall, ich habe einen<br />

Brief meines Vetters für Sie.»<br />

«Danke», und er spürte, dass seine rechte Hand leicht zitterte, als<br />

er das Schreiben nahm.<br />

«Ist Seine Majestät im Schloss? Ich möchte dem König die Langen<br />

Kerls zeigen, die ich für ihn angeworben habe.»<br />

«Mein Vater ist beim Markgrafen.» Er eilte in sein Appartement,<br />

öffnete mit zitternden Fingern den Brief, las, sank auf einen Stuhl<br />

und sah einen Augenblick hilfl os vor sich hin.<br />

«Nein», sagte er leise, «nein, das ist doch nicht möglich, mon<br />

Dieu, Hermann hat keinen Werbeurlaub erhalten, und jetzt? Was<br />

mache ich jetzt?»<br />

Er las den Brief erneut und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.<br />

553


Hermann kann mir bei <strong>der</strong> Flucht nicht helfen, ich muss mich<br />

nach einem neuen Helfer umsehen. Den Brief werde ich verbrennen,<br />

in <strong>der</strong> Schlossküche brennt immer ein Feuer, und jetzt ist es<br />

dort wahrscheinlich noch ruhig.<br />

Er betrat vorsichtig die Küche, sah erleichtert, dass in einer Ecke<br />

einige Küchenjungen Hühner rupften und ihn nicht bemerkten,<br />

weil sie ihm den Rücken zuwandten.<br />

Er beobachtete, wie die Flammen Kattes Brief vernichteten, und<br />

er beschloss, dem Freund zu schreiben, dass er vorerst nichts weiter<br />

unternehmen solle.<br />

Er verließ die Küche, schritt unruhig im Wirtschaftshof auf und<br />

ab, ging schließlich wie<strong>der</strong> zum Schlosshof und begegnete wie<strong>der</strong><br />

dem Rittmeister.<br />

«Königliche Hoheit», rief Katte gutgelaunt, «Seine Majestät<br />

ist begeistert von den Langen Kerls, demnächst werde ich beför<strong>der</strong>t!»<br />

<strong>Friedrich</strong> versuchte zu lächeln: «Ich gratuliere Ihnen.» In diesem<br />

Augenblick erinnerte er sich an die Worte seiner Schwester:<br />

Er ist den Hohenzollern treu ergeben, und kurz entschlossen sagte<br />

er zu dem Rittmeister: «Haben Sie noch einen Augenblick Zeit? Ich<br />

möchte Sie um etwas bitten.»<br />

«Selbstverständlich, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> führte den Offi zier in den Park und sah sich vorsichtig<br />

um: «Hier wird man uns wahrscheinlich nicht belauschen. Herr<br />

von Katte, ich bin in einer verzweifelten Situation: Sie wissen wahrscheinlich<br />

von dem Krieg, den mein Vater und ich gegeneinan<strong>der</strong><br />

führen, kurz, ich bin schon lange entschlossen, während dieser Reise<br />

zu fl iehen. Ihr Vetter wollte mir helfen, nun wurde sein Antrag auf<br />

Werbeurlaub abgelehnt. Wären Sie bereit, mir bei <strong>der</strong> Flucht zu helfen?<br />

Sie müssten mir nur unauffällig ein starkes Pferd besorgen.»<br />

Der Rittmeister starrte <strong>Friedrich</strong> entsetzt an: «Königliche Hoheit,<br />

Sie wollen fl iehen? Königliche Hoheit, Sie sind Offi zier,<br />

eine Flucht bedeutet Desertion, Sie wissen wie Desertion bestraft<br />

wird, es gab in den letzten Jahren nur wenige Deserteure, denen<br />

die Flucht gelang; überdies, was mich betrifft, so bin ich mit Leib<br />

und Seele Offi zier und dem König treu ergeben. Ich bin stolz darauf,<br />

ein preußischer Offi zier zu sein, meine Ehre verbietet es<br />

554


mir, Ihnen zu helfen, auch verstehe ich den Leichtsinn meines<br />

Vetters nicht.»<br />

«Ihr Vetter ist mein Freund, und er sah es als Freundespfl icht an,<br />

mir zu helfen. Ich respektiere indes Ihren Gehorsam als Offi zier.<br />

Leben Sie wohl.»<br />

«Königliche Hoheit, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als preußischer<br />

Offi zier, dass ich unser Gespräch sofort vergessen werde,<br />

niemand wird davon erfahren. Königliche Hoheit, ich fl ehe Sie an,<br />

versuchen Sie nicht zu fl iehen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte den Rittmeister mit kühlen Augen: «Ich danke<br />

Ihnen für Ihre Ratschläge.»<br />

Auf dem Weg zu seinem Appartement ärgerte er sich über<br />

sich selbst: Ich habe mich wie ein Narr benommen, dachte er, ich<br />

konnte mir doch denken, dass ein Offi zier, <strong>der</strong> Lange Kerls anwirbt,<br />

nicht bereit ist, mir bei <strong>der</strong> Flucht zu helfen. Ich werde<br />

jetzt an Hermann schreiben und diesen Brief mit einer Stafette<br />

nach Berlin schicken, <strong>der</strong> Weg über den Rittmeister ist jetzt zu<br />

riskant.<br />

Am Nachmittag irrte er ziellos durch das Schloss und überlegte<br />

verzweifelt, wer als Fluchthelfer geeignet wäre.<br />

Plötzlich hörte er die zornige Stimme seines Vaters und merkte,<br />

dass er im Vorraum des markgräfl ichen Arbeitszimmers stand.<br />

Er sah sich vorsichtig um, und als er we<strong>der</strong> Lakaien noch Türsteher<br />

entdeckte, ging er näher zur Tür und lauschte.<br />

«Was ist das für eine Haushaltsführung?!», brüllte <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm. «Die Ausgaben sind dreimal so hoch wie die Einnahmen,<br />

wenn Sie Ihren Etat ausgleichen wollen, müssen Sie sparen, sparen<br />

und nochmals sparen!»<br />

«Ich weiß nicht, wie ich noch mehr sparen kann, mein Hof ist<br />

bescheiden, verglichen mit an<strong>der</strong>en Fürstenhöfen.»<br />

Die Stimme des Schwagers klang eingeschüchtert, und <strong>Friedrich</strong><br />

empfand Mitleid.<br />

«Bescheiden? Sie geben Unsummen aus für die Falknerei, es<br />

wäre angebracht, die Ausgaben für diese Liebhaberei um die Hälfte<br />

zu senken, Sie könnten auch die Hälfte <strong>der</strong> Dienerschaft entlassen,<br />

meiner Meinung nach laufen hier zu viele überfl üssige Lakaien<br />

555


umher, und meine Tochter benötigt auch nicht so viele Hofdamen<br />

zur Unterhaltung.»<br />

«Mit Verlaub, bin ich es Ihrer Tochter nicht schuldig, dass sie<br />

über genügend Hofdamen und Dienerschaft verfügt?»<br />

«Meine Ike ist an einem sparsamen Hof aufgewachsen und nicht<br />

verwöhnt, überdies schulden Sie ihr keinen Hofstaat, son<strong>der</strong>n<br />

Respekt und Aufmerksamkeit! Kümmern Sie sich mehr um Ihre<br />

Gattin, dann wird sie auch mit weniger Hofdamen zufrieden sein.<br />

Gehen Sie jetzt zu ihr, ich werde mir inzwischen Ihren Etat noch<br />

einmal genau ansehen.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> hörte, dass <strong>der</strong> schwere Schritt seines Vaters sich<br />

<strong>der</strong> Tür näherte, eilte er in sein Appartement und dachte über das<br />

belauschte Gespräch nach.<br />

Mein Schwager wird sich über Papas Ratschläge, sparsamer zu<br />

wirtschaften, ärgern und über die Einmischung in die Ehe wahrscheinlich<br />

auch, vielleicht sollte ich meinen Schwager bitten, mir<br />

zu helfen, allerdings werde ich ihn nicht in meine Pläne einweihen,<br />

son<strong>der</strong>n indirekt bitten. Übermorgen ist ein Ball, das wäre eine<br />

günstige Gelegenheit für ein vertrauliches Gespräch.<br />

Während einer Tanzpause ging <strong>Friedrich</strong> zu dem Markgrafen.<br />

«Was für ein warmer Abend, es ist fast wie in Monbijou, wenn<br />

meine Mutter einen Ball veranstaltet.»<br />

Der junge Markgraf lächelte geschmeichelt: «Ich freue mich, dass<br />

es Ihnen hier gefällt, aber ich bitte Sie, meine bescheidene Residenz<br />

kann man doch nicht mit Monbijou vergleichen.»<br />

«Ich liebe kleine Schlösser, wo man in Muße leben kann, wo man<br />

sich am Abend mit Freunden über Literatur unterhält, musiziert,<br />

Komödien aufführt, musikalische Darbietungen genießt. Wenn ich<br />

einmal König bin, werde ich ein Musenschloss erbauen lassen.»<br />

Er schwieg und dachte darüber nach, wie er das Gespräch fortführen<br />

sollte.<br />

«Seit unserer Ankunft habe ich von <strong>der</strong> Markgrafschaft noch<br />

nicht viel gesehen, ich würde morgen gerne einen längeren Spazierritt<br />

unternehmen. Sie haben sicherlich ein gutes Pferd im Stall,<br />

das Sie mir für einige Stunden leihen würden?»<br />

Carl horchte auf.<br />

556


Ich soll ihm ein gutes Pferd für einige Stunden ausleihen, dachte<br />

er und erinnerte sich an die Gerüchte über die geplante Flucht des<br />

Prinzen.<br />

Nein, überlegte er, falls die Gerüchte stimmen und meinem<br />

Schwager die Flucht mit einem Pferd aus meinem Stall gelingt,<br />

dann habe ich das Wohlwollen meines Schwiegervaters für alle<br />

Zeiten verscherzt, und aus fi nanziellen Gründen bin ich auf ihn<br />

angewiesen.<br />

Er lächelte <strong>Friedrich</strong> an: «Ich verstehe Ihren Wunsch. Lei<strong>der</strong><br />

kann ich Ihnen vorerst kein gutes Pferd geben, die Rösser werden<br />

morgen frisch beschlagen, weil übermorgen ein Jagdausfl ug stattfi<br />

ndet, und bei diesem Ausfl ug lernen Sie einen Teil <strong>der</strong> Markgrafschaft<br />

kennen. Entschuldigen Sie mich bitte, es wird Zeit, dass ich<br />

meine Gattin zum Tanz führe.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah ihm enttäuscht und verzweifelt nach.<br />

Er will mir kein Pferd geben; vielleicht ahnt er meine Pläne, und<br />

dann will er sich natürlich Papas Wohlwollen nicht verscherzen, er<br />

ist wahrscheinlich auf Papas Kredite angewiesen. Es war dumm von<br />

mir zu glauben, dass ausgerechnet ein angeheirateter Verwandter<br />

bereit ist, mir zu helfen.<br />

Von Ansbach aus ist eine Flucht unmöglich, ich werde warten<br />

bis Sinsheim. Heute ist <strong>der</strong> 24. Juli, bis zu Abreise am 30. habe ich<br />

noch fünf Tage, um einen Helfer zu fi nden. Wen könnte ich jetzt<br />

ansprechen?<br />

Seine Augen wan<strong>der</strong>ten über die anwesenden Herren, und je<br />

später es wurde, desto mehr war er überzeugt, dass er keinen Helfer<br />

fi nden würde, und er fragte sich, ob es nicht besser war, Kattes<br />

Rat zu befolgen und erst gegen Ende <strong>der</strong> Reise, von Wesel aus, zu<br />

fl iehen.<br />

Am Morgen des 26. Juli bestieg <strong>Friedrich</strong> deprimiert sein Pferd,<br />

betrachtete erneut die anwesenden Herren und dachte: Während<br />

dieser Reise bleibt mir nichts erspart, ich muss sogar an Jagdausfl ügen<br />

teilnehmen, während <strong>der</strong> vergangenen Reisen war zum Glück<br />

dafür keine Zeit.<br />

In diesem Augenblick erschien <strong>Friedrich</strong> Wilhelm in Begleitung<br />

seiner Pagen und einiger Offi ziere.<br />

557


<strong>Friedrich</strong> betrachtete gleichgültig das Gefolge des Vaters und<br />

stutzte: Der Page dort, dachte er aufgeregt, das ist <strong>der</strong> jüngere Bru<strong>der</strong><br />

von Keith, mon Dieu, warum habe ich nicht längst an ihn gedacht,<br />

er ist jung, unerfahren, er lässt sich wahrscheinlich leichter<br />

überreden mir zu helfen, ich werde es versuchen.<br />

Als die Sonne im Zenit stand, kam die Jagdgesellschaft auf einer<br />

Waldlichtung an, wo <strong>der</strong> markgräfl iche Küchenmeister inzwischen<br />

eine kalte Mahlzeit gerichtet hatte.<br />

<strong>Friedrich</strong> setzte sich auf einen Baumstumpf, aß etwas Gefl ügel,<br />

trank hin und wie<strong>der</strong> einen Schluck Wein und beobachtete seinen<br />

Vater, <strong>der</strong> geräucherte Würste verschlang und dazu mehrere Krüge<br />

des einheimischen Bieres trank.<br />

Er sah, wie <strong>der</strong> Vater sich nie<strong>der</strong>legte, und er hörte, wie er zu<br />

dem Schwiegersohn sagte: «Ich werde allmählich alt, sogar während<br />

einer Jagd benötige ich meinen Mittagsschlaf, man soll mich<br />

um zwei Uhr wecken.»<br />

Im nächsten Augenblick war er eingeschlafen und begann, laut<br />

zu schnarchen.<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete auf und beobachtete, dass auch die übrigen<br />

Herren allmählich einschliefen, er sah zu den Pagen, die sich halblaut<br />

unterhielten, aber nach einer Weile verstummte die Unterhaltung,<br />

und auch sie überließen sich dem Schlummer.<br />

<strong>Friedrich</strong> wartete noch eine Weile, dann ging er zu den Pagen,<br />

rüttelte Keith wach, und als <strong>der</strong> Junge ihn verschlafen ansah, gab<br />

er ihm ein Zeichen, ihm in den Wald zu folgen.<br />

Der Page sah den Kronprinzen erstaunt an.<br />

«Königliche Hoheit …»<br />

«Du sollst mir einige Fragen beantworten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> blickte ihn streng an und fuhr fort: «Bekommt man<br />

überall Pferde?»<br />

«An einigen Orten sind noch Pferde übrig, an an<strong>der</strong>en aber<br />

nicht.»<br />

«Musst du stets beim Wagen des Königs bleiben? Darfst du nicht<br />

eine Meile zurückbleiben o<strong>der</strong> vorausreiten?»<br />

«Ich muss stets beim Wagen bleiben, denn wenn <strong>der</strong> König aussteigt,<br />

fragt er allezeit nach allen Leuten, die zum Wagen gehören.»<br />

558


«Bestelle mir ein Pferd.»<br />

«Wo soll es denn hingehen?»<br />

«Wo denkst du, dass es hingehen werde?»<br />

«Ich weiß es nicht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> zögerte einen Augenblick, und dann antwortete er:<br />

«Wenn ich einmal weggehe, so komme ich nicht wie<strong>der</strong>.»<br />

Der Page sah <strong>Friedrich</strong> unsicher an: «Das verstehe ich nicht, Königliche<br />

Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte Keith, und für den Bruchteil einer Sekunde<br />

zweifelte er, ob dieser Junge von fünfzehn o<strong>der</strong> sechzehn Jahren <strong>der</strong><br />

richtige Fluchthelfer war, dann verdrängte er den Gedanken, weil<br />

nur dieses halbe Kind wahrscheinlich bereit war, ihm zu helfen.<br />

«Ich bin fest entschlossen zu fl iehen, und ich werde mich in Sinsheim<br />

absetzen, ich benötige ein gutes Pferd, wirst du es mir beschaffen?<br />

Ich erwarte nicht, dass du mich begleitest, du sollst nur<br />

ein gutes Pferd beschaffen.»<br />

Der Page starrte <strong>Friedrich</strong> an: «Königliche Hoheit, Sie sind Offi<br />

zier, Ihre Flucht ist eine Desertion, Sie riskieren Ihr Leben, wenn<br />

die Flucht misslingt. Nein, mit einer Desertion möchte ich nichts<br />

zu tun haben.»<br />

«Beruhige dich, dir wird nichts passieren, niemand wird von deiner<br />

Hilfe erfahren, und wenn du mir hilfst, so werde ich dies nie<br />

vergessen.»<br />

Keith sah nachdenklich vor sich hin.<br />

«Königliche Hoheit, ich kann Ihnen nicht helfen, wenn <strong>der</strong> König<br />

es erfährt, dann …»<br />

«Der König wird es nicht erfahren. Dein Bru<strong>der</strong> war bereit, mir<br />

zu helfen, lei<strong>der</strong> wurde er nach Wesel versetzt, ich versichere dir,<br />

ich werde deine Hilfe nie vergessen.»<br />

Der Page überlegte: Der Kronprinz ist mein künftiger König,<br />

vielleicht dauert es nicht mehr lange bis zu seiner Thronbesteigung.<br />

Der regierende König ist krank, wer weiß, wie lange er noch lebt;<br />

ich sollte mir die Gunst des künftigen Königs nicht verscherzen …<br />

Er sah <strong>Friedrich</strong> an und sagte leise: «Ich bin bereit, Ihnen zu<br />

helfen, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete auf. «Ich will von Sinsheim aus fl iehen, wenn<br />

wir dort ankommen, müsstest du ein Pferd auftreiben.»<br />

559


Am frühen Abend des 29. Juli schrieb <strong>Friedrich</strong> einen Brief an<br />

Katte:<br />

Lieber Hermann,<br />

morgen verlassen wir Ansbach bei Sonnenaufgang, wir reisen nach<br />

Ludwigsburg und von dort nach Mannheim. Mein Vater will in<br />

dem Städtchen Sinsheim übernachten, und ich werde von dort aus<br />

fl iehen. Wenn Du diesen Brief bekommst, dann verlasse Berlin<br />

unter einem Vorwand, reise nach Den Haag und erkundige Dich<br />

dort nach einem Grafen d‘Alberville. Du wirst mich in einem <strong>der</strong><br />

Gasthäuser fi nden.<br />

Ich wünsche Dir eine gute Reise und umarme Dich herzlich,<br />

Dein <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> immer Dein Freund sein wird, bis dass <strong>der</strong> Tod<br />

uns scheidet.<br />

An jenem Abend wurden auf Wunsch des preußischen Königs an<br />

<strong>der</strong> Tafel die einheimischen Würste mit Kraut serviert.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete angewi<strong>der</strong>t die Speisen, beobachtete, dass<br />

sein Vater genüsslich zunächst die gesottenen Leber- und Blutwürste<br />

verspeiste, anschließend die Bratwürste, und mehrere Krüge<br />

Bier dazu trank.<br />

Dann lehnte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sich in den Stuhl zurück und<br />

lächelte seine Tochter an: «Mein Kind, die Würste sind eine Delikatesse,<br />

sie würden die Berliner Hoftafel bereichern.»<br />

«Ich freue mich, Papa, dass es Ihnen gemundet hat, ich schicke<br />

Ihnen gerne Würste, sooft Sie es wünschen, soll ich sie nach Potsdam<br />

schicken o<strong>der</strong> nach Berlin?»<br />

«Nach Potsdam und nach Berlin, mein Kind.»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen, als von Berlin die Rede war.<br />

Mon Dieu, dachte er verunsichert, habe ich den Brief an Hermann<br />

nach Berlin adressiert? Natürlich habe ich ihn nach Berlin<br />

adressiert, o<strong>der</strong> doch nicht?<br />

Nun, ich weiß bestimmt, dass ich den Brief nach Berlin geschickt<br />

habe, Hermann wird ihn Anfang August lesen, Keith wird meinen<br />

Brief dann auch erhalten haben.<br />

Der 4. August war ein heißer, schwüler Sommertag. In Monbijou<br />

waren am Abend die Türen des Musikzimmers, das auf <strong>der</strong> Gar-<br />

560


tenseite lag, weit geöffnet, von ferne hörte man Donner, und am<br />

Himmel zuckte hin und wie<strong>der</strong> ein Blitz auf.<br />

Katte stand vor einem Notenpult und spielte die Flöte, während<br />

Wilhelmine ihn auf dem Klavier begleitete.<br />

Die Königin und ihre Damen hörten andächtig zu, und als das<br />

kleine Konzert beendet war, klatschten sie begeistert Beifall.<br />

Die Königin stand auf und lächelte den jungen Mann an: «Vielen<br />

Dank, Herr von Katte, Ihr Flötenspiel war ein Genuss», und zu den<br />

Damen: «Jetzt werden wir spielen, um Geld natürlich.»<br />

Während sie in das Spielzimmer ging, sagte sie zu Frau von Kamecke:<br />

«Das war ein Sommertag, wie ich ihn liebe: eine Kahnfahrt<br />

auf <strong>der</strong> Spree, ein Spaziergang im Park, ein gepfl egtes Diner, dann<br />

ein Konzert und zum Abschluss des Tages ein Kartenspiel. Der Höhepunkt<br />

war <strong>der</strong> Brief des Königs; er schreibt, dass die Reise wahrscheinlich<br />

länger dauern wird als geplant, wegen <strong>der</strong> Festlichkeiten<br />

an den Höfen, und er wird erst nach seinem Geburtstag wie<strong>der</strong> in<br />

Berlin sein, wir werden also den August unbeschwert verbringen<br />

können. Am Geburtstag des Königs werde ich in Berlin sein und<br />

wie immer, wenn er an diesem Tag nicht anwesend ist, ein festliches<br />

Diner und einen Ball arrangieren.»<br />

Fräulein von Sonsfeld blieb im Musikzimmer und beobachtete, wie<br />

Wilhelmine und Katte die Notenhefte ordneten.<br />

Am Hof wird darüber geredet, dass er in sie verliebt ist, dachte<br />

sie. Nun, man merkt ihm nichts an.<br />

«Ich erhielt einen Brief meines Bru<strong>der</strong>s, er schreibt, dass er froh<br />

ist über die Abreise aus dem provinziellen Ansbach, überdies»,<br />

Wilhelmine begann zu lachen, und es dauerte eine Weile, bis sie sich<br />

beruhigte, «er schreibt, dass unsere Tafel künftig mit Würsten aus<br />

Ansbach bereichert wird, meine Schwester wird regelmäßig die se<br />

Delikatesse schicken.»<br />

Katte sah Wilhelmine erstaunt an: «Seine Königliche Hoheit hat<br />

Ihnen geschrieben? Ich werde allmählich eifersüchtig auf Sie, ich<br />

habe keinen Brief erhalten, das letzte Schreiben trug das Datum<br />

des 22. Juli.»<br />

«Sie warten auf einen Brief meines Bru<strong>der</strong>s?»<br />

«Ja», antwortete Katte zögernd.<br />

561


«Denken Sie nicht weiter darüber nach, wer weiß, welche unerfreulichen<br />

Auftritte es während <strong>der</strong> Reise zwischen meinem<br />

Bru<strong>der</strong> und meinem Vater gegeben hat. Vielleicht hat mein<br />

Vater es meinem Bru<strong>der</strong> verboten, mit Ihnen zu korrespondieren,<br />

mein Vater ist unberechenbar geworden, was sein Verhältnis<br />

zum Kronprinzen betrifft. Hätten Sie Lust zu einer Partie<br />

Schach?»<br />

Am Schachtisch dachte Katte nach, warum er von <strong>Friedrich</strong> keine<br />

Nachricht erhalten hatte.<br />

«Matt», sagte Wilhelmine, «Sie haben sehr unkonzentriert gespielt.»<br />

«Ich bitte um Vergebung, Königliche Hoheit, bei <strong>der</strong> nächsten<br />

Partie werde ich mich besser konzentrieren, und dann bin ich im<br />

Vorteil, weil ich die Partie eröffne.»<br />

Während er die weißen Figuren aufstellte, dachte er: <strong>Friedrich</strong><br />

hat mir aus Ansbach nicht mehr geschrieben, dies bedeutet, dass er<br />

seinen Fluchtplan aufgegeben hat. Gott sei Dank, er wird mit dem<br />

König nach Berlin zurückkehren, und wir werden als Freunde so<br />

leben wie bisher, er wird nicht fl iehen, er wird zurückkehren.<br />

Eine Hofdame neigte sich zu Fräulein von Sonsfeld und fl üsterte:<br />

«Man munkelt, dass <strong>der</strong> junge Katte in Prinzessin Wilhelmine verliebt<br />

ist, ihr den Hof macht und sie heimlich besucht, sie soll eine<br />

Liaison mit ihm haben.»<br />

«Das ist dummes Gerede, vielleicht ist Herr von Katte in sie verliebt,<br />

aber er macht ihr we<strong>der</strong> den Hof, noch hat sie eine Liaison mit<br />

ihm. Sie weiß, was sie den Hohenzollern schuldig ist, eine preußische<br />

Prinzessin hat keine Liaison.»<br />

Kurz nach Mitternacht zog Sophie Dorothea sich zurück.<br />

Während die Ramen die Haare ihrer Herrin bürstete, sagte die<br />

Königin: «Morgen werden wir wie<strong>der</strong> um Kaffeebohnen spielen,<br />

ich habe heute viel Geld verloren; trotzdem war es ein wun<strong>der</strong>voller<br />

Abend.»<br />

In diesem Augenblick hörten sie einen merkwürdigen Lärm im<br />

Kabinett, das neben dem Schlafzimmer lag.<br />

Die Königin sprang erschrocken auf.<br />

«Mon Dieu, was ist das? Es klingt, als ob jemand mein kostbares<br />

Porzellan zerschlägt!»<br />

562


Die Ramen eilte in das Kabinett und kehrte wenig später zurück.<br />

«Beruhigen Sie sich, Majestät, Ihr Porzellan ist unversehrt.»<br />

«Aber, aber … <strong>der</strong> Lärm, Sie hat den Lärm doch auch gehört?»<br />

«Ja, Majestät, ich weiß nicht, was ich davon halten soll.»<br />

«Bereite Sie mir einen Schlaftrunk.»<br />

Als die Kammerfrau zur Tür ging, hörten sie nebenan erneut ein<br />

Klirren, als ob Spiegel, Kronleuchter und Vasen zu Boden stürzten.<br />

Sophie Dorothea erbleichte und umklammerte einen Pfosten des<br />

Himmelbettes.<br />

Die Ramen eilte in das Nebenzimmer und kehrte schreckensbleich<br />

zurück.<br />

«Majestät, ich verstehe nicht, was hier vorgeht, in Ihrem Porzellankabinett<br />

ist alles unversehrt.»<br />

«Was hat das zu bedeuten?», fl üsterte die Königin.<br />

«Mit Verlaub, Majestät, vielleicht spukt es in Monbijou.»<br />

«Rede Sie keinen Unsinn, es gibt keine Gespenster, bringe Sie<br />

endlich meinen Schlaftrunk.»<br />

Als Sophie Dorothea im Bett saß und genüsslich Rotwein trank,<br />

<strong>der</strong> mit Eigelb und Honig verquirlt war, beruhigten sich ihre Nerven<br />

allmählich.<br />

Das Klirren im Kabinett hängt vielleicht mit <strong>der</strong> schwülen Luft<br />

zusammen, mutmaßte sie, in dieser Nacht gibt es bestimmt noch<br />

ein Gewitter.<br />

Sie stellte das Glas auf den kleinen Tisch neben dem Bett,<br />

schraubte den Docht <strong>der</strong> Nachtlampe niedriger, sank in die Kissen<br />

und fuhr im gleichen Augenblick hoch.<br />

Zwischen ihren Räumen und den Zimmern, die <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

manchmal bewohnte, lag eine Galerie, und von dort erklang<br />

ein dumpfes Geräusch, das allmählich in ein Seufzen und Stöhnen<br />

überging.<br />

Sie sprang aus dem Bett, lief zur Tür und rief nach <strong>der</strong> Schildwache,<br />

die in <strong>der</strong> Galerie während <strong>der</strong> Nacht auf und ab ging.<br />

Der Grenadier salutierte vor <strong>der</strong> Königin und sah verlegen zu<br />

Boden, weil sie nur ein Nachtkleid trug.<br />

«Hat Er die Geräusche in <strong>der</strong> Galerie gehört?»<br />

Der Grenadier sah die Königin erstaunt an: «Nein, Majestät, ich<br />

habe nichts gehört.»<br />

563


Sophie Dorothea ging wortlos in ihr Schlafzimmer und fragte<br />

sich einen Augenblick, ob sie unter Halluzinationen leide. Nein,<br />

dachte sie, ich bilde mir nichts ein, die Ramen hat den Lärm im<br />

Kabinett ebenfalls gehört, was hat dies alles nur zu bedeuten?<br />

Sie lag noch lange wach und versuchte, ihre Angstgefühle zu<br />

bekämpfen. Als es zwei Uhr schlug, schlief sie endlich ein.<br />

Am frühen Abend des 4. August war die königliche Reisegesellschaft<br />

nur noch wenige Meilen von Sinsheim entfernt.<br />

Plötzlich ritt <strong>der</strong> Page von Keith neben <strong>der</strong> Kutsche des Kronprinzen<br />

und sagte zu Rochow: «Befehl Seiner Majestät: Wir werden<br />

nicht in Sinsheim übernachten, son<strong>der</strong>n im nächsten Dorf, es<br />

heißt Steinfurt. Seiner Majestät ist <strong>der</strong> Gasthof in Sinsheim zu<br />

teuer, Seine Majestät meint, bei dem trockenen Wetter könne man<br />

auch unter freiem Himmel nächtigen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> und seine Begleiter sahen sich an, dann sagte Rochow:<br />

«Wir werden die Nacht unter freiem Himmel überleben, und ab<br />

Mannheim übernachten wir bis zum Ende <strong>der</strong> Reise in Residenzschlössern.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah verzweifelt in die Landschaft, und während abwechselnd<br />

Wiesen und Getreidefel<strong>der</strong> an seinen Augen vorüberzogen,<br />

überlegte er, wie er in dem Dorf zu einem Pferd kommen<br />

könne. Die Ackergäule <strong>der</strong> Bauern taugen nicht für einen schnellen<br />

Ritt, ob ich die Flucht verschiebe, bis wir in einer <strong>der</strong> Residenzstädte<br />

sind? Hermann empfahl mir, erst gegen Ende <strong>der</strong> Reise zu<br />

fl iehen, aber so lange kann und will ich nicht warten.<br />

Irgendwann sah er die Kirchturmspitze des Dorfes, und als sie<br />

sich dem Dorfeingang näherten, stutzte er.<br />

Pferdemarkt, dachte er, hier ist tatsächlich Pferdemarkt, ich bin<br />

gerettet. Ich werde Keith nachher zu dem Markt schicken, und in<br />

<strong>der</strong> Morgendämmerung, wenn noch alle schlafen, werde ich fl iehen.<br />

Die Kutschen rumpelten durch das Dorf und hielten hinter den<br />

letzten Häusern.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah sich um und rief: «Wun<strong>der</strong>bar, hier gibt<br />

es mehrere Scheunen! Ich werde mich in dieser einquartieren, und<br />

du, Fritz, nächtigst mit deinen Offi zieren in <strong>der</strong> Scheune gegen-<br />

564


über. Meine Herren, bis Mannheim ist es nicht weit, wir werden<br />

morgen um fünf Uhr aufbrechen, dann kommen wir tausendmal<br />

genug hin», und zu Seckendorff: «Kommen Sie, ein kleiner Spaziergang<br />

tut uns gut, und außerdem möchte ich mich mit den Bauern<br />

unterhalten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte: Fünf Uhr, ich benötige einen Vorsprung von<br />

mindestens zwei Stunden.<br />

<strong>Friedrich</strong> folgte Gummersbach und Rochow in die Scheune,<br />

und es dauerte einige Sekunden, bis er sich an das spärliche Licht<br />

gewöhnte, das durch zwei schmale Fenster den Raum etwas erhellte.<br />

Er sah eine Leiter, die zu einem Heuboden führte, ansonsten war<br />

die Scheune leer.<br />

Rochow kletterte die Leiter hinauf, Gummersbach sah sich um<br />

und fragte: «Wo soll ich Ihr Lager richten, Königliche Hoheit?»<br />

«Hier, neben <strong>der</strong> Tür.»<br />

Das erleichtert meine Flucht, dachte er.<br />

Während <strong>der</strong> Kammerdiener zum Gepäckwagen ging, kletterte<br />

Rochow wie<strong>der</strong> herunter.<br />

«Königliche Hoheit, dort oben ist ein wun<strong>der</strong>barer Schlafplatz,<br />

mitten im weichen Heu, das ist doch angenehmer als Ihr hartes<br />

Klappbett.»<br />

«Gewiss, aber ein künftiger preußischer König muss sich an unbequeme<br />

Betten gewöhnen, in irgendeinem Krieg werde ich nur<br />

ein Klappbett haben.»<br />

Rochow sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an und ging zu Buddenbrock und<br />

Waldow, die bei den Kutschen standen und unschlüssig die Scheune<br />

betrachteten.<br />

«In <strong>der</strong> Scheune ist es zu stickig», sagte Buddenbrock, «wir würden<br />

lieber unter freiem Himmel nächtigen.»<br />

Rochow entgegnete: «Seine Majestät hat befohlen, dass wir immer<br />

in <strong>der</strong> Nähe des Kronprinzen sein sollen. Allerdings, ich nächtige<br />

in <strong>der</strong> Scheune und <strong>der</strong> Kammerdiener ebenfalls, überdies ist<br />

<strong>der</strong> Prinz zu klug, um eine Flucht zu wagen. Ich glaube, es ist zu<br />

verantworten, wenn Sie woan<strong>der</strong>s schlafen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> öffnete einen <strong>der</strong> Koffer, nahm den roten Samtrock<br />

und legte ihn neben sein Bett.<br />

565


Gummersbach betrachtete erstaunt den roten Rock, hielt es aber<br />

für besser, zu schweigen und abzuwarten. Der Prinz will wahrscheinlich<br />

in diesem Rock in Mannheim einfahren, dachte er; dem<br />

König wird es nicht genehm sein, aber das ist eine Angelegenheit<br />

zwischen Vater und Sohn, die mich nichts angeht.<br />

<strong>Friedrich</strong> ging hinaus, beobachtete, dass die Pagen das Gepäck<br />

des Königs in die Scheune trugen, und als Keith wie<strong>der</strong> zum Gepäckwagen<br />

kam, nahm er ihn zur Seite, gab ihm einige Taler und<br />

sagte leise: «Wenn du hier fertig bist, gehst du zu dem Pferdemarkt<br />

und kaufst ein gutes Pferd. Sage dem Händler, dass du es morgen<br />

früh gegen halb drei Uhr abholst. Du wirst mich um zwei Uhr wecken,<br />

dann kann ich etwa um drei Uhr losreiten.»<br />

Keith sah <strong>Friedrich</strong> unsicher an: «Ja, Königliche Hoheit.»<br />

Als sie später zur Dorfschenke gingen, wo eine Mahlzeit gerichtet<br />

war, fl üsterte Keith: «Sie werden mit dem Pferd zufrieden sein,<br />

Königliche Hoheit.»<br />

An jenem Abend lag <strong>Friedrich</strong> noch lange wach, er versuchte<br />

einzuschlafen, aber immer wie<strong>der</strong> verdrängten Gedanken über<br />

seine Zukunft den Schlaf: Wo werde ich morgen übernachten?<br />

Mein Geld reicht nicht für Gasthöfe, überdies ist es zu gefährlich,<br />

solange ich noch in Deutschland bin. Ich muss so rasch wie<br />

möglich nach Frankreich, dort werde ich in Klöstern Unterkunft<br />

fi nden, Katte ist wahrscheinlich jetzt schon auf dem Weg nach<br />

Holland.<br />

Er horchte auf die ruhigen Atemzüge des Kammerdieners und<br />

atmete auf. Gummersbach wird nichts merken; er hörte, dass die<br />

Kirchturmuhr Mitternacht schlug, und schlief allmählich ein.<br />

Als es halb zwei schlug, erwachte Gummersbach, verließ so leise<br />

wie möglich die Scheune und kehrte nach kurzer Zeit zurück.<br />

Ich habe zu viel Bier getrunken, dachte er, noch drei Stunden,<br />

dann ist die Nacht vorbei, das wird morgen ein anstrengen<strong>der</strong> Tag.<br />

Nun, auch diese Reise wird vorübergehen.<br />

Als es zwei Uhr schlug, begann er erneut, in den Schlaf zu gleiten,<br />

und fuhr hoch, als er hörte, dass die Tür leise geöffnet wurde.<br />

Er sah einen jungen Mann, glaubte, den Pagen Keith zu erkennen,<br />

legte sich wie<strong>der</strong> hin und lauschte.<br />

566


<strong>Friedrich</strong> spürte im Schlaf, dass jemand an seiner Schulter<br />

rüttelte, und erwachte. Es ist so weit, dachte er und spürte, dass er<br />

vor Aufregung Herzklopfen bekam.<br />

«Königliche Hoheit», wisperte Keith, «es ist zwei Uhr.»<br />

Der Page huschte hinaus, und <strong>Friedrich</strong> erhob sich so leise wie<br />

möglich, zog den roten Rock an, verließ die Scheune und ging<br />

draußen unruhig auf und ab.<br />

Gummersbach beobachtete entsetzt, wie <strong>der</strong> Prinz hinausging,<br />

und kletterte auf den Heuboden.<br />

«Herr von Rochow, rasch, <strong>der</strong> Kronprinz wurde eben geweckt<br />

und hat die Scheune verlassen.»<br />

Rochow, <strong>der</strong> in seinen Klei<strong>der</strong>n schlief, fuhr hoch: «Was sagt Er?<br />

Der Kronprinz ist fort? Benachrichtige Er sofort Buddenbrock und<br />

Waldow.»<br />

Der Kammerdiener eilte aus <strong>der</strong> Scheune, was <strong>Friedrich</strong> nicht<br />

bemerkte, dann trat Rochow zu dem Prinzen und sagte: «Guten<br />

Morgen, Königliche Hoheit, Sie sind früh auf den Beinen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte zusammen und sah Rochow einen Augenblick<br />

entgeistert an.<br />

«Ich will zu meinem Vater.»<br />

«Königliche Hoheit, die Abfahrt ist auf fünf Uhr festgesetzt.»<br />

«Ich weiß, aber in <strong>der</strong> Scheune war es so stickig, ich musste an<br />

die frische Luft.»<br />

«Ich verstehe Sie, Königliche Hoheit. Wenn ich mich nicht täusche,<br />

tragen Sie einen roten Rock, es wäre besser, wenn seine Majestät<br />

dieses Kleidungsstück nicht sieht.»<br />

«Ich habe gefroren.»<br />

Rochow musterte <strong>Friedrich</strong> und verspürte Mitleid. Der Prinz<br />

wollte fl iehen, dachte er, nun, wichtig ist, dass <strong>der</strong> König nichts<br />

davon erfährt.<br />

«Gehen Sie in die Scheune, Königliche Hoheit, und legen Sie den<br />

Rock ab.»<br />

In diesem Augenblick erschienen Buddenbrock, Waldow und Seckendorff.<br />

«Was ist passiert?», fragte Buddenbrock.<br />

«Nichts, Seine Königliche Hoheit wollte nur einen Augenblick<br />

an die frische Luft, Sie können wie<strong>der</strong> gehen.»<br />

567


Seckendorff musterte den roten Rock und dachte im Stillen, dass<br />

etwas nicht stimmte, wahrscheinlich wollte <strong>der</strong> Prinz fl iehen, nun,<br />

wenn <strong>der</strong> König von diesem Auftritt erfährt und mich fragt, werde<br />

ich sagen, was Rochow sagte: Der Prinz wollte einen Augenblick<br />

an die frische Luft.<br />

Nun erschien Gummersbach, und als <strong>Friedrich</strong> sah, dass <strong>der</strong><br />

Kammerdiener und Rochow auf <strong>der</strong> Dorfstraße verweilten, kehrte<br />

er resigniert in die Scheune zurück, legte den roten Rock ab und<br />

ging verzweifelt auf und ab.<br />

Der Fluchtversuch ist missglückt, dachte er, sie werden Keith abpassen,<br />

hoffentlich fällt ihm eine Ausrede ein. Ich werde es später<br />

noch einmal versuchen.<br />

Er ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und sah Rochow vor <strong>der</strong><br />

Scheune auf und ab gehen.<br />

Er bewacht mich, dachte <strong>Friedrich</strong>, was wird passieren, wenn<br />

Keith mit dem Pferd kommt?<br />

Als es halb vier schlug, erschien <strong>der</strong> Page mit zwei Pferden.<br />

Rochow ging zu ihm: «Für wen sind die Pferde?»<br />

«Für die Pagen.»<br />

«Scheren Sie sich zum Teufel mit den Pferden!», schrie Rochow.<br />

«Sie bringen die Pferde sofort zurück.»<br />

Keith sah Rochow unsicher an und begab sich zu dem Pferdemarkt.<br />

<strong>Friedrich</strong> schloss die Tür und sank resigniert auf sein Lager.<br />

Rochow hat mich durchschaut, dachte er, wird er Papa von dem<br />

Vorfall berichten?<br />

Als es halb fünf schlug, begab er sich zu <strong>Friedrich</strong> Wilhelm.<br />

«Guten Morgen, Papa.»<br />

«Guten Morgen, Fritz. Ich habe beschlossen, dass du mit deinem<br />

Wagen vorausfährst, er ist schwerer als meiner, und ich möchte,<br />

dass du pünktlich in Mannheim bist.»<br />

«Ja, Papa.»<br />

Er ging zu dem Wagen und dachte erleichtert, dass <strong>der</strong> Vater<br />

bis jetzt noch nichts von dem missglückten Fluchtversuch wusste,<br />

Rochow hatte bis jetzt geschwiegen.<br />

Als sie in Mannheim ankamen, wartete <strong>Friedrich</strong>, bis sein Vater<br />

und <strong>der</strong> Kurfürst von <strong>der</strong> Pfalz in das Schloss gingen, dann trat er<br />

568


zu Keith, <strong>der</strong> mit dem Gepäck beschäftigt war, und sagte leise: «Du<br />

musst mir ein neues Pferd beschaffen.»<br />

Der Page sah <strong>Friedrich</strong> unsicher an: «Ja, Königliche Hoheit, allerdings<br />

werde ich heute keine Zeit haben.»<br />

«Dann sorge morgen für ein tüchtiges Pferd.»<br />

Der 6. August war ein Sonntag. Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sich<br />

mit seinem Gefolge zum Gottesdienst in die Schlosskirche begab,<br />

näherte sich <strong>Friedrich</strong> unauffällig dem Pagen und fl üsterte: «Du<br />

musst mir noch heute ein Pferd beschaffen, ich will Mannheim<br />

verlassen, bevor die Stadttore geschlossen werden.»<br />

«Ja, Königliche Hoheit», und er vermied es, den Prinzen anzusehen.<br />

Während des Gottesdienstes dachte Keith über seine Situation<br />

nach: Der Fluchtversuch des Prinzen ist missglückt, bis jetzt weiß<br />

<strong>der</strong> König nichts davon. Ich weiß nicht, wo ich in dieser Stadt ein<br />

Pferd auftreiben kann. Angenommen, es gelingt mir, eines zu besorgen,<br />

so kann auch ein zweiter Fluchtversuch scheitern. Angenommen,<br />

<strong>der</strong> König erfährt, dass ich <strong>der</strong> Fluchthelfer war, so bedeutet<br />

dies meinen Tod. Ich bin noch jung, ich will leben und nicht<br />

sterben, lieber Gott, was soll ich tun? Der Prinz ist <strong>der</strong> künftige<br />

König, wenn ich ihm jetzt nicht helfe, dann werde ich dafür büßen<br />

müssen, wenn er König ist, und dies bedeutet das Ende meiner militärischen<br />

Laufbahn; wenn ich ihm helfe und die Flucht misslingt,<br />

dann werde ich als Fluchthelfer zum Tode verurteilt. Lieber Gott,<br />

wie soll ich mich verhalten?<br />

Die Predigt war beendet, und als das Orgelspiel begann, sah<br />

Keith die massige Gestalt des Königs vor sich sitzen, und plötzlich<br />

wusste er, wie er sein Problem lösen konnte.<br />

Nach dem Gottesdienst begab <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sich in sein Appartement,<br />

weil er vor <strong>der</strong> Mittagstafel noch einen Brief an Sophie<br />

Dorothea schreiben wollte.<br />

569


Liebe Frau …<br />

570<br />

Mannheim, 6. August 1730<br />

In diesem Augenblick wurde Keith gemeldet.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm seufzte, legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite und betrachtete<br />

den Pagen: «Du siehst blass aus, nun ja, ich weiß, dass meine<br />

Art zu reisen für meine Begleitung anstrengend ist, was gibt es?»<br />

Keith sah verlegen zu Boden und stammelte: «Majestät, ich …<br />

ich muss Eurer Majestät etwas beichten. Und ich bitte Eure Majestät<br />

schon jetzt, den Kronprinzen nicht zu strafen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah Keith verwun<strong>der</strong>t an, stand auf und ging<br />

zu ihm.<br />

«Was sagst du, <strong>der</strong> Kronprinz … deine Beichte betrifft den Kronprinzen?»<br />

«Ja, Majestät.»<br />

«Ich weiß nicht, was passiert ist, aber die Bestrafung des Kronprinzen<br />

ist meine Angelegenheit. Ich muss wissen, worum es sich<br />

handelt, dann entscheide ich, ob er bestraft wird o<strong>der</strong> nicht. Was<br />

dich betrifft, so musst du keine Strafe fürchten und bleibst in<br />

meinem Dienst, sofern du die Wahrheit sagst.»<br />

Keith dachte einen Augenblick lang verzweifelt über seine Lage<br />

nach: Wenn <strong>der</strong> Kronprinz erführe, dass er den König über den<br />

Fluchtplan informiert hatte, dann wäre seine militärische Laufbahn<br />

unter dem künftigen preußischen König beendet; an<strong>der</strong>erseits<br />

– wenn er dem Prinzen bei einem zweiten Versuch geholfen<br />

und <strong>der</strong> König davon erfahren hätte, dann müsste er mit <strong>der</strong> Todesstrafe,<br />

zumindest aber mit mehrjähriger Festungshaft rechnen.<br />

Nein, dachte er, ich bin <strong>der</strong> Page des Königs und zur Loyalität verpfl<br />

ichtet. Der regierende König ist jetzt wichtig für mich, nicht <strong>der</strong><br />

künftige König. Er holte Luft und sah <strong>Friedrich</strong> Wilhelm an.<br />

«Majestät, Seine Königliche Hoheit bat mich etliche Male, ihm<br />

ein Pferd zu besorgen, weil er fl iehen will.»<br />

Der König starrte den Pagen fassungslos an: «Er will fl iehen?<br />

Hat er zu dir gesagt, dass er fl iehen will?»<br />

«Ja, Majestät.»<br />

«Es ist gut, du kannst gehen.»


Während Keith hinauseilte, sank <strong>der</strong> König auf einen Stuhl und<br />

starrte einige Sekunden lang geistesabwesend vor sich hin.<br />

Irgendwann wich die Betäubung, und er spürte, dass eine Wut<br />

ihn überkam wie noch nie zuvor.<br />

«Er will fl iehen», schrie er, «er will fl iehen! Warum? Er ist ein<br />

Deserteur, ich werde ihn zum Tode verurteilen lassen, dann bin ich<br />

ihn los. August Wilhelm wird König von Preußen werden, er ist<br />

fähiger als sein Bru<strong>der</strong>. Oh, wie ich diesen Französling hasse, ja,<br />

ich hasse ihn, obwohl er mein Sohn ist, ich hasse ihn, und wenn er<br />

jetzt vor mir stünde, so würde ich ihn umbringen, ich würde ihm<br />

den Hals umdrehen, ihn zum Fenster hinauswerfen, ich wünschte,<br />

er wäre tot, und ich müsste ihn nie mehr sehen!»<br />

Er hielt inne und atmete schwer. «Lieber Gott», sagte er leise,<br />

«meine Gedanken sind Sünde, ein Vater soll seine Kin<strong>der</strong> lieben,<br />

aber ich hasse meinen ältesten Sohn. Vergib mir, lieber Gott, wie<br />

konnte es nur so weit kommen?»<br />

Er ging auf und ab und beruhigte sich etwas.<br />

Der Bengel muss ab jetzt streng überwacht werden, überlegte<br />

er, solange wir nicht auf preußischem Gebiet sind, kann ich nichts<br />

unternehmen, und ich darf mir nichts anmerken lassen, ich muss<br />

mich beherrschen, lieber Gott, gib mir die Kraft, die Reise bis Wesel<br />

zu überstehen.<br />

Was soll ich mit dem Französling machen? Keith hat bestimmt<br />

die Wahrheit gesagt, aber es fehlen die schriftlichen Beweise. Wenn<br />

ich den Bengel mit Keiths Geständnis konfrontiere, wird er sagen,<br />

<strong>der</strong> Page habe gelogen, dann steht Aussage gegen Aussage. Er ging<br />

zum Schreibtisch, betrachtete den angefangenen Brief und zerriss<br />

ihn.<br />

Hat er seine Mutter und Wilhelmine eingeweiht? Seine Mutter<br />

wahrscheinlich nicht, um ihr Unannehmlichkeiten zu ersparen.<br />

Und Wilhelmine? Sie ist wahrscheinlich unterrichtet, und<br />

bestimmt hat er mit Katte über seinen Plan gesprochen, nun, man<br />

wird sehen.<br />

Die Standuhr begann zu schlagen und erinnerte ihn an die Mittagstafel.<br />

Er begab sich zu Rochow, und während sie zum Speisesaal gingen,<br />

sagte er leise: «Fritz hat desertieren wollen. Ich wun<strong>der</strong>e mich,<br />

571


dass man es mir nicht gesagt hat. Ihr, Rochow, sollt dafür mit Kopf,<br />

Hals und Kragen reponieren, sofern Ihr ihn nicht in Wesel lebendig<br />

o<strong>der</strong> tot einliefert. Hier ist nicht lange Zeit, davon zu sprechen,<br />

und weil ich vielleicht Buddenbrock und Waldow nicht allein sprechen<br />

kann, sollt Ihr ihnen in meinem Namen sagen und befehlen,<br />

dass sie dafür mit responsabel sein sollen.»<br />

Rochow erschrak, fragte sich, wie <strong>der</strong> König den Fluchtplan erfahren<br />

hatte, dachte daran, dass er den Fluchtplan verschwiegen<br />

hatte, und erwi<strong>der</strong>te vorsichtig: «Er soll uns nicht wegkommen und<br />

würde uns auch nicht weggekommen sein, denn ich habe einem<br />

Fluchtversuch vorgebeugt, und <strong>der</strong> Prinz hat einen getreuen Kammerdiener,<br />

auf den man sich verlassen kann.»<br />

Während <strong>der</strong> Mittagstafel betrachtete <strong>Friedrich</strong> Wilhelm hin<br />

und wie<strong>der</strong> seinen Sohn und unterdrückte mühsam seinen Zorn:<br />

Beim Dessert hielt er es nicht länger aus und zischte zu <strong>Friedrich</strong>:<br />

«Ich wun<strong>der</strong>e mich, dich noch hier zu sehen, ich glaubte, du bist<br />

schon in Paris.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Vater verunsichert an, überlegte, dass es am<br />

besten war, souverän zu wirken, und erwi<strong>der</strong>te: «Wenn ich gewollt<br />

hätte, könnte ich sicherlich schon in Frankreich sein.»<br />

Am Nachmittag begab er sich erneut zu Keith: «Du musst mir noch<br />

heute ein Pferd besorgen, ich habe nicht mehr viel Zeit.»<br />

Der Page sah <strong>Friedrich</strong> an und sah zu Boden: «Verzeihen Sie mir,<br />

Königliche Hoheit.»<br />

Er lief hinweg, <strong>Friedrich</strong> sah ihm erstaunt nach, und allmählich<br />

spürte er ein unbehagliches Gefühl: Etwas ist nicht in Ordnung,<br />

dachte er, Keith wird mir kein Pferd besorgen, nun, dann muss ich<br />

mit <strong>der</strong> Flucht warten, bis wir in Wesel sind.<br />

Am Morgen des 8. August erreichte die Reisegesellschaft Frankfurt<br />

am Main. Die Kutschen hielten am Flussufer, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

sagte zu Rochow: «Sie werden sich unverzüglich mit meinem<br />

Sohn und seinen Begleitern auf eines <strong>der</strong> Schiffe begeben und ihn<br />

gut bewachen. Die Besichtigung <strong>der</strong> Stadt und <strong>der</strong> Empfang im Römer<br />

dauern höchstens zwei Stunden, dann reisen wir weiter nach<br />

Bonn, wo <strong>der</strong> Kurfürst von Köln uns empfängt, bis Wesel werden<br />

572


wir jetzt nur noch den Wasserweg benutzen. Am liebsten würde<br />

ich den Besuch beim Kurfürsten absagen und ohne weiteren Aufenthalt<br />

nach Wesel reisen. Dort ist preußisches Gebiet, dort bin ich<br />

<strong>der</strong> Herr und König und kann tun und lassen, was ich will, aber<br />

<strong>der</strong> Kurfürst-Erzbischof Clemens August von Wittelsbach ist ein<br />

mächtiger Reichsfürst, es wäre eine Beleidigung, den Besuch kurzfristig<br />

abzusagen. Sorgen Sie dafür, dass mein Sohn gut bewacht<br />

wird.»<br />

Während <strong>Friedrich</strong> an Bord ging, überkam ihn ein ungutes Gefühl.<br />

Ich soll bewacht werden, überlegte er, ahnt Papa etwas von<br />

meinem Fluchtplan? Hat er davon erfahren? Eines steht fest: Bis<br />

Wesel kann ich nicht mehr fl iehen, auch von Bonn aus ist eine<br />

Flucht zu riskant.<br />

Ungefähr zwei Stunden später kehrte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm zurück<br />

und begab sich in seine Kajüte, um die Post zu lesen, die inzwischen<br />

gebracht worden war.<br />

Der erste Brief, den er öffnete, war von dem Rittmeister von<br />

Katte aus Erlangen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm las und sah entgeistert vor sich hin.<br />

«Nun», sagte er leise zu sich selbst, «es gibt noch loyale Offi ziere,<br />

<strong>der</strong> Rittmeister erhielt aus Versehen einen Brief meines Sohnes an<br />

Katte, weil <strong>der</strong> Brief nicht nach Berlin adressiert war, er öffnete<br />

ihn, weil er glaubte, er sei für ihn bestimmt, und er hält es für seine<br />

Pfl icht, mir den Brief des Kronprinzen an Katte zu senden.»<br />

Dann las er <strong>Friedrich</strong>s Brief an Katte vom 29. Juli und schwankte<br />

zwischen Empörung über den Sohn und Triumph, weil er nun<br />

einen schriftlichen Beweis für die geplante Flucht in den Händen<br />

hielt.<br />

In Wesel werde ich mir den Bengel vornehmen, dachte er grimmig,<br />

er wird verhört, und dann werden weitere Entscheidungen<br />

getroffen.<br />

Am 10. August kam die Reisegesellschaft in Bonn an.<br />

Während das Schiff anlegte, sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm zu Rochow,<br />

Waldow und Buddenbrock so laut, dass auch <strong>Friedrich</strong> es hören<br />

konnte: «Meine Herren, <strong>der</strong> Kronprinz muss beim Empfang des<br />

573


Kurfürsten anwesend sein, so verlangt es das Protokoll. Bewachen<br />

Sie ihn gut und bringen Sie ihn lebend o<strong>der</strong> tot wie<strong>der</strong> an Bord, Sie<br />

haften mit Ihrem Leben für ihn.»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak, und während <strong>der</strong> Fahrt zum kurfürstlichen<br />

Schloss dachte er verzweifelt über seine Situation nach: Ich bin ein<br />

Gefangener, wer weiß, was mir in Wesel bevorsteht. Was ist mit<br />

Keith und Hermann? Hermann ist inzwischen wahrscheinlich auf<br />

dem Weg nach Den Haag, ihm kann ich keine Warnung schicken,<br />

Keith ist noch in <strong>der</strong> Festung, ich müsste ihn warnen, aber wie<br />

kann ich einen Brief aus Bonn schmuggeln, ohne dass es auffällt?<br />

Wie kann ich die Wut meines Vaters etwas beschwichtigen?<br />

Ein Offi zier seines Vertrauens müsste für mich sprechen, an wen<br />

könnte ich mich wenden?<br />

Plötzlich wusste er, wem er sich anvertrauen musste: Seckendorff,<br />

er besitzt immer noch Papas Vertrauen. Gewiss, ich verachte<br />

den schleimigen General, und wenn ich ihn um Hilfe bitte, so erniedrige<br />

ich mich, aber ich habe keine an<strong>der</strong>e Wahl, ich muss elegant<br />

dieser verfahrenen Situation entkommen.<br />

An <strong>der</strong> Mittagstafel wan<strong>der</strong>ten seine Augen über das kurfürstliche<br />

Gefolge, und als er am unteren Ende <strong>der</strong> Tafel einen Priester<br />

sah, stutzte er, und seine Gedanken überstürzten sich: Ein Priester<br />

muss das Beichtgeheimnis wahren, ich werde ihn bitten, meinen<br />

Brief an Keith nach Wesel zu schicken, <strong>der</strong> Zeitpunkt ist günstig,<br />

weil <strong>der</strong> Kurfürst und Papa nach <strong>der</strong> Tafel eine Unterredung haben.<br />

Er wandte sich zu seinem Nachbarn, einem kurfürstlichen Kammerherren:<br />

«Wer ist <strong>der</strong> Geistliche dort unten?»<br />

«Pater Molitor ist <strong>der</strong> Beichtvater des Kurfürsten.»<br />

Eine Stunde später schrieb <strong>Friedrich</strong> einige Zeilen an Keith, siegelte<br />

den Brief und begab sich mit Herzklopfen zu Molitor.<br />

Der Pater stand erstaunt auf, als <strong>Friedrich</strong> gemeldet wurde.<br />

«Königliche Hoheit, welche Ehre. Bitte», und er wies auf einen<br />

Sessel.<br />

<strong>Friedrich</strong> blieb stehen und sagte zögernd: «Verzeihen Sie die<br />

Störung, Hochwürden, ich möchte Sie etwas fragen und um einen<br />

Gefallen bitten.»<br />

574


Er schwieg, und Molitor lächelte ihn aufmunternd an.<br />

Ich kann ihm vertrauen, dachte <strong>Friedrich</strong>.<br />

«Hochwürden, Sie müssen doch das Beichtgeheimnis wahren?»<br />

«Ja, Königliche Hoheit.»<br />

«Nun, ich möchte nicht beichten, aber ich muss Ihnen etwas sagen,<br />

und bitte Sie, darüber zu schweigen.»<br />

«Ich werde schweigen wie ein Grab, Königliche Hoheit.»<br />

«Hochwürden, ein Freund von mir in <strong>der</strong> Festung Wesel schwebt<br />

in Lebensgefahr, ich muss ihn warnen, aber ich möchte den Brief<br />

keiner Stafette anvertrauen, würden Sie dafür sorgen, dass er so<br />

rasch wie möglich nach Wesel gelangt?»<br />

«Selbstverständlich, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> gab dem Pater den Brief.<br />

«Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Sie haben mich von<br />

einer Last befreit.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> gegangen war, betrachtete <strong>der</strong> Pater den Brief<br />

und überlegte: An <strong>der</strong> Tafel wurde über einen Fluchtversuch des<br />

Prinzen geredet und dass er faktisch ein Gefangener des Königs<br />

ist. Dieser Brief könnte damit zusammenhängen, nun, mich geht<br />

es nichts an. Er klingelte nach seinem Sekretär und befahl ihm, den<br />

Brief so rasch wie möglich nach Wesel zu beför<strong>der</strong>n.<br />

Unterdessen ging <strong>Friedrich</strong> in seinem Appartement auf und ab.<br />

Er fragte sich, ob es richtig war, sich Seckendorff anzuvertrauen,<br />

überdachte noch einmal, was er ihm sagen wollte, und begab sich<br />

dann zu dem General.<br />

Seckendorff sah erstaunt auf, als <strong>Friedrich</strong> gemeldet wurde.<br />

«Königliche Hoheit, ich bin überrascht über Ihren Besuch, und<br />

ich freue mich, ich hatte bisher noch nicht das Vergnügen, mit Ihnen<br />

unter vier Augen zu plau<strong>der</strong>n.»<br />

Er ist ein wi<strong>der</strong>licher Schleimer, dachte <strong>Friedrich</strong>, als er sich mit<br />

dem General an den kleinen runden Tisch setzte.<br />

Ich muss hilfl os wirken, dachte <strong>Friedrich</strong>, sah auf die Tischplatte<br />

und sagte zögernd: «Herr von Seckendorff, ich möchte Sie um Ihre<br />

Hilfe bitten: Sie kennen das Verhältnis zwischen meinem Vater<br />

und mir, Sie wissen, dass er mich wie einen Gefangenen behandelt,<br />

mich Tag und Nacht bewachen lässt, weil er fürchtet, dass ich<br />

575


fl iehen könnte. Ich möchte Ihnen die Wahrheit sagen, und ich bitte<br />

Sie, diese Wahrheit meinem Vater mitzuteilen, Ihnen wird er mehr<br />

glauben als mir.»<br />

Seckendorff beugte sich erstaunt zu <strong>Friedrich</strong>, musterte ihn und<br />

dachte: Wie ist das möglich, <strong>der</strong> hochmütige Kronprinz will sich<br />

mir anvertrauen?<br />

Er spürte eine gewisse Genugtuung, lehnte sich zurück und<br />

sagte lächelnd: «Sprechen Sie, Königliche Hoheit.»<br />

«Herr von Seckendorff, ich habe den festen Vorsatz zur Flucht gehabt.<br />

Ich kann es als Prinz von achtzehn Jahren nicht mehr erdulden,<br />

von meinem Vater, wie noch jüngst im sächsischen Lager, mit Schlägen<br />

misshandelt zu werden. Ich wollte fl iehen, aber meine Liebe zu<br />

meiner Mutter und meiner Schwester haben mich abgehalten, weil<br />

ich weiß, dass meine Flucht sie in Schwierigkeiten bringen würde.<br />

Mein Vater würde sie <strong>der</strong> Fluchthilfe verdächtigen, und seine Reaktion<br />

wäre fürchterlich: Verstoßung, Verbannung, Scheidung, wer<br />

weiß. Allerdings bin ich immer noch entschlossen zu fl iehen.»<br />

Er sah Seckendorff an und versuchte, in dessen Gesicht zu lesen,<br />

aber <strong>der</strong> General sah ihn nur aufmerksam an, und <strong>Friedrich</strong> fuhr<br />

fort: «Wenn mein Vater nicht aufhört, mich mit Schlägen zu traktieren,<br />

so werde ich fl iehen, koste es, was es wolle. An meinem Leben<br />

liegt mir nichts, aber ich befürchte, dass die Offi ziere, die von<br />

meinem Plan wussten, werden büßen müssen, obwohl sie keinerlei<br />

Schuld haben. Wenn <strong>der</strong> König mir verspricht, dass er meinen<br />

Freunden verzeiht, so werde ich ihm meine Fluchtpläne beichten,<br />

wenn nicht, so kann man mir den Kopf abschlagen, ich werde niemanden<br />

verraten.»<br />

Nach einem kurzen Schweigen fuhr er fort: «Meine Mutter weiß<br />

nichts von meinen Plänen, aber ich habe Angst um meinen Freund<br />

Hans Hermann von Katte, ich hoffe, dass er in Sicherheit ist und<br />

unseren Briefwechsel vernichtet hat. Ich bitte Sie, Herr von Seckendorff,<br />

helfen Sie mir aus diesem Labyrinth und sprechen Sie<br />

mit meinem Vater.»<br />

Nach diesen Worten war es im Zimmer einige Minuten lang totenstill.<br />

Seckendorff überlegte: Der Prinz muss verzweifelt sein, sonst<br />

hätte er sich mir nicht anvertraut. Er ist <strong>der</strong> künftige preußische<br />

576


König, das Bündnis mit Preußen wird für den Kaiser immer wichtig<br />

sein wegen des Heeres, Preußen muss auch künftig unter <strong>der</strong><br />

Vorherrschaft <strong>der</strong> Habsburger bleiben. Im Interesse des Hauses<br />

Habsburg werde ich für den Prinzen sprechen, ich werde dem König<br />

nicht alles erzählen, was er mir anvertraut hat, vor allem werde<br />

ich keine Namen nennen, ich werde allgemein über die Reue des<br />

Prinzen sprechen, schließlich muss auch <strong>der</strong> regierende König im<br />

Lager des Kaisers bleiben.<br />

Er lächelte <strong>Friedrich</strong> an: «Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Königliche<br />

Hoheit, ich verstehe Ihre Situation sehr gut, ich verstehe<br />

auch, dass Sie nicht persönlich mit Seiner Majestät reden wollen.<br />

Ich bin gerne bereit, Ihr Fürsprecher bei Seiner Majestät zu sein,<br />

ich denke, morgen wird sich irgendwann eine Gelegenheit ergeben,<br />

dass ich mit dem König sprechen kann.»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete erleichtert auf.<br />

«Ich danke Ihnen, Herr von Seckendorff.»<br />

Am an<strong>der</strong>en Vormittag legte das Schiff in Moers an. <strong>Friedrich</strong><br />

stand an <strong>der</strong> Reling und beobachtete, wie sein Vater in Begleitung<br />

Seckendorffs und einiger Offi ziere zu den Kutschen ging. Dann<br />

sah er, dass die Pagen und Eversmann das Gepäck des Königs zu<br />

einem <strong>der</strong> Wagen trugen, und atmete auf.<br />

Gott sei Dank, ich werde Papa erst in Wesel wie<strong>der</strong>sehen, er will<br />

aus irgendeinem Grund die Reise in <strong>der</strong> Kutsche fortsetzen, Seckendorff<br />

hat also Gelegenheit, mit ihm unter vier Augen zu sprechen.<br />

Wo mag Hermann jetzt sein? Nun, wenn er sich in Den Haag<br />

vergeblich nach einem Grafen d‘Alberville erkundigt, weiß er, dass<br />

unser Plan missglückt ist, und wird sich hoffentlich nach England<br />

begeben o<strong>der</strong> in Frankreich untertauchen. Ob Keith inzwischen<br />

meinen Brief erhalten hat?<br />

Während <strong>der</strong> Fahrt zum Rathaus wischte Seckendorff sich mit dem<br />

Taschentuch über die Stirn.<br />

«Wie schwül es heute ist, auf dem Schiff wäre die Reise angenehmer.»<br />

«Sie haben recht, aber im Augenblick kann ich den Anblick<br />

meines Sohnes nicht ertragen, überdies ist es hier landschaftlich<br />

577


nicht mehr so reizvoll wie während <strong>der</strong> vergangenen Tage. Zwischen<br />

Frankfurt und Koblenz ist <strong>der</strong> Rhein am schönsten, ein beeindruckendes<br />

Panorama mit den Bergen und den Burgen. Wir<br />

werden nach dem Bankett zunächst bis Gel<strong>der</strong>n fahren und rasten,<br />

ich möchte Ihnen dort in <strong>der</strong> Kirche etwas zeigen.»<br />

Er kann den Anblick des Sohnes nicht ertragen, dachte Seckendorff,<br />

das Gespräch über den Prinzen wird schwieriger werden, als<br />

ich dachte.<br />

«Majestät, ich würde gerne mit Ihnen nachher über ein Problem<br />

sprechen, wären Sie bereit, mich anzuhören?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Grafen erstaunt an: «Selbstverständlich,<br />

lieber Seckendorff.»<br />

Einige Stunden später verließen die Kutschen Moers, und <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm lehnte sich behaglich seufzend an das Rückenpolster.<br />

«Die langatmigen Reden <strong>der</strong> Bürgermeister und Stadtväter sind<br />

für die nächsten Tage überstanden, ich habe befohlen, dass ich bis<br />

Wesel keinen Empfang und keine Ansprachen mehr wünsche, nun,<br />

Sie wollten mir etwas sagen, reden Sie.»<br />

Der Graf überlegte einen Augenblick und sagte dann vorsichtig:<br />

«Ich möchte mit Ihnen über Seine Königliche Hoheit, den Kronprinzen,<br />

sprechen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg und sah starr vor sich hin.<br />

Seckendorff fuhr fort: «Seine Königliche Hoheit hat anscheinend<br />

während <strong>der</strong> Reise viel nachgedacht. Gestern kam Seine Hoheit zu<br />

mir und sagte, er sehe ein, dass er in <strong>der</strong> Vergangenheit sich oft<br />

nicht richtig verhalten habe, es tue ihm leid, dass er Sie durch sein<br />

Benehmen erzürnt habe, er bereut alles und bittet Sie, ihm zu verzeihen.<br />

Er bat mich, Ihnen dies zu sagen, weil er nicht wagt, vor Sie<br />

zu treten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah Seckendorff erstaunt an: «Ich bin überrascht,<br />

dass mein Sohn sich ausgerechnet Ihnen anvertraut hat. Sie<br />

wissen wahrscheinlich, dass er Ihnen nicht wohlgesinnt ist, genau<br />

wie meine Frau.»<br />

«Ja, Majestät, aber ist dies nicht ein Beweis für die Verzweifl ung<br />

des Prinzen, ist dies nicht ein Beweis, dass seine Reue aufrichtig<br />

gemeint ist?»<br />

578


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm dachte an <strong>Friedrich</strong>s Brief an Katte, an den<br />

Fluchtplan, und brummte unwirsch: «Verzweifl ung? Es kann auch<br />

Schlauheit sein, er weiß, wie sehr ich Sie schätze, und denkt wahrscheinlich,<br />

dass Ihre Fürsprache mich besänftigt. Ich bezweifele<br />

seine Reue.»<br />

Beide schwiegen, dann fuhr <strong>Friedrich</strong> Wilhelm fort: «Ich bin<br />

kein Unmensch, wenn er offenherzig alles sagt, was er plante, so<br />

will ich Gnade für Recht ergehen lassen.»<br />

Seckendorff atmete auf. Das Gespräch war unkomplizierter, als<br />

ich dachte, überlegte er, ich habe dem Prinzen den Weg zum König<br />

geebnet, alles Weitere geht mich nichts an.<br />

In Gel<strong>der</strong>n ließ <strong>der</strong> König vor <strong>der</strong> Kirche halten und sagte zu Seckendorff:<br />

«Dieses Gotteshaus ist schon lange lutherisch, aber in<br />

einem <strong>der</strong> Kreuzgewölbe steht ein altes katholisches Bildwerk, ich<br />

habe es nicht entfernen lassen, weil es mich immer wie<strong>der</strong> merkwürdig<br />

anrührt und bewegt. Es ist die Pietà des Schmerzensreichen<br />

Vaters, aus Lindenholz geschnitzt und mit Gold gemalt.»<br />

Dann standen sie schweigend vor dem Bildwerk, und Seckendorff<br />

betrachtete erstaunt die Gestalt Gottes, <strong>der</strong>, umfl ossen von einem<br />

silbernen Mantel, auf einem Stuhl saß, über dem Schoß hing <strong>der</strong><br />

Leichnam von Jesus, die rechte Hand Gottes hielt den Kopf mit<br />

<strong>der</strong> Dornenkrone, die linke Hand trug die Füße, die von Nägeln<br />

durchbohrt waren. Jesus selbst war nur mit einem blutbefl eckten<br />

Lendenschurz bekleidet.<br />

Seckendorff betrachtete verstohlen den preußischen König und<br />

fühlte sich merkwürdig berührt von dessen trauriger Miene.<br />

«Majestät», fl üsterte er, «ich habe noch nie eine Pietà gesehen,<br />

wo <strong>der</strong> Vater dargestellt ist, gewöhnlich hält die Jungfrau Maria<br />

den Leichnam ihres Sohnes.»<br />

«Ja, genau dies fasziniert mich an dem Kunstwerk, und deswegen<br />

ließ ich es nicht entfernen. Warum wird immer nur die leidende<br />

Mutter dargestellt, Väter leiden genauso, wenn ein Sohn stirbt. Ich<br />

weiß, wovon ich rede: Ich habe drei Söhne verloren, vielleicht sogar<br />

vier, wenn ich an <strong>Friedrich</strong>s Entwicklung denke.<br />

Diese Pietà erinnert mich immer an einen Satz in <strong>der</strong> Bibel, den<br />

ein König zu seinem Nachfolger sagte: ‹Züchtige deinen Sohn, so-<br />

579


lange Hoffnung da ist, aber lass deine Seele nicht bewegt werden,<br />

ihn zu töten.›»<br />

Seckendorff vermied es, den König anzusehen, und fragte sich,<br />

was in dessen Seele vorging. Er schlägt den Sohn, demütigt ihn in<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit und spricht davon, dass auch Väter leiden, wie<br />

wi<strong>der</strong>sprüchlich, nein, es ist kein Wi<strong>der</strong>spruch, <strong>der</strong> Preußenkönig<br />

leidet wahrscheinlich ebenso unter dem schlechten Verhältnis zu<br />

seinem Sohn wie <strong>der</strong> Kronprinz.<br />

Plötzlich wandte sich <strong>Friedrich</strong> Wilhelm abrupt von <strong>der</strong> Pietà ab<br />

und verließ die Kirche.<br />

Am Eingang blieb er stehen und sagte zu Seckendorff: «Ich weiß,<br />

dass alle Welt es missbilligt, wie ich den Fritz behandele, aber ich<br />

muss ihn, im Interesse des Landes, über das er einmal regieren<br />

wird, zu einem fähigen König erziehen. Sie werden es vielleicht<br />

nicht glauben, aber <strong>der</strong> Konfl ikt zwischen dem Fritz und mir belastet<br />

mich mehr, als meine Umgebung glaubt. Nun, in Wesel werde<br />

ich genug Zeit haben, um mit meinem Sohn ausführlich zu reden,<br />

und vielleicht ist diese Reise ein Neuanfang in unserer Beziehung,<br />

vielleicht können wir uns arrangieren. Wenn dies <strong>der</strong> Fall ist, so<br />

hat die Reise ihren Zweck erfüllt. Ich nahm ihn mit, um ihn besser<br />

überwachen zu können, überdies sollte er die Verwaltung und<br />

Ökonomie an<strong>der</strong>er Län<strong>der</strong> kennenlernen – wenn er in sich gegangen<br />

ist, umso besser.»<br />

Er sah nachdenklich zum Horizont, beobachtete, wie von Westen<br />

dunkle Gewitterwolken heranzogen, und hörte, dass ein leichter<br />

Wind aufkam, <strong>der</strong> rasch stärker wurde.<br />

«Ich fürchte, es wird heute noch ein Unwetter geben, wir sollten<br />

hier übernachten, dort drüben ist ein Gasthof, nach Wesel kommen<br />

wir immer noch früh genug», und zu Eversmann: «Frage Er in dem<br />

Gasthof, ob es freie Zimmer gibt.»<br />

Nach wenigen Minuten kehrte <strong>der</strong> Kammerdiener zurück: «Der<br />

Wirt betrachtet es als Ehre, wenn Eure Majestät hier übernachten.»<br />

Während Eversmann die Pagen beim Abladen des Gepäcks beaufsichtigte,<br />

galoppierte ein Kurier heran, und als er den König<br />

sah, zügelte er das Pferd, sprang ab, atmete tief durch und übergab<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm einen Brief.<br />

580


«Gott sei Dank, Majestät, dass ich Sie bereits hier treffe, General<br />

von <strong>der</strong> Mosel hielt es für seine Pfl icht, Sie sofort zu informieren,<br />

weil die Versetzung des Leutnants von Keith nach Wesel eine<br />

Strafversetzung war.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete den Brief einen Augenblick,<br />

spürte, dass ein ungutes Gefühl in ihm aufstieg, ein unbestimmter<br />

Verdacht, öffnete das Schreiben hastig, überfl og die Zeilen, und<br />

die umstehenden Offi ziere beobachteten besorgt, dass sich auf <strong>der</strong><br />

Stirn des Königs die Zornfalte bildete und sein Gesicht sich vor<br />

Wurt dunkelrot färbte.<br />

Der König schleu<strong>der</strong>te den Brief auf den Boden und schrie:<br />

«Verrat! Das ist Hochverrat! Mein Sohn, <strong>der</strong> Deserteur, hat eine<br />

Verschwörung gegen mich angezettelt, er trachtet mir nach dem<br />

Leben, er will mich umbringen!»<br />

Er schwieg und atmete schwer.<br />

Die Offi ziere sahen einan<strong>der</strong> entsetzt an, Seckendorff fasste sich<br />

als Erster und sagte: «Majestät, was ist passiert? Bitte beruhigen<br />

Sie sich, hier muss ein Missverständnis vorliegen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stierte Seckendorff mit blutunterlaufenen Augen<br />

an. «Ein Missverständnis?!», brüllte er und rang nach Luft.<br />

Es dauerte einige Sekunden, bis er sich beruhigte, dann sah er<br />

die Offi ziere an und sagte langsam: «Der Leutnant von Keith ist<br />

aus Wesel entfl ohen. Zwischen dieser Flucht und diesem Brief des<br />

Kronprinzen an den Leutnant von Katte besteht ein Zusammenhang.»<br />

Er holte den Brief aus <strong>der</strong> Rocktasche und hielt ihn hoch: «In diesem<br />

Brief spricht mein Sohn von seinem Fluchtplan und gibt Katte<br />

Anweisungen, wohin er sich begeben soll und so weiter, durch einen<br />

glücklichen Zufall erhielt nicht Katte den Brief, son<strong>der</strong>n ich.<br />

Meine Herren, ich bin davon überzeugt, dass es sich hier nicht nur<br />

um die übliche Desertion einiger Offi ziere handelt, son<strong>der</strong>n um<br />

eine weitverzweigte Verschwörung, in die wahrscheinlich auch<br />

England verwickelt ist, eine Verschwörung mit dem Ziel, mich zu<br />

töten, damit <strong>der</strong> Französling König wird. Das Ausland hat natürlich<br />

ein Interesse daran, dass <strong>der</strong> Französling rasch König wird,<br />

in London und Paris weiß man genau, dass <strong>Friedrich</strong> II. sich nur<br />

mit Literatur und Musik beschäftigen und durch sein lie<strong>der</strong>liches<br />

581


Leben Preußen in den Ruin treiben wird, das Ausland wartet doch<br />

nur auf die Zerstörung meines Lebenswerkes, aber man hat die<br />

Rechnung ohne mich gemacht. Ich werde meinen Sohn so behandeln,<br />

wie seinerzeit Zar Peter den Zarewitsch behandelt hat, er ist<br />

nicht länger mein Sohn, ich werde ihm nicht als Vater, son<strong>der</strong>n<br />

als König gegenübertreten, er ist auch nicht mehr Kronprinz und<br />

preußischer Offi zier, er ist ein Deserteur, <strong>der</strong> wie ein Deserteur<br />

behandelt wird!»<br />

Er eilte in den Gasthof und schrieb drei Briefe.<br />

Die Offi ziere sahen einan<strong>der</strong> entsetzt an, und einer sagte schließlich:<br />

«Ich begreife den König nicht. Der Kronprinz ist doch nicht<br />

gefl ohen, er hat es noch nicht einmal versucht, es existiert ein vager<br />

Fluchtplan, mehr nicht.»<br />

«Der König wird wie<strong>der</strong> zur Besinnung kommen, im ersten Zorn<br />

sagt man vieles, was man nicht so meint.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat zu den Offi zieren, winkte drei von ihnen<br />

zu sich und sagte zu einem: «Sie reiten sofort nach Wesel und verfolgen<br />

mit einem Trupp Soldaten den Deserteur Keith, hier ist <strong>der</strong><br />

Befehl für den Kommandanten.»<br />

Dann übergab er den zweiten Brief einem Offi zier: «Sie reiten<br />

zu dem Schiff. Hier ist <strong>der</strong> Befehl, dass <strong>der</strong> Kronprinz auf dem<br />

schnellsten Weg ohne Aufenthalt in die Festung Wesel gebracht<br />

wird.»<br />

Zum dritten Offi zier sagte er: «Sie reiten sofort nach Berlin und<br />

überbringen dem Befehlshaber des Regiments Gendarmes, dem<br />

Feldmarschall von Natzmer, den Befehl, den Leutnant von Katte<br />

sofort zu verhaften.»<br />

Seckendorff beobachtete den König, und seine Gedanken überstürzten<br />

sich: Er wird gegen den Kronprinzen wüten, aber wird<br />

<strong>der</strong> künftige preußische König sich nicht rächen, weil ihm jetzt<br />

Unrecht geschieht? Er ist kein Deserteur, und ich sollte jetzt im<br />

Interesse des Kaisers anfangen, seine Partei zu ergreifen.<br />

«Majestät, ich verstehe, dass Sie Keith verfolgen lassen, er ist<br />

ein Deserteur, ich verstehe auch, dass Sie den Kronprinzen unter<br />

Bewachung nach Wesel bringen lassen, wahrscheinlich werden Sie<br />

ihn verhören, um zu erfahren, was eigentlich geplant war; aber<br />

warum lassen Sie den Leutnant von Katte verhaften? Er hat den<br />

582


Brief des Kronprinzen nicht erhalten, er weiß also nichts von dessen<br />

Plänen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte Seckendorff an und schrie: «Er weiß<br />

bestimmt von dem Fluchtplan! Die beiden sind eng befreundet,<br />

mein Sohn hat sich dem Katte bestimmt anvertraut, ich jedenfalls<br />

hätte so gehandelt, überdies habe ich inzwischen erfahren, dass die<br />

beiden Freunde während <strong>der</strong> Reise korrespondiert haben, Katte ist<br />

ein Fluchthelfer, und Fluchthelfer werden wie Deserteure behandelt,<br />

wenn die Flucht misslingt.»<br />

«Mit Verlaub, Majestät, <strong>der</strong> Kronprinz ist nicht gefl ohen, er hat<br />

es auch nicht versucht, er hat nur eine Flucht geplant, er ist kein<br />

Deserteur.»<br />

«Er hat eine Verschwörung gegen mich angezettelt mit dem Ziel,<br />

mich zu töten, und Katte hat ihm dabei geholfen, ich will nichts<br />

mehr hören, ich will den Abend allein verbringen und niemanden<br />

sehen.»<br />

Er eilte in den Gasthof und hinauf in sein Zimmer.<br />

Dort ging er einige Minuten unruhig auf und ab, trat schließlich<br />

zum Fenster, sah hinüber zur Kirche, und je länger er das Gotteshaus<br />

betrachtete, desto mehr wuchs in ihm <strong>der</strong> Zorn auf seinen<br />

Sohn.<br />

«Gott bewahre alle ehrlichen Leute vor ungeratenen Kin<strong>der</strong>n!»,<br />

rief er verzweifelt. «Es ist ein großes Chagrin, doch ich habe vor<br />

Gott und <strong>der</strong> Welt ein reines Gewissen. Ich habe vermahnet, ich<br />

habe gestrafet, mit Güte und mit Zorn; es hat alles nichts geholfen.<br />

Warum wollte er fl iehen? Die Leute denken wahrscheinlich,<br />

dass ich ihm nicht das Brot gegeben habe, dass er deswegen fl iehen<br />

wollte – nun, ich werde ein Manifest veröffentlichen und darlegen,<br />

dass dies nicht <strong>der</strong> Grund ist. Warum wollte er fl iehen? Er kann<br />

wahrscheinlich nicht warten, bis ich sterbe, er wollte im Ausland<br />

eine Verschwörung gegen mich anzetteln mit dem Ziel, mich zu<br />

ermorden, genau wie seinerzeit <strong>der</strong> Zarewitsch Alexej eine Verschwörung<br />

gegen seinen Vater, den Zaren, begann. Ich werde handeln<br />

wie <strong>der</strong> Zar. Ich werde ihn ab jetzt nicht mehr wie ein Vater<br />

behandeln, er wird mich nur noch als König kennenlernen. Er ist<br />

nicht nur ein Deserteur, er ist ein Mör<strong>der</strong>, er wollte mich umbringen<br />

lassen, ein Sohn, <strong>der</strong> den Vater töten lässt! Er wollte eines <strong>der</strong><br />

583


schlimmsten Verbrechen begehen, und er wird dafür mit seinem<br />

Leben büßen, und seine Helfer ebenfalls. Sein wichtigster Helfer<br />

war wahrscheinlich Katte, nun, ich werde beide verhören lassen,<br />

ich will alles wissen über die Vorbereitungen zur Flucht, dann werde<br />

ich ein Kriegsgericht einberufen, das ein gerechtes Urteil fällen<br />

wird, ein Todesurteil. Wenn die beiden Verbrecher sich weigern,<br />

ihre Pläne zu gestehen, so werden sie gefoltert, sie werden an eine<br />

Kanone gebunden und ausgepeitscht.»<br />

Er sah <strong>Friedrich</strong> blutüberströmt vor sich und empfand in diesem<br />

Augenblick eine Genugtuung wie noch nie zuvor.<br />

<strong>Friedrich</strong> und Katte, überlegte er, werden hingerichtet, und zwar<br />

zusammen, am selben Ort, wer soll <strong>der</strong> Hinrichtung des an<strong>der</strong>en<br />

zusehen? Katte wird nicht mit dem Schwert gerichtet wie <strong>Friedrich</strong>,<br />

dieses Privileg ist Prinzen vorbehalten, er wird mit glühenden Zangen<br />

gerissen und aufgehängt werden, <strong>Friedrich</strong> wird dieser Hinrichtung<br />

zusehen, dann wird <strong>der</strong> Henker ihm den Kopf abschlagen,<br />

und dann, dann habe ich ihn nicht mehr zu fürchten, dann ist <strong>der</strong><br />

Nebenbuhler weg, und August Wilhelm wird preußischer König,<br />

ein König, <strong>der</strong> mein Werk fortsetzt, <strong>der</strong> Preußen nicht mit Flötenspiel<br />

und französischen Romanen in den Ruin treibt.<br />

Nebenbuhler, dachte er, wieso Nebenbuhler? Er ist mir überlegen,<br />

warum, weiß allein Gott, ich hasse seine Überlegenheit, ich<br />

werde ihn vernichten.<br />

Ich werde ihn und Katte bis ins Detail verhören lassen, und dann<br />

werde ich ein Kriegsgericht einberufen, dieses Gericht muss die<br />

beiden Deserteure zum Tod verurteilen, es gibt keine an<strong>der</strong>e Möglichkeit,<br />

um das zerrüttete Verhältnis zwischen dem Kronprinzen<br />

und mir zu bereinigen.<br />

«Kriegsgericht», sagte er leise, «Hinrichtung.»<br />

Er beobachtete, wie vom Westen schwarze Wolken aufzogen,<br />

dann sah er Blitze, hörte ein fernes Donnergrollen, er hörte, dass<br />

ein starker Wind aufkam, und sah, dass schwere Regentropfen auf<br />

die Straße fi elen, er sah, dass ein Wolkenbruch sich über die Straße<br />

und die Kirche ergoss, er sah, dass <strong>der</strong> dichte Regen die Kirche verschwinden<br />

ließ, und sagte leise: «Kriegsgericht, Hinrichtung.»<br />

584


Am Abend des 12. August saß <strong>Friedrich</strong> in einem Zimmer in <strong>der</strong><br />

Festung Wesel und starrte hilfl os auf den Steinfußboden.<br />

Papa weiß von meinem Fluchtplan, sagte er sich, Seckendorff hat<br />

ihn anscheinend nicht besänftigen können, weil ich wie ein Gefangener<br />

behandelt werde: Ich darf diesen Raum nicht verlassen,<br />

und vor <strong>der</strong> Tür stehen zwei Wachposten. Wie mag es Keith und<br />

Hermann inzwischen gehen?<br />

Er zuckte zusammen, als die Standuhr anfi ng zu schlagen.<br />

Acht Uhr, dachte er, wer weiß, ob Papa heute noch eintrifft, nach<br />

seiner Ankunft wird er mich bestimmt verhören. Nun, ich werde<br />

ihm einen Roman erzählen, und in dieser Geschichte werde ich<br />

verschweigen, dass ich nach England gehen wollte, ich darf England<br />

nicht erwähnen, wegen Hermann, ich muss ihn wenigstens vor <strong>der</strong><br />

Verfolgung durch Papas Soldaten schützen, und ich muss an Mama<br />

und Wilhelmine denken. Wenn Papa den Namen England hört,<br />

glaubt er, dass sie in meinen Plan eingeweiht waren.<br />

Er stand auf, ging hin und her und legte sich zurecht, was er dem<br />

Vater sagen sollte.<br />

Nach einer Weile hörte er, dass ein Wagen in den Hof fuhr, eilte<br />

zum Fenster und erschrak, als er den König aus <strong>der</strong> Kutsche klettern<br />

sah.<br />

«Mon Dieu», sagte er leise, «er ist eingetroffen», und er spürte,<br />

dass sein Herz vor Angst wild zu klopfen begann.<br />

Ich darf die Nerven nicht verlieren, dachte er, er darf nicht merken,<br />

dass ich Angst habe, vielleicht begibt er sich sofort zur Ruhe.<br />

Er ging bis zur Mitte des Zimmers und lauschte.<br />

Nach wenigen Minuten hörte er, dass sich Schritte näherten,<br />

und dann betrat <strong>der</strong> Kommandant <strong>der</strong> Festung, General von Mosel,<br />

das Zimmer.<br />

«Königliche Hoheit, Seine Majestät ist eingetroffen und möchte<br />

mit Ihnen sprechen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> spürte, dass er vor Angst kaum atmen konnte, und als<br />

nun ein Sekretär den Raum betrat, Papier, Tintenfass und Fe<strong>der</strong>n<br />

auf den Tisch legte, da wusste er, dass <strong>der</strong> Vater nicht mit ihm sprechen,<br />

son<strong>der</strong>n ihn verhören würde.<br />

Er straffte sich, atmete tief durch und hörte, dass <strong>der</strong> schwere<br />

Schritt des Königs sich näherte.<br />

585


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrat das Zimmer, und als er den Sohn sah,<br />

überkam ihn erneut Zorn. Er zog den Säbel, schrie: «Deserteur,<br />

Mör<strong>der</strong>!», und eilte zu <strong>Friedrich</strong>.<br />

In diesem Augenblick trat <strong>der</strong> Kommandant zwischen Vater und<br />

Sohn und rief: «Majestät, wenn Sie unbedingt töten wollen, so<br />

durchbohren Sie mich, aber schonen Sie das Leben Ihres Sohnes!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den General an, steckte den Säbel in die<br />

Scheide, schob den General zur Seite, nahm den Stock, ergriff <strong>Friedrich</strong>,<br />

warf ihn zu Boden, prügelte auf dessen Rücken ein, dann hob er<br />

den Kopf des Sohnes an und schlug den Stock in sein Gesicht.<br />

«Deserteur!», brüllte er. «Mör<strong>der</strong>, Mör<strong>der</strong>!»<br />

<strong>Friedrich</strong> versuchte, dem Stock auszuweichen, und dann begann<br />

seine Nase zu bluten.<br />

«Majestät», rief <strong>der</strong> Kommandant, «Sie werden den Kronprinzen<br />

umbringen!»<br />

Da kam <strong>Friedrich</strong> Wilhelm zur Besinnung, ließ den Stock sinken,<br />

und <strong>der</strong> General gab <strong>Friedrich</strong> sein Taschentuch.<br />

<strong>Friedrich</strong> wischte das Blut weg und sah den König unsicher an:<br />

«Warum nennen Sie mich einen Mör<strong>der</strong>?»<br />

«Warum?», brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Du hast eine Verschwörung<br />

gegen mich angezettelt mit dem Ziel, mich zu töten!»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte den Vater an und stand langsam auf: «Nein,<br />

Papa, nein, ich hatte nie die Absicht, Sie zu töten, und die Verschwörung,<br />

von <strong>der</strong> Sie sprechen, existiert nicht.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte den Sohn misstrauisch: «Das wird<br />

sich bei den Verhören herausstellen», und zu dem Sekretär: «Er<br />

wird jetzt protokollieren, was <strong>der</strong> Kronprinz sagt, nein, er wird ab<br />

jetzt nicht mehr Kronprinz genannt, er wird ab jetzt ‹Prinz <strong>Friedrich</strong>›<br />

genannt o<strong>der</strong> auch ‹des Königs Sohn <strong>Friedrich</strong>›», und zu <strong>Friedrich</strong>:<br />

«Dein Regiment wird ab sofort dein Bru<strong>der</strong> August Wilhelm<br />

befehligen, einen so schlechten Offi zier wie dich möchte ich nicht<br />

in meiner Armee haben, gib mir deinen Degen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> übergab dem Vater den Degen, und in diesem Augenblick<br />

wurde ihm erneut bewusst, dass er gerne Offi zier war und<br />

darauf geachtet hatte, dass seine Soldaten gut exerzierten.<br />

Allmählich beruhigte sich <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und fragte: «Warum<br />

wolltest du desertieren?»<br />

586


<strong>Friedrich</strong> dachte kurz nach und beschloss, die Wahrheit zu sagen:<br />

«Warum? Nun, Sie wurden immer ungnädiger gegen mich,<br />

das brachte mich auf den Gedanken <strong>der</strong> Flucht.»<br />

Er schiebt mir die Schuld zu, dachte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, es ist<br />

unglaublich.<br />

«Wohin wolltest du fl iehen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte: Ich werde Hermann und Keith aus dem Spiel<br />

lassen und nur von mir reden. Er sah dem Vater in die Augen: «Ich<br />

wollte inkognito über Landau und Straßburg nach Paris reisen,<br />

unter <strong>der</strong> Fahne des Königs von Frankreich kämpfen und militärischen<br />

Ruhm erwerben. Ich hoffte, dass Sie mich dann wie<strong>der</strong><br />

gnädiger behandeln würden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm musterte misstrauisch den Sohn, dachte daran,<br />

dass <strong>Friedrich</strong> sein Regiment vorbildlich exerzierte, und fand,<br />

dass die Geschichte glaubhaft klang, er liebt Frankreich, es ist logisch,<br />

dass er unter Ludwig XV. dienen will.<br />

«Keith ist aus Wesel entfl ohen, wusste er von deinem Plan?»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak und atmete gleichzeitig erleichtert auf, Gott<br />

sei Dank, dachte er, Keith ist die Flucht gelungen, aber ich kann ihn<br />

jetzt nicht mehr aus dem Fluchtplan heraushalten.<br />

«Ja, ich bat ihn, mich in Straßburg zu treffen.»<br />

«Aha, was ist mit deinem Freund Katte? Er ist dein bester Freund,<br />

es wäre unnatürlich, wenn du mit ihm nicht über deine Pläne gesprochen<br />

hättest.»<br />

Papa hat recht, dachte <strong>Friedrich</strong> verzweifelt, und erwi<strong>der</strong>te zögernd:<br />

«Er wusste von meinem Plan, er beschwor mich, nicht zu<br />

fl iehen.»<br />

«So, er hat dir von einer Flucht abgeraten, das soll ich dir glauben?<br />

Ich weiß inzwischen, dass ihr während <strong>der</strong> Reise korrespondiert<br />

habt, in deinem Gepäck ist kein einziger Brief von ihm, du<br />

hast die Briefe also vernichtet, das ist ungewöhnlich für die Briefe<br />

des besten Freundes, folglich sollte niemand den Inhalt erfahren,<br />

aber ich habe einen Beweis, dass eure Korrespondenz sich mit <strong>der</strong><br />

Flucht beschäftigte, durch einen Zufall erhielt ich den Brief, den du<br />

am 29. Juli aus Ansbach an Katte schriebst.»<br />

Er holte das Schreiben aus <strong>der</strong> Rocktasche und hielt es <strong>Friedrich</strong><br />

mit triumphierenden Augen vor das Gesicht.<br />

587


<strong>Friedrich</strong> betrachtete seine Schriftzüge und sah teils entsetzt,<br />

teils erleichtert, dass er vergessen hatte, den Brief nach Berlin zu<br />

adressieren.<br />

Hermann hat den Brief nicht erhalten und ist folglich in Berlin<br />

geblieben, Gott sei Dank, man wird ihm nichts vorwerfen können,<br />

außer, dass er von meinen Plänen gewusst hat. Meine Briefe von<br />

unterwegs hat er wahrscheinlich auch vernichtet, er ist gerettet.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm steckte den Brief wie<strong>der</strong> in die Tasche, betrachtete<br />

mit lauernden Augen den Sohn und fragte: «Du wolltest<br />

dich mit Keith in Straßburg treffen, in dem Brief an Katte steht,<br />

dass du dich mit ihm in Den Haag treffen willst, das ist ein Wi<strong>der</strong>spruch,<br />

warum hast du Katte nicht nach Straßburg bestellt?»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak, mon Dieu, jetzt muss ich genau überlegen,<br />

was ich sage.<br />

«Sie haben immer begeistert von Holland erzählt, da wollten wir<br />

uns das Land ansehen, bevor wir nach Frankreich gingen, überdies<br />

wissen Sie, dass eine Bildungsreise schon lange mein Wunsch ist,<br />

und dann wollten wir uns mit Keith in Straßburg treffen.»<br />

Es entstand eine längere Pause, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm überlegte,<br />

ob <strong>Friedrich</strong> die Wahrheit sagte.<br />

Es klingt glaubwürdig, dachte er, und spürte gleichzeitig, dass<br />

dies nicht die Wahrheit war.<br />

«Es ist spät geworden. Oberst Derschau wird dich morgen weiter<br />

verhören. Ich ermahne dich, alle Umstände <strong>der</strong> geplanten Desertion<br />

wahrheitsgemäß zu gestehen, das bist du Gott und mir schuldig,<br />

ich möchte dich vorerst nicht mehr sehen.»<br />

Er wandte sich abrupt ab und eilte aus dem Zimmer.<br />

Der Kommandant sah <strong>Friedrich</strong> mitleidig an und sagte: «Es geht<br />

mich nichts an, aber ich empfehle Ihnen, in Ihrem eigenen Interesse<br />

die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit. Gute Nacht.»<br />

Die Wahrheit, wie<strong>der</strong>holte <strong>Friedrich</strong> für sich, nun, das werde ich<br />

morgen entscheiden.<br />

Am nächsten Morgen gegen acht Uhr betraten Derschau und <strong>der</strong><br />

Sekretär das Zimmer. Der Oberst sah <strong>Friedrich</strong> an: «Seine Majestät<br />

ist außer sich, und <strong>der</strong> Verdacht, dass Sie <strong>der</strong> Anführer einer<br />

weitverzweigten Verschwörung sind, hat sich in Seiner Majestät<br />

588


verfestigt. Heute früh traf die Nachricht ein, dass Keith nach Den<br />

Haag gefl ohen ist und nicht nach Straßburg. Dies wi<strong>der</strong>spricht Ihrer<br />

gestrigen Aussage, dass Sie sich mit ihm in Straßburg treffen<br />

wollten. Was haben Sie dazu zu sagen?»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak. Es war ein Fehler, Straßburg als Treffpunkt zu<br />

nennen, dachte er, ich muss jetzt vor allem die Ruhe bewahren.<br />

Er sah Derschau kühl an: «Keith hat mich falsch verstanden,<br />

vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt.»<br />

«Nun, wenn Keith gefangen wird, und er wird gefangen werden,<br />

so wird man ihn über diesen Punkt verhören.»<br />

Er betrachtete <strong>Friedrich</strong> und sagte dann leise: «Ich empfehle Ihnen,<br />

meine Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten, es ist in Ihrem<br />

eigenen Interesse, sagen Sie die Wahrheit und nichts als die<br />

Wahrheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah zu dem Sekretär, <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>n zuschnitt, und überlegte:<br />

Meine Worte werden protokolliert, es ist wohl am besten,<br />

wenn ich Derschaus Rat befolge. Zuletzt wird nur ein Fluchtplan<br />

das Ergebnis des Verhörs sein, eine Verschwörung war nie geplant,<br />

das ist eine von Papas fi xen Ideen, und anscheinend weiß er immer<br />

noch nichts von dem missglückten Fluchtversuch in Steinfurt, er<br />

wird mich also nie <strong>der</strong> Desertion bezichtigen können.<br />

Er sah den Oberst an: «Ich bin bereit, Ihre Fragen zu beantworten.»<br />

«Wann dachten Sie zum ersten Mal an eine Flucht?»<br />

«Im Herbst 1728 während des Aufenthaltes in Wusterhausen,<br />

ich empfand meine Situation als unerträglich.»<br />

«Wann haben Sie angefangen, die Flucht vorzubereiten?»<br />

<strong>Friedrich</strong> zögerte etwas, beobachtete, wie die Fe<strong>der</strong> des Sekretärs<br />

über das Papier eilte, und dachte beklommen, dass er jetzt den<br />

Leutnant Spaen erwähnen musste.<br />

Es hat keinen Zweck, dass ich ihn verschweige, bei den diversen<br />

Verhören – und ich weiß nicht, wer alles verhört wird – ist es möglich,<br />

dass sein Name genannt wird.<br />

«Im Januar bestellte ich einen Reisewagen in Leipzig.»<br />

«Haben Sie den Wagen selbst bestellt o<strong>der</strong> haben Sie ihn bestellen<br />

lassen?»<br />

Mon Dieu, dachte <strong>Friedrich</strong> beklommen, das wird ein ganz detailliertes<br />

Verhör.<br />

589


«Ich beauftragte den Leutnant von Spaen, einen Wagen zu bestellen.»<br />

Er sah, wie die Fe<strong>der</strong> des Sekretärs über den Bogen Papier eilte,<br />

und zum ersten Mal, seit er in Wesel war, empfand er eine unbestimmte<br />

Angst um Katte.<br />

Drei Stunden später verließen Derschau und <strong>der</strong> Sekretär das<br />

Zimmer. <strong>Friedrich</strong> sank erschöpft auf das Bett und schloss die Augen.<br />

Er hat alle Einzelheiten des Fluchtplanes aus mir herausgefragt,<br />

dachte er. Wenn Papa das Protokoll liest, weiß er alles – <strong>der</strong> Verkauf<br />

<strong>der</strong> Brillanten, die mit Hermann getroffenen Verabredungen,<br />

die Befehle an den Pagen Keith, <strong>der</strong> rote Rock –, und er erinnerte<br />

sich noch einmal an einige Fragen: Wann wurde Katte von dem<br />

Fluchtplan unterrichtet? Gab es noch an<strong>der</strong>e Mitwisser? Wie viel<br />

Taler wurden für den Verkauf <strong>der</strong> Brillanten bezahlt? Was ist aus<br />

dem Geld geworden?<br />

Mon Dieu, wie soll dies alles weitergehen? Wie kann ich Papas<br />

Zorn besänftigen? Ich muss die Kameraden retten, die davon gewusst<br />

haben, es gibt nur eine Möglichkeit: Ich muss an Papa einen<br />

unterwürfi gen Brief schreiben.<br />

Er sprang auf, setzte sich an den Tisch des Sekretärs, tauchte die<br />

Fe<strong>der</strong> in das Tintenfass und begann zu schreiben.<br />

590<br />

Wesel, 13.8.1730<br />

Mein lieber Papa,<br />

ich nehme mir nochmals die Freiheit, meinem lieben Papa zu<br />

schreiben und ihn hierbei allerunterthänigst um Erlassung meines<br />

Arrests zu bitten, versichernd, dass Alles, was ich meinem lieben<br />

Papa gesagt o<strong>der</strong> sagen lasse, wahr sei. Wo ferner noch Soupçons<br />

gegen mich seien, so wird die Zeit weisen, dass solche nicht gegründet<br />

seien, und versichere, dass ich eine solche böse Intention,<br />

wie gemeint wird, nimmer mehr gehabt habe. Ich bitte also meinen<br />

lieben Papa um seine Gnade und verbleibe zeitlebens mit unterthänigstem<br />

Respect meines lieben Papas gehorsamster Diener und<br />

Sohn <strong>Friedrich</strong>.


Am Abend wurde Rochow gemeldet.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah überrascht auf und ging ihm lächelnd entgegen.<br />

«Ihr Besuch ist ein gutes Omen, Sie wollen mir wahrscheinlich<br />

sagen, dass mein Arrest beendet ist.»<br />

Rochow sah <strong>Friedrich</strong> ernst an.<br />

«Mein Besuch ist ein schlechtes Omen, Königliche Hoheit. Für<br />

mich sind und bleiben Sie <strong>der</strong> Kronprinz, dem die Anrede ‹Königliche<br />

Hoheit› gebührt.<br />

Ich überbringe Ihnen die Antwort Seiner Majestät auf Ihren<br />

Brief. Seine Majestät hat befohlen, dass Sie morgen bei Sonnenaufgang<br />

Wesel verlassen. General Buddenbrock, Oberst Waldow<br />

und ich werden Sie begleiten und aufpassen, dass Sie nicht entkommen.<br />

Glauben Sie mir, es ist für uns kein angenehmer Befehl,<br />

den künftigen preußischen König zu überwachen. Bis Halle, also<br />

bis zur ersten preußischen Garnison, sollen wir Tag und Nacht fahren,<br />

Proviant und Wein wird für die ganze Reise mitgeführt. Wir<br />

werden in <strong>der</strong> Kutsche essen und schlafen. Wir dürfen nicht durch<br />

das Kurfürstentum Hannover fahren, da Seine Majestät befürchtet,<br />

dass Ihre Helfer Sie entführen könnten. Ein Wagen mit einem<br />

Major und drei Hauptleuten, die alle gut bewaffnet sind, wird uns<br />

in geringem Abstand folgen.»<br />

Rochow schwieg und sah verlegen zu Boden.<br />

«Wenn Sie Ihre Notdurft verrichten müssen, so darf nur auf<br />

freiem Feld gehalten werden, wo keine Hecken und Sträucher sind,<br />

die eine Flucht begünstigen würden. Im Falle eines Angriffs Ihrer<br />

Helfer sollen wir dafür sorgen, dass die Angreifer nur Ihren Leichnam<br />

bekommen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte Rochow erschrocken an: «Mein Leichnam?<br />

Mein Vater hat also befohlen, dass Sie mich eventuell töten?»<br />

«Königliche Hoheit, so weit wird es nicht kommen, wir sind davon<br />

überzeugt, dass Seine Majestät sich nur einbildet, dass es eine<br />

Verschwörung gibt. Wir haben versucht, den König davon zu überzeugen,<br />

dass <strong>der</strong> Fluchtplan ein unbedachter jugendlicher Streich ist,<br />

vergeblich. Es tut mir so leid, Königliche Hoheit, aber ich bin davon<br />

überzeugt, wenn sich bei den Verhören herausstellt, dass es nie eine<br />

Verschwörung gegen den König gegeben hat, dann wird Seine Majestät<br />

Ihnen verzeihen und Ihnen wie<strong>der</strong> die Freiheit schenken.»<br />

591


<strong>Friedrich</strong> sah zu Boden und sagte leise: «Mein Vater erniedrigt<br />

mich immer mehr, meine Notdurft … auf freiem Feld.»<br />

«Königliche Hoheit, ich versichere Sie schon jetzt unserer Diskretion,<br />

im Übrigen gelten die Befehle Seiner Majestät auch für<br />

uns.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Rochow an: «Ich danke Ihnen für Ihre tröstlichen<br />

Worte, es ist mir unangenehm, und ich bedauere aufrichtig, dass<br />

Sie meinetwegen eine so beschwerliche Reise auf sich nehmen<br />

müssen. Wo sollen Sie mich hinbringen?»<br />

«In die Festung Küstrin, Königliche Hoheit.»<br />

«Küstrin», sagte <strong>Friedrich</strong> leise, «Küstrin an <strong>der</strong> O<strong>der</strong>.»<br />

592


5<br />

Am Abend des 16. August wurde in Schloss Monbijou getanzt.<br />

Sophie Dorothea saß in einem Sessel, fächelte sich Luft zu und<br />

beobachtete Wilhelmine, die lächelnd über den Marmorfußboden<br />

schwebte. Nach einer Weile neigte sie sich zu Frau von Kamecke, die<br />

neben ihr saß, und sagte leise: «Der König will nach seiner Rückkehr<br />

entscheiden, mit wem Wilhelmine verheiratet wird, er denkt<br />

an den Markgrafen von Bayreuth. Es ist unglaublich: Eine Welfi<br />

n soll einen einfachen Markgrafen heiraten, ich muss versuchen,<br />

diese Verbindung zu verhin<strong>der</strong>n, und ich habe beschlossen, noch<br />

einmal an meine Schwägerin zu schreiben. Meine älteste Tochter<br />

wird entwe<strong>der</strong> Königin von England, o<strong>der</strong> sie bleibt ledig, sie wird<br />

nicht unter ihrem Stand heiraten.»<br />

Frau von Kamecke dachte an den Brief des Königs, den sie am<br />

Morgen erhalten hatte und den sie bei sich trug, und erwi<strong>der</strong>te<br />

vorsichtig: «Mit Verlaub, Majestät, ich weiß nicht, ob jetzt <strong>der</strong> richtige<br />

Augenblick ist, um an die Königin von England zu schreiben:<br />

Der Vorfall mit Sir Hotham liegt erst einen Monat zurück. Warten<br />

Sie, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist, und überdies, wer<br />

weiß, vielleicht hat <strong>der</strong> König jetzt keine Zeit, sich mit <strong>der</strong> Heirat<br />

<strong>der</strong> Prinzessin zu beschäftigen.»<br />

Sophie Dorothea sah die Hofdame erstaunt an: «Wie kommen<br />

Sie auf diese Idee?»<br />

Frau von Kamecke überlegte: Jetzt wäre <strong>der</strong> richtige Augenblick,<br />

ihr zu sagen, was in Wesel vorgefallen ist. Wie soll ich nur anfangen?<br />

In diesem Augenblick betrat ein Leutnant den Ballsaal, sah sich<br />

suchend um, und als er die Königin entdeckte, eilte er zu ihr und<br />

beugte das Knie.<br />

«Majestät, erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Leutnant<br />

von Marwitz und gehöre zum Korps des Generalfeldmarschalls von<br />

Natzmer. Er bat mich, Ihnen diesen Brief persönlich zu überreichen.»<br />

Sophie Dorothea lächelte den jungen Mann wohlwollend an, öffnete<br />

das Schreiben, las und sah einen Augenblick irritiert vor sich hin.<br />

593


«Das verstehe ich nicht», sagte sie zu Frau von Kamecke, «Herr<br />

von Katte wurde am Vormittag verhaftet und in die Festung Spandau<br />

gebracht», und zu dem Leutnant: «Wissen Sie Einzelheiten?»<br />

«Nein, Majestät, <strong>der</strong> Grund für die Verhaftung ist mir unbekannt,<br />

erlauben Sie, dass ich wie<strong>der</strong> nach Berlin reite, <strong>der</strong> Feldmarschall<br />

erwartet mich.»<br />

«Ja, reiten Sie», und während <strong>der</strong> Leutnant den Saal verließ, las<br />

Sophie Dorothea den Brief erneut und sagte zu <strong>der</strong> Hofdame: «Es<br />

wird einen Grund für die Verhaftung geben, aber warum informiert<br />

Natzmer mich über die Verhaftung? Gewiss, Katte ist mit<br />

dem Kronprinzen befreundet, trotzdem, ich verstehe dies alles<br />

nicht.»<br />

«Majestät», erwi<strong>der</strong>te Frau von Kamecke zögernd, «ich weiß,<br />

warum <strong>der</strong> Leutnant von Katte verhaftet wurde, kann ich Sie einen<br />

Augenblick unter vier Augen sprechen?»<br />

Sophie Dorothea sah die Hofdame erstaunt an, spürte, dass ein<br />

ungutes Gefühl in ihr hochstieg, stand auf und ging mit ihr in das<br />

Spielzimmer, wo sich an jenem Abend niemand aufhielt, weil keiner<br />

<strong>der</strong> Hofl eute den Ball versäumen wollte.<br />

Frau von Kamecke überreichte <strong>der</strong> Königin zwei Briefe: «Majestät,<br />

heute Morgen erhielt ich ein Schreiben des Königs, dem dieser<br />

Brief an Sie beilag, und dies ist <strong>der</strong> Brief des Königs an mich.» Sophie<br />

Dorothea las:<br />

594<br />

Wesel, 13.8.1730<br />

Meine liebe Madame de Kamecke,<br />

ich habe lei<strong>der</strong> das Unglück, dass mein Sohn hat desertieren wollen<br />

mit dem Pagen Keith. Ich habe ihn arretieren lassen. Ich habe<br />

meiner Frau geschrieben. Sie muss es ihr von weitem vorbringen,<br />

wann es auch ein paar Tage dauren sollte, daß sie nicht von krank<br />

wird, <strong>der</strong> ich stets ihr ergebener Freund bin.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm.<br />

Sophie Dorothea starrte entsetzt auf die Zeilen, setzte sich und<br />

sagte leise: «Mon Dieu, Desertion, Deserteure werden zum Tod<br />

verurteilt», und sie begann, leise zu weinen.


«Majestät, beruhigen Sie sich, in dem Brief steht, <strong>der</strong> Kronprinz<br />

wollte desertieren, aber er ist nicht desertiert, in dem Brief steht<br />

auch nichts von einem missglückten Fluchtversuch. Seine Majestät<br />

hat nur von einem Fluchtplan erfahren, das ist alles, lesen Sie den<br />

Brief des Königs, wahrscheinlich wissen Sie dann mehr.»<br />

Sophie Dorothea öffnete zögernd den Brief des Gatten, las und<br />

sah die Hofdame hilfl os an: «Der Brief beunruhigt mich noch mehr.<br />

Mein Sohn wurde nach Küstrin gebracht und wird dort verhört<br />

werden, <strong>der</strong> König glaubt, dass <strong>der</strong> Kronprinz in eine Verschwörung<br />

verwickelt ist mit dem Ziel, ihn, den Vater, zu ermorden,<br />

er glaubt auch, dass <strong>der</strong> Kronprinz von England und Frankreich<br />

unterstützt wird. Mon Dieu, meine heimliche Korrespondenz mit<br />

meinen Verwandten in England, ich darf nicht daran denken, wie<br />

<strong>der</strong> König reagieren wird, wenn er davon erfährt.»<br />

«Majestät, Sie müssen jetzt vor allem ruhig bleiben. Ihre Korrespondenz<br />

mit England betraf nur die Verheiratung Ihrer Kin<strong>der</strong>,<br />

von einer Verschwörung gegen das Leben des Königs war doch nie<br />

die Rede.»<br />

Sophie Dorothea vermied es, die Hofdame anzusehen.<br />

«Ja, von einer Verschwörung war nie die Rede.»<br />

Es gibt keine schriftlichen Beweise für eine Verschwörung,<br />

dachte sie, aber es gab eine Zeit, da wurde über eine Absetzung<br />

des Königs getuschelt, zwar nur in Andeutungen, aber wenn mein<br />

Mann dies erfährt, dann wird er sich scheiden lassen und mich auf<br />

ein entlegenes Schloss verbannen, und was wird aus Wilhelmine?<br />

«Was den Fluchtplan des Kronprinzen betrifft», fuhr Frau von<br />

Kamecke fort, «so halte ich es für wahrscheinlich, dass er solche<br />

Pläne hegte, aber eine Verschwörung gegen Seine Majestät mit<br />

dem Ziel, den eigenen Vater ermorden zu lassen, daran glaube ich<br />

nicht, dazu ist <strong>der</strong> Kronprinz zu klug. Wahrscheinlich bildet Seine<br />

Majestät sich diese Verschwörung nur ein, was im ersten Zorn<br />

verständlich ist. Während <strong>der</strong> Rückreise wird <strong>der</strong> König sich beruhigen<br />

und die Angelegenheit gelassener sehen.»<br />

Sophie Dorothea sah bekümmert vor sich hin.<br />

«Mein Gefühl sagt mir, dass Sie die Situation zu optimistisch<br />

sehen, ich kenne meinen Mann, er wird den Kronprinzen hart bestrafen.<br />

Ich weiß zwar nicht, wie er ihn bestrafen wird, aber jetzt<br />

595


ist <strong>der</strong> Punkt erreicht, an dem sich das weitere Schicksal meines<br />

Sohnes entscheidet, und ich habe Angst um ihn, ich spüre, dass die<br />

Haft in Küstrin ihn irgendwie verän<strong>der</strong>n wird, in welche Richtung,<br />

das weiß im Augenblick niemand, auch nicht <strong>der</strong> König.»<br />

Während des Tanzes beobachtete Wilhelmine, dass Sophie Dorothea<br />

und Frau von Kamecke unauffällig in das Spielzimmer gingen,<br />

sie sah den Leutnant hinauseilen und fühlte sich unbehaglich.<br />

Sie wartete ungeduldig auf die Tanzpause und eilte in den Nebenraum.<br />

Als sie dort eintrat, hörte sie ihre Mutter sagen: «Wir<br />

werden morgen nach Berlin zurückkehren und dort die Ankunft<br />

des Königs erwarten.»<br />

Sie ging langsam zu den Damen und fragte zögernd: «Warum<br />

kehren wir schon morgen nach Berlin zurück? Ist etwas passiert?»<br />

Sophie Dorothea gab <strong>der</strong> Tochter den Brief des Königs und beobachtete<br />

besorgt, dass Wilhelmine, während sie die Zeilen überfl og,<br />

erbleichte und anfi ng zu zittern. Sie setzte sich langsam auf einen<br />

Stuhl und atmete schwer.<br />

Sophie Dorothea betrachtete die Tochter argwöhnisch und fragte<br />

nach einer Weile: «Haben Sie von dem Fluchtplan Ihres Bru<strong>der</strong>s<br />

gewusst?»<br />

Wilhelmine überlegte: Ich werde die Wahrheit sagen, weil eine<br />

Lüge die Situation nur verschlimmert.<br />

«Ja, Mama, Fritz weihte mich in seine Pläne ein. Ich beschwor<br />

ihn, nicht zu fl iehen, aber er hörte nicht auf mich. Wir haben Ihnen,<br />

Mama, absichtlich nichts gesagt, um Sie nicht in Schwierigkeiten<br />

zu bringen.»<br />

«Das war eine richtige Entscheidung, ich weiß nicht, ob ich,<br />

wenn ich davon gewusst hätte, mich eine längere Zeit vor Ihrem<br />

Vater hätte verstellen können, aber was ist mit unseren Briefen, die<br />

wir an <strong>Friedrich</strong> schrieben?»<br />

«Er hat sie wahrscheinlich verbrannt.»<br />

«Das glaube ich nicht», entgegnete Sophie Dorothea, «ich kenne<br />

Ihren Bru<strong>der</strong> zu gut. Wahrscheinlich hat er die Briefe vor seiner<br />

Abreise Katte anvertraut, mon Dieu, wenn man die Briefe fi ndet,<br />

sind wir verloren. In Berlin werden wir mehr erfahren.»<br />

596


Als sie am nächsten Vormittag in Berlin eintrafen, schickte Sophie<br />

Dorothea die Kammerfrau Ramen fort, um zu hören, ob es Neuigkeiten<br />

über Katte gab. Nach ungefähr zwei Stunden kehrte sie<br />

aufgeregt zurück.<br />

«Majestät, inzwischen sind auch die Leutnants von Spaen und<br />

von Ingersleben verhaftet, Kattes Kammerdiener wurde bereits<br />

verhört, und man hat eine Kassette des Kronprinzen beschlagnahmt,<br />

die bei Katte gefunden wurde.»<br />

Sophie Dorothea und Wilhelmine sahen einan<strong>der</strong> entsetzt an.<br />

«Sie kann gehen», sagte die Königin zur Ramen. Die Kammerfrau<br />

huschte hinaus, und Sophie Dorothea stand auf und ging unruhig<br />

auf und ab.<br />

«In dieser Kassette sind bestimmt unsere Briefe, mon Dieu, <strong>der</strong><br />

König darf sie auf keinen Fall sehen, die unschmeichelhaften Bemerkungen<br />

über ihn würden ihn zwar auch in Rage bringen, viel<br />

schlimmer ist jedoch, dass er dann über meine geheime Korrespondenz<br />

mit meiner Schwägerin weiß, und dies verstärkt dann seinen<br />

Verdacht, dass England ein Komplott gegen ihn plant; diese Kassette<br />

bringt <strong>Friedrich</strong> nur in neue Schwierigkeiten, wir müssen sie<br />

unbedingt bekommen, aber wie?»<br />

«Mama, in Ihrer Korrespondenz mit meiner Tante war doch immer<br />

nur von den Heiraten die Rede, Ihre Briefe enthalten keinen<br />

Hinweis auf eine Verschwörung, aber Sie haben recht: Wir müssen<br />

die Briefe in Sicherheit bringen.»<br />

Die Ramen schwätzt, dachte sie, spioniert, intrigiert, und Mama<br />

hat es immer noch nicht bemerkt, die Ramen ist eine Gefahr und<br />

muss ausgeschaltet werden.<br />

«Mama, Ihre Kammerfrau weiß, dass es eine Kassette gibt, es<br />

wäre vielleicht ratsam, ihr zu sagen, dass diese Kassette sehr wichtig<br />

für uns ist, vielleicht weiß sie einen Rat, ich denke, es wäre unklug,<br />

ihr in diesem Augenblick Informationen vorzuenthalten.»<br />

«Wie bitte? Die Ramen? Ich habe ihr immer alles anvertraut.»<br />

Sie blieb stehen und überlegte.<br />

«Ich sehe im Augenblick nur eine Möglichkeit: Ich werde Natzmer<br />

bitten, mir die Kassette zu überlassen, er hat mir früher schon<br />

einmal geholfen.»<br />

In diesem Augenblick wurde die Gräfi n Finck gemeldet.<br />

597


Sie eilte mit erhitztem Gesicht zu Sophie Dorothea, vollführte<br />

hastig den Hofknicks und rief mit zittern<strong>der</strong> Stimme: «Majestät,<br />

ich bin völlig hilfl os, ich weiß nicht, was ich machen soll. Bei meiner<br />

Ankunft vorhin im Palais fand ich eine versiegelte Kassette,<br />

welche am Abend zuvor meiner Dienerschaft übergeben wurde.<br />

Meine Diener konnten die Überbringer nicht erkennen, weil sie<br />

Masken trugen, indes lag bei <strong>der</strong> Kassette dieses Billett», und sie<br />

reichte <strong>der</strong> Königin das Schreiben.<br />

Sophie Dorothea las: «Haben Sie die Güte, gnädige Frau, diese<br />

Kassette <strong>der</strong> Königin zu übergeben, sie enthält die Briefe, welche<br />

die Königin und die Prinzessin an den Kronprinzen geschrieben<br />

haben.»<br />

Sophie Dorothea atmete erleichtert auf: «Warum regen Sie sich<br />

auf? Die Kassette ist für mich bestimmt, ich werde sofort einen<br />

Diener schicken, <strong>der</strong> sie herbeischafft.»<br />

«Majestät, bitte verstehen Sie meine Situation. Der König wird<br />

bestimmt bei den Verhören von <strong>der</strong> Kassette erfahren. Schicke ich<br />

die Kassette dem König, so verrate ich Eure Majestät, überlasse ich<br />

Ihnen die Kassette, so wird man mich des Verrats bezichtigen.»<br />

«Sie haben recht, aber da die Kassette für mich bestimmt ist, so riskieren<br />

Sie nichts, allerdings muss sie unauffällig in meine Gemächer<br />

geschafft werden. Es ist zunächst wichtig, dass keiner <strong>der</strong> zahlreichen<br />

Spione die Kassette bemerkt, und bis zur Rückkehr des Königs werde<br />

ich entscheiden, was ich mit den Briefen mache. Ich habe einen alten<br />

treuen Diener namens Bock, er wird wissen, wie er die Briefe unauffällig<br />

in meine Gemächer bringt.»<br />

«Ich danke Euer Majestät. Die Kassette ist schwer, Ihr Diener<br />

wird zuverlässige Helfer benötigen.»<br />

Eine Stunde später stand die Kassette auf einem Tischchen in Sophie<br />

Dorotheas Schlafzimmer.<br />

Wilhelmine betrachtete sie und sagte: «Sie ist mit Kattes Siegel<br />

gesichert, ich werde versuchen, das Siegel zu entfernen, ohne dass<br />

es beschädigt wird, dann kann man das Schloss <strong>der</strong> Brieftasche<br />

wegfeilen und die Briefe herausziehen.»<br />

Sie versuchte, das Siegel abzuheben, und gab ihren Versuch nach<br />

einer Weile auf.<br />

598


«Ich schaffe es nicht, was machen wir nun?»<br />

Bock betrachtete das Siegel genauer und rief: «Majestät, Sie<br />

werden es nicht glauben. Vor einigen Tagen fand ich im Park von<br />

Monbijou das gleiche Siegel, ich hob es auf und verwahrte es, um<br />

den Besitzer ausfi ndig zu machen», er nahm das Siegel aus seiner<br />

Rocktasche und gab es <strong>der</strong> Königin.<br />

«Mon Dieu, wir sind gerettet, danke, Er wird seine Belohnung<br />

erhalten, Er kann jetzt gehen.»<br />

Wilhelmine öffnete die Kassette, nahm eine Börse mit Geld, einige<br />

Edelsteine und Schmucksachen, die zuoberst lagen, und dann<br />

wühlte Sophie Dorothea in den Briefen, zog einige heraus, las sie<br />

und sagte: «Diesen Brief haben Sie an <strong>Friedrich</strong> geschrieben, <strong>der</strong><br />

König wird darin ‹König Ragotin› genannt, dieser Brief ist von mir,<br />

ich berichte darin von <strong>der</strong> Korrespondenz mit meiner Schwägerin»,<br />

sie legte die Briefe zurück und dachte einen Augenblick nach.<br />

«Wir müssen die Briefe vernichten, Wilhelmine, wir haben keine<br />

an<strong>der</strong>e Wahl, sie dürfen dem König nicht in die Hände fallen.»<br />

Wilhelmine betrachtete die Billetts, die auf verschiedenem Papier<br />

mit Tinte von verschiedener Farbe geschrieben waren, hob einen<br />

Brief empor, <strong>der</strong> schon anfi ng zu vergilben, und sagte: «Das<br />

ist zu gefährlich, Mama, bei den vielen Verhören wird bestimmt<br />

die Kassette erwähnt, Papa wird erfahren, dass Sie diese Kassette<br />

aufbewahren, er wird die Briefe sehen wollen; wie wollen Sie eine<br />

leere Kassette begründen? Papa wird vermuten, dass wir die Briefe<br />

vernichtet haben, und dies verschlimmert die Situation. Lassen Sie<br />

mich einen Augenblick nachdenken.»<br />

Sie betrachtete die Briefe, und plötzlich erhellte sich ihr Gesicht:<br />

«Ich weiß eine Lösung, Mama: Wir werden die Briefe verbrennen<br />

und neue Briefe schreiben, <strong>der</strong>en Inhalt harmlos ist. Wir müssen<br />

natürlich Papier von unterschiedlicher Farbe verwenden, wir müssen<br />

auch Papier nehmen, das schon etwas vergilbt aussieht, und<br />

verschiedene Tintenfarben verwenden, so wird Papa nicht merken,<br />

dass die Briefe gefälscht sind.»<br />

Sophie Dorothea erwi<strong>der</strong>te: «Die Idee ist gut, indes, ich schätze,<br />

dass in <strong>der</strong> Kassette einige tausend Briefe liegen, <strong>der</strong> König wird<br />

in spätestens drei Tagen, ungefähr am 20. August, in Berlin sein,<br />

wie sollen wir in dieser kurzen Zeit eine solche Menge von Briefen<br />

599


ersetzen? Wir müssen uns für jeden Brief auch einen Inhalt überlegen.»<br />

«Der Inhalt muss belanglos sein, wir können ruhig dummes<br />

Zeug schreiben, und wenn wir Tag und Nacht arbeiten, so schaffen<br />

wir bestimmt einige hun<strong>der</strong>t Briefe. Die Dienerschaft und Ihre<br />

Damen dürfen natürlich nichts merken, es ist am besten, wenn Sie<br />

sich in Ihr Schlafzimmer zurückziehen und sagen, Sie fühlen sich<br />

nicht wohl, das klingt glaubwürdig angesichts <strong>der</strong> Situation, in <strong>der</strong><br />

mein Bru<strong>der</strong> sich befi ndet. Die Ramen müssen Sie einweihen, und<br />

ich glaube, dass sie in ihrem eigenen Interesse so klug ist und darüber<br />

schweigt.»<br />

Sophie Dorothea nickte: «Sie haben recht, es ist die einzige Möglichkeit,<br />

<strong>Friedrich</strong> und uns zu retten. Bock soll im Kamin ein Feuer<br />

entfachen, Sie verbrennen die Briefe und ich sorge für Papier und<br />

Tinte.»<br />

Am späten Abend des 20. August legte Sophie Dorothea erschöpft<br />

die Fe<strong>der</strong> zur Seite.<br />

«Meine Finger gehorchen mir nicht mehr, Wilhelmine, überdies<br />

weiß ich nicht, was ich noch schreiben könnte. Wir sollten aufhören,<br />

die Rückreise des Königs dauert länger, als ich dachte. Wir<br />

sollten uns bis zu seiner Rückkehr noch etwas erholen.»<br />

«Ich habe die Briefe gezählt, Mama, wir haben ungefähr achthun<strong>der</strong>t<br />

geschrieben, das dürfte genügen.»<br />

Sie legte die Briefe in die Kassette und sagte nach einer Weile resignierend:<br />

«Die Kassette ist jetzt halbvoll, wir müssen noch mehr<br />

Briefe schreiben.»<br />

«Ich kann nicht mehr, wir füllen die Kassette mit meinen Tabatieren,<br />

Schmuck, Bän<strong>der</strong>n und an<strong>der</strong>em Plun<strong>der</strong>, <strong>der</strong> König erwartet<br />

eine volle Kassette, und die Briefe sind eben nur ein Bestandteil des<br />

Inhalts.»<br />

Ein Tag nach dem an<strong>der</strong>en verstrich, ohne dass die Ankunft des<br />

Königs gemeldet wurde.<br />

Sophie Dorothea und Wilhelmine waren einerseits erleichtert,<br />

an<strong>der</strong>erseits wussten sie, dass <strong>der</strong> König irgendwann zurückkehren<br />

würde, und ihre Angst steigerte sich von Tag zu Tag.<br />

600


Am Spätnachmittag des 27. August meldete ein Lakai die Ankunft<br />

des Königs. Sophie Dorothea entließ ihre Damen, nur Wilhelmine,<br />

Fräulein von Sonsfeld und Frau von Kamecke durften bleiben,<br />

dann ließ sie ihre Kin<strong>der</strong> holen, und als diese vor ihr standen<br />

und sie ängstlich ansahen, sagte sie: «Ihr habt inzwischen erfahren,<br />

dass <strong>der</strong> Kronprinz in Küstrin als Gefangener lebt. Euer Vater<br />

bezichtigt ihn <strong>der</strong> Desertion, aber er ist nicht desertiert. Ich habe<br />

euch rufen lassen, weil ich hoffe, dass euer Vater, wenn er seine<br />

Kin<strong>der</strong> sieht, besänftigt wird, eure Anwesenheit soll ihn gegenüber<br />

dem künftigen preußischen König milde stimmen.»<br />

Die Kin<strong>der</strong> sahen einan<strong>der</strong> an, dann stellten Philippine Charlotte,<br />

Sophie Dorothea und Ulrike sich links neben die Königin, Amalie<br />

und Heinrich stellten sich vor die Schwestern, und alle sahen<br />

ängstlich auf den Teppich. Wilhelmine stand rechts neben ihrer<br />

Mutter und konnte vor Aufregung kaum atmen.<br />

August Wilhelm war <strong>der</strong> Einzige, <strong>der</strong> erwartungsvoll zur Tür<br />

sah und sich freute, dass <strong>der</strong> Vater endlich zurückkehrte.<br />

Nach einer Weile hörten sie schwere Stiefeltritte, dann wurde die<br />

Tür aufgerissen, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm stand auf <strong>der</strong> Schwelle.<br />

August Wilhelm ging auf den Vater zu, blieb nach wenigen<br />

Schritten stehen und betrachtete entsetzt das dunkelrote Gesicht des<br />

Königs und die hervorquellenden Augen, die wild um sich blickten.<br />

Wilhelmine atmete tief durch, dann ging sie zur Mitte des Zimmers<br />

und versank in einen Hofknicks.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte die Tochter an, stürzte auf sie zu, riss<br />

sie empor und brüllte: «Infame Canaille! Sie wagen es, vor mir zu<br />

erscheinen? Fort mit Ihnen! Sie können Ihrem Schurken von Bru<strong>der</strong><br />

Gesellschaft leisten! Sie sind bestimmt auch in die Verschwörung<br />

verwickelt, die mir nach dem Leben trachtet!»<br />

«Papa, was für eine Verschwörung? Ich weiß von keiner Verschwörung,<br />

ich würde Ihnen nie nach dem Leben trachten.»<br />

«Schweigen Sie!»<br />

Er schlug Wilhelmine ins Gesicht, packte sie an <strong>der</strong> Gurgel und<br />

brüllte: «Abgesehen davon, dass Sie sich mit Ihrem gottverdammten<br />

Bru<strong>der</strong> gegen mich verschworen haben, haben Sie sich auch<br />

entehrt und Schande über die Hohenzollern gebracht, Sie erwarten<br />

ein Kind von dem Deserteur Katte, Sie sind eine Hure!»<br />

601


«Das ist nicht wahr, es ist eine Verleumdung, ich habe kein Verhältnis<br />

mit dem Leutnant von Katte, ich bin noch unberührt.»<br />

«Sie lügen, Sie sind eine Dirne, überall in Berlin wird über Ihre<br />

Liaison mit dem Deserteur geredet.»<br />

«Es sind Verleumdungen, Papa, überdies ist Katte kein Deserteur.»<br />

«Schweigen Sie», und ohnmächtig vor Wut presste er die Hände<br />

fest um Wilhelmines Hals.<br />

Sophie Dorothea sprang auf: «Mon Dieu, wollen Sie Ihre Tochter<br />

töten?»<br />

In diesem Augenblick trat August Wilhelm zu dem Vater.<br />

«Papa, bitte …»<br />

Der König sah seinen zweitältesten Sohn an, dann stieß er Wilhelmine<br />

von sich fort, sie taumelte, Fräulein von Sonsfeld eilte zu<br />

ihr, fi ng sie auf und brachte sie zu einem Stuhl.<br />

Sophie Dorothea trat zu dem Gatten und fragte mit tränenerstickter<br />

Stimme: «Was ist mit <strong>Friedrich</strong>?»<br />

«Ich werde Beweise fi nden, um den Schurken hinrichten zu lassen!»<br />

Sophie Dorothea starrte den Gatten an: «Nein, <strong>der</strong> eigene<br />

Sohn …», und sie begann, laut zu weinen.<br />

Da trat Frau von Kamecke zu <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und sagte langsam:<br />

«Sie haben sich bisher für einen gerechten und gottesfürchtigen<br />

König gehalten, und Gott hat Sie dafür mit Segnungen überhäuft,<br />

aber wehe Ihnen, wenn Sie seine Gebote übertreten. Fürchten<br />

Sie die göttliche Vergeltung. Sie hat zwei Herrscher heimgesucht,<br />

die, wie Sie es im Sinne tragen, das Blut des eigenen Sohnes vergossen:<br />

Philipp II. und Peter <strong>der</strong> Große sind ohne männliche Erben<br />

dahingegangen; ihre Staaten fi elen äußeren und inneren Kriegen<br />

zur Beute, und beide Monarchen wurden von großen Männern zu<br />

Schreckgestalten <strong>der</strong> Menschheit. Gehen Sie in sich, Majestät, Ihre<br />

ersten Zorneserregungen sind noch entschuldbar, aber sie werden<br />

verbrecherisch, wenn Sie dieselben nicht zu überwinden suchen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete Frau von Kamecke erstaunt,<br />

überlegte einen Augenblick und sagte: «Sie sind sehr kühn, solche<br />

Worte mir gegenüber zu wagen, doch verarge ich es Ihnen nicht.<br />

Ihre Absichten sind gut, und Sie reden offen mit mir, ich achte Sie<br />

602


umso mehr», und zu Sophie Dorothea: «Fritz wird verhört werden,<br />

und dann werde ich weitere Entscheidungen treffen, aber die Gerechtigkeit<br />

darf nicht aus <strong>der</strong> Welt kommen, ich werde versuchen,<br />

ein gerechtes Urteil zu fällen.»<br />

Einen Augenblick war es im Zimmer totenstill.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm wandte sich zu Fräulein von Sonsfeld: «Ich<br />

befehle, dass meine Tochter von einer Hebamme untersucht wird,<br />

ab jetzt wird die Prinzessin sich nur in ihren Räumen aufhalten,<br />

Sie bürgen mir für Ihre Verwahrung», und zu Sophie Dorothea:<br />

«Jetzt werde ich mir den Fluchthelfer Katte vornehmen.»<br />

Er verließ das Zimmer, und Sophie Dorothea begann erneut zu<br />

weinen. Frau von Kamecke trat zur Königin: «Majestät, Sie sollten<br />

hoffen. Ich bin davon überzeugt, dass <strong>der</strong> König den Kronprinzen<br />

nicht zum Tode verurteilen wird.»<br />

«Ich bin völlig durcheinan<strong>der</strong>», fl üsterte die Königin, «mein<br />

Gatte ist unberechenbar, ich hoffe, dass er in sich geht.»<br />

In seinem Arbeitszimmer las <strong>Friedrich</strong> Wilhelm die Vernehmungsprotokolle<br />

von Katte, sah plötzlich auf und sagte zu Grumbkow<br />

und dem Generalauditeur Mylius: «Katte erwähnt eine Kassette<br />

mit Briefen, die er für den Prinzen <strong>Friedrich</strong> aufbewahrte, diese<br />

Briefe sind wahrscheinlich <strong>der</strong> Beweis für eine weitverzweigte<br />

Verschwörung.»<br />

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und zwei Soldaten<br />

brachten Katte. Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm das blatternarbige Gesicht<br />

sah, verlor er die Beherrschung, stürzte sich auf den jungen Offi -<br />

zier und schlug mit dem Stock in dessen Gesicht, bis die Nase zu<br />

bluten begann, dann warf er den Stock in die Ecke und schrie: «Auf<br />

die Folter mit dem Fluchthelfer, ich will jede Einzelheit des Fluchtplanes<br />

wissen, wahrscheinlich hat er bisher nur die Hälfte dessen<br />

ausgesagt, was er weiß, auf die Folter!»<br />

Grumbkow und Mylius sahen einan<strong>der</strong> entsetzt an, und dann<br />

sagte Grumbkow vorsichtig: «Mit Verlaub, Majestät, ich habe den<br />

Eindruck, dass Herr von Katte alles gestanden hat, was er weiß,<br />

überdies war es bisher immer so, dass Geständnisse, die unter <strong>der</strong><br />

Folter erpresst wurden, falsche Geständnisse waren. Unter <strong>der</strong> Folter<br />

gesteht ein Mensch alles, nur um nicht weiter leiden zu müssen,<br />

603


ich glaube, in diesem Fall ist die Anwendung <strong>der</strong> Folter überfl üssig.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte seinen Minister an und brüllte: «Die<br />

Folter, er soll gefoltert werden, und den Prinzen <strong>Friedrich</strong> werde<br />

ich auch foltern lassen!»<br />

Grumbkow erschrak: Der künftige König soll gefoltert werden,<br />

wer weiß, wie lange <strong>der</strong> regierende König noch lebt, <strong>Friedrich</strong> II.<br />

wird mich zur Verantwortung ziehen, wenn er König ist, nein, ich<br />

darf mir die Gunst des künftigen Königs nicht verscherzen.<br />

Er atmete tief durch und sagte langsam: «Majestät, bis jetzt waren<br />

Sie ein Fürst, <strong>der</strong> sein Land aufgebaut hat und immer an das Wohlergehen<br />

<strong>der</strong> Untertanen dachte; wenn Sie jetzt die Folter anwenden,<br />

und es wäre das erste Mal seit Ihrem Regierungsantritt, dann werden<br />

künftige Generationen Sie für einen grausamen Tyrannen halten,<br />

und dieses Bild wird einen Schatten auf Ihr Lebenswerk, nämlich die<br />

Schaffung des Staates Preußen, werfen; wollen Sie dies wirklich?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah Grumbkow unsicher an und erinnerte<br />

sich an die Worte <strong>der</strong> Frau von Kamecke.<br />

Grumbkow fuhr fort: «Majestät, Sie werden ihre Handlungen<br />

als König irgendwann vor Gott verantworten müssen.»<br />

Einige Augenblicke war es in dem Zimmer still, dann strich sich<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm mit <strong>der</strong> Hand über die Stirn und sagte leise: «Sie<br />

haben recht, keine Folter.»<br />

Er musterte Katte: «Im Protokoll steht, dass es Briefe <strong>der</strong> Königin<br />

und ihrer ältesten Tochter an den Prinzen <strong>Friedrich</strong> waren,<br />

was haben Sie mit den Briefen gemacht? Diese Frage wurde bisher<br />

nicht gestellt.»<br />

«Ich habe dafür gesorgt, dass Ihre Majestät die Briefe erhält.»<br />

«Warum?»<br />

«Nun, Seine Königliche Hoheit …»<br />

«Es gibt keine Königliche Hoheit mehr», schrie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm,<br />

«haben Sie das immer noch nicht begriffen?»<br />

Katte zuckte unmerklich zusammen, dann sah er dem König in<br />

die Augen: «Prinz <strong>Friedrich</strong> wollte nicht, dass fremde Leute die<br />

Briefe Ihrer Majestät und <strong>der</strong> Prinzessin Wilhelmine lesen.»<br />

«Aha, wahrscheinlich wird in diesen Briefen die Verschwörung<br />

gegen mich geplant.»<br />

604


«Mit Verlaub, Majestät, eines weiß ich: Prinz <strong>Friedrich</strong> hat we<strong>der</strong><br />

eine Verschwörung gegen Sie geplant, noch war er an einem<br />

Komplott gegen Sie beteiligt, er plante eine Flucht, weil er Angst<br />

vor Ihrem Zorn hatte.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm stierte Katte an: «Schweigen Sie, ich werde<br />

die Briefe lesen, und dann weiß ich, woran ich bin. Nun zu Ihnen:<br />

Sie geben zu, dass Sie dem Prinzen bei <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Flucht<br />

geholfen haben; warum sind Sie in Berlin geblieben, wollten Sie<br />

sich nicht mit dem Prinzen irgendwo treffen?»<br />

«Ja, aber ich erhielt keinen Brief mehr von ihm und nahm an,<br />

dass er den Fluchtplan aufgegeben hat und nach Berlin zurückkehren<br />

würde. Ich war froh darüber, weil ich dem Prinzen den Rat gab,<br />

nicht zu fl iehen. Überdies besaß ich das Reisegeld, und ich nahm<br />

an, dass <strong>der</strong> Prinz ohne Geld nicht fl iehen würde.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte triumphierend, holte <strong>Friedrich</strong>s letzten<br />

Brief an Katte aus seiner Rocktasche und hielt ihn vor die Augen<br />

des Offi ziers.<br />

«Diesen Brief hat <strong>der</strong> Prinz Ihnen Ende Juli aus Ansbach geschrieben,<br />

er for<strong>der</strong>t Sie auf, sich nach Den Haag zu begeben. Es<br />

war ein glücklicher Zufall, dass ich den Brief bekam. Angenommen,<br />

Sie hätten diesen Brief erhalten, wären Sie dann nicht aus<br />

Preußen gefl ohen?»<br />

Katte überlegte: Meine Situation ist verzweifelt. Es ist am besten,<br />

wenn ich die Wahrheit sage, so erspare ich <strong>Friedrich</strong> und mir<br />

vielleicht weitere Schwierigkeiten. Der König liebt die Aufrichtigkeit<br />

und hasst die Lüge.<br />

«Majestät, wenn ich diesen Brief erhalten hätte, wäre ich nach<br />

Den Haag gegangen, aber ich wie<strong>der</strong>hole noch einmal, ich war fest<br />

davon überzeugt, dass <strong>der</strong> Prinz nach Berlin zurückkehrt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Gesicht verfi nsterte sich. «Sie waren also bereit<br />

zu desertieren.»<br />

Er verließ abrupt das Zimmer und begab sich zu Sophie Dorothea.<br />

Sie saß in ihrem Schlafzimmer und sah ratlos vor sich hin.<br />

Beim Eintritt des Gatten zuckte sie erschrocken zusammen und<br />

sah ihn ängstlich an.<br />

«Wo ist die Kassette?»<br />

605


«Dort drüben, auf dem Tisch.»<br />

Sie beobachtete, wie er die Kassette öffnete und die Tabatieren<br />

und den Schmuck achtlos auf den Teppich warf.<br />

«Plun<strong>der</strong>», brummte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und begann, einzelne<br />

Briefe zu lesen.<br />

Sophie Dorothea beobachtete seine erstaunten Augen, dann rief<br />

er: «Ich dachte immer, dass Sie und Ihre Tochter vor Geist und Bildung<br />

nur so strotzen, was ich hier lese, ist albernes, belangloses<br />

Zeug, schade um das Papier und die Tinte, die dafür verschwendet<br />

wurden, noch mehr staune ich über den Französling, dass er solche<br />

albernen Briefe aufbewahrt, nun, ich werde sie alle lesen, irgendwo<br />

muss ein Hinweis auf die Verschwörung sein.»<br />

Er nahm die Kassette, verließ das Zimmer, und Sophie Dorothea<br />

sah ihm erleichtert nach. Gott sei Dank, dachte sie, er hat nicht gemerkt,<br />

dass die Briefe erst kürzlich geschrieben wurden.<br />

In <strong>der</strong> Küstriner Festung lag <strong>Friedrich</strong> auf seinem schmalen Bett<br />

und versuchte zu schlafen, aber immer wie<strong>der</strong> sah er sich vor <strong>der</strong><br />

Kommission stehen und ihre Fragen beantworten.<br />

Schließlich setzte er sich auf und betrachtete resigniert das Zimmer:<br />

An <strong>der</strong> Wand gegenüber stand ein Tisch, davor ein Stuhl, daneben<br />

eine Truhe, in <strong>der</strong> seine Leibwäsche aufbewahrt wurde.<br />

Er betrachtete die Bibel auf dem Tisch, dann wan<strong>der</strong>ten seine<br />

Augen zu dem vergitterten Fenster, er sah die Strahlen <strong>der</strong> Nachmittagssonne,<br />

stand auf, ging zu dem Fenster und sah nachdenklich<br />

hinunter in den Hof.<br />

Heute ist <strong>der</strong> 23. September, dachte er, seit fast drei Wochen bin<br />

ich von <strong>der</strong> Außenwelt isoliert, wie lange muss ich hier noch bleiben?<br />

Der Herbst beginnt, mon Dieu, werde ich auch den Winter<br />

hier verbringen müssen?<br />

Jetzt ist es schon eine Woche her, dass die Kommission – Grumbkow,<br />

Mylius, Glasenapp und Sydow – mich verhörte.<br />

Jenen 16. September werde ich nie vergessen, es waren 178 Fragen<br />

über die Einzelheiten des Fluchtplanes, die Heiratsverhandlungen<br />

und die Vorkommnisse <strong>der</strong> letzten Jahre und dann, als ich<br />

erschöpft war, noch fünf Zusatzfragen meines Vaters. Diese Fragen<br />

waren wichtiger als die übrigen, habe ich sie richtig beantwortet?<br />

606


Erste Frage: Was glauben Sie, welche Strafe Sie verdient haben?<br />

Antwort: Ich unterwerfe mich des Königs Gnade und Willen.<br />

Zweite Frage: Was verdient ein Mensch, <strong>der</strong> seine Ehre bricht,<br />

Verschwörungen anzettelt und desertiert?<br />

Antwort: Ich glaube nicht, gegen meine Ehre gehandelt zu haben.<br />

Dritte Frage: Verdienen Sie es, Landesherr zu werden?<br />

Antwort: Ich kann mein Richter nicht sein.<br />

Vierte Frage: Wollen Sie Ihr Leben geschenkt haben o<strong>der</strong> nicht?<br />

Antwort: Ich unterwerfe mich des Königs Gnade und Willen.<br />

Fünfte Frage: Weil Sie Ihre Ehre gebrochen haben, sind Sie <strong>der</strong><br />

Thronfolge nicht mehr würdig. Wollen Sie Ihr Erbrecht abtreten<br />

und abdanken, so dass es vom ganzen Reich bestätigt wird, um Ihr<br />

Leben zu behalten?<br />

Antwort: Mein Leben ist mir so lieb nicht, aber Seine Majestät<br />

wird so sehr ungnädig nicht auf mich werden.<br />

Ich habe richtig geantwortet, dachte <strong>Friedrich</strong>, die Antworten sind<br />

klar, sie sagen so viel, wie sie sollen, ohne zu verletzen, und es war<br />

auch richtig, dass ich noch eine Schlusserklärung anfügte: Ich erkenne<br />

wohl, ganz und gar und in allen Stücken unrecht zu haben,<br />

am meisten beklage ich, dass Seine Majestät deswegen Kummer<br />

hat, ich bitte Seine Majestät, zu glauben, dass meine Absichten niemals<br />

kriminell waren, noch habe ich Seiner Majestät nach dem Leben<br />

getrachtet, ich unterwerfe mich in allem des Königs Wille und<br />

Gnade; Seine Majestät mag mit mir tun, wie Seine Majestät es für<br />

richtig halten, ich bitte Seine Majestät um Vergebung.<br />

Wie wird Papa reagieren? Hoffentlich kann ich dieses Zimmer<br />

bald verlassen, diese Isolation von <strong>der</strong> Außenwelt halte ich nicht<br />

länger aus. Wenn ich nur wüsste, wie es Keith und Hermann geht.<br />

Die Tür öffnete sich, und <strong>der</strong> Kommandant <strong>der</strong> Festung, General<br />

von Lepel, betrat den Raum.<br />

«Guten Tag, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte den General an: «Der König hat verboten, mich<br />

mit ‹Königliche Hoheit› anzureden, entwe<strong>der</strong> Sie übertreten sein<br />

Verbot, o<strong>der</strong> Sie bringen gute Nachrichten.»<br />

Lepel senkte verlegen die Augen, dann sah er <strong>Friedrich</strong> an: «Königliche<br />

Hoheit, für mich sind Sie <strong>der</strong> Kronprinz, und ich rede<br />

607


Sie an, wie es Ihnen gebührt. Lei<strong>der</strong> bringe ich keine erfreulichen<br />

Nachrichten: Seine Majestät hat Ihre zusätzliche Erklärung zum<br />

Verhör zerrissen und angeordnet, dass Ihre Haft verschärft wird.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte Lepel an: «Wie bitte? Das ist doch nicht möglich,<br />

wie kann man diese Haft noch verschärfen? Seit meiner Ankunft<br />

in Küstrin lebe ich völlig isoliert, ich darf diesen Raum nicht<br />

verlassen, man hat mir alles genommen: Papier und Tinte, meine<br />

Bücher und meine Flöte. Der einzige Mensch, mit dem ich reden<br />

kann, ist <strong>der</strong> Lakai, <strong>der</strong> mir dreimal täglich das Essen bringt, mit<br />

ihm kann ich mich wenigstens zehn o<strong>der</strong> fünfzehn Minuten unterhalten,<br />

am Morgen sogar etwas länger, wenn ich Gesicht und<br />

Hände wasche.»<br />

Er schwieg einen Moment und fuhr mit bitterem Unterton fort:<br />

«Sie können sich nicht vorstellen, wie grausam es ist, von <strong>der</strong> Außenwelt<br />

abgeschnitten zu sein, ich war nach einigen Tagen so verzweifelt,<br />

dass ich bat, das Abendmahl nehmen zu dürfen, es wäre<br />

eine Abwechslung gewesen – was hat <strong>der</strong> König geantwortet?<br />

‹Es ist jetzt noch keine Zeit, es muss erstlich das Kriegsgericht<br />

ausgemacht sein, sodann ist es schon Zeit.›»<br />

<strong>Friedrich</strong> schwieg und dachte erschrocken über die Antwort des<br />

Vaters nach.<br />

«Das Kriegsgericht, was meint <strong>der</strong> König damit? Will er mich<br />

vor ein Kriegsgericht stellen?»<br />

«Das glaube ich nicht, Königliche Hoheit, wenn Sie erlauben,<br />

sage ich Ihnen jetzt, wie Ihre Haft verschärft wird: Sie werden<br />

nicht mehr von einem Lakaien bedient werden, son<strong>der</strong>n von einem<br />

Wachsoldaten. Die Tür wird nicht nur verriegelt, son<strong>der</strong>n zusätzlich<br />

durch zwei Vorhängeschlösser gesichert, die Schlüssel sind in<br />

meiner Verwahrung. Jeden Morgen um acht Uhr betreten zwei Offi<br />

ziere den Raum, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Der Soldat<br />

bringt Ihnen Wasser zum Waschen und das Frühstück, trägt den<br />

Eimer und das Geschirr vom Abendessen hinaus.<br />

Um zwölf Uhr bringt man Ihnen das Mittagessen, danach wird<br />

die Türe sofort wie<strong>der</strong> geschlossen. Am Abend, um sechs Uhr,<br />

bringt man Ihnen erneut eine Mahlzeit, das Geschirr vom Mittag<br />

wird hinausgetragen und die Tür wie<strong>der</strong> verschlossen. Die Tür<br />

darf dreimal am Tag nur vier Minuten auf sein, we<strong>der</strong> die Offi ziere<br />

608


noch <strong>der</strong> Wachsoldat dürfen mit Ihnen sprechen. Sie erhalten we<strong>der</strong><br />

Messer noch Gabel, das Fleisch wird kleingeschnitten, so dass<br />

Sie mit einem Löffel essen können. Sie erhalten keine Wachskerzen<br />

mehr, son<strong>der</strong>n nur noch ein Talglicht. Die Summe, die täglich für<br />

Ihre Verpfl egung ausgegeben werden soll, hat <strong>der</strong> König auf acht<br />

Groschen herabgesetzt.»<br />

Bei den letzten Worten lächelte <strong>Friedrich</strong> spöttisch: «Acht Groschen,<br />

nun, es ist mir egal, ob ich in Potsdam hungere o<strong>der</strong> in Küstrin.»<br />

Er schwieg und sagte dann leise: «Niemand darf mit mir sprechen,<br />

das ist härter als die übrigen Anordnungen.»<br />

Der Kommandant betrachtete den Prinzen mitleidig: «Königliche<br />

Hoheit, alle Einwohner Küstrins bedauern Sie und fi nden, dass <strong>der</strong><br />

König Sie zu hart bestraft für einen jugendlichen Streich, ich teile<br />

die Meinung <strong>der</strong> Küstriner, aber ich muss die Anordnungen Seiner<br />

Majestät befolgen.»<br />

«Sie müssen natürlich die Anordnungen des Königs befolgen. Ich<br />

habe noch einmal über das Verhör am 16. September nachgedacht,<br />

und ich möchte noch etwas zur Thronfolge aussagen. Wäre es möglich,<br />

dass die Kommission noch einmal nach Küstrin kommt?»<br />

«Selbstverständlich, Königliche Hoheit, ich werde sofort einen<br />

Kurier nach Berlin schicken.»<br />

«Danke, es gibt noch ein Problem: Ich weiß immer noch nichts<br />

über das Schicksal <strong>der</strong> Leutnants von Keith und von Katte. Leben<br />

sie, wurden sie verhaftet? Könnten Sie nicht in Erfahrung bringen,<br />

wie es ihnen geht?»<br />

«Selbstverständlich, Königliche Hoheit.»<br />

Als <strong>der</strong> Kommandant die Tür schloss, sank <strong>Friedrich</strong> auf das Bett<br />

und starrte zu <strong>der</strong> Holzdecke.<br />

Warum verschärft er die Haft? Befürchtet er, dass ich aus dieser<br />

Festung fl iehen könnte?<br />

Eine Flucht aus Küstrin ist unmöglich, alle haben Mitleid, vielleicht<br />

sogar die Offi ziere und <strong>der</strong> Wachsoldat, die täglich diesen<br />

Raum betreten, aber keiner wird den Mut aufbringen, mir bei<br />

einem Fluchtversuch zu helfen. Mein Vater will mich durch die<br />

Verschärfung <strong>der</strong> Haft demütigen, ein Talglicht statt Wachskerzen,<br />

das ist eine lächerliche Schikane, er will, dass ich vor ihm nie<strong>der</strong>knie<br />

und um Verzeihung bettelte. Warum?<br />

609


Er hat mich in seiner Gewalt, er kann mit mir tun und lassen, was<br />

er will. Wahrscheinlich hat er sich über meine Antworten auf die<br />

letzten fünf Fragen geärgert, sie sind so formuliert, dass er keinen<br />

Punkt fi ndet, um mich weiter anzuklagen. Er wird mich irgendwann<br />

aus <strong>der</strong> Haft entlassen müssen, allein wegen <strong>der</strong> Reaktion <strong>der</strong><br />

ausländischen Mächte, meine Verhaftung wird zumindest London<br />

und Wien beschäftigen. Ob er versuchen wird, mich zu enterben?<br />

Es ist nicht einfach, aber falls es ihm gelingt, dass August Wilhelm<br />

sein Nachfolger wird, so werde ich meinem Bru<strong>der</strong> das Leben<br />

schwermachen, ich bin <strong>der</strong> Thronfolger, und ich möchte König<br />

werden und Preußen so regieren, wie ich es für richtig halte.<br />

Er zuckte zusammen, als er ein Geräusch über sich hörte, setzte<br />

sich auf und horchte. Es klingt, als ob in dem Raum über mir etwas<br />

zersägt wird, dachte er, und sah unsicher zu <strong>der</strong> Holzdecke hinauf.<br />

Einige Minuten später erblickte er eine viereckige Öffnung, und<br />

dann erschien das rundliche Gesicht des Präsidenten <strong>der</strong> Domänenkammer.<br />

<strong>Friedrich</strong> stand auf, betrachtete erstaunt die gütigen Augen des<br />

Präsidenten, <strong>der</strong> ihn verschmitzt anlächelte, und erinnerte sich,<br />

dass er ihm irgendwann bei einem offi ziellen Empfang in Potsdam<br />

begegnet war.<br />

«Mon Dieu, Herr von Münchow, was machen Sie hier? Wissen<br />

Sie nicht, dass <strong>der</strong> König befahl, niemand dürfte mit mir reden? Sie<br />

begeben sich in Gefahr!»<br />

«Ich weiß, Königliche Hoheit, aber Sie wissen doch, <strong>der</strong> Himmel<br />

ist hoch, und <strong>der</strong> Zar ist weit. General von Lepel weiß offi ziell<br />

nichts, aber er ist einverstanden, dass Ihr Leben etwas erleichtert<br />

wird. Es sieht im Augenblick so aus, als ob Sie noch einige Wochen<br />

hier bleiben müssen; sagen Sie mir, was Sie wünschen, und<br />

ich werde versuchen, Ihre Wünsche zu erfüllen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte Münchow an, und es dauerte einige Sekunden,<br />

bis er sich von seiner Überraschung erholte.<br />

«Meine Wünsche? Nun, einige Bücher, Papier und Schreibzeug,<br />

am meisten fehlt mir ein Mensch, mit dem ich mich unterhalten<br />

kann.»<br />

«Ich werde dafür sorgen, dass Sie Bücher und Papier erhalten<br />

und auch täglich eine warme, nahrhafte Mahlzeit. Ich habe ei-<br />

610


nen großen Stuhl fertigen lassen mit verborgenen Fächern, dort<br />

können Sie alles aufbewahren, die Wachen haben den Befehl, Ihr<br />

Zimmer nur oberfl ächlich abzusuchen. Der Stuhl wurde gefertigt,<br />

weil die Möglichkeit besteht, dass Seine Majestät Sie besucht, und<br />

<strong>der</strong> König muss natürlich eine Sitzgelegenheit haben. Der Stuhl<br />

wird noch heute gebracht, und mein jüngster Sohn wird Bücher<br />

und Essen zu Ihnen bringen. Er ist sieben Jahre alt und trägt natürlich<br />

schon Hosen, zum Glück habe ich seine Kin<strong>der</strong>kleidung aufbewahrt,<br />

Rock und Ärmel sind zwar etwas zu kurz, aber ansonsten<br />

passen ihm die Klei<strong>der</strong>. Unter dem Rock und in den Taschen wird<br />

er Ihnen alles bringen. Die Wachen haben den Befehl, das Kind<br />

einzulassen. Er wird nachher kommen. Er ist sehr neugierig auf<br />

den künftigen König. Sie können sich mit ihm unterhalten, solange<br />

es Ihnen beliebt; auch ich werde versuchen, so oft wie möglich mit<br />

Ihnen zu sprechen, und wenn ich Neuigkeiten erfahre, so sage ich<br />

es Ihnen, o<strong>der</strong> ich schreibe Ihnen einen Brief, wenn ich verhin<strong>der</strong>t<br />

bin, hierher zu kommen.»<br />

«Ich danke Ihnen, ich werde Ihre Hilfe nie vergessen, aber mon<br />

Dieu, ich darf nicht daran denken, was passiert, wenn mein Vater<br />

davon erfährt: Sie riskieren Ihre Stellung und General von Lepel<br />

ebenfalls.»<br />

Münchow lächelte: «Denken Sie nicht darüber nach. Seine Majestät<br />

wird nichts erfahren, die Küstriner stehen auf Ihrer Seite und<br />

<strong>der</strong> ortsansässige Adel ebenfalls.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte kurz und sagte zögernd: «Herr von Münchow,<br />

eines belastet mich schon seit Wochen: Ich weiß nicht, wie<br />

es den Leutnants von Keith und von Katte geht, können Sie nicht<br />

versuchen, etwas über ihr Schicksal zu erfahren?»<br />

«Selbstverständlich, Königliche Hoheit, auf Wie<strong>der</strong>sehen.»<br />

Ein Holzbalken wurde über die Öffnung geschoben, und dann<br />

sank <strong>Friedrich</strong> auf das Bett und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.<br />

Münchow und Lepel, dachte er, handeln gegen die Befehle des<br />

Königs, warum? Mitleid spielt gewiss eine Rolle, aber riskiert man<br />

nur aus Mitleid Amt und Würden? Nein, sie sehen in mir den<br />

künftigen König und wollen sich meines Wohlwollens versichern.<br />

Das ist verständlich bei Papas labiler Gesundheit, niemand weiß,<br />

611


wie lange er noch leben wird. Heute bin ich ein Gefangener, morgen<br />

kann ich schon König sein o<strong>der</strong> in einem Jahr o<strong>der</strong> in zwei<br />

Jahren, vielleicht dauert es auch länger, nun, das ist eine völlig neue<br />

Situation.<br />

Wenn ich König bin, muss ich entscheiden, wie ich die Menschen<br />

behandele, die mir jetzt helfen, und die Menschen, die den Befehlen<br />

meines Vaters gehorchen.<br />

Was ist wichtiger? Gehorsam gegenüber dem regierenden König<br />

o<strong>der</strong> Ungehorsam im Hinblick auf den künftigen König? Werden<br />

Männer wie Münchow o<strong>der</strong> Lepel mir loyal dienen, werden sie<br />

nicht auch mir gegenüber ungehorsam sein, falls sich eine ähnliche<br />

Situation ergibt? Sind die Männer, die jetzt den Befehlen meines<br />

Vaters gehorchen, nicht die zuverlässigeren Diener des Staates?<br />

Er zuckte zusammen, als die Tür geöffnet wurde und die beiden<br />

Wachsoldaten einen Lehnstuhl brachten, dessen Sitzfl äche dreimal<br />

so groß war wie bei an<strong>der</strong>en Stühlen. Als die Tür sich hinter<br />

den Soldaten schloss, ging <strong>Friedrich</strong> um den Stuhl herum, strich<br />

mit den Fingern über das dunkelbraune Eichenholz, betrachtete<br />

die kleinen Schränke, die an beiden Armlehnen und an <strong>der</strong> Rückseite<br />

waren, dann sah er einen winzigen Schlüssel an einem <strong>der</strong><br />

Schränkchen stecken, öffnete die Tür und sah erstaunt, dass in dem<br />

Schrank mehr Platz war, als er vermutete, mit dem Schlüssel konnte<br />

er auch die an<strong>der</strong>en Schränke öffnen; dann setzte er sich in den<br />

Stuhl und lächelte spöttisch.<br />

Der Lehnstuhl passt zu Papas Leibesumfang, dachte er, nun, er<br />

wird mir hier hoffentlich nie gegenübersitzen.<br />

Nach kurzer Zeit öffnete sich die Türe erneut, und ein Junge von<br />

ungefähr sieben Jahren betrat den Raum und blieb schüchtern an<br />

<strong>der</strong> Schwelle stehen.<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte das lindgrüne Satinkleid. Grün ist die Farbe<br />

<strong>der</strong> Hoffnung, dachte er, es ist besser, wenn ich vor dem Jungen so<br />

tue, als ob ich nicht weiß, wer er ist.<br />

Er ging zu dem Kind und fragte lächelnd: «Wer bist du?»<br />

«Heinrich von Münchow, Königliche Hoheit.»<br />

«Heinrich, einer meiner Brü<strong>der</strong> trägt auch den Namen Heinrich,<br />

er ist ein paar Jahre jünger als du. Komm», er nahm die linke Hand<br />

des Jungen und führte ihn zu dem Lehnstuhl, «setze dich.»<br />

612


Der Junge blieb stehen, sah ehrfurchtsvoll zu <strong>Friedrich</strong> auf und<br />

sagte leise: «Sie sind also <strong>der</strong> künftige König. Mein Vater sagt<br />

immer, dass Könige keine gewöhnlichen Menschen sind, weil <strong>der</strong><br />

liebe Gott sie einsetzt, und er sagt, dass auch Kronprinzen keine<br />

gewöhnlichen Menschen sind, weil auch sie eines Tages von Gottes<br />

Gnaden Könige werden.»<br />

Das also ist <strong>der</strong> Grund, dachte <strong>Friedrich</strong>, <strong>der</strong> künftige König,<br />

nun ja, es ist einerseits verständlich, an<strong>der</strong>erseits werde ich ab jetzt,<br />

nach meiner Entlassung aus <strong>der</strong> Haft – und irgendwann werde ich<br />

bestimmt wie<strong>der</strong> frei sein –, nun, dann werde ich die Menschen,<br />

die mich umgeben, genau beobachten, ich werde beobachten, wer<br />

meinem Vater loyal dient, diese Menschen werden auch mir loyal<br />

dienen, und eines weiß ich schon jetzt: Speichellecker, die ihr Mäntelchen<br />

nach dem Wind hängen, werden es unter meiner Regierung<br />

schwer haben, sie können nicht mit einer glänzenden militärischen<br />

o<strong>der</strong> diplomatischen Laufbahn rechnen.<br />

Das Kind trat zu dem Tisch.<br />

«Im Auftrag meines Vaters, Königliche Hoheit, bringe ich Ihnen<br />

einige Dinge, die Ihnen den Aufenthalt in <strong>der</strong> Festung erleichtern<br />

sollen.»<br />

Er kramte in den Taschen des weiten Kleides und legte ein Buch<br />

auf den Tisch, einige Bogen weißes Papier, Fe<strong>der</strong>n, ein Fe<strong>der</strong>messer,<br />

ein Tintenfass und eine Büchse mit Streusand.<br />

«Morgen bringe ich Ihnen noch weitere Bücher und Papier.»<br />

<strong>Friedrich</strong> nahm das Buch und las den Titel: «Die wahrhaftige<br />

und lustige Geschichte des Francion» von Charles Sorel.<br />

Er blätterte in dem Buch, las dann die ersten Seiten und zuckte<br />

zusammen, als er die Stimme des Kindes hörte: «Königliche Hoheit,<br />

ich habe Ihre Mahlzeit angerichtet.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah auf und glaubte zu träumen: Auf einer großen weißen<br />

Leinenserviette lagen dunkelviolette Pfl aumen und goldgelbe<br />

Birnen, daneben stand ein Porzellanteller, auf dem ein kaltes gebratenes<br />

Hähnchen lag, er sah eine Flasche Rotwein, einen Korkenzieher,<br />

einen Silberbecher, silbernes Besteck und einige Stücke<br />

Weißbrot. Das Brot war noch warm, und als <strong>der</strong> Duft des Brotes<br />

sich in dem Zimmer ausbreitete, wusste er, dass er nicht träumte,<br />

und spürte plötzlich, wie hungrig er war.<br />

613


«Mon Dieu, in Küstrin erlebe ich das Paradies auf Erden.»<br />

Er entkorkte die Flasche und betrachtete das Etikett.<br />

«Ein Rotwein aus Burgund», er goss einen Schluck in den Becher<br />

und atmete den Duft ein, dann aß er ein Stück Weißbrot und zerteilte<br />

das Hähnchen.<br />

«Das ist die beste Mahlzeit meines Lebens, Heinrich, während<br />

<strong>der</strong> vergangenen Wochen habe ich viel gehungert.»<br />

«Ich wünsche Eurer Hoheit guten Appetit, darf ich Ihnen Wein<br />

einschenken?»<br />

«Im Augenblick noch nicht, eine geöffnete Flasche Rotwein muss<br />

einige Zeit stehen, damit die Blume sich entfalten kann.»<br />

«Ja, Königliche Hoheit. Ab morgen bringe ich Ihnen eine warme<br />

Mahlzeit, haben Sie einen beson<strong>der</strong>en Wunsch?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah das Kind erstaunt an: «Ich bin noch nie gefragt<br />

worden, was ich essen möchte. Nein, ich habe keinen Wunsch, ich<br />

bin froh, wenn ich satt werde.»<br />

«Nun, morgen gibt es bei uns nur ein einfaches Wildschweinragout,<br />

dazu Pfi fferlinge mit Speck.»<br />

«Ein Wildragout kann sehr delikat sein, und Pfi fferlinge gehören<br />

zu meinen Lieblingsspeisen.»<br />

«In ungefähr einer Woche haben wir einen neuen Küchenmeister,<br />

er kommt aus Italien, dann bringe ich Ihnen italienische Speisen.»<br />

Als das Kind gegangen war, trank <strong>Friedrich</strong> genüsslich einen Becher<br />

Rotwein und betrachtete die weißen Papierbogen.<br />

Ich werde an Wilhelmine schreiben, nahm er sich vor, und die<br />

Briefe über Münchows Sohn hinausschmuggeln, sie wird mir<br />

wahrscheinlich nicht antworten können, weil Papa sie bewachen<br />

lässt. Aber sie und Mama erfahren so wenigstens, wie es mir geht,<br />

ich kann jetzt auch Verse schreiben, nun, vielleicht habe ich die<br />

schlimmste Zeit überstanden, ab jetzt kann es nur besser werden.<br />

Eine Woche später brachte Münchows Sohn die Tragödien von Euripides<br />

und Sophokles und zum ersten Mal ein italienisches Gericht.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> neugierig den Deckel von <strong>der</strong> fl achen Schüssel hob,<br />

verbreitete sich im Zimmer <strong>der</strong> würzige Geruch von geschmolzenem<br />

Käse.<br />

614


Er betrachtete erstaunt die quadratischen Scheiben Nudelteig,<br />

zwischen denen abwechselnd Spinat und kleingehacktes Fleisch<br />

lag, die oberste Scheibe Teig war von leicht gebräuntem, geschmolzenem<br />

Käse bedeckt.<br />

«Das ist eine ‹Lasagna›, erklärte Heinrich, «sie wird immer mit<br />

Parmesankäse überbacken, das ist typisch für viele italienische<br />

Gerichte; die ‹Polenta›, das ist ein Maisbrei, wird auch mit Käse<br />

überbacken.»<br />

<strong>Friedrich</strong> probierte die Lasagna und vertilgte sie in kurzer Zeit.<br />

Dann sah er Heinrich an: «Eine Delikatesse. Wenn ich König<br />

bin, werden an meiner Tafel jeden Tag italienische Speisen serviert,<br />

die mit Käse überbacken sind.»<br />

«Unser neuer Küchenmeister wird sich freuen, dass es Ihnen gemundet<br />

hat, aber …»<br />

Er stockte und sprach dann weiter: «Ich soll Ihnen noch etwas<br />

bringen, jetzt fällt es mir ein, mein Vater hat Ihnen einen Brief<br />

geschrieben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> zuckte unmerklich zusammen, vielleicht erfahre ich<br />

jetzt etwas über Hermanns Schicksal. Er öffnete das Schreiben mit<br />

zitternden Fingern, las, legte den Brief auf den Tisch und starrte<br />

vor sich hin.<br />

Heinrich beobachtete seine Miene und fragte nach einer Weile<br />

ängstlich: «Sie sind so bleich, Königliche Hoheit, ist Ihnen nicht<br />

gut?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah auf: «Ich fühle mich ganz wohl, aber ich möchte<br />

jetzt einen Augenblick allein sein.»<br />

Das Kind sah unsicher zu dem Brief auf dem Tisch und verbeugte<br />

sich: «Auf Wie<strong>der</strong>sehen, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> las den Brief erneut, dann ging er zu dem geöffneten<br />

Fenster, umklammerte mit den Händen die Gitterstäbe, sah hinunter<br />

in den Hof und begann zu weinen. Es dauerte eine Weile, bis er<br />

sich beruhigte, und dann empfand er einen Hass auf seinen Vater<br />

wie noch nie zuvor.<br />

«Es ist unglaublich», sagte er leise, «mein Vater lässt seine Wut<br />

über mich an unschuldigen Menschen aus, ich kann verstehen,<br />

dass er meine Diener entlassen und August Wilhelm zum Oberst<br />

meines Regiments ernannt hat, ich kann auch verstehen, dass er<br />

615


meine geheime Bibliothek im Hause des Kantors Ritter verkauft<br />

hat, aber war es nötig, Duhan nach Memel zu verbannen? Er hat<br />

von meinem Fluchtplan nichts gewusst. Am schlimmsten aber ist<br />

das Schicksal <strong>der</strong> Doris Ritter. Er hat irgendwie erfahren, dass wir<br />

zusammen musiziert haben, und in seiner Einfalt denkt er natürlich,<br />

dass ich das Mädchen verführt habe. Er lässt sie von einer<br />

Hebamme untersuchen, auch das kann ich noch halbwegs verstehen,<br />

die Hebamme sagt, dass Doris unberührt ist, und was macht<br />

mein Vater? Er lässt sie auspeitschen, zuerst vor dem Rathaus, dann<br />

vor dem Haus ihres Vaters, schließlich an allen Ecken <strong>der</strong> Stadt,<br />

dann wird sie nach Spandau in das Spinnhaus gebracht, wo sie den<br />

Rest ihres Lebens verbringen soll. Er wird unmenschlich, brutal,<br />

er kennt keine Grenzen mehr. Nun, er wird nicht ewig leben, und<br />

wenn ich König bin, werde ich Duhan an den Hof holen und ihm<br />

ein würdevolles Amt geben, und die Doris Ritter wird Spandau<br />

verlassen, ich werde sie mit einem vermögenden Mann verheiraten<br />

und für ihre Aussteuer sorgen.»<br />

Resigniert dachte er: Mein Fluchtplan hat dazu geführt, dass unschuldige<br />

Menschen leiden müssen. Wenn ich König bin, kann ich<br />

versuchen, ihr Leid zu lin<strong>der</strong>n, aber eines kann ich nicht: Ich kann<br />

meine Schuld an ihrem Schicksal nicht tilgen, mein Fluchtplan hat<br />

unschuldige Menschen in einer Weise betroffen, die, nun, die ich<br />

nicht bedachte. Wie wird mein Vater mit den Menschen verfahren,<br />

die direkt o<strong>der</strong> indirekt an dem Plan beteiligt waren?<br />

Er las den Brief zum dritten Mal und sagte leise: «Merkwürdig,<br />

Münchow schreibt nicht, wie es Keith und Hermann geht.»<br />

Er ging unruhig auf und ab und zuckte zusammen, als er Münchows<br />

Stimme hörte: «Königliche Hoheit, ich habe neue Nachrichten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sprang auf das Bett und starrte den Kammerpräsidenten<br />

an: «Wissen Sie etwas über Katte und Keith?»<br />

«Der Leutnant von Keith konnte nach England entfl iehen, Seine<br />

Majestät hat Agenten ausgeschickt, die ihn fi nden sollen, aber ich<br />

glaube, das ist unmöglich, <strong>der</strong> Leutnant wird unter einem falschen<br />

Namen ein Asyl gefunden haben. Die Leutnants von Spaen und<br />

Ingersleben wurden verhaftet und verhört, weil sie irgendwie von<br />

Ihrem Fluchtplan wussten.»<br />

616


<strong>Friedrich</strong> überlegte: Spaen hat den Reisewagen bestellt, Ingersleben<br />

hat in <strong>der</strong> Nacht, als ich mich von Hermann verabschiedete,<br />

aufgepasst, dass uns niemand stört. Spaen wusste nicht, warum ich<br />

den Wagen bestellte, und Ingersleben kann sagen, dass Hermann<br />

und ich ein Rendezvous mit Mädchen hatten.<br />

«Was wissen Sie über den Leutnant von Katte?»<br />

«Nun, er ist inhaftiert und wird verhört, mehr habe ich nicht<br />

erfahren.»<br />

«Danke, Herr von Münchow.»<br />

Er setzte sich auf das Bett und überließ sich seinen Gedanken:<br />

Hermann ist ein Gefangener wie ich, irgendwann wird mein Vater<br />

begreifen, dass es keine Verschwörung gegen ihn gab, irgendwann<br />

wird er uns die Freiheit schenken. Allerdings – er hat mir bei <strong>der</strong><br />

Vorbereitung <strong>der</strong> Flucht geholfen, ich habe ihn in meine Situation<br />

hineingezogen, das war mein Fehler … und er erinnerte sich an<br />

die Poetik des Aristoteles: So bleibt <strong>der</strong> Held übrig, <strong>der</strong> zwischen<br />

den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem <strong>der</strong> Fall,<br />

<strong>der</strong> nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines Gerechtigkeitsstrebens,<br />

aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit<br />

einen Umschlag ins Unglück erlebt, son<strong>der</strong>n wegen eines Fehlers<br />

…<br />

Am 8. Oktober erschienen Grumbkow und die an<strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Untersuchungskommission in Küstrin.<br />

«Bei meinem letzten Verhör», begann <strong>Friedrich</strong>, «wurde ich vor<br />

die Wahl gestellt zwischen Verzicht auf die Erbfolge und Tod o<strong>der</strong><br />

ewigem Gefängnis.»<br />

Die Herren sahen einan<strong>der</strong> erstaunt an, und dann antwortete<br />

Grumbkow: «Königliche Hoheit, aus den Protokollen geht hervor,<br />

dass von einem ewigen Gefängnis nie die Rede war.»<br />

«Nun, meine Herren, damit sind meine Überlegungen überfl üssig<br />

geworden, ein ewiges Gefängnis wäre für mich unerträglich<br />

gewesen. Wenn ich mein Leben verlieren soll, so bitte ich, dass<br />

man es mir beizeiten sagt. Der König kann mit mir machen, was er<br />

will, ich werde ihn dennoch lieben.»<br />

Er musterte die Herren und fragte vorsichtig: «Wie geht es meiner<br />

Mutter?»<br />

617


«Ihre Majestät», antwortete Mylius, «denkt nicht mehr an Sie,<br />

Ihre Schwester ist eingesperrt und wird demnächst auf das Land<br />

verbannt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte Mylius an: «Meine Mutter, das kann ich nicht<br />

glauben …»<br />

«Königliche Hoheit», sagte Grumbkow, «Herr von Mylius hat<br />

nicht die richtigen Worte gewählt; Ihre Majestät denkt nicht mehr<br />

an Sie, weil Seine Majestät es so befohlen hat.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Grumbkow erstaunt an.<br />

Was geht in Grumbkow vor?, fragte er sich. Wahrscheinlich<br />

denkt er daran, was mit ihm passiert, wenn ich König bin, er will<br />

sich mein Wohlwollen nicht verscherzen. Nun gut, ich nehme sein<br />

Angebot an, vielleicht kann er zwischen meinem Vater und mir<br />

die Rolle des Vermittlers übernehmen. Eines weiß ich jetzt: Von<br />

Grumbkow habe ich nichts mehr zu befürchten.<br />

«Meine Herren, ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Ich<br />

habe nur noch eine Bitte: Ich hoffe, dass Seine Majestät so gnädig<br />

ist und mich bald wie<strong>der</strong> in die Armee aufnimmt.»<br />

«Ich werde mit seiner Majestät darüber reden», antwortete<br />

Grumbkow.<br />

Am Abend des 20. Oktober saß <strong>Friedrich</strong> Wilhelm im Potsdamer<br />

Schloss in seinem Arbeitszimmer und betrachtete nachdenklich einen<br />

kleinen Stapel von Briefen auf seinem Schreibtisch.<br />

«England», sagte er leise, «Russland, Holland, Dänemark, Schweden,<br />

Sachsen, Frankreich, <strong>der</strong> Kaiser, alle bitten, dass ich Fritz verzeihe. Der<br />

König von Schweden beschwört mich, im Wi<strong>der</strong>streit zwischen meinen<br />

Pfl ichten als König und Vater dem Vaterherzen Gehör zu geben.»<br />

Er las noch einmal den Bericht seines Gesandten in Stockholm,<br />

worin dieser berichtete, dass man in Schweden <strong>der</strong> Meinung sei,<br />

dass <strong>der</strong> preußische König den Kronprinzen von <strong>der</strong> Thronfolge<br />

ausschließen und solche lieber dem zweiten Prinzen gönnen solle.<br />

Er las den Kommentar, den er am 16. Oktober an den Rand geschrieben<br />

hatte: «Dieses ist wahr.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah ratlos vor sich hin. Dann las er noch einmal<br />

die Protokolle <strong>der</strong> Verhöre, und je länger er las, desto hilfl oser<br />

fühlte er sich.<br />

618


Eines steht fest, dachte er wütend, es hat nie eine Verschwörung<br />

gegen mich gegeben. Was übrigbleibt, ist ein Fluchtplan, <strong>der</strong> nicht<br />

ausgeführt wurde. Wenn ich Fritz und Katte jetzt einfach in die<br />

Freiheit entlasse, so mache ich mich lächerlich, die beiden müssen<br />

bestraft werden, aber wie? Katte ist Fluchthelfer; bei Fritz ist die<br />

Situation schwieriger.<br />

Wenn er eine Verschwörung gegen mich angezettelt hätte, dann<br />

hätte ich ihn zum Tode verurteilen können, und das Ausland hätte<br />

dieses Urteil sogar billigen müssen, eine Verschwörung gegen den<br />

regierenden König ist und bleibt Hochverrat.<br />

Es gab keinen Hochverrat, folglich ist ein Todesurteil ausgeschlossen.<br />

Was ist mit <strong>der</strong> Erbfolge? In Preußen bin ich autonom,<br />

aber er ist auch Kurprinz. Wenn ich ihn als Kurprinzen enterben<br />

will, ist die Zustimmung des Reiches nötig, das ist ein langwieriges<br />

juristisches Verfahren. Angenommen, ich sterbe unterdessen, dann<br />

ist die Erbfolge ungeklärt, und das wird sich zum Nachteil Preußens<br />

auswirken. Angenommen, Hulla wird während meiner Regierung<br />

Thronfolger, auch das wird sich zum Nachteil Preußens auswirken,<br />

weil Fritz versuchen wird, seinem Bru<strong>der</strong> Schwierigkeiten zu machen,<br />

er wird am Hof wahrscheinlich eine Gegenpartei bilden; nun,<br />

Enterbung ist auch keine Lösung, aber <strong>der</strong> aufsässige Bengel muss<br />

irgendwie bestraft werden.<br />

Eine Stunde nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en verging, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

schlief ein. Als er erwachte, waren die Kerzen erloschen, und <strong>der</strong><br />

neue Tag dämmerte herauf. Er stand auf, ging zum Fenster, beobachtete,<br />

wie <strong>der</strong> Himmel heller wurde, und plötzlich wusste er, wie<br />

er das Problem <strong>der</strong> Bestrafung lösen konnte.<br />

«Ein Kriegsgericht», sagte er leise, «ich werde ein Kriegsgericht<br />

einberufen, das ein Urteil fällen soll über Fritz, Katte, Keith, Spaen<br />

und Ingersleben. Als König kann ich die Urteile verschärfen o<strong>der</strong><br />

mil<strong>der</strong>n. Das Kriegsgericht setzt sich zusammen aus drei Generalmajoren,<br />

drei Obersten, drei Oberstleutnants, drei Majoren und drei<br />

Kapitänen; jede Rangklasse hat eine Stimme und <strong>der</strong> Vorsitzende<br />

ebenfalls. Wer soll den Vorsitz führen? Ein loyaler Offi zier, <strong>der</strong> Lebenserfahrung<br />

besitzt. Generalleutnant Graf Achaz von <strong>der</strong> Schulenburg<br />

wäre geeignet, er hat mir immer treu gedient, hat mich anno<br />

619


17, als die Junker beim Reichsgericht ihre Beschwerde einreichten<br />

gegen die Allodifi kation <strong>der</strong> Ritterlehen, da hat er mich unterstützt.<br />

Er war <strong>der</strong> Sprecher des märkischen Adels und hat sich sogar deswegen<br />

mit seiner Familie überworfen, er ist jetzt Anfang siebzig und<br />

besitzt die Weisheit des Alters, er allein ist fähig, ein gerechtes Urteil<br />

zu fällen, und die Gerechtigkeit darf nicht aus <strong>der</strong> Welt kommen.<br />

Das Kriegsgericht soll ab 25. Oktober in Schloss Köpenick tagen.»<br />

Er ging auf und ab und fühlte sich plötzlich erleichtert. Das Gericht<br />

wird das Urteil fällen, dachte er, und gleichzeitig streifte ihn<br />

<strong>der</strong> Gedanke, ob es moralisch richtig war, einem Kriegsgericht die<br />

Verantwortung über fünf junge Menschen zu übertragen. Nun,<br />

dachte er, es geht hier um Desertion und geplante Desertion. Deserteure<br />

gehören vor ein Kriegsgericht.<br />

Er klingelte nach dem Kammerdiener: «Bereite Er alles für meine<br />

Abreise nach Wusterhausen vor, ich möchte Berlin noch vor <strong>der</strong><br />

Mittagstafel verlassen.»<br />

«Mit Verlaub Majestät, ich weiß nicht, ob Ihre Majestät so<br />

rasch …»<br />

«Ich reise ohne meine Familie, ich möchte in Wusterhausen allein<br />

sein, die Herren des Tabakskollegiums genügen mir als Gesellschaft.»<br />

Später schrieb er einen Brief an den Dessauer und lud ihn nach<br />

Wusterhausen ein. Während er Sand über die Tinte streute, sagte<br />

er leise: «Dies ist die dritte Einladung seit meiner Rückkehr nach<br />

Berlin. Bis jetzt lehnte er es ab, mich zu besuchen; ob er nach Wusterhausen<br />

kommen wird?»<br />

Am Spätnachmittag des 29. Oktober kehrten <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

und <strong>der</strong> Dessauer von einem Ausritt zurück.<br />

Während die Reitknechte sich um die Pferde kümmerten, sah<br />

<strong>der</strong> König seinen Freund an und sagte langsam: «Ich danke Ihnen,<br />

dass Sie nach Wusterhausen gekommen sind.»<br />

«Ich betrachte es als meine Pfl icht, Ihnen in dieser schwierigen<br />

Situation zur Seite zu stehen. Sie schrieben, dass Sie das Urteil des<br />

Kriegsgerichts hier erwarten wollen. Nun, das Urteil könnte Sie<br />

in innere Konfl ikte bringen, und in solchen Fällen ist es hilfreich,<br />

wenn man mit einem Menschen darüber reden kann.»<br />

620


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Dessauer erstaunt an: «Wie meinen<br />

Sie das? Innere Konfl ikte, das verstehe ich nicht.»<br />

«Es ist möglich, dass <strong>der</strong> Urteilsspruch Ihnen nicht gefällt und<br />

Sie die Wahl haben, das Urteil zu verschärfen o<strong>der</strong> zu mil<strong>der</strong>n;<br />

könnte dies nicht zu einem inneren Konfl ikt führen, da schließlich<br />

auch Ihr Sohn <strong>Friedrich</strong> zu den Angeklagten gehört?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Gesicht verfi nsterte sich: «Ich habe kluge,<br />

umsichtige und vor allem loyale Offi ziere in dieses Kriegsgericht<br />

berufen, sie werden ein gerechtes Urteil fällen.»<br />

In diesem Augenblick lief Eversmann auf sie zu: «Majestät, vorhin<br />

überbrachte ein Kurier das Urteil aus Köpenick.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm erschrak, spürte, dass sein Herz heftig anfi ng<br />

zu klopfen, und eilte, gefolgt von dem Dessauer, in sein Arbeitszimmer.<br />

Er ging langsam zu dem Schreibtisch, betrachtete sekundenlang<br />

den dicken, versiegelten Brief, er atmete schwer und wartete, dass<br />

seine Nerven sich etwas beruhigten, dann öffnete er mit zitternden<br />

Fingern den Brief, las, und <strong>der</strong> Dessauer beobachtete besorgt, dass<br />

die Miene des Königs sich verfi nsterte.<br />

Er schleu<strong>der</strong>te den Brief in eine Ecke und brüllte: «Verräter,<br />

Spitzbuben! Das ist kein Urteil, das ist Verrat!»<br />

Er ging in die Ecke, hob den Brief auf und schrie: «Hören Sie,<br />

Keith soll zum Tode verurteilt werden, Ingersleben soll sechs Monate<br />

inhaftiert bleiben unter Anrechnung <strong>der</strong> schon verbüßten<br />

Strafe, Spaen wird zu dreijähriger Festungshaft verurteilt, so weit,<br />

so gut, nun zu Katte und meinem Sohn: Katte wird zu lebenslänglicher<br />

Haft verurteilt, und was <strong>Friedrich</strong> betrifft, so erklärt das<br />

Gericht sich für unzuständig und überlässt ihn meiner väterlichen<br />

Gnade. Es ist ein Skandal!»<br />

Er reichte dem Dessauer den Brief, dieser las und sagte dann<br />

vorsichtig: «Dieses Urteil ist ein Beweis für die Loyalität des Offi -<br />

zierskorps gegenüber dem Haus Hohenzollern, zumindest, was den<br />

Kronprinzen betrifft.<br />

Das Gericht gibt zu, dass <strong>der</strong> Hauptanklagepunkt, nämlich vorsätzlicher<br />

Fluchtversuch und Vorbereitung, richtig ist. In <strong>der</strong> Urteilsbegründung<br />

ist nicht mehr von Desertion die Rede, son<strong>der</strong>n<br />

von Absentierung, die Richter bezeichnen dies als Ungehorsam<br />

621


gegen den König und Vater und kommen zu dem Schluss, dass Sie<br />

allein <strong>der</strong> zuständige Richter sein können. Sie betonen die Unterwerfung<br />

und Reue des Prinzen, sie geben ihm seine Ehrenrechte<br />

wie<strong>der</strong> wie auch den Rang als Kronprinz, und sie geben Ihnen dadurch<br />

zu verstehen, dass ihre Treue sich nicht nur auf Ihre Person<br />

erstreckt, son<strong>der</strong>n auf Ihr ganzes Haus. Was Katte betrifft, so geben<br />

sie zu, dass er als Offi zier hat desertieren wollen, aus Gehorsam<br />

gegenüber dem künftigen Herren hat er sich gegen den jetzigen<br />

Herren empört. Aber es gibt mil<strong>der</strong>nde Umstände: Der Prinz<br />

wird nicht verurteilt, obwohl er <strong>der</strong> Hauptschuldige ist, ferner ist<br />

die beabsichtigte Flucht nicht zur Ausführung gekommen, schließlich<br />

billigt man ihm seine Jugend und Unerfahrenheit zu. Ich fi nde<br />

dieses Urteil gerecht.»<br />

«Gerecht?!», schrie <strong>Friedrich</strong> Wilhelm. «Ich glaubte, ich hätte<br />

ehrliche Leute erwählt, die ihre Pfl icht nicht vergessen, die aufgehende<br />

Sonne nicht anbeten und bei dem Kriegsrecht allein ihr<br />

Gewissen und des Königs Ehre beachten. Dieses Urteil ist eine Untreue<br />

mir gegenüber, und es gibt dafür nur einen Grund: Sie schielen<br />

auf künftige Zeiten, aber ich werde alle vernichten, die es mit<br />

meinen Kin<strong>der</strong>n gegen mich halten. Die Herren Offi ziere stellen<br />

den Fluchtplan des Prinzen vor <strong>der</strong> Welt als Kin<strong>der</strong>spiel dar, das<br />

keine harte Strafe verdient, es ist unglaublich!»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte <strong>der</strong> Dessauer bedächtig: «Ich<br />

versuche, mich in die Lage des Kriegsgerichts zu versetzen: Den<br />

Sohn freizusprechen, das ist gleichbedeutend mit <strong>der</strong> Verurteilung<br />

des Vaters, aber ist es gerecht, den Sohn zu verurteilen? Der<br />

Prinz hatte Gründe zur Flucht. Der Angeklagte ist in den Augen<br />

des Gerichts kein Oberst, <strong>der</strong> versuchte zu desertieren, er ist ein<br />

Sohn, <strong>der</strong> von seinem Vater geschlagen und misshandelt wurde,<br />

ein Sohn, <strong>der</strong> zugleich Kronprinz ist. Diese Konstellation geht über<br />

die Machtsphäre eines Kriegsgerichtes hinaus.<br />

Es ist verständlich, wenn das Gericht den Prinzen Ihrem väterlichen<br />

Urteil unterwirft.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte den Dessauer an, dann schrie er: «Sie<br />

sollen Recht sprechen und nicht mit dem Fe<strong>der</strong>wisch darübergehen.<br />

Das Kriegsgericht soll wie<strong>der</strong> zusammenkommen und an<strong>der</strong>s<br />

sprechen.»<br />

622


Er ging zum Schreibtisch und kritzelte diese Worte auf das Urteil,<br />

dann sagte er zu dem Dessauer: «Ich werde die Herren an einige<br />

Stellen in <strong>der</strong> Bibel erinnern, die ihnen hoffentlich die Entscheidung<br />

erleichtern, nämlich: 5. Buch Mose, Kapitel 17, Vers 8 bis 12;<br />

2. Buch Samuel, Kapitel 18, Vers 10 bis 12 und 2. Buch Chronika,<br />

Kapitel 19, Vers. 5 bis 7.»<br />

Während <strong>der</strong> König schrieb, fragte sich <strong>der</strong> Dessauer, was in<br />

diesen Kapiteln stand, und sagte schließlich: «Ich bin nicht so<br />

bibelfest wie Sie, können Sie mir sagen, was diese Zitate bedeuten?»<br />

«Im 5. Buch Mose gebietet die Bibel den Richtern, wenn ihnen<br />

ein Urteil zu schwer wird, sich an die Hüter des göttlichen Wortes<br />

zu wenden. Es heißt in Vers 12: ‹Und wo jemand vermessen handeln<br />

würde, dass er dem Priester nicht gehorchte, <strong>der</strong> da selbst in<br />

des Herrn, deines Gottes, Amt steht, o<strong>der</strong> dem Richter, <strong>der</strong> soll<br />

sterben.› Ich stehe selbst in Gottes Amt, Katte hat die von Gott<br />

gesetzte Ordnung verletzt, er hat nicht gehorcht, also muss er sterben.<br />

Im 2. Buch Samuel verbietet die Bibel, die Hand an des Königs<br />

Sohn zu legen, also ihn zu töten, und in <strong>der</strong> Chronik heißt es: ‹Sehet<br />

zu, was ihr tut! Denn ihr haltet das Gericht nicht den Menschen,<br />

son<strong>der</strong>n dem Herrn, und er ist mit euch im Gericht.›»<br />

Der Dessauer überlegte und sagte dann vorsichtig: «Sie zitieren<br />

Verse aus dem 2. Buch Samuel, bedeutet dies, dass das Leben des<br />

Kronprinzen gerettet ist?»<br />

«Ja, mein Sohn <strong>Friedrich</strong> ist <strong>der</strong> Kronprinz und <strong>der</strong> künftige König,<br />

Gott hat ihn in das gottgewollte Ordnungssystem eingesetzt,<br />

folglich besitze ich kein Recht, ihn zu richten, Gott hat ja nicht<br />

mich allein eingesetzt, son<strong>der</strong>n das Haus Hohenzollern. Ich habe<br />

in meinem Vater stets die von Gott gesetzte Autorität respektiert,<br />

und ich respektiere sie nun in <strong>Friedrich</strong>, den Gott zum künftigen<br />

König bestimmt hat. Er behält sein Leben, aber er wird natürlich<br />

trotzdem bestraft für den Fluchtplan, und es muss eine Strafe sein,<br />

die er sein Leben lang nicht vergessen wird.»<br />

Am Vormittag des 1. November stand <strong>der</strong> Dessauer in <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelms Arbeitszimmer an einem <strong>der</strong> Fenster und sah nachdenklich<br />

in den grauen, wolkenverhangenen Himmel.<br />

623


Der König ging langsam umher, dann trat er zu dem Freund und<br />

sagte: «Das Urteil wird heute überbracht, spätestens morgen, nun,<br />

ich denke, dass sie Katte zum Tod verurteilen werden.»<br />

Der Dessauer schwieg, aber plötzlich straffte er sich und sagte<br />

leise: «Majestät, eben reitet <strong>der</strong> Kurier aus Köpenick in den Hof.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm öffnete den Brief, las und schrie: «Es ist unglaublich:<br />

Das Kriegsgericht verurteilt Katte nach wie vor zu lebenslanger<br />

Haft! Das ist unmöglich! Ich akzeptiere das Urteil über<br />

Spaen und Ingersleben; das Urteil über Katte werde ich verschärfen,<br />

er wird hingerichtet!»<br />

Der Dessauer fuhr herum: «Majestät, ich bitte Sie, so ein junger<br />

Mensch, was hat er verbrochen? Er wollte dem Kronprinzen helfen,<br />

er hat ihm sogar von <strong>der</strong> Flucht abgeraten. Das Kriegsgericht hat<br />

die Entscheidung bestimmt reifl ich überdacht.»<br />

«Katte hat mit <strong>der</strong> aufgehenden Sonne tramieret, und das Gericht<br />

hält es wohl auch mit meinem Sohn.»<br />

Er schwieg und sagte leise: «Ich muss an die Zukunft Preußens<br />

denken: Wenn Katte zu lebenslanger Haft verurteilt wird, dann<br />

wird er nach meinem Tod sofort in die Freiheit entlassen, und er<br />

und mein Sohn belustigen sich über mich. Wenn ich das Urteil<br />

akzeptiere, mache ich mich vor den europäischen Höfen lächerlich,<br />

<strong>der</strong> Fluchtplan wird dann als Kin<strong>der</strong>spiel betrachtet, und, was<br />

noch schlimmer ist, mein Sohn wird durch die Inhaftierung seines<br />

Freundes nicht auf den richtigen Weg gebracht. Er hat jetzt in<br />

Küstrin viel Zeit zum Nachdenken und weiß hoffentlich, dass er<br />

am Scheideweg steht: Entwe<strong>der</strong> er begreift endlich den Ernst des<br />

Lebens und erkennt, welche Pfl ichten ihn als König erwarten, o<strong>der</strong><br />

er beschließt, sein lie<strong>der</strong>liches Leben fortzuführen.»<br />

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: «Eine harte<br />

Strafe ist die einzige Möglichkeit, um <strong>Friedrich</strong> an seine Pfl ichten<br />

als künftiger König zu erinnern. Katte wird hingerichtet, und<br />

<strong>Friedrich</strong> wird dieser Hinrichtung zusehen.»<br />

Der Dessauer erschrak, starrte den König an und rief: «Majestät,<br />

ich beschwöre Sie, ersparen Sie Ihrem Sohn den Anblick <strong>der</strong><br />

Hinrichtung. Niemand weiß, wie ein junger Mensch es verkraftet,<br />

wenn <strong>der</strong> beste Freund vor seinen Augen hingerichtet wird. Majestät,<br />

Ihr Sohn kann daran zerbrechen, seine Seele kann zerstört<br />

624


werden, wollen Sie dies? Ist dies eine gute Voraussetzung für die<br />

weitere Entwicklung Preußens?»<br />

«Reden Sie keinen Unsinn, Zerstörung <strong>der</strong> Seele, das ist doch<br />

lächerlich. Der Bengel muss endlich den Ernst des Lebens kennenlernen.<br />

Er wird <strong>der</strong> Hinrichtung zusehen, dann wird <strong>der</strong> Feldprediger<br />

Müller, <strong>der</strong> Katte auf seinem letzten Gang begleitet, versuchen,<br />

meinen Sohn davon zu überzeugen, dass die Lehre von <strong>der</strong><br />

Prädestination Unsinn und Humbug ist. <strong>Friedrich</strong> wird nach <strong>der</strong><br />

Hinrichtung nicht mehr lange in <strong>der</strong> Festung bleiben, son<strong>der</strong>n sich<br />

auf seine künftigen Aufgaben vorbereiten, er wird in <strong>der</strong> Domänenkammer<br />

als Auskultator arbeiten, ich werde ihn mir unterwerfen<br />

und seine Entwicklung genau verfolgen.»<br />

Er klingelte dem Sekretär und begann, das Todesurteil zu diktieren.<br />

Der Dessauer stand am Fenster. Ihm war klar, dass es zwecklos<br />

war, den König von seinem Plan abbringen zu wollen, und er hörte<br />

die Sätze, die <strong>der</strong> König diktierte: «Was den Leutnant von Katte<br />

und dessen Verbrechen und das vom Kriegsgericht gefällte Urteil<br />

anlangt, so sind Seine Königliche Majestät zwar nicht gewohnt, die<br />

Kriegsrechte zu schärfen, son<strong>der</strong>n vielmehr, wo immer möglich, zu<br />

mil<strong>der</strong>n. Dieser Katte ist aber nicht nur in meinen Diensten Offi zier<br />

bei <strong>der</strong> Armee, son<strong>der</strong>n auch bei dem Gar<strong>der</strong>egiment Gendarmes.<br />

Und da bei <strong>der</strong> ganzen Armee meine Offi ziere mir getreu und hold<br />

sein müssen, so muss solches umso mehr geschehen von den Offi<br />

zieren solcher Regimenter, die Seiner Königlichen Majestät und<br />

<strong>der</strong>o Königlichem Hause persönlich attachiert sind. Da aber dieser<br />

Katte mit <strong>der</strong> künftigen Sonne tramieret, mit fremden Ministern<br />

und Gesandten die Desertion vorbereitete, und da er nicht dafür da<br />

war, mit dem Kronprinzen zu komplottieren, son<strong>der</strong>n im Gegenteil<br />

es Seiner Königlichen Majestät und dem Herrn Generalfeldmarschall<br />

von Natzmer sogleich hätte melden müssen, so weiß Seine<br />

Königliche Majestät nicht, warum ihm das Kriegsgericht nicht das<br />

Leben abgesprochen hat.<br />

Seine Königliche Majestät werden auf diese Art sich auf keinen<br />

Offi zier noch Diener, die in Eid und Pfl icht stehen, in Zukunft verlassen<br />

können. Denn solche Sachen, wenn sie einmal in <strong>der</strong> Welt<br />

geschehen, können öfters vorkommen. Es würden aber dann alle<br />

625


Täter den Vorwand nehmen, wie es dem Katte ergangen wäre und<br />

dass ihnen – weil <strong>der</strong> so leicht und gut durchgekommen wäre – <strong>der</strong>gleichen<br />

auch geschehen müsste.<br />

Seine Königliche Majestät sind in <strong>der</strong>o Jugend auch durch die<br />

Schule gelaufen und haben das lateinische Sprichwort gelernt: Fiat<br />

iustitia et pereat mundus: Die Gerechtigkeit muss leben, und wenn<br />

die Welt zugrunde geht.<br />

Also wollen Seine Königliche Majestät hiermit, und zwar von<br />

Rechts wegen, dass <strong>der</strong> Katte, obschon er nach dem Gesetz verdient<br />

habe, wegen des begangenen Majestätsverbrechens mit glühenden<br />

Zangen gerissen und aufgehängt zu werden, er dennoch nur – in<br />

Ansehung seiner Familie – mit dem Schwert vom Leben zum Tod<br />

gebracht werden soll.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg und ging nachdenklich hin und her.<br />

Der Dessauer betrachtete die ernste Miene des Königs, in <strong>der</strong><br />

sich we<strong>der</strong> Wut noch Zorn spiegelten, son<strong>der</strong>n eine gewisse Andacht<br />

und auch Verantwortung.<br />

Juristisch hat <strong>der</strong> König Recht, sinnierte <strong>der</strong> Dessauer, aber müsste<br />

er nicht auch bei sich die Schuld suchen? Sein Verhalten gegenüber<br />

dem Sohn hat diesen zur Flucht getrieben, und <strong>der</strong> Kronprinz hat Katte<br />

zur Flucht überredet. Eine Begnadigung würde das an dem Sohn<br />

begangene Unrecht wie<strong>der</strong>gutmachen, warum straft er den Sohn erneut?<br />

Ahnt er, dass <strong>der</strong> Sohn ihm vielleicht überlegen ist? Nach allem,<br />

was man hört, hat <strong>der</strong> Prinz in den Verhören klug geantwortet.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Stimme unterbrach seine Gedanken.<br />

«Wenn das Kriegsgericht dem Katte die Sententz publiciret, soll<br />

ihm gesagt werden, dass Sr. Königl. Majest. es leydt thäte, es wäre<br />

aber besser, dass er stürbe als dass die Justiz aus <strong>der</strong> Welt käme.<br />

Wusterhausen d. 1. November 1730.»<br />

Der König las das Urteil noch einmal, dann tauchte er die Fe<strong>der</strong><br />

in das Tintenfass und unterschrieb. Der Sekretär siegelte den Brief<br />

und verließ das Zimmer.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging zu dem Dessauer, und die beiden Männer<br />

sahen sich schweigend an.<br />

Der letzte Satz, dachte <strong>der</strong> Dessauer, beweist, dass er von <strong>der</strong> moralischen<br />

Richtigkeit des Urteils überzeugt ist, er möchte um jeden<br />

Preis seine Pfl ichten als König vor Gott erfüllen.<br />

626


Er sah dem Freund in die Augen: «Majestät, das Urteil ist unterschrieben<br />

und auf dem Weg nach Berlin. Wie werden Sie reagieren,<br />

wenn <strong>der</strong> Prinz <strong>Friedrich</strong> sich trotz des Todes seines Freundes nicht<br />

än<strong>der</strong>t?»<br />

«Mein Gefühl sagt mir, dass diese Hinrichtung eine Zäsur in<br />

seinem Leben sein wird, er wird anfangen nachzudenken, weil er<br />

intelligent ist, das haben die Verhöre bewiesen. Ich glaube, dass er<br />

die Anlagen zu einem verantwortungsvollen Herrscher hat, nun,<br />

ich werde ihn genau beobachten lassen, entwe<strong>der</strong> er bewährt sich<br />

jetzt, o<strong>der</strong> nie.»<br />

Während <strong>der</strong> König das Todesurteil diktierte, saß <strong>Friedrich</strong> in seinem<br />

Zimmer und schrieb einen Brief an Wilhelmine:<br />

Liebe Schwester.<br />

welche Freude für mich, dass we<strong>der</strong> Riegel noch Eisengitter mich hin<strong>der</strong>n<br />

können, Dir meine treue Freundschaft zu bezeugen. Ja, teure<br />

Schwester, es fi nden sich noch rechtschaffene Leute in diesem fast<br />

ganz verdorbenen Zeitalter, die es mir möglich machen, Dir meine<br />

Verehrung kundzugeben. Ja, teure Schwester, wenn ich nur weiß, dass<br />

du glücklich bist, werde ich im Gefängnis froh und zufrieden sein.<br />

Ich wünschte von Grund meines Herzens, dass ich keinen Vermittler<br />

nötig hätte, um mit Dir zu sprechen, und dass jene glücklichen Tage<br />

zurückkehrten, wo Dein Principe und meine Principessa sich küssten,<br />

o<strong>der</strong>, um deutlicher zu sprechen, wo ich das Vergnügen haben werde,<br />

Dich selbst zu unterhalten und Dir zu versichern, dass nichts in <strong>der</strong><br />

Welt meine Freundschaft für Dich vermin<strong>der</strong>n kann. Lebe wohl.<br />

Der Gefangene.<br />

Er legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite und betrachtete die Bücher auf dem<br />

Tisch.<br />

Meine Gefangenschaft war während <strong>der</strong> letzten Wochen zu ertragen,<br />

dachte er, ich besitze Bücher, Schreibzeug, man schickt mir<br />

jeden Tag eine gute Mahlzeit und Wein, das Einzige, was mir fehlt,<br />

ist ein Gesprächspartner. Gewiss, Münchow kommt, wenn er Zeit<br />

hat, aber unsere Gespräche dauern nicht lange: Er teilt mir mit, was<br />

er weiß, aber das ist nicht viel. Immerhin konnte er mir sagen, dass<br />

627


Mama und Wilhelmine mich nicht vergessen haben, aber er kann<br />

über Hermann nichts in Erfahrung bringen. Ist dies ein gutes o<strong>der</strong><br />

ein schlechtes Zeichen? Nun, schlechte Nachrichten erfährt man<br />

immer, also ist es ein gutes Zeichen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Die<br />

Nachtlampe verbreitete ein diffuses Licht im Zimmer, und dann<br />

hörte er die Schläge <strong>der</strong> Standuhr.<br />

Mitternacht, dachte er, jetzt ist <strong>der</strong> 5. November, Katte ist unterwegs<br />

nach Küstrin, in ungefähr zwölf Stunden wird er dort eintreffen,<br />

es bleiben ihm <strong>der</strong> Nachmittag, <strong>der</strong> Abend und die Nacht,<br />

um sich auf den Tod vorzubereiten. Er soll das Urteil sehr gefasst<br />

angehört haben.<br />

Er dachte an die Briefe des Vaters und des Großvaters, die um das<br />

Leben des jungen Mannes baten, und erinnerte sich an seine kurze<br />

Antwort auf das Schreiben des Vaters: «Sein Sohn ist ein Schurke,<br />

meiner auch, also was können die Vaters davor?»<br />

Er erinnerte sich an die Worte des Dessauers: «Ihr Sohn<br />

kann innerlich daran zerbrechen, seine Seele kann zerstört werden<br />

…»<br />

Wenn ich jetzt einen Eilkurier losschicke mit dem Befehl, das<br />

Urteil nicht zu vollstrecken, könnte er noch rechtzeitig in Küstrin<br />

ankommen o<strong>der</strong> Katte und seine Begleiter unterwegs treffen …<br />

Er sah den Eilkurier förmlich vor sich und versank dabei in einen<br />

Halbschlaf. Als er erneut erwachte, war es sechs Uhr.<br />

Jetzt ist es zu spät, dachte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, meine nächtlichen<br />

Gedanken waren Hirngespinste, die Gerechtigkeit muss in <strong>der</strong><br />

Welt bleiben.<br />

<strong>Friedrich</strong> stand in <strong>der</strong> Mitte seines Zimmers in <strong>der</strong> Festung, betrachtete<br />

die Möbel aus Fichtenholz und atmete auf. Ich bin frei,<br />

dachte er, meine Gefangenschaft ist zu Ende, für mich beginnt jetzt<br />

ein neuer Abschnitt meines Lebens.<br />

Er eilte hinunter in den Hof zu <strong>der</strong> Kutsche und blieb erstaunt<br />

stehen.<br />

Träume ich, dachte er, <strong>der</strong> junge Mann auf dem Kutschersitz, das<br />

ist Hermann …<br />

628


Er wollte zu dem Freund eilen und spürte entsetzt, dass er seine<br />

Füße nicht bewegen konnte.<br />

Er versuchte zu gehen, und im gleichen Augenblick wusste er,<br />

dass er träumte. Er hörte eine vertraute Stimme: «Königliche Hoheit»,<br />

und versuchte, aus dem Traum zu erwachen. Es dauerte eine<br />

Weile, und dann sah er, dass auf dem Tisch eine Kerze brannte, und<br />

er erkannte in dem schwachen Licht Lepel und Münchow.<br />

Er richtete sich auf und sah die Männer erstaunt an: «Ist etwas<br />

passiert? Wie spät ist es?»<br />

«Fünf Uhr, Königliche Hoheit», antwortete Lepel.<br />

«Fünf Uhr, dann ist heute <strong>der</strong> 6. November.»<br />

Der 6. November, dachte er, vor einem Jahr wurde Katte mein<br />

Gesellschafter. Er dachte an den Traum und fragte: «Warum werde<br />

ich so früh geweckt? Werde ich entlassen?»<br />

Lepel und Münchow sahen einan<strong>der</strong> verlegen an. Dann sagte Lepel:<br />

«Königliche Hoheit, Sie werden die Festung in zwei o<strong>der</strong> drei<br />

Wochen verlassen und eine eingeschränkte Freiheit genießen, vorher<br />

allerdings …»<br />

Er sah verlegen vor sich hin, dann straffte er sich: «Königliche<br />

Hoheit, ich muss Ihnen eine traurige Nachricht überbringen: In<br />

zwei Stunden, um sieben Uhr, wird Ihr Freund, <strong>der</strong> Leutnant von<br />

Katte, im Hof hingerichtet werden. Sie sollen am Fenster stehen<br />

und <strong>der</strong> Hinrichtung zusehen, das ist ein Befehl Seiner Majestät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte den Kommandanten an, und es dauerte einige<br />

Sekunden, bis er die Worte begriff.<br />

«Katte soll hingerichtet werden? Nein, das darf nicht sein, warum<br />

wird er zum Tod verurteilt? Er ist doch kein Verbrecher!»<br />

Lepel sah Münchow an und erwi<strong>der</strong>te zögernd: «Königliche Hoheit,<br />

Seine Majestät berief ein Kriegsgericht, das über Sie, Königliche<br />

Hoheit, über die Leutnants von Katte, von Keith, von Spaen<br />

und von Ingersleben urteilen sollte. Dieses Gericht hat Sie, Königliche<br />

Hoheit, dem Urteil Seiner Majestät überlassen, die Offi ziere<br />

fühlten sich nicht befugt, über den künftigen König zu richten. Sie<br />

verurteilten den Leutnant von Katte zu lebenslänglicher Haft. Der<br />

König wies das Urteil zurück, aber das Kriegsgericht war zu einer<br />

Än<strong>der</strong>ung nicht bereit. Daraufhin verschärfte Seine Majestät das<br />

Urteil von lebenslänglicher Haft zum Tod.»<br />

629


<strong>Friedrich</strong> stand auf und ging unruhig auf und ab: «Das Urteil<br />

ist ungerecht, Katte riet mir, nicht zu fl iehen, ich überredete ihn,<br />

mir zu helfen. Mein Gott, ich bin schuld an seinem Tod! Nein,<br />

er darf nicht sterben, ich bitte Sie, schicken Sie einen Kurier zum<br />

König, mein Freund darf nicht sterben. Warten Sie, ich schreibe an<br />

den König, ich bin bereit, auf meine Erbrechte zu verzichten, wenn<br />

er meinen Freund begnadigt, ich bin bereit, für ihn zu sterben,<br />

und wenn <strong>der</strong> König dies nicht akzeptiert, so will ich mit meinem<br />

Freund zusammen hingerichtet werden.»<br />

Er setzte sich an den Tisch und tauchte die Fe<strong>der</strong> in das Tintenfass.<br />

Lepel ging zu ihm und sagte vorsichtig: «Königliche Hoheit, Seine<br />

Majestät hat wahrscheinlich lange über dieses Todesurteil nachgedacht,<br />

ich bin ein Offi zier Seiner Majestät und kann die Vollstreckung<br />

des Urteils nicht verhin<strong>der</strong>n. Ich bin dem König zum<br />

Gehorsam verpfl ichtet, was würden Sie von einem Offi zier denken,<br />

<strong>der</strong> dem König den Gehorsam verweigert?»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Lepel an: «Ein Offi zier, <strong>der</strong> dem regierenden König<br />

den Gehorsam verweigert, wird ihn vielleicht auch dem künftigen<br />

König verweigern, ich verstehe Sie, aber mon Dieu, mein Freund<br />

muss gerettet werden.»<br />

Lepel sah <strong>Friedrich</strong> an, überlegte, wie er ihm helfen konnte, und<br />

sagte: «Königliche Hoheit, ich weiß, was diese Hinrichtung für Sie<br />

bedeutet. Wir haben Sie so früh geweckt, damit Sie sich in Ruhe<br />

innerlich darauf vorbereiten können. Wir lassen Sie jetzt allein,<br />

Oberst von Reichenbach wird sich diskret hier aufhalten, um Ihre<br />

Wünsche zu erfüllen.»<br />

Lepel und Münchow verließen das Zimmer, und fast gleichzeitig<br />

erschien <strong>der</strong> Oberst.<br />

«Königliche Hoheit, darf ich Ihnen Kaffee bringen lassen, Brot,<br />

Butter, Konfi türe?»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte den Oberst an.<br />

Unglaublich, dachte er, mein bester Freund wird in zwei Stunden<br />

hingerichtet, und er denkt an Frühstück!<br />

«Danke, ich möchte keinen Kaffee.»<br />

Er setzte sich auf das Bett und versuchte, seine Gedanken zu<br />

ordnen.<br />

630


Ich bin schuld an seinem Tod, dachte er, ich bin schuld.<br />

Er hörte die Schläge einer Uhr, spürte, dass sein Herz sich vor<br />

Angst verkrampfte, und gleichzeitig merkte er, dass ein Gefühl von<br />

innerer Leere in ihm aufstieg, er fühlte sich allein und verlassen.<br />

Wenn Hermann tot ist, dachte er, dann habe ich keinen Menschen<br />

mehr, dem ich mich anvertrauen kann, er hat mich immer<br />

verstanden. Gewiss, auch mit Wilhelmine konnte ich über alles reden,<br />

was mich bewegte, aber sie wird irgendwann heiraten und fern<br />

von mir leben.<br />

Als die Uhr erneut schlug, zählte er die Schläge und wusste, dass<br />

es nur noch eine halbe Stunde bis zur Hinrichtung war.<br />

Er stand auf, ging zu dem Fenster und umklammerte mit den<br />

Händen die Gitterstäbe. Dann hörte er Reichenbachs Stimme:<br />

«Königliche Hoheit, wenn Sie es wünschen, dann bete ich mit Ihnen.»<br />

«Nein, Gebete helfen mir jetzt nicht.»<br />

Er beobachtete, wie <strong>der</strong> Himmel heller wurde, und plötzlich<br />

keimte eine Hoffnung in ihm.<br />

Es ist schon öfter passiert, dachte er, dass kurz vor <strong>der</strong> Hinrichtung<br />

ein Bote kam und ein Schreiben überbrachte, worin <strong>der</strong> Verurteilte<br />

begnadigt wurde, vielleicht kommt ein Bote.<br />

Die Uhr begann erneut zu schlagen, und fast gleichzeitig betraten<br />

Lepel und Münchow das Zimmer.<br />

«Königliche Hoheit …»<br />

<strong>Friedrich</strong> fuhr herum: «Ist ein Kurier eingetroffen?»<br />

Lepel und Münchow sahen einan<strong>der</strong> erstaunt an: «Nein, Königliche<br />

Hoheit.»<br />

Sie traten hinter ihn, und <strong>Friedrich</strong> klammerte sich an die Gitterstäbe.<br />

Nach einer Weile hörte er einen dumpfen Trommelschlag, <strong>der</strong><br />

immer näher kam.<br />

Er sah Soldaten, und dann kam Katte in Begleitung eines Predigers.<br />

Katte ging ruhig zur Mitte des Platzes, und in diesem Augenblick<br />

konnte <strong>Friedrich</strong> sich nicht länger beherrschen und rief: «Hermann,<br />

ich bitte dich um Verzeihung, ich bitte dich tausendmal um<br />

Verzeihung. Bitte, vergib mir meine Schuld!»<br />

631


Katte sah auf und erschrak, als er den Kronprinzen sah. Das<br />

wusste ich nicht, dachte er, und rief: «Keine Verzeihung, meine<br />

Prinz, ich sterbe mit Freuden für Sie!»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte durch die Gitterstäbe, er sah, wie Katte die Perücke<br />

abnahm und eine weiße Mütze über seinen Kopf zog.<br />

Er hörte die Verlesung des Urteils, sah, wie <strong>der</strong> Prediger den<br />

Freund segnete, er sah, dass dem Freund <strong>der</strong> Rock ausgezogen wurde<br />

und er den Hemdkragen weit öffnete, und dann hörte er Kattes<br />

Stimme: «Herr Jesu, dir lebe ich.»<br />

Er sah, dass <strong>der</strong> Gehilfe des Henkers dem Freund die Augen verbinden<br />

wollte und dass Katte ihn wegschob.<br />

Er spürte, dass seine Hand kraftlos wurde, und hörte die Stimme<br />

des Freundes: «Herr Jesu, dir lebe ich …»<br />

Er sah, wie <strong>der</strong> Henker das Schwert hob, und sank ohnmächtig<br />

zu Boden.<br />

632


DRITTER TEIL<br />

(1731–1740)<br />

1. Kapitel


1<br />

Am 1. Januar 1731 spannte sich über Küstrin ein wolkenloser<br />

Himmel, und unter den Strahlen <strong>der</strong> kalten Wintersonne glitzerte<br />

<strong>der</strong> gefrorene Schnee auf den Dächern und Straßen.<br />

Als <strong>der</strong> Mittag eingeläutet wurde, betrat <strong>Friedrich</strong> in Begleitung<br />

von drei Herren das Speisezimmer seiner Küstriner Wohnung. Sie<br />

gingen zu ihren Plätzen an dem runden Eichentisch, dann sprach<br />

<strong>der</strong> Hofmarschall von Wolden das Tischgebet.<br />

<strong>Friedrich</strong>s Augen wan<strong>der</strong>ten von dem beleibten älteren Hofmarschall<br />

zu den beiden jungen Kammerjunkern von Natzmer und<br />

Rohwedell, und dann betrachtete er missmutig das Zinngeschirr<br />

auf dem Tisch.<br />

«Amen», sagte Wolden. Sie setzten sich und sahen einan<strong>der</strong><br />

schweigend an.<br />

«Was für ein herrlicher Wintertag», sagte <strong>der</strong> Hofmarschall nach<br />

einer Weile, «ich deute es als gutes Omen für das neue Jahr», und<br />

zu <strong>Friedrich</strong>: «Königliche Hoheit, hätten Sie nicht Lust zu einem<br />

Spazierritt?»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Ein Ritt zum Stadttor, dort wenden<br />

wir die Pferde und reiten zurück zu unserem schlichten Bürgerhaus.<br />

Nein danke, auf diesen Ritt verzichte ich. Ja, wenn wir die<br />

Stadt verlassen dürften und über die Wiesen und Fel<strong>der</strong> galoppieren<br />

könnten, aber dies ist verboten, wie so viele Dinge. Ich würde<br />

gerne auf <strong>der</strong> O<strong>der</strong> Schlittschuh laufen, aber auch dieses Vergnügen<br />

hat <strong>der</strong> König untersagt, wahrscheinlich befürchtet er, dass ich<br />

über den Fluss entfl iehen könnte, mon Dieu, er müsste inzwischen<br />

wissen, dass ich an keine Flucht mehr denke.»<br />

Wolden beugte sich etwas vor.<br />

«Königliche Hoheit, Seine Majestät möchte Sie langsam an die<br />

Freiheit gewöhnen.»<br />

«Freiheit, eine Freiheit, die nur aus Verboten besteht!»<br />

Ein Diener betrat unauffällig das Zimmer und balancierte vorsichtig<br />

ein Tablett mit vier Kristallschalen und einer Flasche Champagner<br />

zum Tisch.<br />

634


Während er einschenkte, sahen die Kammerjunker und <strong>der</strong><br />

Hofmarschall einan<strong>der</strong> befremdet an, und <strong>Friedrich</strong> hob genüsslich<br />

sein Glas.<br />

«Meine Herren, trinken wir auf das Jahr 1731!»<br />

Wolden hob zögernd die Kristallschale.<br />

«Königliche Hoheit, Champagner ist verboten.»<br />

«Ich weiß. Jetzt werden Austern serviert, auch sie sind verboten,<br />

ebenso wie <strong>der</strong> Kapaun, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Küche brutzelt, und <strong>der</strong> französische<br />

Rotwein, den wir dazu trinken. Wir werden künftig noch<br />

öfter verbotene Delikatessen genießen können, nun ja, <strong>der</strong> Himmel<br />

ist hoch, und Potsdam ist weit.»<br />

Die Austern wurden serviert, und <strong>Friedrich</strong> beobachtete amüsiert,<br />

dass die Herren mit Genuss die Meeresfrüchte verspeisten.<br />

Wolden lehnte sich aufatmend zurück, trank einen Schluck<br />

Champagner und sagte zu <strong>Friedrich</strong>: «Sie haben recht, Königliche<br />

Hoheit, unser Alltag hier ist so trist, man sollte sich hin und wie<strong>der</strong><br />

etwas gönnen, allerdings, wer bezahlt diese Delikatessen?»<br />

«Unser Budget wird nicht belastet», und die Herren hörten erstaunt<br />

den bitteren Unterton in <strong>der</strong> Stimme des Kronprinzen.<br />

«Verbote», sagte <strong>Friedrich</strong>, «meine sogenannte Freiheit besteht<br />

nur aus Verboten: keine Bücher, nur die Bibel, das Gesangbuch und<br />

Arnds ‹Wahres Christentum›; keine Flöte, kein Tanz, ich darf keinen<br />

Menschen besuchen, keine Gäste laden, ich darf mit meinen<br />

Geschwistern nicht korrespondieren, darf meiner Mutter nur einmal<br />

im Monat schreiben, sogar <strong>der</strong> Inhalt unserer Tischgespräche<br />

ist festgelegt – wir dürfen über das göttliche Wort reden, über die<br />

Landesverfassung, Manufakturen, Polizeisachen, Bestellung des<br />

Landes, Verpachtungen, Prozessordnungen und so weiter. Es ist<br />

mir sogar verboten, mich mit Ihnen über innen- und außenpolitische<br />

Entwicklungen zu unterhalten; damit nicht genug, lehnte<br />

<strong>der</strong> König mein Projekt über die Verbesserung <strong>der</strong> Spinnwerke ab,<br />

er wollte nicht glauben, dass ich diesen Plan selbständig erarbeitete,<br />

und bezeichnete meinen Vorschlag als Wind und blauen Dunst!»<br />

Eine Weile sprach niemand ein Wort, dann begann Wolden<br />

vorsichtig: «Königliche Hoheit, wir alle hier verstehen Ihre Unzufriedenheit,<br />

auch wir sehnen uns nach mehr Freiheit, aber Seine<br />

Majestät hat ausdrücklich angeordnet, dass Küstrin nicht <strong>der</strong> Ort<br />

635


sei, sich zu vergnügen, son<strong>der</strong>n etwas zu lernen. Ich erlaube mir,<br />

Eure Königliche Hoheit daran zu erinnern, wie glücklich Sie waren,<br />

als Sie die Festung im vergangenen November verlassen durften<br />

und in dieses Haus übersiedelten. Damals waren Sie lustig wie<br />

ein Buchfi nk.»<br />

«Ich hoffte, dass <strong>der</strong> König mir zum Jahreswechsel mehr Freiheiten<br />

einräumen würde, überdies bin ich ja bereit, zu lernen und<br />

mich mit ökonomischen Fragen zu beschäftigen, aber Arbeit und<br />

Vergnügen schließen einan<strong>der</strong> nicht aus. Und für mich ist eine<br />

geistreiche Unterhaltung ein Vergnügen par excellence, es ist sogar<br />

ein Vergnügen, das keinen Pfennig kostet.»<br />

Wolden lächelte: «Königliche Hoheit, Sie unterhalten sich mit<br />

Herrn von Natzmer oft über politische Angelegenheiten, und was<br />

mich betrifft, so habe ich nichts dagegen.»<br />

Ein Diener trug zwei gebratene Kapaune auf, Schüsseln mit<br />

Grünkohl, Rosenkohl, Rotkohl und warmes, duftendes Weißbrot.<br />

Ein an<strong>der</strong>er Diener stellte einige Flaschen Rotwein auf den Tisch,<br />

goss etwas Wein in <strong>Friedrich</strong>s Zinnbecher und sagte: «Die Flaschen<br />

wurden vor zwei Stunden geöffnet, wie Sie es befahlen, Königliche<br />

Hoheit.»<br />

Wolden beobachtete, wie <strong>der</strong> Diener das Gefl ügel tranchierte,<br />

und als sie allein waren, sagte er zu <strong>Friedrich</strong>: «Mit Verlaub, Königliche<br />

Hoheit, es geht mich nichts an, aber wie kommen diese<br />

Delikatessen auf unsere sparsame Tafel?»<br />

<strong>Friedrich</strong>s Augen wan<strong>der</strong>ten von Wolden zu Natzmer und Rohwedell,<br />

dann lächelte er spöttisch: «Herr von Hille hat den Burgun<strong>der</strong><br />

geschickt, Herr von Münchow die Kapaune, <strong>der</strong> Champagner<br />

und die Austern sind ein Neujahrsgeschenk des Ministers von<br />

Grumbkow.»<br />

Der Hofmarschall und die Kammerjunker sahen einan<strong>der</strong> erstaunt<br />

an, und dann sagte Wolden langsam: «Der Kammerpräsident<br />

von Münchow, das kann ich verstehen, man hört, dass er Eurer<br />

Königlichen Hoheit die Wochen in <strong>der</strong> Festung erleichtert hat,<br />

allerdings staune ich über den Minister von Grumbkow: Wenn er<br />

uns verbotene Delikatessen schickt, so ist das Ungehorsam gegenüber<br />

dem König; befürchtet er nicht, dass Seine Majestät davon<br />

erfährt?»<br />

636


«Küstrin ist eine verschwiegene Stadt», sagte Natzmer und nagte<br />

genüsslich an einem Knochen.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete nachdenklich die Herren: «Ein Minister<br />

wie <strong>der</strong> Herr von Grumbkow hätte auch Champagner und Austern<br />

geschickt, wenn Küstrin keine verschwiegene Stadt wäre,<br />

Herr von Grumbkow denkt, wie beim Schachspiel, immer mehrere<br />

Züge voraus: Niemand weiß, wie lange <strong>der</strong> König noch lebt, heute<br />

bin ich Kronprinz, morgen kann ich König sein, das ist zwar unwahrscheinlich,<br />

aber <strong>der</strong> engste Ratgeber des Königs denkt bereits<br />

jetzt an die Zukunft, das ist verständlich, und ich nehme seine Geschenke<br />

an, weil ich ihn nicht verärgern möchte.»<br />

Das wäre unklug in meiner gegenwärtigen Lage, dachte er im<br />

Stillen. Er schwieg, und seine Tischnachbarn sahen einan<strong>der</strong> verunsichert<br />

an. <strong>Friedrich</strong> fragte sich, ob er das, was ihn jetzt bewegte,<br />

aussprechen sollte, aber diese drei Männer waren loyal, und irgendwann<br />

würde es sich ergeben, dass sie in <strong>der</strong> Stadt und im Umkreis<br />

erzählten, was <strong>der</strong> künftige König über Loyalität dachte.<br />

«Meine Herren, ich weiß, dass viele Offi ziere und Beamte wegen<br />

des Konfl iktes zwischen meinem Vater und mir unsicher wurden,<br />

wem sie Gehorsam schulden, dem regierenden König o<strong>der</strong> dem<br />

künftigen König; meine Herren, für mich ist <strong>der</strong> Gehorsam gegenüber<br />

dem regierenden König die oberste Pfl icht jedes Untertanen,<br />

dieser absolute Gehorsam gegenüber dem regierenden König wird<br />

dazu führen, dass man auch den künftigen Königen gehorcht, und<br />

dies allein ist wichtig für den preußischen Staat.»<br />

Der Hofmarschall und die Kammerjunker sahen einan<strong>der</strong> erstaunt<br />

an.<br />

Wolden überlegte: Der Balanceakt zwischen Vater und Sohn<br />

wird hoffentlich etwas einfacher nach den letzten Äußerungen des<br />

Kronprinzen, allerdings, wer weiß, wie er sich als König gegenüber<br />

den Männern verhält, die jetzt dem Vater bedingungslos gehorchen.<br />

«Königliche Hoheit, erlauben Sie, dass ich Ihre Worte über den<br />

bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem regierenden König<br />

Seiner Majestät mitteile?»<br />

«Ja, aber ich bezweifele, dass meine Worte uns zu größerer Freiheit<br />

verhelfen.»<br />

637


«Seine Majestät misstraut Ihnen, Königliche Hoheit. In seinen<br />

Briefen bezweifelt <strong>der</strong> König, dass Sie sich ernsthaft für die Verwaltung<br />

des Staates interessieren.»<br />

«Ich weiß, man muss Geduld haben, obwohl mir Geduld manchmal<br />

schwerfällt.»<br />

Während sie im Salon Kaffee tranken, überbrachte ein Kurier<br />

einen Brief für den Hofmarschall.<br />

Wolden las und sagte zögernd: «Königliche Hoheit, lei<strong>der</strong> gibt es<br />

keine guten Nachrichten aus Berlin. Im letzten Brief bat ich Seine<br />

Majestät um die Erlaubnis, an Ihrem Geburtstag ein kleines Fest zu<br />

arrangieren, ein Abendessen mit wenigen Gästen, ich dachte dabei<br />

an die Herren Münchow und Hille mit ihren Gemahlinnen, <strong>der</strong><br />

König hat meine Bitte abgelehnt. Ich bat auch, Ihnen etwas mehr<br />

Lektüre zu erlauben, Seine Majestät antwortet, wenn Sie Lust hätten<br />

zu lesen, so sollten Sie im Küstriner Archiv die alten Papiere<br />

und Anschläge aus <strong>der</strong> Zeit des Kurfürsten <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und<br />

die Akten des Markgrafen Johann von Küstrin studieren. Es tut<br />

mir so leid, Königliche Hoheit, ich hätte Ihnen gerne etwas Abwechslung<br />

gegönnt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> stellte die Tasse auf den Tisch, ging hin und her und<br />

versuchte, seine Enttäuschung zu unterdrücken.<br />

Dann blieb er vor Wolden stehen: «Ich danke Ihnen, Sie tun<br />

wirklich alles, um mein Los hier zu erleichtern, nun, irgendwann<br />

wird <strong>der</strong> König uns mehr Freiheiten einräumen, mein Aufenthalt<br />

in <strong>der</strong> Festung ist Vergangenheit, auch die Monate in <strong>der</strong> Stadt<br />

Küstrin werden irgendwann Vergangenheit sein.»<br />

Einen Augenblick sprach niemand ein Wort, dann sagte Wolden<br />

zögernd: «Königliche Hoheit, hätten Sie Lust zu einem Spaziergang?<br />

Die Winterluft bringt uns vielleicht auf an<strong>der</strong>e Gedanken.»<br />

«Ich möchte am Nachmittag allein sein und mir noch einmal unser<br />

Monatsbudget ansehen, vielleicht kann man einige Ausgaben<br />

reduzieren und so Geld für an<strong>der</strong>e Ausgaben herauswirtschaften.»<br />

Er verließ das Zimmer, und <strong>der</strong> Hofmarschall und die Kammerjunker<br />

sahen einan<strong>der</strong> erstaunt an.<br />

«Mon Dieu», sagte Natzmer, «seit wann interessiert <strong>der</strong> Kronprinz<br />

sich für unser Haushaltsbudget?»<br />

«Seit wir hier wohnen», antwortete Wolden. «Der Prinz führt<br />

638


genau Buch, weil er weiß, dass <strong>der</strong> König die Abrechnungen detailliert<br />

überprüft, bei <strong>der</strong> zweiten Abrechnung entschuldigte er<br />

sich sogar, dass er die Butter zu teuer bezahlt habe, und nannte als<br />

Grund eine Viehseuche für die Teuerung. Entwe<strong>der</strong> er hat Angst<br />

vor dem König – allerdings dürfte er dann auch die Geschenke <strong>der</strong><br />

Herren Grumbkow, Münchow und Hille nicht annehmen –, o<strong>der</strong><br />

aber …»<br />

Er schwieg und sagte dann leise: «Wer weiß, vielleicht steckt<br />

doch ein zweiter <strong>Friedrich</strong> Wilhelm in ihm, nun, spätestens wenn<br />

er König ist, wissen wir, woran wir mit ihm sind, auch das Ausland<br />

wird dann wissen, wer in Preußen regiert, ein Philosoph o<strong>der</strong> ein<br />

zweiter Soldatenkönig.»<br />

Unterdessen saß <strong>Friedrich</strong> in seinem Zimmer und rechnete: 147<br />

Taler und 8 Groschen beträgt das monatliche Budget, davon gehen<br />

ab: 22 Taler für drei Lakaien, 7 Taler und 8 Groschen für den Koch,<br />

6 Taler und 8 Groschen für die Miete, 60 Taler für die Verpfl egung,<br />

20 Taler für Licht und Holz, 20 Taler für Schuhzeug, von dem restlichen<br />

Geld sollen unvorhergesehene Ausgaben bestritten werden.<br />

Er sah auf und sagte leise: «Das ist preußische Sparsamkeit: ein<br />

Überschuss von ungefähr 10 Talern; ich kann keine <strong>der</strong> Ausgaben<br />

reduzieren, weil Papa nur ein Minimum festgesetzt hat. Im Augenblick<br />

spielt es keine Rolle, aber irgendwann wird er mir mehr Freiheiten<br />

zubilligen. Vielleicht darf ich Gäste einladen, dann benötige<br />

ich mehr Geld; wahrscheinlich erhöht er das Budget, aber es wird<br />

auch dann zu wenig sein, ich benötige in jedem Fall mehr Geld,<br />

als er gibt. An wen kann ich mich wenden? Grumbkow? Vielleicht<br />

weiß er einen Ausweg, allerdings begebe ich mich dadurch auch in<br />

noch größere Abhängigkeit von ihm. Abhängigkeit? Solange ich<br />

Kronprinz bin; als König bin ich von niemandem mehr abhängig,<br />

als König bin ich niemandem zu Dank verpfl ichtet und kann auch<br />

Männer wie Grumbkow fallenlassen, wenn es mir beliebt. König,<br />

König <strong>Friedrich</strong> II., wie lange muss ich noch warten?»<br />

Er trat zum Fenster, beobachtete, wie Wolden und die Kammerjunker<br />

das Haus verließen und über den gefrorenen Schnee schlitterten,<br />

und sagte leise: «Mein Vater möchte mich hier in Küstrin<br />

auf meine künftigen Aufgaben als König vorbereiten, damit bin<br />

ich einverstanden, weil ich inzwischen selbst das Bedürfnis habe,<br />

639


ein guter König, nein, ein großer König zu werden, unter meiner<br />

Regierung soll Preußen zur europäischen Großmacht werden. Allerdings<br />

ist die Vorbereitung meines Vaters zu wenig, ich werde<br />

mich durch eigene Studien darauf vorbereiten, viel lesen und meine<br />

Überlegungen nie<strong>der</strong>schreiben.»<br />

Er ging zum Schreibtisch, holte aus <strong>der</strong> untersten Schublade<br />

ein dickes Heft, öffnete es, tauchte die Fe<strong>der</strong> in das Tintenfass und<br />

schrieb langsam auf die erste Seite:<br />

Mein Tagebuch.<br />

640<br />

Küstrin, 1. Januar 1731<br />

Ich werde ab jetzt bis zu meiner Thronbesteigung ein Tagebuch<br />

führen, diesen Blättern kann ich offen anvertrauen, was mich bewegt;<br />

einen Menschen, einen Freund, mit dem ich über alles reden<br />

kann, habe ich nicht mehr seit Hermanns Tod. Meinem Vater<br />

gegenüber muss ich mich verstellen, wenn ich überleben will, bei<br />

meiner Umgebung ist Verstellung notwendig, damit ich nicht ausgenutzt<br />

werde, sie können ruhig in mir den Philosophen, Verseschmied<br />

und Flötenspieler sehen, so kann ich mich in aller Ruhe<br />

auf meine künftigen Regierungsaufgaben vorbereiten. Eine gründliche<br />

Vorbereitung ist notwendig, das habe ich während <strong>der</strong> vergangenen<br />

Wochen gelernt.<br />

Das Tagebuch soll mir auch helfen, meine Schuld gegenüber<br />

meinem toten Freund zu verarbeiten, ja, ich bin schuld daran, dass<br />

er sterben musste.<br />

Er legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite, holte aus einer Schublade ein Schreiben,<br />

sagte leise: «Sein letzter Brief», las und sah nachdenklich vor<br />

sich hin. Er schreibt, er scheide aus dieser Welt, ohne die Schuld an<br />

seinem Tod auf mich zu schieben und ohne mir dafür zu grollen.<br />

Gott habe ihn einen rauen Weg geführt, um ihn zur wahren Buße<br />

zu erwecken. Der wahre Grund seines Unglücks sei sein Ehrgeiz<br />

und seine Gottesverachtung. Er beschwört mich, dem König wegen<br />

seiner Hinrichtung nicht zu grollen, da sein Tod lediglich ein Akt<br />

von Gottes Gerechtigkeit sei.


Ich soll mich meinem Vater unterwerfen und ihm in allen Dingen<br />

gehorchen.<br />

<strong>Friedrich</strong> schrieb weiter: Der Feldprediger Müller übergab mir diesen<br />

Brief und schil<strong>der</strong>te die Fahrt nach Küstrin. Hermann muss<br />

nach <strong>der</strong> Urteilsverkündung sehr in sich gegangen sein, <strong>der</strong> Glaube<br />

an Gott hat ihm wohl die letzten Stunden erleichtert. Als sie in<br />

Küstrin ankamen, hörte es auf zu regnen und die Sonne schien,<br />

und mein Freund sagte: «Das ist mir ein gutes Zeichen, hier wird<br />

meine Gnadensonne anfangen zu scheinen.»<br />

Während des restlichen Tages und während <strong>der</strong> halben Nacht<br />

sprach er mit Müller über religiöse Fragen und fand in diesen Gesprächen<br />

anscheinend seinen Seelenfrieden.<br />

Ich war froh, als <strong>der</strong> Prediger mir dies erzählte, aber meine<br />

Schuld bleibt nach wie vor bestehen.<br />

An jenem 6. November war ich nur einige Minuten bewusstlos,<br />

als ich erwachte, stand ich wie betäubt auf, ging zum Fenster, betrachtete<br />

das schwarze Tuch, das den leblosen Körper bedeckte, und<br />

versuchte zu begreifen, was geschehen war.<br />

Am frühen Nachmittag kamen einige Bürger, betteten den<br />

Leichnam in einen Sarg und trugen ihn zum Armenfriedhof. Später<br />

kam Müller und versuchte mich während <strong>der</strong> folgenden Tage<br />

davon zu überzeugen, dass die Prädestination eine Irrlehre sei. Irgendwann<br />

wurde mir klar, dass es tatsächlich keine Prädestination<br />

gebe und ich allein am Tod meines Freundes und meinem eigenen<br />

Unglück schuld sei.<br />

Wahrscheinlich hat Müller meinem Vater ständig über unsere<br />

Gespräche berichtet, und dann war es so weit: Am 17. November<br />

trafen Grumbkow und fünf an<strong>der</strong>e Generäle in Küstrin ein.<br />

Am nächsten Tag unterhielt Grumbkow sich lange mit mir, versicherte<br />

mir seine Ergebenheit und bot mir seine Hilfe für die Zukunft<br />

an, seinen Rat, wie ich mich in gewissen Situationen meinem<br />

Vater gegenüber verhalten solle und so weiter.<br />

Ich akzeptierte seine Hilfe, weil mir in meiner Situation nichts<br />

an<strong>der</strong>es übrigbleibt.<br />

Am 19. November erhielt ich meinen Degen zurück, allerdings<br />

ohne das Offi ziersportepee, nun, ich hoffe inständig, dass ich bald<br />

641


wie<strong>der</strong> in die Armee aufgenommen werde, in Preußen ist das Offi<br />

zierskorps nun einmal die Elite. Dann leistete ich den gefor<strong>der</strong>ten<br />

Eid, dem Willen des Königs in allen Stücken zu gehorchen, wie es<br />

einem Untertan und Sohn gebührt, ich verzichtete sogar im Voraus<br />

auf mein Erbrecht, falls ich ungehorsam sein sollte. Ich darf auch<br />

wie<strong>der</strong> mit «Königliche Hoheit» angeredet werden.<br />

Dann öffneten sich die Tore <strong>der</strong> Festung, ich bezog meine neue<br />

Wohnung und darf mich seitdem frei in <strong>der</strong> Stadt bewegen.<br />

Am 20. November begann meine Tätigkeit als Auskultator bei<br />

<strong>der</strong> Küstriner Kriegs- und Domänenkammer. Münchow und <strong>der</strong><br />

Kammerdirektor Hille sind meine «Lehrmeister».<br />

Ich sitze ganz unten am Tisch und unterzeichne die Berichte des<br />

Kollegiums.<br />

Es stört mich nicht weiter, dass ich ‹unten› sitze, weil die Herren<br />

mich täglich spüren lassen, dass ich <strong>der</strong> Kronprinz und künftige<br />

König bin. Hille ist ein angenehmer Mann, <strong>der</strong> nicht nur gründliche<br />

Kenntnisse in <strong>der</strong> Ökonomie und Verwaltung besitzt, son<strong>der</strong>n<br />

sich auch bestens in <strong>der</strong> französischen Literatur auskennt. Das Leben<br />

in <strong>der</strong> Domänenkammer ist erträglich, und allmählich interessiere<br />

ich mich für Pachtfragen und <strong>der</strong>gleichen.<br />

Mein tägliches Leben ist natürlich streng geregelt: Die Dienststunden<br />

in <strong>der</strong> Kammer dauern von sieben Uhr bis halb zwölf und<br />

von fünfzehn bis siebzehn Uhr. Ich muss den Räten zuhören, Akten<br />

studieren und Rechnungen prüfen. Am Nachmittag beschäftigt<br />

man mich mit Abschreibarbeiten, o<strong>der</strong> Hille unterrichtet mich<br />

in Volkswirtschaft, Finanzfragen und im Polizeiwesen.<br />

Ab siebzehn Uhr beginnt die Langeweile, manchmal sitzen wir<br />

(Wolden, Natzmer, Rohwedell) zusammen und schweigen uns an,<br />

manchmal ziehe ich mich zurück, um zu dichten, ich zeige Hille<br />

meine Verse, und er ist ein strenger Kritiker, er sagt, für einen<br />

Bürgerlichen seien die Verse nicht schlecht, für einen Kronprinzen<br />

jedoch sehr mittelmäßig.<br />

Wahrscheinlich hat er recht, nun, ich muss eben üben, Zeit genug<br />

habe ich, zu viel Zeit, vor allem Zeit zum Nachdenken. Meine<br />

Schuld an Kattes Tod erinnert mich an die Tragödien des Sophokles.<br />

Er stellt den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt <strong>der</strong><br />

Handlung, das Tragische tritt sowohl als Schicksal in Erscheinung,<br />

642


gegen das sich <strong>der</strong> Mensch vergeblich aufzulehnen sucht, wie als<br />

Schuld des Individuums. In seinen Dramen for<strong>der</strong>t Sophokles zur<br />

Besonnenheit auf und zum Maßhalten. Sobald <strong>der</strong> Mensch seinen<br />

Leidenschaften nachgibt, setzt er sich in Wi<strong>der</strong>spruch zur göttlichen<br />

Weltordnung und führt seinen eigenen Untergang herbei.<br />

Der Fluchtgedanke war eine Leidenschaft, die den Untergang<br />

meines besten Freundes herbeigeführt hat, und ich selbst bin dem<br />

Tode knapp entronnen.<br />

Ich will meine Schuld nicht abstreiten, aber warum konnte es so<br />

weit kommen?<br />

Dies ist <strong>der</strong> Punkt, an dem die Schuld meines Vaters beginnt.<br />

Er war besessen von dem Gedanken, mich zu seinem Ebenbild<br />

zu formen, diese Leidenschaft trieb ihn zu Schlägen und Misshandlungen<br />

und schließlich zu Kattes Todesurteil. Er hätte meinen<br />

Freund begnadigen können, aber das wäre gleichbedeutend gewesen<br />

mit einem Bekenntnis seiner Schuld mir gegenüber. Vielleicht<br />

ist es von einem Menschen zu viel verlangt, öffentlich – und in<br />

diesem Fall vor den Augen Europas – sich zu einer Schuld zu bekennen,<br />

gleichviel sieht Europa in ihm den Hauptschuldigen, das<br />

beweisen die Briefe <strong>der</strong> Höfe, worin um meine Freilassung gebeten<br />

wurde.<br />

Meine Schuld an Hermanns Tod werde ich wahrscheinlich nur<br />

langsam verarbeiten, bleibt die Frage, welche Konsequenzen ich<br />

daraus für die Zukunft ziehe.<br />

Die Antwort ist einfach, was meinen Vater betrifft: Gehorsam<br />

und Verstellung.<br />

Auch meiner Umgebung gegenüber werde ich mich verstellen,<br />

niemand soll künftig wissen, woran er mit mir ist. Niemand?<br />

Dies bedeutet, dass ich künftig auf Freundschaft verzichten werde<br />

und auf Liebe, im Augenblick denke ich, dass es in meinem Leben,<br />

in meiner Seele, in meinem Herzen keinen Platz mehr geben<br />

wird für einen an<strong>der</strong>en Menschen, vielleicht denke ich eines Tages<br />

an<strong>der</strong>s darüber, vielleicht …<br />

Er legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite, streute Sand über die Tinte, überlas die<br />

letzten Sätze und spürte plötzlich eine innere Leere, Abneigung<br />

und Ekel vor seiner Umgebung.<br />

643


Er ging hinunter in den Salon, wo <strong>der</strong> Hofmarschall und die<br />

Kammerjunker vor dem Kaminfeuer saßen und schwiegen.<br />

«Nun, meine Herren, worüber haben Sie sich unterhalten?»<br />

Wolden sah auf: «Über nichts, Königliche Hoheit.»<br />

«Das dachte ich mir fast.» Er legte Holz nach, und bis zur Abendtafel<br />

saßen sie schweigend zusammen.<br />

644


2<br />

An einem Vormittag Ende Mai 1731 saß <strong>Friedrich</strong> in <strong>der</strong> Domänenkammer<br />

unten am Tisch und las einen Brief, während Münchow<br />

und Hille ihn neugierig beobachteten.<br />

<strong>Friedrich</strong> reichte dem Präsidenten den Brief und sagte lächelnd:<br />

«Neulich sprachen Sie davon, dass Sie mir ein kleines Dezernat geben<br />

wollen, wäre jetzt nicht <strong>der</strong> richtige Augenblick? Dann könnte<br />

ich dem Kiezer Schulzen vielleicht helfen.»<br />

Münchow überfl og das Schreiben und sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an:<br />

«Mon Dieu», und in seiner Stimme schwang Bewun<strong>der</strong>ung mit,<br />

«<strong>der</strong> Schulze fühlt sich von mir ungerecht behandelt und bittet Sie<br />

um Hilfe, dies ist in <strong>der</strong> Kammer Ihre erste Amtshandlung, Königliche<br />

Hoheit. Nun, an welches Dezernat dachten Sie?»<br />

«Ich bitte um das Marinedezernat, und da die O<strong>der</strong> in die Ostsee<br />

mündet, gehört <strong>der</strong> Fall des Schulzen in mein Ressort.»<br />

Münchow und Hille sahen einan<strong>der</strong> erstaunt an, und dann lächelte<br />

<strong>der</strong> Präsident: «Ich bin einverstanden, Königliche Hoheit,<br />

und ich sehe jeden Tag mit neuer Freude, wie rasch Sie sich hier<br />

eingearbeitet haben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah nachdenklich vor sich hin und erwi<strong>der</strong>te zögernd:<br />

«Während <strong>der</strong> vergangenen Monate habe ich verstanden, warum<br />

<strong>der</strong> König sich um jedes Detail kümmert: Es ist die einzige Möglichkeit,<br />

um Probleme in Wirtschaft und Verwaltung richtig zu<br />

analysieren und eine passende Lösung zu fi nden. Jetzt endlich habe<br />

ich auch die Bedeutung des Generaldirektoriums verstanden: Mit<br />

einer zentralen Behörde kann man besser kontrollieren.»<br />

«Haben Sie schon einmal an einer Sitzung teilgenommen?»,<br />

fragte Hille.<br />

«Ja, etliche Male, meiner Meinung nach arbeiten die Herren zu<br />

langsam, und <strong>der</strong> König, <strong>der</strong> gewöhnlich Wert auf Schnelligkeit<br />

legt, toleriert dieses Schneckentempo und unterstützt es sogar. Im<br />

Winter beginnen die Sitzungen um acht Uhr, im Sommer um sieben<br />

Uhr. Bis mittags um vierzehn Uhr sollen alle Arbeiten erledigt<br />

sein. Sind sie es nicht, muss bis achtzehn Uhr weitergearbeitet wer-<br />

645


den. Die Schlossküche verabreicht dann den Herren um vierzehn<br />

Uhr ein Essen von vier Gängen nebst Wein und Bier. Nach meiner<br />

Thronbesteigung werde ich das Mittagessen streichen. Wenn die<br />

Herren fl eißig sind, können sie bis Mittag fertig werden, wenn sie<br />

sich aber etwas erzählen und die Zeitung lesen, so werden sie nie<br />

zu Ende kommen.»<br />

Münchow und Hille sahen einan<strong>der</strong> verblüfft an und beide dachten:<br />

Verbirgt sich im Kronprinzen ein zweiter <strong>Friedrich</strong> Wilhelm?<br />

Werden wir uns unter <strong>der</strong> Regierung des Sohnes vielleicht nach<br />

dem Vater zurücksehnen?<br />

«Eines», sagte <strong>Friedrich</strong>, «vermisse ich hier in <strong>der</strong> Kammer: Das<br />

ist <strong>der</strong> Bezug zur Praxis. Wann wird <strong>der</strong> König mir erlauben, über<br />

Land zu fahren, um die Probleme vor Ort zu sehen?»<br />

«Ich werde noch einmal an Seine Majestät schreiben», versprach<br />

Münchow und erhob sich hastig, als die Uhr halb zwölf schlug.<br />

«Entschuldigen Sie, Königliche Hoheit, aber ich erwarte Besuch:<br />

Oberst von Wreech kommt zur Mittagstafel, lei<strong>der</strong> ohne seine reizende<br />

Gemahlin, die Verwandte in Ostpreußen besucht.»<br />

Hille lachte leise, und als <strong>der</strong> Präsident die Tür schloss, sagte<br />

er zu <strong>Friedrich</strong>: «Irgendwann wird Seine Majestät Ihnen erlauben,<br />

sich auch außerhalb Küstrins zu bewegen, dann lernen Sie Frau<br />

von Wreech und Schloss Tamsel kennen. Vor dem Anwesen erstreckt<br />

sich eine weite Ebene, dort fl ießt die Warthe, die dann bald<br />

in die O<strong>der</strong> mündet. Frau von Wreechs Großvater, <strong>der</strong> legendäre<br />

Feldmarschall von Schöning – ein Held aus <strong>der</strong> Zeit des Großen<br />

Kurfürsten – hat das Schloss erbaut, die Fenster sind riesig, und<br />

innen haben griechische Handwerker die Räume mit Stukkaturen<br />

geschmückt, Tamsel wird Ihnen gefallen und die Hausherrin auch,<br />

sie ist die Perle des Schlosses, viel jünger als ihr Gatte, ungefähr<br />

dreiundzwanzig Jahre alt, blond, anmutig und sehr belesen, völlig<br />

an<strong>der</strong>s als die Gutsherrinnen in ihrer Umgebung. Die Damen hier<br />

unterhalten sich meistens über die Erziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, über den<br />

Ärger mit <strong>der</strong> Dienerschaft und darüber, wie man sparsam wirtschaftet<br />

und Konfi türe ‹verlängert›. Frau von Wreech hingegen<br />

kennt die antiken Dichter, sie hat Corneille, Racine und Molière<br />

gelesen, nun, lassen Sie sich überraschen; aber wir plau<strong>der</strong>n, und<br />

die Mittagstafel wartet auf uns.»<br />

646


Beim Verlassen des Gebäudes sprengte ein Kurier auf sie zu und<br />

überreichte <strong>Friedrich</strong> einen Brief.<br />

Er betrachtete das Siegel und seufzte: «Ein Schreiben meines Vaters.»<br />

Er las den Brief, und als er Hille ansah, erschrak dieser beim<br />

Anblick <strong>der</strong> zornig funkelnden blauen Augen.<br />

«Es ist unglaublich!», schrie <strong>Friedrich</strong>, «es ist unerhört, eine<br />

Mesalliance, die dritte Mesalliance in meiner Familie!»<br />

Er ging einige Schritte auf und ab, beruhigte sich etwas, trat<br />

vor Hille und sagte leise: «Meine liebste Schwester, meine ältere<br />

Schwester Wilhelmine, ist mit dem Erbprinzen von Bayreuth verlobt<br />

worden und wird im November heiraten. Eine Königstochter,<br />

eine preußische Prinzessin wird irgendwann eine schlichte Markgräfi<br />

n von Bayreuth sein. Warum hat sie in diese Mesalliance eingewilligt?<br />

Warum hat sie nicht gewartet? Ich schätze meine Mutter<br />

so ein, dass sie während <strong>der</strong> vergangenen Monate heimlich immer<br />

noch mit ihrem Bru<strong>der</strong> und ihrer Schwägerin wegen <strong>der</strong> Heirat<br />

verhandelt hat, vielleicht wäre meine Schwester doch noch Prinzessin<br />

von Wales geworden. Abgesehen davon, dass ein künftiger<br />

Markgraf unter dem Stand einer preußischen Prinzessin steht, so<br />

sind diese Verbindungen mit den süddeutschen Nebenlinien <strong>der</strong><br />

Hohenzollern auch außenpolitisch wertlos, im Falle eines Krieges,<br />

den Preußen gegen ein an<strong>der</strong>es Land führt, wären sie sowieso mit<br />

uns verbündet.»<br />

Hille sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Ich verstehe Sie nicht, im Falle<br />

eines Krieges müsste Preußen, ich meine <strong>der</strong> Kurfürst von Brandenburg<br />

und die übrigen Reichsfürsten, den Kaiser unterstützen,<br />

und die Verbindung <strong>der</strong> Prinzessin Philippine Charlotte mit dem<br />

herzoglichen Haus in Braunschweig ist doch außenpolitisch wertvoll<br />

wegen <strong>der</strong> Verwandtschaft <strong>der</strong> Braunschweiger mit dem Haus<br />

Habsburg.»<br />

<strong>Friedrich</strong> schob den Brief in die Rocktasche und erwi<strong>der</strong>te missmutig:<br />

«Mon Dieu, die Habsburger, die Hohenzollern sind so gut<br />

wie die Habsburger, und was die Verwandtschaft mit den Braunschweigern<br />

betrifft, so ist sie angeheiratet, ich habe nicht den Eindruck,<br />

dass die Kaiserin sich sehr um die Braunschweiger Verwandtschaft<br />

kümmert.»<br />

647


«Königliche Hoheit, ich verstehe Ihre Enttäuschung über die<br />

Verlobung <strong>der</strong> Prinzessin Wilhelme mit dem Erbprinzen von<br />

Bayreuth, aber ich vermute, dass Ihre Schwester keine an<strong>der</strong>e Wahl<br />

hatte, wahrscheinlich hat man sie zu dieser Ehe gezwungen, und<br />

bedenken Sie: Diese Heirat gewährt <strong>der</strong> Prinzessin die Freiheit, sie<br />

wird fern von Berlin in Bayreuth so leben, wie sie es möchte.»<br />

«Sie hätte warten sollen.»<br />

«Königliche Hoheit, Sie sprachen während <strong>der</strong> vergangenen Wochen<br />

oft davon, dass Sie mehr Freiheit wünschen – auch für Sie<br />

würde eine Ehe die Freiheit bedeuten, ich meine: einen eigenen<br />

Haushalt, wo Sie tun und lassen können, was Ihnen beliebt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Solange mein Vater lebt, werde ich<br />

nie tun und lassen können, was mir beliebt, im Übrigen verspüre<br />

ich nicht die geringste Lust zu heiraten, ich werde mir Zeit lassen,<br />

ich werde Erfahrungen mit Frauen sammeln und mit vierzig Jahren<br />

ein junges Mädchen von ungefähr fünfzehn Jahren heiraten.»<br />

«Erfahrungen mit Frauen, Königliche Hoheit, ich weiß nicht»,<br />

warf Hille ein, «Sie würden wahrscheinlich Ihre Gesundheit ruinieren.»<br />

«Was schadet es, wenn ich krank werde? Viele Ehrenmänner<br />

sind es geworden. Man kann sehr gut geheilt werden.»<br />

«Seien Sie vorsichtig, Königliche Hoheit, wenn Seine Majestät<br />

von Frauengeschichten erfährt, werden Sie Ärger bekommen, denken<br />

Sie an den Eid, den Sie vor einigen Monaten leisteten: Absoluter<br />

Gehorsam gegenüber dem König, <strong>der</strong> König bestimmt, wann<br />

Sie heiraten und wen Sie heiraten.»<br />

«Ich weiß, nun, will <strong>der</strong> König durchaus, dass ich heirate, so werde<br />

ich natürlich gehorchen, danach lasse ich meine Frau sitzen und<br />

lebe auf meine Weise. In einem seiner letzten Briefe hat mein Vater<br />

meine Heirat angesprochen und mir drei Häuser zur Auswahl<br />

gestellt: Sachsen-Gotha, Eisenach und Braunschweig-Bevern, drei<br />

Bettelprinzessinnen also, beson<strong>der</strong>s die bevernsche Dame Elisabeth<br />

Christine.»<br />

«Sie ist eine Nichte <strong>der</strong> Kaiserin.»<br />

<strong>Friedrich</strong>s Miene verfi nsterte sich: «Eine Nichte <strong>der</strong> Kaiserin;<br />

wenn mein Vater mich unbedingt mit den Habsburgern verkuppeln<br />

will, warum bittet er den Kaiser dann nicht um die Hand von<br />

648


Maria Theresia? Vor einigen Tagen schrieb ich an Grumbkow und<br />

teilte ihm mit, dass ich dem König gehorchen würde, und wenn er<br />

bezüglich meiner Gattin nach Österreich blicke, so sei ich gerne<br />

bereit, Maria Theresia zu heiraten, vorausgesetzt, man mutet mir<br />

keinen Religionswechsel zu. Ich bin sogar noch einen Schritt weiter<br />

gegangen: In Europa wird man sich beunruhigen, wenn die österreichischen<br />

Erblande und Brandenburg-Preußen sich vereinen,<br />

deshalb erklärte ich mich zum Thronverzicht zugunsten meines<br />

Bru<strong>der</strong>s August Wilhelm bereit, vorausgesetzt, man gibt mir die<br />

Mittel, um standesgemäß leben zu können.»<br />

Hille schwieg und überlegte: Was sage ich dem Prinzen? Soll<br />

ich ihm anvertrauen, dass Grumbkow diesen Brief an mich sandte<br />

mit <strong>der</strong> Bitte, ihn zu verbrennen, weil dieser Einfall den König<br />

erzürnen würde? Soll ich ihm sagen, dass Grumbkow eine Kopie<br />

des Briefes an den Prinzen Eugen geschickt hat? Es ist wohl besser,<br />

wenn ich schweige und versuche, den Prinzen allmählich auf die<br />

Verbindung mit Elisabeth Christine vorzubereiten.<br />

«Königliche Hoheit, ich verstehe Ihre Pläne, aber soweit ich es<br />

weiß, soll Maria Theresia den Herzog Franz Stephan von Lothringen<br />

heiraten, überdies ist man in Wien sehr an <strong>der</strong> Verbindung<br />

zwischen Ihnen und <strong>der</strong> Nichte <strong>der</strong> Kaiserin interessiert, ich weiß<br />

nicht, ob es stimmt, aber in Wien ist man sogar bereit, Sie fi nanziell<br />

zu unterstützen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah überrascht auf, dann lächelte er spöttisch: «Man<br />

glaubt also, dass ich käufl ich bin, weil je<strong>der</strong> am Berliner Hof käuflich<br />

ist. Nun gut, man kann vielleicht meine Zustimmung zu dieser<br />

entsetzlichen Ehe kaufen, aber niemals meine Zuneigung zu <strong>der</strong><br />

Bettelprinzessin.»<br />

Hille seufzte unhörbar.<br />

Die Verheiratung des Prinzen wird schwierig werden, hoffentlich<br />

kommt es darüber nicht zu einem neuen Konfl ikt zwischen<br />

Vater und Sohn.<br />

«Königliche Hoheit, widmen Sie sich Ihren Aufgaben hier in<br />

Küstrin und denken Sie nicht weiter über Ihre Verehelichung nach,<br />

noch ist alles in <strong>der</strong> Schwebe, wer weiß, vielleicht ergeben sich noch<br />

an<strong>der</strong>e Möglichkeiten; überdies: vielleicht gefällt Ihnen die Prinzessin<br />

Elisabeth Christine, wenn Sie sie kennenlernen. Aber nun<br />

649


etwas an<strong>der</strong>es: Am Nachmittag möchte ich Ihnen endlich etwas<br />

über die Geschichte des brandenburgischen Handels erzählen, beson<strong>der</strong>s<br />

über die Bedeutung <strong>der</strong> O<strong>der</strong>.»<br />

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinan<strong>der</strong>her, dann sagte<br />

Hille: «Mit Verlaub, Königliche Hoheit, vielleicht ziehe ich jetzt<br />

für den Rest meines Lebens Ihre Ungnade auf mich, aber ich muss<br />

es Ihnen einmal sagen: Sie können zwar die Regeln <strong>der</strong> Poetik des<br />

Aristoteles an den Fingern herzählen, aber Sie wissen nicht, ob<br />

Ihre Vorfahren Magdeburg im Kartenspiel o<strong>der</strong> auf an<strong>der</strong>e Weise<br />

gewonnen haben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> spürte, dass er errötete: «Sie haben recht, Herr von<br />

Hille», erwi<strong>der</strong>te er leise, «ich weiß, dass ich noch unendlich viel<br />

lernen muss.»<br />

Einige Stunden später beugten Hille und <strong>Friedrich</strong> sich über eine<br />

Landkarte Mitteleuropas.<br />

«Sehen Sie, Königliche Hoheit, hier liegt Frankfurt an <strong>der</strong> O<strong>der</strong>.<br />

Einst war diese Stadt <strong>der</strong> Mittelpunkt des brandenburgischen Handels,<br />

das war zu <strong>der</strong> Zeit, als die Levantewaren über Venedig und<br />

Augsburg eintrafen, die Stadt war damals überdies <strong>der</strong> Stapelplatz<br />

für Polen, Brandenburg, das heutige Ostpreußen, Pommern und<br />

Mecklenburg.<br />

Seit <strong>der</strong> Entdeckung <strong>der</strong> Seewege nach Amerika und Indien kamen<br />

die Erzeugnisse des Orients über die Nord- und Ostsee, dadurch<br />

verlor Frankfurt sein altes Hinterland, das Ostseegebiet, gewann<br />

dagegen Schlesien und Böhmen, die nichts mehr aus Italien<br />

erhielten. Lei<strong>der</strong> wurde <strong>der</strong> Frankfurter Handel lange durch die<br />

Schweden beeinträchtigt, die Herren von Pommern und somit von<br />

<strong>der</strong> O<strong>der</strong>mündung waren. Jetzt gehört Pommern zwar dem preußischen<br />

König, aber <strong>der</strong> obere O<strong>der</strong>lauf ist in <strong>der</strong> Gewalt Österreichs,<br />

das Schlesien besitzt.<br />

Der preußische König hat die Zölle nach <strong>der</strong> schlesischen Grenze<br />

aus Gefälligkeit gegen den Kaiser so weit herabgesetzt, dass die<br />

schlesischen Kaufl eute seinen eigenen Untertanen Konkurrenz<br />

machen.»<br />

Er schwieg, und <strong>Friedrich</strong> setzte einen Zirkel auf die Karte und<br />

verfolgte den Lauf <strong>der</strong> O<strong>der</strong>.<br />

650


Dann sah er auf und sagte langsam: «Ich folgere aus Ihren<br />

Worten, dass in meinem künftigen Reich kein gewinnbringen<strong>der</strong><br />

Handel möglich ist, solange die Schlesier ihren eigenen Handel betreiben<br />

können. Dies bedeutet, dass die Zölle heraufgesetzt werden<br />

müssen, was natürlich zu Spannungen mit Österreich führt. Die<br />

wirtschaftliche Situation für Preußen würde sich sofort verbessern,<br />

wenn wir die Herren über Schlesien wären.»<br />

«Das bedeutet Krieg gegen Österreich, Königliche Hoheit, Seine<br />

Majestät würde dem Kaiser nie den Krieg erklären.»<br />

«Ich weiß, solange mein Vater regiert, werden wir nie in den Besitz<br />

Schlesiens kommen, obwohl es irgendwelche alte Erbansprüche<br />

gibt, ich weiß keine Einzelheiten, aber wir haben Ansprüche<br />

auf gewisse Gebiete in Schlesien, im Staatsarchiv gibt es bestimmt<br />

Urkunden. Wenn ich wie<strong>der</strong> in Berlin weilen darf, werde ich mir<br />

die Dokumente einmal ansehen.»<br />

Hille sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt an: «Glauben Sie wirklich, dass die<br />

Erbansprüche berechtigt sind?»<br />

«Das weiß ich noch nicht, aber wozu gibt es Juristen? Ich traue<br />

es zum Beispiel dem jetzigen Außenminister Podewils zu, dass er<br />

eine Denkschrift formuliert, die beweist, dass Preußen schlesische<br />

Gebietsansprüche besitzt.»<br />

Hille sah <strong>Friedrich</strong> erstaunt und verunsichert an. Was geht in<br />

dem Prinzen vor, fragte er sich, gelüstet es ihn nach Expansion?<br />

Seine Überlegung bezüglich <strong>der</strong> wirtschaftlichen Bedeutung<br />

Schlesiens ist richtig, aber wie will er in den Besitz dieser Provinz<br />

kommen? Es gibt nur eine Möglichkeit: Eroberung und Krieg gegen<br />

Österreich, es wäre Wahnsinn, nun, er wird wahrscheinlich<br />

wie<strong>der</strong> zur Vernunft kommen.<br />

651


652<br />

3<br />

Küstrin, 13. August 1731<br />

Vor <strong>der</strong> Abendtafel sagte Wolden, <strong>der</strong> König würde übermorgen in<br />

Küstrin eintreffen, er sei auf <strong>der</strong> Durchreise nach Sonnenburg zum<br />

Johanniterorden.<br />

Übermorgen, am 15. August, wird er dreiundvierzig Jahre alt.<br />

Wolden deutete an, <strong>der</strong> König wolle sehen, ob ich mich in dem<br />

Jahr verän<strong>der</strong>t habe, kein Französling mehr sei, mich ernsthaft mit<br />

ökonomischen Fragen beschäftige und so weiter.<br />

Ich habe Angst vor dieser Begegnung. Wird er mit mir zufrieden<br />

sein? Dies ist wichtig, weil davon die Gewährung weiterer Freiheiten<br />

abhängt. Es ist wahrscheinlich am klügsten, wenn ich mich<br />

ihm sofort zu Füßen werfe. Seine Reaktion verrät mir dann vielleicht<br />

am ehesten seine Stimmung. Gott sei Dank gehört Papa nicht<br />

zu den Menschen, die sich verstellen können.<br />

Am frühen Nachmittag des 15. August begab <strong>Friedrich</strong> sich in Begleitung<br />

Woldens zum Haus des Generals von Lepel. Schon von weitem sah<br />

er die königliche Kutsche vor dem Eingang stehen und in einiger Entfernung<br />

eine große Schar Küstriner, die schweigend den Kronprinzen<br />

betrachteten. Er spürte, dass er Herzklopfen bekam, und als nun einige<br />

riefen: «Es lebe <strong>der</strong> Kronprinz!», blieb er unwillkürlich stehen.<br />

«Mon Dieu», sagte er zu Wolden, «hoffentlich hat <strong>der</strong> König dies<br />

nicht gehört.»<br />

Sie gingen weiter, und <strong>Friedrich</strong> atmete erleichtert auf, als <strong>der</strong><br />

Ruf ertönte: «Es lebe <strong>der</strong> König, es lebe das Haus Hohenzollern!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging nachdenklich im Arbeitszimmer des Generals<br />

auf und ab, während Lepel, Grumbkow und einige Offi ziere<br />

im Hintergrund des Zimmers standen und es vermieden, einan<strong>der</strong><br />

anzusehen.<br />

Die Berichte und Briefe von Münchow, Hille und Wolden, überlegte<br />

<strong>der</strong> König, klangen zwar positiv, aber wer weiß, vielleicht sind


sie geschönt. Was mache ich, wenn Fritz sich doch nicht geän<strong>der</strong>t<br />

hat? Lieber Gott, ich bitte dich, ich hoffe, dass <strong>der</strong> Bengel zur Vernunft<br />

gekommen ist, wenn nicht, dann – ich weiß nicht, was ich<br />

dann noch machen soll.<br />

Er blieb stehen, starrte zur Tür und hörte nicht, dass <strong>Friedrich</strong><br />

gemeldet wurde, er sah den Sohn das Zimmer betreten, sah ihn<br />

näherkommen und atmete auf.<br />

Er tänzelt nicht mehr, dachte er, sein Schritt ist fester als früher,<br />

er hält sich gerade, er ist größer geworden und voller; und er spürte,<br />

dass eine Last von ihm abfi el.<br />

Er verspürte den Wunsch, den Sohn zu umarmen, und dachte:<br />

Nein, noch ist es zu früh, eine gewisse Strenge ist nach wie vor<br />

angebracht.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah die massige Gestalt des Vaters, blieb einige Schritte<br />

vor ihm stehen und sank wortlos auf die Knie.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete den Sohn einige Sekunden lang,<br />

dann atmete er tief durch: «Steh auf.»<br />

<strong>Friedrich</strong> gehorchte, und als er nun die ernsten blauen Augen des<br />

Vaters sah, fühlte er sich verunsichert und sah zu Boden.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sagte feierlich: «Ihr werdet Euch zu besinnen<br />

wissen, was nunmehro vor Jahr und Tag passieret ist, und wie<br />

schändlich Ihr Euch aufgeführet, auch was für ein gottloses Vornehmen<br />

Ihr gehabt. Da ich Euch von Jugend auf bei mir gehabt und<br />

Euch also wohl kennen müssen, habe ich alles in <strong>der</strong> Welt getan,<br />

um Euch zum ehrlichen Manne zu machen.<br />

Wenn ein junger Mensch Dummheiten macht in Liebesdingen,<br />

lie<strong>der</strong>liche Händel anfängt und <strong>der</strong>gleichen, solches kann man<br />

noch als Jugendfehler pardonnieren, aber mit Vorsatz Nie<strong>der</strong>trächtigkeiten<br />

und <strong>der</strong>gleichen garstige Action zu tun, das ist unverzeihlich.<br />

Ihr habt gemeint, mit Eurem Eigensinn durchzukommen, aber<br />

höre, mein Kerl, wenn du auch sechzig und siebzig Jahre alt wirst,<br />

so sollst du mir nichts vorschreiben. Und da ich mich bis dato gegen<br />

Je<strong>der</strong>mann behauptet habe, wird es mir an Mitteln nicht fehlen,<br />

dich zur Räson zu bringen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm schwieg, und <strong>Friedrich</strong> horchte auf: Während<br />

<strong>der</strong> letzten Sätze hat er mich geduzt wie früher, überlegte er und<br />

653


hob vorsichtig die Augen zum Gesicht des Vaters, <strong>der</strong> ihn nachdenklich<br />

musterte.<br />

«Hattet Ihr nicht die Absicht, nach England zu gehen?»<br />

«Ja.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm trat einen Schritt auf den Sohn zu: «Nun höret<br />

die Folgen an: Eure Mutter würde in das größte Unglück geraten sein,<br />

weil ich sie natürlich verdächtigt haben würde, als wenn sie mit von<br />

<strong>der</strong> Sache gewusst; Eure Schwester hätte ich lebenslang an einen Ort<br />

gesetzet, wo sie we<strong>der</strong> Mond noch Sonne beschienen hätten. In das<br />

Hannöversche wäre ich mit meiner Armee gezogen und hätte alles<br />

brennen und sengen lassen, sollte ich auch mein Leben, Land und Leute<br />

geopfert haben. Seht, das sind die Früchte Eures unbesonnenen und<br />

gottlosen Verhaltens. Und da ich Euch sonsten in allerhand Kriegs-<br />

und Civil-Aufträgen wollte beschäftigen, wie dürft Ihr Euch nun nach<br />

einer solchen Action vor meinen Offi zieren und übrigen Bedienten<br />

zeigen? Das Einzige, was dieses reparieren kann, ist, dass Ihr mit<br />

Hintansetzung Eures Blutes suchet, diese Fehler zu reparieren.»<br />

Er schwieg und betrachtete den Sohn mit strengen Augen.<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak.<br />

Er hat recht, dachte er, ich habe zu wenig an die Folgen einer<br />

Flucht für Mama und Wilhelmine gedacht.<br />

Er sah den Vater vorsichtig an, unterdrückte die aufsteigenden<br />

Tränen, kniete nie<strong>der</strong> und sagte leise: «Gnädigster Vater, ich<br />

möchte Ihre Gnade und Wertschätzung wie<strong>der</strong>erlangen, deshalb<br />

bitte ich Sie, mich den härtesten Proben zu unterwerfen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm war versucht, den Sohn aufzuheben und ihm<br />

zu verzeihen, und dachte dann: Nein, es ist noch zu früh.<br />

«Hast du Katten verführt, o<strong>der</strong> hat Katte dich verführt?»<br />

«Ich habe ihn verführt.»<br />

«Es ist mir lieb, dass Ihr einmal die Wahrheit gesagt.»<br />

Er hob <strong>Friedrich</strong> auf, betrachtete ihn erneut und ging dann auf<br />

und ab.<br />

«Nun, wie gefällt dir das Leben in Küstrin? Hast du noch eine<br />

Abneigung gegen Wusterhausen und den Sterbekittel? Es ist wahr,<br />

ich habe keine französischen Manieren, Bonmots liegen mir nicht,<br />

ich bin ein deutscher Fürst und werde als solcher leben und sterben.<br />

Die Leute, die es ehrlich mit dir meinten, hast du gehasst und ver-<br />

654


leumdet, diejenigen, die dir geschmeichelt haben, zu denen warst<br />

du nett und freundlich, nun siehst du die Früchte deines Verhaltens.<br />

Was nun die Lehre von <strong>der</strong> Prädestination betrifft, so ist es<br />

schrecklich, dass man Gott für einen Urheber <strong>der</strong> Sünde macht und<br />

leugnet, dass Christus für alle Menschen gestorben ist.»<br />

<strong>Friedrich</strong> holte Luft: «Gnädigster Vater, ich versichere Ihnen<br />

hoch und teuer, dass ich inzwischen ganz Ihrer christlichen und<br />

orthodoxen Meinung zustimme.»<br />

Da trat <strong>Friedrich</strong> Wilhelm zu dem Sohn, umarmte ihn und sagte:<br />

«Ich vergebe dir alles, was in <strong>der</strong> Vergangenheit passiert ist, in <strong>der</strong><br />

Hoffnung auf deine bessere Aufführung in <strong>der</strong> Zukunft.»<br />

In diesem Augenblick war es mit <strong>Friedrich</strong>s Beherrschung vorbei,<br />

und er begann zu weinen.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm fühlte sich hilfl os und wartete, bis <strong>der</strong> Sohn<br />

sich etwas beruhigte, dann lächelte er ihn an: «Ich glaube, deine<br />

Reue ist aufrichtig, nun, in den nächsten Tagen werde ich Wolden<br />

mitteilen, welche Freiheiten du ab jetzt genießen darfst, und ich<br />

erlaube dir auch, im November nach Berlin zur Vermählung deiner<br />

Schwester zu kommen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> glaubte, nicht richtig zu hören: «Ich darf nach Berlin,<br />

ich darf Mama und meine Geschwister sehen? Ich danke Ihnen,<br />

mon Dieu, ich habe Ihnen noch nicht zum Geburtstag gratuliert,<br />

ich hoffe, dass Sie noch viele Jahre regieren werden und Ihre Gesundheit<br />

sich stabilisiert.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte und sagte zu Grumbkow: «Die Zeit<br />

drängt, wir müssen weiter», und zu <strong>Friedrich</strong>: «Begleite mich zur<br />

Kutsche.»<br />

Als die Menschenmenge den König und den Kronprinzen zum<br />

Wagen gehen sah, brach ein Jubel los, <strong>der</strong> nicht enden wollte. <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm umarmte den Sohn und sagte leise: «Ich habe dir<br />

vergeben, ich werde weiter für dich sorgen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah <strong>der</strong> davonrollenden Kutsche nach und sagte zu<br />

Wolden:<br />

«Ich hätte bisher nicht geglaubt, dass <strong>der</strong> König die geringste<br />

Regung von Liebe für mich empfi ndet. Zu dieser Stunde bin ich<br />

davon überzeugt.»<br />

655


Während sie zu ihrer Wohnung gingen, dachte <strong>Friedrich</strong> noch<br />

einmal über die Begegnung und Versöhnung mit dem Vater nach:<br />

Er hat mir vergeben, er liebt mich anscheinend auf seine Weise,<br />

aber liebe ich ihn auch? Ich habe geweint, weil meine Nerven überreizt<br />

und angespannt waren, aber was empfi nde ich für ihn?<br />

Liebe? Nein. Hass? Nein.<br />

Er ist mir irgendwie gleichgültig, ich werde mich so verhalten,<br />

dass er mir künftig nicht mehr zürnt, im Übrigen warte ich nur auf<br />

den Augenblick <strong>der</strong> Thronbesteigung.<br />

656


Geständnis<br />

Durch Deine Huld, o Herrin, mög‘s mir verstattet sein,<br />

In diese lautre Wahrheit Dich offen einzuweihn:<br />

Seitdem ich Dich gesehen, dahin ist meine Ruh,<br />

Durch Dich ist es geschehen, und dessen Wert bist Du.<br />

Mein Herz hat es erfahren, es traf zu gut <strong>der</strong> Pfeil,<br />

Die Freiheit ist verloren, und <strong>Knecht</strong>schaft ist mein Teil.<br />

Wiewohl mit je<strong>der</strong> Stunde ich reife mehr zum Mann,<br />

Sieht es die Welt als Schwäche und als verächtlich an.<br />

Doch was als schwach sie tadelt, ich will es höher preisen<br />

Als jene Herzen, fühllos wie Felsgestein und Eisen.<br />

Und wenn man es auch Sünde und schlimmer nennen wollt›,<br />

Um Dich will ich sie tragen; denn Du bist allzu hold.<br />

4<br />

<strong>Friedrich</strong> legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite und dachte darüber nach, wie er<br />

das Gedicht weiterreimen sollte. Nach einigen Minuten verschob er<br />

die Fortsetzung auf den nächsten Abend und schrieb zunächst den<br />

Begleitbrief an Frau von Wreech.<br />

Madame,<br />

die Heuschrecken, die das Land verwüsten, haben die Rücksicht<br />

genommen, Ihre Besitzungen und Län<strong>der</strong>eien zu verschonen. Ein<br />

zahlloses Heer viel schlimmerer und gefährlicherer Insekten steht<br />

indes auf dem Punkte, sich bei Ihnen nie<strong>der</strong>zulassen, und nicht<br />

zufrieden damit, das Land zu zerstören, haben die Gefl ügelten<br />

die Dreistigkeit, Sie persönlich und in Ihrem eigenen Schlosse zu<br />

überfallen.<br />

Diese Gefl ügelten führen den Namen Verse, sind Sechsfüßler,<br />

haben scharfe Zähne und einen langgestreckten Körper, dazu eine<br />

gewisse Kadenz, die genaugenommen ihr Grundprinzip ist und ihnen<br />

das Leben gibt …<br />

657


<strong>Friedrich</strong> hielt inne und überlegte: Ich werde sie um ihr Fürwort<br />

bitten, was meine Verse betrifft.<br />

Er beendete den Brief und sah einen Augenblick verträumt vor<br />

sich hin, dann nahm er sein Tagebuch, las die Eintragungen und<br />

schrieb:<br />

658<br />

Küstrin, 13. September 1731<br />

Mein Lebensgefühl hat sich seit dem 27. August völlig verän<strong>der</strong>t:<br />

Ich habe mich verliebt, und obwohl ich weiß, dass es keine Erfüllung<br />

geben wird, genieße ich das Gefühl des Verliebtseins.<br />

Sie heißt Luise Eleonore, ist Mutter von fünf Kin<strong>der</strong>n, geistreich,<br />

gebildet, und bei ihr auf Schloss Tamsel habe ich die schönsten<br />

Stunden verlebt, seit ich in Küstrin bin. Am 27. August war ich<br />

zum ersten Mal dort zur Mittagstafel geladen, dann gingen wir<br />

– ihr Gatte und ich – auf Entenjagd, ich habe nichts geschossen,<br />

wahrscheinlich, weil mich ihr Bild verfolgte. Ich weiß nicht, wie<br />

oft ich inzwischen in Tamsel war, ich weiß auch nicht, ob sie meine<br />

Gefühle erwi<strong>der</strong>t, wahrscheinlich nicht, denn sie scheint glücklich<br />

verheiratet zu sein; immerhin erlaubte sie mir vor einigen Tagen,<br />

sie «Cousine» zu nennen.<br />

Nun, Frau von Wreech und Tamsel sind ein Lichtblick in meinem<br />

immer noch öden Leben, aber ich darf mich nicht beklagen, Papa<br />

hat mir tatsächlich einige Freiheiten gewährt. Ich gehe jetzt nur<br />

noch dreimal wöchentlich am Vormittag zur Domänenkammer,<br />

und es ist mir erlaubt, oben, neben Münchow zu sitzen, nicht mehr<br />

unten am Tisch; die übrige Zeit ist zu meiner Verfügung.<br />

Ich darf die Stadt verlassen, muss meine Abwesenheit aber dem<br />

Gouverneur melden, diese Ausfl üge sollen natürlich kein reines<br />

Vergnügen sein: Papa erwartet, dass ich die Ämter <strong>der</strong> Umgebung<br />

besuche, um die praktische Seite <strong>der</strong> Wirtschaft kennenzulernen.<br />

So reise ich in Begleitung Hilles über Land, lerne Viehzucht und<br />

Brauwesen kennen und die Probleme <strong>der</strong> Pächter. Papa hat auch angeordnet,<br />

dass die Amtmänner nur für fünf Personen eine Mahlzeit<br />

richten sollen, das Gedeck darf nur acht Groschen kosten.<br />

Allmählich gefallen mir diese kleinen Reisen, fast überall kann<br />

man Verbesserungen vornehmen, das Amt Wollup zum Beispiel


erwirtschaftet jetzt jährlich 2.200 Taler, man könnte die Einnahmen<br />

um 1 000 Taler jährlich steigern, wenn man die Brüche austrocknet,<br />

denn in Wollup ist <strong>der</strong> Boden gut geeignet für den Anbau<br />

von Weizen.<br />

Meine Verbesserungsvorschläge nimmt Papa zwar wohlwollend<br />

auf, aber er scheint mir immer noch zu misstrauen.<br />

Meine Freizeitvergnügungen sind genau geregelt: Ich darf am<br />

Nachmittag ausreiten, zur Jagd gehen, auf dem Wasser fahren, ich<br />

darf zu je<strong>der</strong> Mahlzeit zwei Gäste einladen, natürlich keine Damen,<br />

ich darf zweimal wöchentlich eine Einladung annehmen, aber stets<br />

muss Wolden o<strong>der</strong> einer <strong>der</strong> Kammerjunker mich begleiten, ich<br />

darf mit keinem Menschen allein sprechen, vor allem mit keiner<br />

Dame. Alle weltlichen Bücher sind nach wie vor verboten, ebenso<br />

Musik, Spiel und Tanz.<br />

Nun, Wolden hält sich nicht so streng an diese Befehle. Ich habe<br />

französische Romane, spiele Flöte, und wenn ich eingeladen bin,<br />

unterhalte ich mich natürlich auch mit Damen.<br />

Mein Haushaltsbudget wurde nicht erhöht, nun, ich habe inzwischen<br />

gelernt zu sparen, eines allerdings ist für mich jetzt schmerzlich,<br />

aber ich hoffe, dass Papa auch in diesem Punkt irgendwann<br />

nachgibt.<br />

Ich bat ihn, mich wie<strong>der</strong> in die Armee aufzunehmen, und er hat<br />

es abgelehnt.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah auf, legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite, nahm den Brief seines<br />

Vaters vom 28. August und überfl og die Zeilen:<br />

Du schreibst mir auch, dass Du itzund wie<strong>der</strong> Soldat sein wollest.<br />

Doch glaube ich, dass Dir dieses nicht recht von Herzen gehe …<br />

Du hast aber in allen Stücken gegen Mich einen Abscheu davor<br />

gezeiget, und wenn es auf Jagden, Reisen und an<strong>der</strong>e Gelegenheit<br />

angekommen, hast Du allezeit gesuchet, Dich zu schonen, und lieber<br />

ein französisches Buch o<strong>der</strong> das Flötenspiel gesuchet, als den<br />

Dienst o<strong>der</strong> ermüdende Arbeit.<br />

… Also werde ich erst zusehen, ob Du ein guter Wirt werden<br />

willst, und ob Du mit Deinem eigenen Gelde nicht mehr so lie<strong>der</strong>lich<br />

umgehen wirst, als Du vordem getan; denn ein Soldat, <strong>der</strong><br />

659


kein Wirt ist, und mit dem Gelde nicht auskommen kann, son<strong>der</strong>n<br />

nichts spart und Schulden machet, dieses ist ein recht unnützer<br />

Soldat …<br />

<strong>Friedrich</strong> legte den Brief zur Seite.<br />

Er hat recht, sagte er sich, wenn man eine Armee befehligt, muss<br />

man wirtschaften können, im Falle eines Krieges muss man auch<br />

mit begrenzten Mitteln auskommen können, vor allem muss man<br />

so wirtschaften, dass die Soldaten regelmäßig ihren Sold erhalten.<br />

Nun, irgendwann wird er mich wie<strong>der</strong> in die Armee aufnehmen,<br />

und für mich ist es nicht nur aus Prestigegründen wichtig:<br />

Ein Fürst muss fähig sein, selbst die Armee zu führen, er darf dies<br />

nicht Generälen überlassen, in einer kritischen Situation ist nur<br />

<strong>der</strong> Fürst fähig, die Soldaten anzuspornen …<br />

Er sprang auf und ging unruhig auf und ab.<br />

«Wohin verirren sich meine Gedanken?», sagte er leise. «Wünsche<br />

ich, dass Preußen irgendwann Krieg gegen einen an<strong>der</strong>en<br />

Staat führt? Strebe ich nach militärischem Ruhm?»<br />

Nach einer Weile schrieb er weiter: Grumbkow gab mir in seinen<br />

letzten Briefen Ratschläge, wie ich mich gegenüber meinem<br />

Vater verhalten soll: Er empfi ehlt ein gleichmäßiges, natürliches,<br />

ehrerbietiges Benehmen, ich soll in meinen Gesprächen mit Papa<br />

auf dessen Fragen bündig antworten, nicht an<strong>der</strong>er Meinung sein,<br />

meine Meinung nur dann sagen, wenn ich danach gefragt werde.<br />

Falls meine Meinung <strong>der</strong> meines Vaters nicht entspricht, so soll<br />

ich stets antworten: ‹Wenn Eure Majestät es mir befehlen, und ich<br />

meine Ansicht sagen soll, so meine ich das und das, aber ich kann<br />

mich sehr wohl irren und bei meiner geringen Erfahrung leicht<br />

täuschen.› Ich soll keine spöttischen Bemerkungen machen, aber<br />

auch keine fi nstere, verschlossene Miene zeigen. Der König mag<br />

kein Gespött, aber ein frohes Gesicht sieht er gern.<br />

Grumbkows Ratschläge sind wahrscheinlich richtig, und ich werde<br />

sie befolgen, aber ich werde nicht vergessen, dass dieser Mann<br />

im Solde des Wiener Hofes steht, er dient zwei Herren. Wenn ich<br />

König bin, werde ich dies nicht dulden, Männer wie Grumbkow<br />

werde ich entlassen.<br />

660


Küstrin, 20. September 1731<br />

Frau von Wreech hat mein Gedicht mit einem Gedicht beantwortet:<br />

Welch Wun<strong>der</strong> trug sich zu? Was ist’s, das sich begab?<br />

Es steigt ein Königssohn, ein Prinz zu mir herab,<br />

Besingt in Lie<strong>der</strong>n mich und for<strong>der</strong>t mich zum Streit;<br />

Antworten seinem Lied wär wie Verwegenheit,<br />

Ich kann es nicht, nein, nein, verwirrt in jedem Sinn<br />

Führt, über was ich schrieb, die Fe<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> hin.<br />

<strong>Friedrich</strong> legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite, las das ganze Gedicht, dann<br />

verweilten seine Augen einen Moment auf dem letzten Satz des<br />

Briefes: «Mein ganzes Haus hat dazu beigetragen.»<br />

Mein ganzes Haus, überlegte er, also auch <strong>der</strong> Gatte, nun, ich<br />

weiß, dass sie unerreichbar für mich ist, aber warum soll ich mich<br />

nicht dem Gefühl <strong>der</strong> Verliebtheit hingeben?<br />

Meine künftige Gattin werde ich wahrscheinlich nicht lieben.<br />

Vor einigen Tagen fragte Hille mich, wie ich leben würde, wenn<br />

ich mein eigener Herr wäre.<br />

Ich erwi<strong>der</strong>te: «Mein schönstes Vergnügen ist das Bücherlesen.<br />

Ich liebe die Musik und noch weit mehr den Tanz. Ich hasse die<br />

Jagd, aber ich reite gern. Wäre ich mein eigener Herr, so täte ich das<br />

alles, wie ich gerade Lust hätte, aber einen großen Teil meiner Zeit<br />

würde ich den Geschäften widmen. Ich würde auf feine, leckere<br />

Speisen achten, aber ohne Überfl uss. Ich würde mir gute Musiker<br />

halten, aber wenige, doch dürften sie nie bei Tisch spielen, denn die<br />

Musik ist meine Erholung, und beim Essen würde sie mich stören.<br />

Ich würde allein und öffentlich speisen, doch abends würde ich mir<br />

Freunde einladen und sie gut bewirten. Als Kleidung würde ich<br />

stets die Uniform tragen, aber mit prächtigen Überröcken.»<br />

Er legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite und sah nachdenklich vor sich hin.<br />

Mein Leben als König, wie ich es Hille schil<strong>der</strong>te, ähnelt dem Leben<br />

meines Vaters: Zuerst die Pfl icht, dann das Vergnügen. Bei meinem<br />

Vater ist es die Jagd, bei mir sind es die Bücher und das Flötenspiel.<br />

Werde ich vielleicht doch ein König, wie mein Vater es erwartet? Hat<br />

<strong>der</strong> Aufenthalt in Küstrin mich so geformt, o<strong>der</strong> sind es Erbanlagen?<br />

661


662<br />

Küstrin, 6. November 1731<br />

Vor einem Jahr wurde mein Freund hingerichtet. Warum hat mein<br />

Vater ihn nicht zu lebenslanger Festungshaft begnadigt? Er wollte<br />

mich unterwerfen und seine Macht demonstrieren.<br />

Was hat er erreicht? Nun, ich gehorche und allmählich würdige<br />

ich seine Leistungen als König: Er hat aus einem heruntergekommenen,<br />

verarmten Staat ein Land geschaffen, in dem es wirtschaftlich<br />

aufwärtsgeht, die Verwaltung ist bestens organisiert, und<br />

wegen unserer starken Armee sind wir zu einem begehrten Bündnispartner<br />

geworden. Ich muss ihm dankbar sein für den Staat, den<br />

er mir hinterlässt, und ich werde sein Werk fortführen. Vor allem<br />

die Bevölkerungszahl muss stetig erhöht werden. Mein Urgroßvater<br />

gab den Hugenotten eine neue Heimat, mein Vater nahm im<br />

August Protestanten auf, die aus dem Salzburger Land vertrieben<br />

wurden, und siedelte sie in Ostpreußen an, nun, auch unter meiner<br />

Regierung wird es bestimmt irgendwo in Europa Flüchtlinge geben,<br />

die ich in Preußen ansiedeln kann.<br />

Ich respektiere den König, aber <strong>der</strong> Vater bleibt mir nach wie vor<br />

fremd. Ich liebe ihn nicht, allerdings hasse ich ihn auch nicht mehr,<br />

er ist mir gleichgültig geworden, ich werde seinen Zorn nicht mehr<br />

herausfor<strong>der</strong>n, ich warte nur noch auf den Tag, an dem ich König<br />

sein werde. Meine Tränen während seines Besuches im August waren<br />

nicht kindliche Liebe, son<strong>der</strong>n das Ergebnis einer nervlichen<br />

Anspannung, mehr nicht.<br />

Am folgenden Abend saßen <strong>Friedrich</strong>, Wolden und die zwei Kammerjunker<br />

im Salon und besprachen, welche <strong>der</strong> Küstriner Honoratioren<br />

am Sonntag zur Mittagstafel kommen sollten.<br />

Plötzlich wurde ein Eilkurier Grumbkows gemeldet, <strong>der</strong> <strong>Friedrich</strong><br />

einen Brief überreichte.<br />

Er überfl og das Schreiben und sprang erregt auf: «Es ist unglaublich,<br />

mein Vater überlässt mir noch nicht einmal die Wahl zwischen<br />

den Häusern Sachsen-Gotha, Eisenach und Braunschweig-Bevern,<br />

er hat inzwischen entschieden, dass ich Elisabeth Christine von<br />

Braunschweig-Bevern heiraten soll.<br />

Nun, wenn man mich zur Heirat zwingt, dann wird es eine un-


glückliche Prinzessin mehr in Europa geben. Grumbkow schreibt,<br />

dass sie still, bescheiden und fromm sei und dass diese Frauen ihren<br />

Männern den geringsten Verdruss bereiten! Mon Dieu, ich will<br />

keine dumme Gans als Frau, die mich mit ihrer Dummheit in Rage<br />

bringt und bei <strong>der</strong> ich mich schäme, wenn ich sie zeige. Ich hasse<br />

tugendhafte Frauen, ich will lieber das gemeinste Weibsstück von<br />

Berlin haben als eine Betschwester! Sie muss eine zweite Erziehung<br />

erhalten, sie muss ‹Die Schule <strong>der</strong> Frauen› von Molière auswendig<br />

lernen, sie muss lieber zu frei als zu tugendsam sein. Ich<br />

werde Grumbkow schreiben, dass ich lieber das reizlose Fräulein<br />

Jette heiraten würde als die dumme Braunschweiger Gans!»<br />

Wolden und die Kammerjunker sahen einan<strong>der</strong> entsetzt an,<br />

dann sagte Wolden vorsichtig: «Königliche Hoheit, Fräulein Jette<br />

ist Grumbkows Tochter.»<br />

«Ich weiß, Grumbkow soll wissen, wie <strong>der</strong> künftige preußische<br />

König über ihn denkt; ich bin mir bewusst, dass dies die Anmaßung<br />

eines hohen Herrn gegen einen niedriger Stehenden ist, aber<br />

Grumbkow muss beizeiten in seine Schranken gewiesen werden.»<br />

«Königliche Hoheit», sagte Wolden, «die Prinzessin von Braunschweig<br />

ist eine Nichte <strong>der</strong> Kaiserin.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Ich weiß, dass mein Vater ein treuer<br />

Untertan des Hauses Habsburg ist, aber wenn er unbedingt eine<br />

Verbindung mit den Habsburgern wünscht, warum vermählt er<br />

mich dann nicht mit <strong>der</strong> jüngeren Tochter <strong>der</strong> Kaiserin? Übrigens,<br />

eine erfreuliche Nachricht enthält <strong>der</strong> Brief: Der Wiener Hof ist<br />

bereit, mich fi nanziell zu unterstützen, ich werde ungefähr 2.500<br />

Dukaten in mehreren Raten empfangen, natürlich muss ich dieses<br />

Geld irgendwann zurückzahlen.»<br />

«Der Wiener Hof unterstützt Sie fi nanziell?»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte einen Augenblick, dann lächelte er und sagte:<br />

«Meine Herren, Sie wun<strong>der</strong>n sich, ich wun<strong>der</strong>e mich nicht», und<br />

verließ den Salon.<br />

In seinem Arbeitszimmer ging er eine Weile nachdenklich auf und<br />

ab, dann schrieb er in sein Tagebuch:<br />

663


664<br />

Küstrin, 7. November 1731<br />

Ich vermute, dass <strong>der</strong> Wiener Hof die Verbindung mit <strong>der</strong> Braunschweigerin<br />

begünstigt und meinen Vater durch Seckendorff und<br />

Grumbkow bearbeitet hat, weil sie wissen, dass er nach <strong>der</strong> Pfeife<br />

des Prinzen Eugen tanzt.<br />

Man muss die Landkarten Europas betrachten, dann erkennt<br />

man, dass das Reich <strong>der</strong> Habsburger keine Geschlossenheit besitzt,<br />

außerdem hat Österreich viele Feinde, vor allem Frankreich, die<br />

Türkei und die spanischen Bourbonen.<br />

Karl VI. möchte seiner Tochter Maria Theresia das Erbe erhalten,<br />

deswegen die Pragmatische Sanktion, die von den meisten europäischen<br />

Mächten unterzeichnet wurde; wahrscheinlich werden<br />

im Ernstfall diese Unterschriften keinen Heller wert sein.<br />

Der Kaiser verfügt über eine Armee von ungefähr 100 000<br />

Mann, um Belgrad gegen die Türken, Mailand gegen den König<br />

von Sardinien, Neapel gegen den König von Spanien und Brüssel<br />

gegen den König von Frankreich zu verteidigen.<br />

Preußen hingegen besitzt eine gut organisierte, disziplinierte Armee<br />

von ungefähr 80 000 Mann und könnte sofort in das schlecht<br />

verteidigte Schlesien einmarschieren.<br />

Österreich ist folglich an einem Bündnis mit Preußen interessiert.<br />

Wegen <strong>der</strong> labilen Gesundheit meines Vaters muss Wien täglich<br />

mit einem Thronwechsel rechnen, also versuchen sie, mich zu<br />

gewinnen, einmal durch die Vermählung mit einer Verwandten<br />

des Kaiserhauses, zum an<strong>der</strong>en durch Geld. Hoffentlich verrechnet<br />

sich <strong>der</strong> Prinz Eugen nicht.<br />

Die Taler, die <strong>der</strong> Wiener Hof mir jetzt leiht, werde ich, wenn ich<br />

König bin, nie zurückerstatten.<br />

Meine Heirat? Nun, <strong>der</strong> schlaue Fuchs Grumbkow schickt dem<br />

Wiener Hof wahrscheinlich Kopien meiner Briefe an ihn.<br />

Ich werde mich ab jetzt in meinen Briefen an Grumbkow nur abfällig<br />

über die Braunschweiger Gans äußern, vielleicht begreift <strong>der</strong><br />

Prinz Eugen dann, dass diese Verbindung nicht die erhofften außenpolitischen<br />

Vorteile bringt, vielleicht erreiche ich so, dass mir<br />

diese verhasste Ehe erspart bleibt.


Küstrin, 15. November 1731<br />

Heute erhielt ich schriftlich die Erlaubnis, dass ich nach Berlin abreisen<br />

darf, aber ich soll erst am dritten Tag <strong>der</strong> Hochzeitsfeierlichkeiten<br />

ankommen, also am 22. November, die Vermählung ist am<br />

20. November.<br />

Einerseits empfi nde ich es als Demütigung, dass ich als Kronprinz<br />

bei <strong>der</strong> Trauung nicht anwesend sein darf, an<strong>der</strong>erseits bin<br />

ich froh darüber. Ich missbillige diese Vermählung mit einem Duodezfürsten,<br />

und ich ärgere mich über Wilhelmine, dass sie in diese<br />

Verbindung eingewilligt hat.<br />

Warum hat sie nicht gewartet? Vielleicht hätte sich ihre Heirat<br />

mit dem Prinzen von Wales im Laufe <strong>der</strong> Zeit doch noch arrangieren<br />

lassen.<br />

Außenpolitische Konstellationen können sich von einem Tag auf<br />

den an<strong>der</strong>en än<strong>der</strong>n, vielleicht wäre England dann wie<strong>der</strong> an einem<br />

Bündnis mit uns interessiert und würde erneut über eine Heirat<br />

verhandeln.<br />

Vor ungefähr sechzehn Monaten habe ich mich von Wilhelmine<br />

verabschiedet, in einer Woche sehe ich sie wie<strong>der</strong>, ich freue mich<br />

und freue mich auch nicht, auch <strong>der</strong> Begegnung mit meinem Vater<br />

sehe ich mit gemischten Gefühlen entgegen, wahrscheinlich wird<br />

er mit mir über meine Heirat sprechen. Ich kann nur abwarten und<br />

versuche, die Reise humoristisch zu sehen.<br />

Da ich mich inzwischen in allen Dingen auskenne, was die<br />

Domänenbewirtschaftung betrifft, könnte ich Papa einen Plan<br />

schicken über meinen Einzug in Berlin: Mir voraus wird eine<br />

Schweineherde gehen, die Befehl hat, aus Leibeskräften zu grunzen.<br />

Hiernach wird eine Hammelherde folgen, diesen eine Herde<br />

Podolischer Rin<strong>der</strong>, gleich dahinter komme ich selbst auf einem<br />

großen Esel mit so schlichtem Zaumzeug wie möglich. Anstelle<br />

<strong>der</strong> Pistolen werde ich zwei Säcke mit verschiedenen Sämereien haben,<br />

anstelle des Sattels einen Sack Mehl, auf dem meine edle Gestalt<br />

thronen wird. Anstelle einer Peitsche werde ich einen Knüppel<br />

schwingen und anstelle eines Helms einen Strohhut auf dem Kopfe<br />

tragen. Ringsum Bauern mit Sensen, dahinter Edelleute, auf einem<br />

dick bepackten Düngerwagen die heroische Gestalt des Herrn von<br />

665


Natzmer und oben auf einem Heuwagen die furchtbare Gestalt des<br />

schrecklichen Rohwedell. Beschlossen wird <strong>der</strong> Zug durch Herrn<br />

von Wolden, <strong>der</strong> die Güte haben wird, seine Zeit auf einem mit<br />

Gerste und Weizen vollbeladenen Wagen zu verbringen.<br />

Ich befürchte, dass Papa <strong>der</strong> Humor fehlt, wenn ich ihm dies<br />

schreibe, er würde zornig werden über meine Spötterei, und wenn<br />

ich etwas vermeiden möchte, so ist es Papas Zorn. Unsere Beziehung<br />

ist inzwischen so weit, dass ich mit weiteren Freiheiten rechnen<br />

kann.<br />

Am Abend des 22. November traf <strong>Friedrich</strong> in Berlin ein. Als er,<br />

begleitet von Wolden und den beiden Kammerjunkern, den Weißen<br />

Saal betrat, blieb er einen Augenblick nachdenklich stehen.<br />

Er betrachtete die Damen in ihren seidenen Roben und die Offi<br />

ziere, die eine Quadrille tanzten, und fühlte sich plötzlich ausgeschlossen.<br />

Ich bin hier ein Außenseiter, dachte er, ein Gast <strong>der</strong> letzten<br />

Stunde, mein schlichter grauer Rock passt nicht zu dieser Gesellschaft,<br />

ich sehe wahrscheinlich aus wie ein kleiner Beamter einer<br />

Provinzialkammer, und <strong>der</strong> Wunsch, wie<strong>der</strong> die Obristenuniform<br />

zu tragen, überwältigte ihn.<br />

Niemand scheint mich zu erkennen, mon Dieu, habe ich mich so<br />

verän<strong>der</strong>t?<br />

Er sah Wolden an: «Was schätzen Sie, wie viele Paare hier tanzen?»<br />

Woldens Augen glitten durch den Saal.<br />

«Es könnten ungefähr siebenhun<strong>der</strong>t Paare sein.»<br />

«Mein Vater scheint bei <strong>der</strong> Hochzeit meiner Schwester nicht zu<br />

sparen, und in Küstrin müssen wir jeden Heller umdrehen.»<br />

Wie verbittert seine Stimme klingt, dachte Wolden, streifte<br />

<strong>Friedrich</strong> mit einem vorsichtigen Seitenblick und sah erstaunt, dass<br />

dessen Augen verächtlich und gleichzeitig drohend die Hofgesellschaft<br />

musterten.<br />

Der Thronfolgerblick, dachte Wolden; in Küstrin in <strong>der</strong> Kammer<br />

blickt er manchmal so und bei den Inspektionen <strong>der</strong> Ämter.<br />

In diesem Augenblick tauchte Grumbkow auf.<br />

«Guten Abend, Königliche Hoheit. War die Reise angenehm?<br />

666


Sind Sie mit Ihrem Appartement zufrieden? Ich bitte um etwas Geduld,<br />

ich eile, nein, ich fl iege zur Frau Erbprinzessin von Bayreuth»,<br />

und er tauchte in <strong>der</strong> Menge <strong>der</strong> tanzenden Paare unter.<br />

Erbprinzessin von Bayreuth – warum nicht Prinzessin von<br />

Wales, dachte <strong>Friedrich</strong>, und er spürte, dass erneut Groll gegen die<br />

Schwester in ihm aufstieg.<br />

Wilhelmine tanzte die Quadrille zusammen mit ihrem Gatten,<br />

und jedes Mal, wenn sie bei dem Paarwechsel dem Erbprinzen<br />

<strong>Friedrich</strong> gegenüberstand, bekam sie Herzklopfen. Sie betrachtete<br />

immer wie<strong>der</strong> den hochgewachsenen, stattlichen Mann und das offene,<br />

freundliche Gesicht und dachte: Ich liebe ihn, mon Dieu, ich<br />

hätte nie für möglich gehalten, dass ich für diesen Mann, <strong>der</strong> mir<br />

aufgezwungen wurde, Zuneigung empfi nden würde, ich liebe ihn,<br />

und daran wird auch Mama nichts än<strong>der</strong>n können.<br />

«Ich bin so glücklich», sagte <strong>Friedrich</strong> leise, «dass Sie bereit<br />

waren, mich zu heiraten, ich werde alles tun, damit Sie sich in<br />

Bayreuth wohl fühlen.»<br />

«Ich freue mich auf Bayreuth und einen eigenen Hof, Bayreuth<br />

wird ein Musenhof werden.»<br />

Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich Grumbkows Stimme neben<br />

sich hörte: «Prinzessin, sehen Sie denn nicht die Fremden, die<br />

soeben gekommen sind?»<br />

Wilhelmine sah sich um und entdeckte nach einer Weile einen<br />

jungen Mann im grauen Rock, <strong>der</strong> am Eingang des Saales stand.<br />

«Wer ist <strong>der</strong> junge Mann dort? Ich kenne ihn nicht.»<br />

«Prinzessin, umarmen Sie ihn, es ist <strong>der</strong> Kronprinz.»<br />

Wilhelmine glaubte, nicht richtig zu hören: «Mon Dieu, mein<br />

Bru<strong>der</strong>?», und zu dem Gatten: «Kommen Sie, er muss Sie kennenlernen.»<br />

Sie eilten zum Eingang des Saales, und Wilhelmine umarmte<br />

<strong>Friedrich</strong> und rief: «Fritz, du bist hier in Berlin, welche Überraschung!<br />

Ich wusste nicht, dass du zu meiner Hochzeit kommen<br />

würdest. Papa hat also sein Versprechen eingelöst, du bist frei, mon<br />

Dieu, dies ist einer <strong>der</strong> glücklichsten Augenblicke meines Lebens.»<br />

Sie löste sich von ihm, trat einen Schritt zurück und betrachtete<br />

ihn.<br />

667


Er hat sich äußerlich verän<strong>der</strong>t, dachte sie, kein Wun<strong>der</strong>, dass<br />

ich ihn nicht sofort erkannte, er ist dicker geworden und hat einen<br />

kurzen Hals bekommen, seine Augen haben sich ebenfalls verän<strong>der</strong>t,<br />

früher blickten sie träumerisch o<strong>der</strong> schwermütig, jetzt ist<br />

sein Blick kalt, abweisend; warum sagt er nichts?<br />

«Warum siehst du mich so an, Wilhelmine, gefalle ich dir nicht<br />

mehr?»<br />

Sie hörte den spöttischen Unterton in seiner Stimme und fühlte<br />

sich verunsichert.<br />

«Fritz, du gefällst mir immer, entschuldige, ich habe dich nicht<br />

sofort erkannt, weil du dich äußerlich verän<strong>der</strong>t hast, du, du fängst<br />

an, Papa zu ähneln, so sah er wahrscheinlich aus, als er in deinem<br />

Alter war.»<br />

Sie erschrak, als sie sah, dass seine Augen sich vor Zorn verdunkelten.<br />

«So, ich sehe Papa ähnlich, nun, ich werde bestimmt nie so ein<br />

Dickwanst werden wie er.»<br />

«Entschuldige, so war es nicht gemeint. Dies ist mein Gemahl,<br />

<strong>der</strong> Erbprinz von Bayreuth.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die strahlenden Augen <strong>der</strong> Schwester, dann<br />

musterte er den Erbprinzen und schwieg.<br />

In diesem Augenblick trat <strong>der</strong> König zu ihnen.<br />

Er umarmte <strong>Friedrich</strong> und sagte: «Mein Sohn, ich bringe Sie<br />

jetzt zu Ihrer Mutter», und zu Wilhelmine: «Sind Sie zufrieden<br />

mit mir? Sie sehen, dass ich Wort hielt.»<br />

«Mein Sohn, jetzt werde ich dich deiner Mutter vorführen, sie<br />

weiß nicht, dass du heute in Berlin weilst.»<br />

Während sie zur Königin gingen, dachte <strong>Friedrich</strong> über die<br />

Worte des Vaters nach: «Sie sehen, dass ich Wort hielt.»<br />

Was hat dies zu bedeuten, fragte er sich.<br />

Dann stand er vor Sophie Dorothea und hörte die Stimme des<br />

Vaters: «Liebe Frau, ich bringe Ihnen den Fritz zurück.»<br />

Die Königin betrachtete den Sohn, glaubte zu träumen, dann<br />

stand sie auf, umarmte <strong>Friedrich</strong>, sah zu dem Gatten und sagte:<br />

«Mon Dieu, Ihre Überraschung ist gelungen, ich hätte nie gedacht,<br />

dass Sie <strong>Friedrich</strong> zur Hochzeit seiner Schwester einladen, ich danke<br />

Ihnen.»<br />

668


Dann sah sie <strong>Friedrich</strong> an: «Du hast dich äußerlich verän<strong>der</strong>t,<br />

aber das ist unwichtig, ich hoffe, dass du dich nach wie vor für Literatur<br />

und Musik interessierst.»<br />

«Ja, Mama», erwi<strong>der</strong>te er leise und sah unsicher zu dem Vater<br />

hinüber. Er weiß nicht, dachte er, dass ich in Küstrin lese und Flöte<br />

spiele, er darf es nie erfahren.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Augen strahlten: «Ich bin glücklich, dass in<br />

meiner Familie wie<strong>der</strong> Harmonie herrscht, Wilhelmine ist vermählt,<br />

und du, mein Sohn, wirst auch demnächst vermählt, ich<br />

habe eine glänzende Verbindung für dich arrangiert, die Prinzessin<br />

Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern ist eine Nichte <strong>der</strong><br />

Kaiserin.»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak und hielt es für besser zu schweigen.<br />

Sophie Dorothea legte den Fächer zur Seite und überlegte: Es ist<br />

im Augenblick nicht diplomatisch, dass ich gegen diese Heirat spreche,<br />

ich werde sagen, dass ich damit einverstanden bin, und meine<br />

geheime Korrespondenz mit England fortführen.<br />

«Papa», sagte <strong>Friedrich</strong>, «wann wollen Sie mich mit <strong>der</strong> Nichte<br />

<strong>der</strong> Kaiserin vermählen?»<br />

«Nun, das eilt nicht, ich möchte vorher den Kaiser persönlich<br />

kennenlernen und erreichen, dass er mir Jülich und Berg garantiert.»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete auf: Bis zur Hochzeit wird noch viel Wasser<br />

die Spree hinunterfl ießen, dachte er, wer weiß, was alles passiert,<br />

vielleicht stirbt die Braunschweigerin an einer Krankheit.<br />

Während sie zum Souper gingen, sagte <strong>Friedrich</strong> zu Wilhelmine:<br />

«Ich würde dich morgen gerne unter vier Augen sprechen.»<br />

«Ich weiß, ich erwarte dich um elf Uhr.»<br />

An <strong>der</strong> Tafel hob <strong>der</strong> König sein Glas, sah <strong>Friedrich</strong> an und sagte<br />

feierlich: «Fritz, ich habe noch eine Überraschung für dich: Gestern<br />

kam mein Freund Leopold in Begleitung aller Generäle zu mir. Sie<br />

baten um deine Wie<strong>der</strong>aufnahme in die Armee. Ich gewährte diese<br />

Bitte, weil ich inzwischen davon überzeugt bin, dass du deine Pfl ichten<br />

als künftiger König ernst nimmst. Ich erlaube dir, übermorgen<br />

einer großen Parade beizuwohnen, und während deines Aufenthaltes<br />

in Berlin darfst du wie<strong>der</strong> die Uniform tragen. Ich gebe dir ein Regiment,<br />

das in Ruppin steht, du darfst Küstrin im März verlassen.»<br />

669


<strong>Friedrich</strong> starrte den Vater an: «Ich … ich darf wie<strong>der</strong> Offi zier<br />

sein?»<br />

Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er leise: «Ich danke Ihnen,<br />

allergnädigster Vater.»<br />

Am an<strong>der</strong>en Tag betrat <strong>Friedrich</strong> den Salon seiner Schwester, und<br />

als er den Erbprinzen von Bayreuth sah, blieb er an <strong>der</strong> Schwelle<br />

stehen und versuchte, den aufkeimenden Ärger zu unterdrücken.<br />

Wilhelmine eilte zu dem Bru<strong>der</strong>, umarmte ihn und führte ihn zu<br />

ihrem Gatten.<br />

Sie beobachtete, dass <strong>Friedrich</strong> den Schwager mit kalten Augen<br />

musterte, und sagte leise: «Mein Bru<strong>der</strong> möchte mit mir allein<br />

sprechen.»<br />

Der Erbprinz sah <strong>Friedrich</strong> unsicher an, verbeugte sich und verließ<br />

das Zimmer.<br />

Dann saßen die Geschwister einan<strong>der</strong> gegenüber, vermieden es,<br />

sich anzusehen, und schwiegen.<br />

Nach einer Weile hielt Wilhelmine die Stille nicht länger aus:<br />

«Fritz, was ist mit dir? Du bist so an<strong>der</strong>s, du bist mir fremd geworden,<br />

ich spüre, dass du meinen Gatten nicht magst, und das<br />

stimmt mich traurig, es ist nämlich so: Ich bin sehr glücklich, ich<br />

liebe ihn.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah die Schwester an und lächelte spöttisch: «Du liebst<br />

ihn, wie schön für dich, nun, ich habe nichts gegen ihn persönlich,<br />

aber du hast unter deinem Stand geheiratet, warum? Warum<br />

konntest du nicht warten? Deine Heirat ist außenpolitisch völlig<br />

wertlos. Als künftiger König bin ich natürlich daran interessiert,<br />

dass meine Geschwister Verbindungen eingehen, die politisch<br />

wertvoll sind.»<br />

Wilhelmine starrte <strong>Friedrich</strong> an, und dann begann sie zu weinen.<br />

In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass sie wahrscheinlich<br />

unter dem väterlichen Zorn ebenso leiden musste wie er. Er<br />

wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte, nahm ihre Hand und<br />

sagte: «Erzähle, was ist passiert?»<br />

«Es klingt vielleicht pathetisch, aber ich habe mich für dich geopfert,<br />

damit du wie<strong>der</strong> frei wirst. Papa versprach mir, dass du Küs-<br />

670


trin verlassen darfst, wenn ich den Erbprinzen von Bayreuth heirate.<br />

Du weißt nicht, was ich nach Papas Rückkehr im August letzten<br />

Jahres erdulden musste – monatelang durfte ich mein Appartement<br />

nicht verlassen, ich lebte wie eine Gefangene.<br />

Irgendwann im Februar erschien Grumbkow in Begleitung dreier<br />

Herren, einer von ihnen war Thulemeier, <strong>der</strong> zur englischen<br />

Partei am Hof gehört.<br />

Grumbkow sagte, <strong>der</strong> Friede in <strong>der</strong> Familie und dein Schicksal<br />

hingen von mir ab. Der König habe entschieden, dass ich den Erbprinzen<br />

von Bayreuth heiraten solle. Wenn ich gehorche, werde er<br />

dir nach <strong>der</strong> Hochzeit die völlige Freiheit gewähren, wenn ich mich<br />

weigerte, würde man mich und meine Dienerschaft nach <strong>der</strong> Festung<br />

Memel bringen, dort würde ich bis zu meinem Tod bleiben.<br />

Ich erwi<strong>der</strong>te, ich sei bereit, mich dem Willen des Königs zu unterwerfen,<br />

aber ich wolle vorher die Königin um ihre Zustimmung<br />

bitten.<br />

Grumbkow erwi<strong>der</strong>te, dies sei unmöglich, dann begab er sich in<br />

eine Fensternische, und ich hatte einige Minuten Bedenkzeit.<br />

Thulemeier fl üsterte mir zu, ich solle in alles einwilligen, diese<br />

Heirat würde nie zustandekommen. Er erbot sich, Mama davon<br />

zu überzeugen, dass diese geplante Verbindung mit Bayreuth das<br />

einzige Mittel sei, um England zu entscheidenden Erklärungen zu<br />

bewegen.»<br />

Sie schwieg und betupfte die Augen mit einem Spitzentuch.<br />

<strong>Friedrich</strong> horchte auf: «Ich schließe aus deinen Worten, dass<br />

Mama immer noch mit unseren Verwandten korrespondierte.»<br />

«Ja, sie hoffte bis zum Hochzeitstag, dass ich doch noch Prinzessin<br />

von Wales würde.<br />

Ich ging zu Grumbkow, sagte ihm, dass ich mich dem Willen des<br />

Königs unterwerfen würde, dann schrieb ich unter seiner Aufsicht<br />

einen Brief an Papa, später an Mama, ich bat sie um Verzeihung für<br />

meine Entscheidung.<br />

Papas Antwort war sehr gnädig, er schrieb, er werde immer für<br />

mich sorgen, Mama hingegen … sie schrieb, sie erkenne mich nicht<br />

länger als ihre Tochter an, und sie würde mich für immer hassen.<br />

Am 24. Mai sollte eine große Truppenschau stattfi nden, und am<br />

Abend zuvor kam ganz überraschend mein Bräutigam an. Seine<br />

671


Erscheinung und sein Benehmen gefi elen mir sofort. Mama behandelte<br />

ihn kalt und hochmütig. Am 1. Juni war die Verlobung. Papa<br />

schenkte mir einen Brillantring und ein goldenes Service.<br />

Während <strong>der</strong> folgenden Wochen warb mein Mann um meine<br />

Zuneigung. Er spürte natürlich die Spannungen in unserer Familie<br />

und bat Papa um ein Regiment, was er auch erhielt.<br />

Am Nachmittag des 20. November wurde ich zur Trauung angekleidet.<br />

Plötzlich erschien Mama, schickte die Kammerfrauen hinaus<br />

und redete auf mich ein, ich solle mich meinem Gatten verweigern,<br />

weil eine nicht vollzogene Ehe annulliert werden könne.»<br />

Sie schwieg, und nach einer Weile lächelte <strong>Friedrich</strong>: «Ich nehme<br />

an, dass du Mamas Wunsch nicht erfüllt hast.»<br />

«Natürlich, eine nicht vollzogene Ehe hätte Papa erneut erzürnt,<br />

du weißt ja, dass Fürsten in <strong>der</strong> Hochzeitsnacht von tausend Augen<br />

beobachtet werden, außerdem, nun ja, ich liebe meinen Gatten,<br />

und Bayreuth bedeutet für mich die Freiheit, ich werde so leben<br />

können, wie ich will, während <strong>der</strong> vergangenen Monate dachte ich<br />

manchmal, dass ich an diesem Hof nicht noch mehrere Jahre würde<br />

leben können.»<br />

«Freiheit», sagte <strong>Friedrich</strong> nachdenklich, «auch für mich bedeutet<br />

meine Vermählung Freiheit, das heißt: ein eigener Haushalt<br />

– mit dem Unterschied, dass ich meine Frau nie lieben werde, und<br />

Papa wird unser Budget bestimmt sparsam bemessen.»<br />

Wilhelmine sah den Bru<strong>der</strong> nachdenklich an: «Darf ich dir einen<br />

Rat geben? Du solltest dich innerlich nicht gegen die Braunschweigerin<br />

sträuben, lass dich überraschen, vielleicht ist sie hübscher<br />

und sympathischer, als du denkst.»<br />

«Wilhelmine, ich lege keinen Wert auf eine Venus, ich wünsche<br />

mir eine Frau, mit <strong>der</strong> ich mich vernünftig unterhalten kann. Sie<br />

soll zwar nicht versuchen, meine Politik zu beeinfl ussen, aber sie<br />

muss so intelligent sein, dass sie meine politischen Entscheidungen<br />

versteht, und ich fürchte, genau dies wird bei Elisabeth Christine<br />

nicht <strong>der</strong> Fall sein, aber warten wir ab, bis zur Hochzeit fl ießt noch<br />

viel Wasser die Spree hinunter.»<br />

Er schwieg, dann sah er Wilhelmine ernst an: «Ich verstehe<br />

nun, dass du Papa gehorchen musstest, als dein Bru<strong>der</strong> respektiere<br />

ich deine Entscheidung für den Erbprinzen, als künftiger König<br />

672


hingegen … es wäre mir lieber gewesen, wenn du auf den Prinzen<br />

von Wales gewartet hättest, für Preußen wird künftig England <strong>der</strong><br />

natürliche Bündnispartner sein, nicht Österreich, aber nun sollten<br />

wir dies alles vergessen, für mich bist du nach wie vor die ältere<br />

Schwester, die ich liebe und achte. Wenn du dich in Bayreuth nicht<br />

glücklich fühlst, wenn dein Gatte dich enttäuscht – man kann nie<br />

wissen, was alles passiert –, wenn du Geld benötigst, so lass es mich<br />

wissen, ich werde dann versuchen, dir zu helfen.»<br />

Wilhelmine atmete auf. In unserem Verhältnis hat sich nichts<br />

geän<strong>der</strong>t, dachte sie.<br />

«Danke, Fritz.»<br />

673


674<br />

5<br />

An einem Abend Ende Januar 1732 saß Grumbkow in seinem<br />

Arbeitszimmer, als <strong>der</strong> Diener Seckendorff meldete.<br />

«Entschuldige, dass ich unangemeldet zu so später Stunde auftauche,<br />

aber ich erhielt vorhin einen Brief des Prinzen Eugen mit<br />

<strong>der</strong> Anweisung, die Vermählung des Kronprinzen mit <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Elisabeth Christine voranzutreiben.»<br />

«Wie bitte? Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig, <strong>der</strong> Prinz<br />

sträubt sich im Augenblick gegen eine Vermählung, er schmäht<br />

in jedem Brief die Nichte <strong>der</strong> Kaiserin. Der Prinz Eugen weiß, wie<br />

sehr <strong>der</strong> Kronprinz die geplante Vermählung mit <strong>der</strong> Braunschweigerin<br />

hasst, ich schicke ihm regelmäßig eine Kopie <strong>der</strong> Briefe. Warum<br />

diese Eile?»<br />

«Für den Prinzen Eugen sind die Gefühle <strong>der</strong> Brautleute unwichtig,<br />

für ihn ist eine Fürstenhochzeit vor allem eine politische<br />

Angelegenheit. In Wien weiß man, dass <strong>der</strong> Kronprinz Küstrin in<br />

einigen Wochen verlassen wird, und man glaubt, jetzt sei <strong>der</strong> richtige<br />

Zeitpunkt, um den künftigen preußischen König an das Haus<br />

Habsburg zu binden. Eugen for<strong>der</strong>t, dass das Paar sich so bald wie<br />

möglich trifft, dann soll die Verlobung erfolgen und möglichst noch<br />

in diesem Jahr die Heirat. Er schreibt, es sei notwendig, das Vertrauen<br />

des Prinzen zu gewinnen; natürlich darf <strong>der</strong> König nichts<br />

davon merken. Du musst bei je<strong>der</strong> Gelegenheit dem Prinzen versichern,<br />

dass <strong>der</strong> Kaiser ihn und sein Haus achtet und liebt, und da<br />

dies allein nicht ausreichen wird, gibt <strong>der</strong> Kaiser mir eine Summe<br />

von 2.500 Dukaten, die du dem Prinzen in Raten geben sollst. Natürlich<br />

darf niemand davon wissen, außer dir und dem Prinzen.»<br />

Grumbkow ging nachdenklich auf und ab.<br />

«Nun gut, ich werde mit Jupiter reden, mit einer raschen Verlobung<br />

ist er wahrscheinlich einverstanden; eine rasche Vermählung<br />

wünscht er nicht, damit <strong>der</strong> Prinz sich in Ruhe auf seine künftigen<br />

Aufgaben vorbereiten kann, er befürchtet wohl, dass eine junge<br />

Frau ihn ablenken könnte, außerdem möchte er vorher noch weitere<br />

Zusicherungen haben, was Jülich und Berg betrifft. Nun, mit


Jupiter wird man sich einigen können, was allerdings den Prinzen<br />

betrifft, so sehe ich Stürme heraufziehen. Sein Verhältnis zum König<br />

hat sich seit <strong>der</strong> Heirat <strong>der</strong> Markgräfi n von Bayreuth erfreulich<br />

gestaltet. Ich befürchte, dass es wegen <strong>der</strong> Verlobung zu einem<br />

neuen Konfl ikt zwischen Vater und Sohn kommen kann, und ich<br />

bin von <strong>der</strong> Gnade des künftigen Königs abhängig.»<br />

«Mein Freund, ich verstehe deine Bedenken, aber du stehst seit<br />

Jahren im Sold des Wiener Hofes, in Wien möchte man Ergebnisse<br />

sehen für die Taler, die man zahlt.»<br />

Grumbkow seufzte: «Ich hoffe, dass <strong>der</strong> Prinz vernünftig reagiert,<br />

mein Balanceakt zwischen Vater und Sohn wird allmählich<br />

unerträglich für mich.»<br />

Am späten Abend des 5. Februar saß <strong>Friedrich</strong> an seinem Schreibtisch<br />

und arbeitete an einer Schrift über den schlesischen Handel.<br />

Als es elf Uhr schlug, sah er auf und legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite.<br />

Während er Sand über die Tinte streute, hörte er, dass Stiefel die<br />

Treppe heraufpolterten, und sah irritiert auf.<br />

Der Diener meldete einen Eilkurier des Königs, und <strong>Friedrich</strong><br />

betrachtete erstaunt den Brief des Vaters.<br />

Ein Brief am späten Abend, dachte er, da stimmt etwas nicht.<br />

Er öffnete das Schreiben und las:<br />

Mein lieber Sohn Fritz!<br />

Potsdam, den 4. Februar 1732<br />

<strong>Friedrich</strong> sah überrascht auf. Was für eine ungewöhnliche Anrede,<br />

dachte er, sonst schreibt Papa nur «Mein lieber Sohn». Er überfl og<br />

den Brief, erschrak und las einzelne Sätze noch einmal:<br />

«… Ihr wisst, mein lieber Sohn, dass, wenn meine Kin<strong>der</strong> gehorsam<br />

sind, ich sie sehr lieb habe, so wie Ihr zu Berlin gewesen, ich<br />

Euch alles von Herzen vergeben habe, und von die Berliner Zeit,<br />

dass ich Euch nicht gesehen, auf nichts gedacht als auf Euer Wohlsein<br />

und Euch zu etablieren, sowohl bei <strong>der</strong> Armee als auch mit<br />

einer ordentlichen Schwiegertochter, und Euch suchen bei meinem<br />

675


Leben noch zu verheiraten. Ihr könnt wohl überzeugt sein, dass ich<br />

habe die Prinzessinnen des Landes durch an<strong>der</strong>e, so viel als möglich<br />

ist, examinieren lassen, was sie für Conduite und Education,<br />

da sich denn die Prinzessin, die älteste von Bevern, gefunden, die<br />

da wohl aufgezogen ist, modeste und eingezogen, so müssen die<br />

Frauen sein … Die Prinzessin ist nicht hässlich, auch nicht schön …<br />

wenn Ihr einen Sohn haben werdet, da will ich Euch lassen reisen,<br />

die Hochzeit aber vor zukommenden Winter nicht sein kann, indessen<br />

werde schon Gelegenheit zu machen, dass Ihr Euch etliche<br />

Male sehet in allem Honneur, doch damit Ihr sie noch lernet kennen.<br />

Sie ist ein gottesfürchtiger Mensch, und dieses ist alles …<br />

Dein getreuer Vater bis an den Tod<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

Wenn <strong>der</strong> Herzog von Lothringen herkommt, so werde ich dich<br />

kommen lassen. Ich glaube, Deine Braut wird hierher kommen.<br />

Adieu. Gott sei mit Euch.<br />

<strong>Friedrich</strong> las den Brief erneut, legte ihn auf den Tisch und versuchte,<br />

seine Gedanken zu ordnen: Er hat bereits alles geregelt, bestimmt<br />

und festgesetzt, offi ziell ist es ein Heiratsvorschlag, aber<br />

er erwartet natürlich, dass ich die Braut, die er mir befi ehlt, akzeptiere.<br />

Während <strong>der</strong> vergangenen Wochen waren seine Briefe<br />

liebevoller, er schenkte mir ein Pferd, kündigte ein Silberservice<br />

an, dann war immer die Rede von meiner Reise nach Berlin, um<br />

den Herzog von Lothringen, den Bräutigam Maria Theresias, zu<br />

begrüßen, wahrscheinlich wird er während meines Aufenthaltes<br />

in Berlin meine Verlobung verkünden.<br />

Wahrscheinlich sollten <strong>der</strong> liebevolle Ton seiner Briefe und seine<br />

Freigebigkeit mich für diese Ehe kö<strong>der</strong>n. Warum aber verschiebt er<br />

die Heirat bis in den Winter, kann er sich doch nicht entschließen?<br />

Nun, ich habe keine Wahl, ich werde Papa schreiben, dass ich<br />

ihm gehorchen werde, gleichzeitig muss Grumbkow dafür sorgen,<br />

dass diese Ehe nicht geschlossen wird; was schreibe ich ihm?<br />

Er ging unruhig auf und ab, und schließlich kam ihm ein Gedanke:<br />

Ich werde Grumbkow um Hilfe bitten und gleichzeitig unter<br />

Druck setzen.<br />

676


Er ging zum Schreibtisch und schrieb einige Sätze: «Wenn es<br />

auf Erden noch ehrliche Leute gibt, müssen sie daran denken, mich<br />

aus einer <strong>der</strong> gefährlichsten Lagen zu befreien, in <strong>der</strong> ich mich je<br />

befunden habe. Wenn man mich im Stich lässt, so weiß ich mir selber<br />

zu helfen … Ich habe noch Mittel, und ein Pistolenschuss kann<br />

mich befreien von meinem Leid und meinem Leben …»<br />

Die Drohung mit Selbstmord wird ihre Wirkung nicht verfehlen,<br />

dachte er zufrieden, und begann, den Brief an den Minister zu<br />

formulieren.<br />

Einige Tage später las <strong>Friedrich</strong> die Antwort Grumbkows: Wie<br />

können Eure Königliche Hoheit dem König alles zugestehen und<br />

dabei verzweifelt reden und verlangen, dass ich mich in Dinge einmischen<br />

soll, die mich den Kopf kosten können? Nein, Monseigneur,<br />

das Hemd ist mir näher als <strong>der</strong> Rock. Ich bin nicht verpfl ichtet,<br />

mich und meine arme Familie ins Ver<strong>der</strong>ben zu stürzen, nur<br />

aus Liebe zu Eurer Königlichen Hoheit, die nicht mein Herr sind,<br />

und die ich in Ihr Ver<strong>der</strong>ben rennen sehe. Ich bin zu gottesfürchtig,<br />

um mein Herz an einen Prinzen zu hängen, <strong>der</strong> sich ohne Grund<br />

das Leben nehmen will. Monseigneur, Sie mögen noch so viel Geist<br />

haben, aber Sie denken nicht als Ehrenmann und Christ, und ohne<br />

dies gibt es kein Heil. Ich ziehe mich von Ihren Angelegenheiten<br />

zurück und wünsche Ihnen tausendfachen Segen …<br />

<strong>Friedrich</strong> legte den Brief zur Seite und überlegte: Meine Drohung<br />

mit Selbstmord hat ihn nicht beeindruckt, er will mich in<br />

dieser Heiratsaffäre nicht unterstützen, nun gut, ich werde es mir<br />

merken, und wenn ich König bin, werde ich ihn aus meinen Diensten<br />

entlassen, nicht nur wegen dieses Briefes; aber ich kann keinen<br />

Minister brauchen, <strong>der</strong> zwei Herren dient, und Grumbkow hat stets<br />

die Interessen <strong>der</strong> Habsburger vertreten und so verhin<strong>der</strong>t, dass<br />

mein Vater erkennt, dass Preußen sich zu einem eigenständigen<br />

Staat entwickelt, <strong>der</strong> auch ohne die Habsburger bestehen kann.<br />

Er ging im Zimmer hin und her, blieb nach einer Weile stehen<br />

und sagte laut zu sich selbst: «Ich werde meinem Vater gehorchen<br />

und die Braunschweigerin heiraten. Die Ehe macht großjährig, und<br />

sobald ich das bin, werde ich Herr im Haus sein, und meine Frau<br />

hat nichts zu befehlen, ich werde heiraten. Aber sobald es geschehen<br />

ist, dann heißt es ‹Bonjour Madame, et bon chemin›.<br />

677


Solange mein Vater lebt, muss ich mit ihr zusammenleben, zumindest<br />

hin und wie<strong>der</strong>, wegen <strong>der</strong> Thronfolge, aber nach seinem<br />

Tod werde ich ein getrenntes Leben arrangieren.»<br />

Am Nachmittag des 28. Februar 1732 saßen Sophie Dorothea, ihre<br />

Töchter, die Herzogin von Braunschweig-Bevern und Elisabeth<br />

Christine im Salon <strong>der</strong> Königin im Berliner Schloss, warteten auf<br />

die Ankunft des Kronprinzen und schwiegen sich an.<br />

Sophie Dorothea betrachtete Elisabeth Christine, die neben ihrer<br />

Mutter saß, auf das himmelblaue Seidenkleid blickte und hin und<br />

wie<strong>der</strong> eine Falte glättete.<br />

Je länger sie die künftige Schwiegertochter betrachtete, desto<br />

mehr ärgerte sie sich über die Verlobung dieses Mädchens mit ihrem<br />

ältesten Sohn.<br />

Eine weitere Mesalliance, dachte sie verbittert, wenn sie wenigstens<br />

wohlhabend wäre, ihre Mitgift ist einfach lächerlich, 25 000<br />

Taler, das ist alles.<br />

Philippine Charlotte stieß ihre Schwester Sophie Dorothea an<br />

und fl üsterte: «Unser Bru<strong>der</strong> tut mir leid: Seine Braut ist völlig ungebildet,<br />

sie weiß nicht, wer Voltaire ist, und sie hat we<strong>der</strong> Corneille<br />

noch Racine o<strong>der</strong> Molière gelesen, das habe ich gestern von ihr<br />

erfahren.»<br />

Sophie Dorothea sah die Schwester erstaunt an: «Wie bitte, sie kennt<br />

die französischen Dichter nicht? Dann passt sie nicht zu Fritz.»<br />

«Sie passt we<strong>der</strong> zu Fritz noch zu unserer Familie, sieh sie dir<br />

an, sie wagt nicht, die Augen zu erheben, sie weiß, dass sie zu ungebildet<br />

ist.»<br />

Philippine Charlotte begann zu kichern, und ihre jüngeren<br />

Schwestern fi ngen an, laut zu lachen.<br />

Als Elisabeth Christine das Gelächter hörte, fühlte sie sich so<br />

allein und einsam wie noch nie zuvor.<br />

Am Abend vor unserer Abreise, dachte sie, erfuhr ich, dass ich<br />

mit dem preußischen Kronprinzen verlobt würde. Ich freute mich:<br />

Eines Tages werde ich Königin von Preußen sein. Jetzt habe ich<br />

Angst davor. Ich habe Angst vor dieser Familie, ich spüre, dass<br />

die Königin und ihre Töchter mich nicht mögen, ich weiß, dass<br />

mein künftiger Gatte zu dieser Verbindung nicht gefragt wurde,<br />

678


er wird mich wahrscheinlich auch ablehnen. Mein Schwiegervater<br />

ist wahrscheinlich <strong>der</strong> einzige Mensch, <strong>der</strong> mich akzeptiert, er<br />

hat mich liebevoll und herzlich begrüßt, lei<strong>der</strong> ist er sofort nach<br />

Potsdam gereist und hat Papa mitgenommen. Werde ich meinem<br />

Bräutigam gefallen?<br />

Sie zuckte zusammen, als sie die Stimme des Türstehers hörte:<br />

«Seine Königliche Hoheit, <strong>der</strong> Kronprinz.»<br />

Sie hob den Kopf, und fast im gleichen Augenblick begann sich<br />

das Zimmer vor ihr zu drehen, und sie sah erneut auf ihr Kleid.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrat den Salon, blieb einen Augenblick stehen, betrachtete<br />

die Damen und ging zu seiner Mutter.<br />

Er beugte sich über ihre Hand, begrüßte die Herzogin, übersah<br />

seine Braut und wandte sich zur Königin, die ihn anlächelte.<br />

«Mein Sohn, ich freue mich so, Sie zu sehen, <strong>der</strong> Anlass allerdings<br />

…», sie schwieg und sah zu Elisabeth Christine.<br />

«Mama», sagte er leise und hoffte, dass die künftige Schwiegermutter<br />

seine Worte hörte, «eine Verlobung ist noch keine Hochzeit,<br />

wer weiß, was bis dahin noch alles passiert; ich meine, wer<br />

weiß, wie sich die außenpolitischen Verhältnisse verän<strong>der</strong>n. Wo ist<br />

Papa?»<br />

«Er ist zurzeit in Potsdam, er verhandelt mit dem Herzog über<br />

den Ehevertrag, und er wird morgen o<strong>der</strong> übermorgen mit Ihrem<br />

künftigen Schwiegervater und dem Herzog von Lothringen in Berlin<br />

eintreffen. Er hat für seine Gäste ein beson<strong>der</strong>es Vergnügen<br />

arrangiert, nämlich unsere Teilnahme an <strong>der</strong> Hochzeit <strong>der</strong> einzigen<br />

Tochter unseres reichen Ministers von Creutz, sie heiratet<br />

den Hofjägermeister von Haacke.»<br />

«Was für Vergnügungen hat er denn für den Herzog von Lothringen<br />

arrangiert?»<br />

«Ich weiß es nicht, wahrscheinlich Jagdausfl üge und Abendgesellschaften<br />

beim Berliner Adel, diese Gesellschaften kosten ihn<br />

nichts.»<br />

«Gewiss, aber er könnte dem Bräutigam Maria Theresias demonstrieren,<br />

dass Preußen kein armes Land ist, Österreich kann<br />

ruhig wissen, dass Preußen ein Staat ist, den man nicht mehr ignorieren<br />

kann. Wahrscheinlich muss <strong>der</strong> Lothringer die unkultivierte<br />

Männerrunde in <strong>der</strong> Tabagie über sich ergehen lassen.»<br />

679


«Unkultiviert, Königliche Hoheit?», sagte die Herzogin. «Mein<br />

Mann ist begeistert vom Tabakskollegium.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Nun, seit die beiden Hofnarren fort<br />

sind, geht es in <strong>der</strong> Runde wahrscheinlich etwas gesitteter zu.»<br />

«Hofnarren, Königliche Hoheit, das verstehe ich nicht.»<br />

«Der Professor Gundling und <strong>der</strong> Gelehrte Faßmann gehörten<br />

zu <strong>der</strong> Männerrunde, für meinen Vater waren sie Hofnarren, weil<br />

er die ‹Blackscheißer› nicht mag. Gundling starb im April des vergangenen<br />

Jahres, und Faßmann verließ Berlin bei Nacht und Nebel,<br />

er fl oh sozusagen vor dem Tabakskollegium.»<br />

Er ging hinüber zu den Schwestern, und die Herzogin spürte,<br />

dass eine unbestimmte Angst in ihr hochstieg.<br />

Er ignoriert meine Tochter, und er hofft, dass er sie trotz Verlobung<br />

nicht heiraten wird. Mein armes Kind, wo wird dies alles<br />

enden?<br />

<strong>Friedrich</strong> umarmte Philippine Charlotte, Sophie Dorothea, Ulrike<br />

und Amalie, dann trat er einen Schritt zurück, musterte die<br />

Mädchen und sagte: «Du bist zu ernst, Tobise, du musst mehr lächeln,<br />

Ulrike wird immer hübscher, und Amalie ist seit dem letzten<br />

November noch dicker geworden.»<br />

«Kein Wun<strong>der</strong>», sagte Ulrike, «sie stopft den ganzen Tag Süßigkeiten<br />

in sich hinein, allerdings herrscht dann wenigstens Ruhe in<br />

unserem Appartement. Wenn sie nicht isst, klimpert sie auf dem<br />

Klavier o<strong>der</strong> Spinett o<strong>der</strong> bearbeitet ihre Laute und singt, <strong>der</strong> Lärm<br />

ist manchmal unerträglich, ich wünsche mir so sehr ein eigenes<br />

Appartement.»<br />

«Ich klimpere nicht», rief Amalie, «ich übe Tonleitern.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte: «Beruhige dich, Ulrike, es gefällt mir, dass<br />

Amalie sich für die Musik interessiert. Nach <strong>der</strong> Abendtafel wirst<br />

du uns etwas vorspielen.»<br />

Er ging wie<strong>der</strong> zu seiner Mutter.<br />

«Sie wissen wahrscheinlich längst, dass Wilhelmine gegen Ende<br />

August ihr Kind bekommen wird, sie bat mich, die Patenschaft<br />

zu übernehmen, und ich werde diesen Wunsch gern erfüllen. Ein<br />

Sohn wird den Namen <strong>Friedrich</strong> tragen, eine Tochter den Namen<br />

Frie<strong>der</strong>ike, aber ich rede und rede und vergesse dabei die Hauptperson.»<br />

680


Er trat zu Elisabeth Christine.<br />

Mon Dieu, dachte er, sie muss sehr schüchtern sein: Seit ich das<br />

Zimmer betrat, hält sie die Augen gesenkt.<br />

«Guten Abend, Cousine, willkommen in Berlin.»<br />

Sie sah auf, starrte <strong>Friedrich</strong> an, bekam Herzklopfen und ärgerte<br />

sich, als sie spürte, dass sie errötete.<br />

Er ist ein schöner Mann, dachte sie, wahrscheinlich etwas kleiner<br />

als ich, er ist nur mittelgroß, aber seine Figur ist wohlproportioniert,<br />

seine Gesichtszüge sind weich gerundet, seine Stimme hat<br />

einen schmeichelnden Klang, und seine Augen … so große blaue<br />

Augen, die so intensiv leuchten, habe ich noch nie gesehen. Ich<br />

werde Papa immer dankbar sein, dass er mich mit diesem schönen<br />

Mann verbunden hat. Ob ich ihm wenigstens ein bisschen gefalle?<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte überrascht das junge Mädchen.<br />

Mon Dieu, dachte er, sie ist hübscher, als ich dachte. Grumbkow<br />

und Papa haben in ihren Briefen untertrieben, wenn sie versuchten,<br />

ihre äußere Erscheinung zu beschreiben. Gott sei Dank<br />

war die Zeit zu knapp, um sie malen zu lassen und mir ihr Porträt<br />

zu schicken. Hofmaler haben die Angewohnheit, eine Person vorteilhafter<br />

darzustellen, als sie in Wirklichkeit aussieht.<br />

Sie ist nicht schlank, aber <strong>der</strong> Teint schimmert blendend weiß,<br />

ihre hellblauen Augen blicken schüchtern, <strong>der</strong> Mund ist klein und<br />

niedlich, ihre aschblonden Haare sind dicht und gelockt, ihr Gesichtsausdruck<br />

ist lieblich, allerdings auch sehr kindlich, sie wirkt<br />

wie eine Zwölfjährige. Wie alt ist sie jetzt? Sie wurde am 8. November<br />

1715 geboren, also sechzehneinhalb Jahre. Mon Dieu, Wilhelmine<br />

war in diesem Alter eine vollendete junge Dame; nun, sie<br />

gefällt mir, ich werde mich mit ihr unterhalten, dann weiß ich, ob<br />

sie wirklich noch so kindlich ist wie ihr Gesicht.<br />

Er setzte sich auf einen Sessel ihr gegenüber und lächelte sie an.<br />

«War die Reise nach Berlin Ihre erste längere Reise?»<br />

Elisabeth Christine sah <strong>Friedrich</strong> an und fühlte sich verunsichert.<br />

Er liebt eine geistreiche Unterhaltung, dachte sie, ich darf jetzt<br />

nichts Falsches sagen und mich blamieren.<br />

«Ja.»<br />

«War Ihre Reise angenehm?»<br />

681


«Ja.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah das junge Mädchen irritiert an.<br />

Warum erzählt sie nicht von <strong>der</strong> Reise, gab es nichts, was sie<br />

beeindruckt hat?<br />

«Sie sind schon einige Tage in Berlin, haben Sie sich die Stadt<br />

bereits angesehen?»<br />

«Nein.»<br />

Sie ist die künftige preußische Königin, die Hauptstadt müsste<br />

sie doch interessieren, dachte er gereizt.<br />

«In Wolfenbüttel soll es eine großartige Bibliothek geben, die einer<br />

Ihrer Vorfahren aufgebaut hat, waren Sie schon einmal dort?»<br />

«Nein.»<br />

Mon Dieu, dachte <strong>Friedrich</strong> verzweifelt, kennt sie nur die Worte<br />

Ja und Nein?<br />

«Ich habe meinen Vater gebeten, uns eine großartige und prachtvolle<br />

Verlobungsfeier zu arrangieren, mit vielen Gästen. Gewöhnlich<br />

sind Verlobungen bei uns Familienfeiern, aber für mich als<br />

künftiger König ist es ein Staatsakt von politischer Bedeutung.»<br />

Elisabeth Christine sah ihn unsicher an.<br />

Was meint er damit, überlegte sie und senkte verlegen die Augen,<br />

weil sie nicht wusste, was sie antworten sollte.<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete sie und dachte verärgert: Sie ist stumm,<br />

dumm, albern und viel zu schüchtern, ich werde Grumbkow sagen,<br />

dass sie eine zweite Erziehung nötig hat, sie ist eine dumme Gans<br />

und wird es wahrscheinlich auch bleiben, aber sie muss zumindest<br />

lernen, wie eine Königin repräsentiert.<br />

Sophie Dorothea beobachtete mit Genugtuung, wie die Augen<br />

des Sohnes erkalteten, und sagte nach einer Weile: «Sie sind wahrscheinlich<br />

glücklich, dass Sie Küstrin bald verlassen werden?»<br />

«Ja und nein. Die Arbeit in <strong>der</strong> Domänenkammer ist interessant,<br />

ich habe dort viel gelernt, noch mehr allerdings lernte ich, als ich<br />

die einzelnen Ämter und Güter besuchte und Einblick in die Praxis<br />

gewann. In Küstrin wurde mir klar, warum Papa regelmäßige<br />

Inspektionsreisen unternimmt. Wenn ich König bin, werde ich<br />

ebenfalls regelmäßig die Provinzen besuchen und nach dem Rechten<br />

sehen. Es gibt so viele sehenswerte Güter in Brandenburg und<br />

wahrscheinlich auch in Ostpreußen.»<br />

682


Er schwieg und sah verträumt vor sich hin.<br />

Sophie Dorothea beobachtete ihn und musste unwillkürlich lächeln.<br />

Er denkt jetzt wahrscheinlich an seine Besuche auf Tamsel und<br />

an Frau von Wreech, mon Dieu, in den Berliner Salons wird gemunkelt,<br />

dass er ein Verhältnis mit dieser Dame hat. Sie erwartet<br />

ein Kind, und angeblich soll er <strong>der</strong> Vater sein. Das ist wahrscheinlich<br />

dummes Geschwätz, mein Mann allerdings glaubt, dass er<br />

<strong>der</strong> Großvater dieses Kindes ist, und er freut sich sogar darüber!<br />

Die Ramen erzählte mir, was er in <strong>der</strong> Tabagie zu <strong>der</strong> vermuteten<br />

Vaterschaft seines Sohnes sagte: «Das macht mir Spaß, er wird’s<br />

ebenso mit <strong>der</strong> Bevern machen.»<br />

Es ist gegenüber seiner künftigen Schwiegertochter taktlos, so<br />

etwas zu sagen, aber Taktgefühl war noch nie seine Stärke.<br />

«Der schlesische Handel», fuhr <strong>Friedrich</strong> fort, «beschäftigt mich<br />

zurzeit am meisten, dies ist ein volkswirtschaftliches Problem, das<br />

mit <strong>der</strong> Politik zusammenhängt, ich habe mir auf <strong>der</strong> Karte die<br />

Ostseeküste betrachtet, die wir von <strong>der</strong> Peene bis zur Memel besitzen,<br />

und ich habe mir Schlesien betrachtet, das den Handel <strong>der</strong><br />

ganzen preußischen Monarchie unterbindet. Ich arbeite zurzeit an<br />

einer Denkschrift über den schlesischen Handel, und diese Arbeit<br />

nimmt mich so völlig in Anspruch, dass, wenn man mich fragt,<br />

ob ich Senf zum Rindfl eisch haben will, ich imstande bin, zu antworten:<br />

‹Sehen Sie in <strong>der</strong> neuen Zollrolle nach.› Ich kann mich einer<br />

Sache nicht halb ergeben, ich muss immer kopfüber hinein. In<br />

Ruppin werde ich nach dem täglichen Exerzieren genügend Muße<br />

haben, um zu lesen, zu lesen, zu lesen, ich werde mich intensiv mit<br />

<strong>der</strong> Ökonomie und Verwaltung beschäftigen und versuchen, meine<br />

Allgemeinbildung zu verbessern.»<br />

Sophie Dorothea sah ihren Sohn erstaunt an: «Ich bin überrascht,<br />

früher haben Sie nie so geredet, interessieren Sie sich nicht<br />

mehr für Literatur und Musik?»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte: «Seien Sie unbesorgt, Mama, meinen Liebhabereien<br />

fröne ich nach wie vor, ich habe auch in Küstrin Zeit, um<br />

Verse zu schmieden und Flöte zu spielen, ich habe sogar angefangen,<br />

ein kleines Konzert zu komponieren, und ich werde auch in<br />

Ruppin dichten und musizieren, aber alles muss man zur rechten<br />

683


Zeit tun; ich habe inzwischen erkannt, dass ein Fürst sich zuerst<br />

seinen Pfl ichten widmen muss und dann seinen Vergnügungen.»<br />

Sophie Dorothea betrachtete <strong>Friedrich</strong> eine Weile und sagte<br />

dann: «Sie haben sich sehr verän<strong>der</strong>t.»<br />

Er ähnelt allmählich seinem Vater, dachte sie, wie bedauerlich,<br />

hoffentlich wird er kein zweiter <strong>Friedrich</strong> Wilhelm.<br />

<strong>Friedrich</strong> hörte die Enttäuschung in <strong>der</strong> Stimme seiner Mutter<br />

und amüsierte sich darüber.<br />

Sie ist überrascht, dachte er, mit einer solchen Entwicklung hat<br />

sie nicht gerechnet, nun, ich auch nicht. Wahrscheinlich muss man<br />

im Leben schmerzliche Erfahrungen machen, um verborgene Fähigkeiten<br />

zu erkennen. Nun, es werden sich noch mehr Leute über<br />

meine Entwicklung wun<strong>der</strong>n, vor allem, wenn ich König bin.<br />

Elisabeth Christine sah <strong>Friedrich</strong> bewun<strong>der</strong>nd an und dachte deprimiert<br />

daran, dass sie wahrscheinlich nie eine ebenbürtige Gesprächspartnerin<br />

für ihn sein würde.<br />

Ich muss viel lesen und mich bilden, dachte sie, dies ist die einzige<br />

Möglichkeit, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, vielleicht<br />

gewinne ich dann auch seine Zuneigung, ich wünsche mir so sehr<br />

seine Zuneigung, weil … weil ich mich in ihn verliebt habe.<br />

Ein Lakai meldete, dass die Abendtafel gerichtet sei, und als<br />

<strong>Friedrich</strong> neben Elisabeth Christine zum Speisesaal ging, sah er<br />

entsetzt, dass sie etwas größer war als er.<br />

Sie überragt mich um einen halben Kopf, dachte er verärgert,<br />

mon Dieu, was soll das werden? Ich, <strong>der</strong> künftige preußische König,<br />

muss neben einer Frau, die größer ist als ich, offi zielle Empfänge<br />

abhalten, es ist einfach entsetzlich. Nein, es ist ganz einfach:<br />

Nach meiner Thronbesteigung werde ich mich von ihr trennen.<br />

Nach <strong>der</strong> Tafel zogen sich die Herzogin und Elisabeth Christine in<br />

ihre Appartements zurück, und Sophie Dorothea begab sich mit<br />

ihren Kin<strong>der</strong>n in das Musikzimmer.<br />

Dort setzte Amalie sich an das Klavier und spielte Frühlingslie<strong>der</strong>.<br />

Einige Minuten lang war <strong>der</strong> Raum von Musik erfüllt, dann<br />

konnte Sophie Dorothea sich nicht länger beherrschen und sagte<br />

gereizt: «Mein Sohn, ich kann Ihre Verzweifl ung über diese Ver-<br />

684


indung verstehen. Sie ist eine wahre Gans; auf alles, was man sie<br />

fragt, antwortet sie mit Ja o<strong>der</strong> Nein, dazu lacht sie so albern, dass<br />

einem übel wird.»<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte die Mutter und dachte über eine passende<br />

Antwort nach, die sie nicht verletzte, aber gleichzeitig in ihre<br />

Schranken wies.<br />

In diesem Augenblick rief Philippine Charlotte: «Mama, Sie kennen<br />

noch nicht alle ihre Vorzüge. Eines Morgens war ich bei ihrer<br />

Toilette. Ich wäre beinahe erstickt. Sie stinkt wie die Pest. Ich glaube,<br />

sie hat mindestens zehn bis zwölf Fisteln, außerdem bemerkte<br />

ich, dass sie schief ist. Ihr Rock ist auf <strong>der</strong> einen Seite ausgepolstert<br />

und die eine Hüfte höher als die an<strong>der</strong>e.»<br />

<strong>Friedrich</strong>s Augen wan<strong>der</strong>ten zur Schwester, und als Philippine<br />

Charlotte ihn fröhlich anlächelte, erschrak sie bei dem kalten Blick<br />

seiner Augen.<br />

Er stand abrupt auf und sagte leise in einem Ton, <strong>der</strong> keinen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

duldete: «Meine Familie vergisst, dass sie über die künftige Königin<br />

von Preußen redet. Ich wurde zwar zu dieser Verbindung gezwungen,<br />

und ich liebe die Prinzessin nicht, auch fehlt es ihr an höfi schem<br />

Schliff; ich werde dafür sorgen, dass sie diese Äußerlichkeiten lernt, und<br />

wenn sie einmal Königin ist, wird sie repräsentieren können.<br />

Ich erwarte, dass man <strong>der</strong> künftigen preußischen Königin den<br />

ihr gebührenden Respekt entgegenbringt und die Achtung, auf die<br />

sie als Königin Anspruch hat.<br />

Dies gilt nicht nur für die ausländischen Gesandten, das Offi zierskorps,<br />

die Beamten und Hofl eute, dies gilt auch für meine Familie.»<br />

Sophie Dorothea und ihre Tochter sahen einan<strong>der</strong> erstaunt an,<br />

dann sagte die Königin: «Bitte, beruhigen Sie sich, ich bin gerne<br />

bereit, Ihren Wunsch zu erfüllen.»<br />

«Das ist kein Wunsch, Mama, das ist ein Befehl, gute Nacht.»<br />

Er verließ das Zimmer, und die Königin und ihre Tochter sahen<br />

ihm verblüfft nach.<br />

«Verstehen Sie ihn, Mama?»<br />

Sophie Dorothea fächelte sich erregt Luft zu.<br />

«Nein. Er hat sich sehr verän<strong>der</strong>t: Er erteilt Befehle, er fängt an,<br />

seinem Vater zu ähneln. Hoffentlich tyrannisiert er uns als König<br />

nicht ebenso wie sein Vater.»<br />

685


Am Spätnachmittag des 10. März begab <strong>Friedrich</strong> sich mit gemischten<br />

Gefühlen zum Arbeitszimmer seines Vaters.<br />

Warum will er mich kurz vor <strong>der</strong> Verlobung sprechen? Hat er<br />

etwa erfahren, wie abfällig ich mich in meinen Briefen an Grumbkow<br />

über die Braunschweigerin äußerte? Hat er erfahren, dass ich<br />

Grumbkow bat, diese Verbindung zu verhin<strong>der</strong>n?<br />

Er betrat das Arbeitszimmer, blieb zögernd stehen und sah erleichtert,<br />

dass <strong>der</strong> Vater gut gelaunt war.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm eilte zu dem Sohn und umarmte ihn.<br />

«Fritz, dies ist einer <strong>der</strong> glücklichsten Tage meines Lebens: Du<br />

verlobst dich mit einer Nichte <strong>der</strong> Kaiserin. Diese Verbindung mit<br />

den Habsburgern wird mir hoffentlich den Besitz von Jülich und<br />

Berg sichern. Ich möchte dir das Verlobungsgeschenk geben, das du<br />

deiner Braut nach dem Ringwechsel überreichen sollst. Ich weiß,<br />

dass deine Mittel nicht für ein kostbares Geschenk reichen.»<br />

Er ging zum Schreibtisch, holte ein Kästchen aus Ebenholz, öffnete<br />

es und sagte: «Ich habe eine mit Diamanten besetzte Uhr ausgewählt<br />

und einen Brillantring, er gehörte zu den Juwelen meiner<br />

seligen Mutter und ist ungefähr 24 000 Taler wert. Ich schätze meine<br />

künftige Schwiegertochter, sie verdient es, einen Ring meiner<br />

Mutter zu tragen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete den Schmuck, <strong>der</strong> auf rotem Samt glitzerte<br />

und schimmerte.<br />

«Ich danke Ihnen, Papa. Elisabeth Christine wird sich bestimmt<br />

freuen, ich glaube nicht, dass sie so kostbares Geschmeide besitzt.»<br />

Mon Dieu, an ein Verlobungsgeschenk dachte ich bisher nicht.<br />

«Ich hoffe, dass du mit Elisabeth Christine glücklich wirst und<br />

dass ihr viele Kin<strong>der</strong> haben werdet.»<br />

Viele Kin<strong>der</strong>, dachte <strong>Friedrich</strong>, hoffentlich nicht: Söhne müssen<br />

mit Apanagen versorgt werden, Töchter müssen eine angemessene<br />

Mitgift erhalten, viele Kin<strong>der</strong> kosten viel Geld, ein gesun<strong>der</strong> Sohn<br />

genügt für die Erbfolge – und um sie zu sichern: ein zweiter Sohn.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm fuhr gutgelaunt fort: «Du wolltest eine<br />

prachtvolle Verlobung, und ich habe versucht, deinen Wunsch zu<br />

erfüllen: Es wurden 250 Gäste geladen, und die Verlobung fi ndet<br />

nicht im Kreis <strong>der</strong> Familie in den privaten Räumen statt, son<strong>der</strong>n<br />

686


im Weißen Saal vor den geladenen Gästen, anschließend gibt es ein<br />

Bankett mit Austern und Champagner, dann folgt ein Ball. Dein<br />

Wunsch kam meinem Wunsch entgegen, den ausländischen Gesandten<br />

und dem Wiener Hof zu zeigen, dass Preußen kein armes<br />

Land mehr ist.»<br />

«Ich danke Ihnen, Papa. Für mich ist diese Verlobung ein staatspolitischer<br />

Akt, dazu gehört eine angemessene äußere Repräsentation.»<br />

«Es freut mich, dass du deine Verlobung so wichtig nimmst, aber<br />

die Zeit drängt, man wartet auf uns.»<br />

Während sie zum Weißen Saal gingen, fragte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm:<br />

«Wie gefällt dir <strong>der</strong> Herzog von Lothringen?»<br />

«Er ist ein angenehmer junger Mann, nun ja, am Wiener Hof<br />

wird er nicht viel zu sagen haben, dort regiert noch <strong>der</strong> Prinz Eugen,<br />

er ist fast siebzig Jahre alt, wer weiß, wie lange er noch lebt.<br />

Ich bin gespannt, wer sein Nachfolger wird, dieser Mann wird die<br />

Richtlinien <strong>der</strong> habsburgischen Politik bestimmen, nicht Maria<br />

Theresia o<strong>der</strong> ihr Gatte. Ich hoffe nur, dass es in Wien keinen zweiten<br />

Prinzen Eugen geben wird.»<br />

«Fritz, <strong>der</strong> Prinz Eugen hat die Interessen des Hauses Habsburg<br />

immer bestens gewahrt.»<br />

Lei<strong>der</strong>, dachte <strong>Friedrich</strong>, mon Dieu, hat Papa immer noch nicht<br />

gemerkt, dass er nur eine Marionette <strong>der</strong> Habsburger ist?<br />

Nun, dachte er, Seckendorff ist anwesend und <strong>der</strong> Kaiserliche<br />

Gesandte, ich muss mich so verhalten, dass sie nicht wissen, wie<br />

sie mich einschätzen sollen, auch was mein Verhältnis zu meiner<br />

Braut betrifft. Ich werde während des Ringwechsels weinen, hoffentlich<br />

gelingt es mir, und dann meine Braut nicht mehr beachten,<br />

und ich werde Seckendorff sagen, wie sie erzogen werden muss, um<br />

mir zu gefallen. Es wird allmählich Zeit, dass <strong>der</strong> Wiener Hof nach<br />

meiner Pfeife tanzt.<br />

Dann stand er vor Elisabeth Christine, hörte, wie <strong>der</strong> König sie<br />

auffor<strong>der</strong>te, die Ringe zu wechseln, er sah, dass seine Braut ihn<br />

verliebt anlächelte, und in diesem Augenblick wurde ihm zum ersten<br />

Mal bewusst, dass sie nach <strong>der</strong> Heirat an seiner Seite leben<br />

würde, dass er Tisch und Bett mit ihr teilen musste, zumindest<br />

solange sein Vater lebte, und dieser Gedanke trieb ihm die Tränen<br />

687


in die Augen, und er empfand nur Wut über die ihm aufgezwungene<br />

Braut.<br />

Elisabeth Christine sah ihn erstaunt an: Er weint, dachte sie,<br />

warum? Ist es Rührung, empfi ndet er für mich inzwischen etwas<br />

Zuneigung? Hoffentlich, ich liebe ihn, das weiß ich inzwischen,<br />

und ich werde ihn immer lieben.<br />

<strong>Friedrich</strong> betupfte seine Augen mit einem Spitzentaschentuch,<br />

dann öffnete er das Ebenholzkästchen, überreichte es ihr wortlos<br />

und ging weg.<br />

Elisabeth Christine sah ihm fassungslos nach. Warum hat er<br />

nichts gesagt, überlegte sie, es sieht aus, als ob er vor mir fl ieht,<br />

und sie versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm beobachtete das Paar, und als <strong>Friedrich</strong> seine<br />

Braut verließ, wusste er, dass <strong>der</strong> Sohn das junge Mädchen ablehnte.<br />

Sie spürte, dass Tränen in ihr aufstiegen, ihre Augen suchten<br />

den Bräutigam, und in diesem Augenblick sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm:<br />

«Beruhigen Sie sich, mein Kind, kommen Sie, dort drüben<br />

ist eine ruhige Ecke.»<br />

Er führte sie zu einem Sofa, setzte sich neben sie und sagte:<br />

«Mein Kind, eine Verlobung ist eine ernste Angelegenheit, das<br />

weiß mein Sohn, er muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass er<br />

irgendwann mit einer Frau sein Leben teilen muss, das hat nichts<br />

mit Ihrer Person zu tun.»<br />

Elisabeth Christine sah den künftigen Schwiegervater dankbar<br />

an: «Sie sind zu gütig.»<br />

Er ist meine einzige Stütze an diesem Hof, dachte sie.<br />

Sophie Dorothea betrachtete den Gatten und die künftige<br />

Schwiegertochter und sagte zu Frau von Kamecke: «Ich verstehe<br />

nicht, dass mein Mann sich so um diese dumme Person kümmert,<br />

sie wird wahrscheinlich nie an <strong>der</strong> Seite des Kronprinzen angemessen<br />

repräsentieren können.»<br />

«Mit Verlaub, Majestät, sie kann lernen, wie man repräsentiert,<br />

und sie wird es lernen, ich glaube nicht, dass sie dumm ist; wahrscheinlich<br />

schüchtert <strong>der</strong> Berliner Hof sie ein, bedenken Sie: Die<br />

Prinzessin wuchs in einer Kleinstadt in einem kleinen Schloss auf,<br />

und nun erlebt sie das Berliner Schloss mit unzähligen Gängen,<br />

Treppen, Sälen, Zimmern, Innenhöfen, sie erlebt einen Hofstaat,<br />

688


<strong>der</strong> wahrscheinlich zahlreicher ist als <strong>der</strong> in Wolfenbüttel, ich<br />

wun<strong>der</strong>e mich nicht, dass sie schüchtern wirkt und nur redet, wenn<br />

man sie anspricht.»<br />

Sophie Dorothea klappte abrupt ihren Fächer zusammen.<br />

«Sie passt nicht an unseren Hof, sie passt nicht zu unserer Familie,<br />

und vor allem passt sie nicht zum Kronprinzen, aber wer weiß,<br />

was noch alles passiert, bis zur Heirat fl ießt Gott sei Dank noch viel<br />

Wasser die Spree hinunter.»<br />

<strong>Friedrich</strong> ging zu Grumbkow und Seckendorff, die in einer Fensternische<br />

standen und die Gäste beobachteten.<br />

«Guten Abend», er lächelte die beiden verbindlich an, «ich bin<br />

fest entschlossen, die Prinzessin zu heiraten, und ich muss gestehen,<br />

ich bin angenehm überrascht von ihrer äußeren Erscheinung,<br />

ihre Augen und ihr weißer Teint gefallen mir.»<br />

Er schwieg, und Grumbkow und Seckendorff atmeten erleichtert<br />

auf.<br />

<strong>Friedrich</strong> fuhr fort: «Während <strong>der</strong> vergangenen Tage habe ich<br />

meine Braut bei den Banketten und Bällen beobachtet, und es gibt<br />

einige Dinge, die ich beanstande: Ihre Klei<strong>der</strong> sind zu provinziell,<br />

sie müssten eleganter und modischer sein, sie tanzt schlecht und<br />

vor allem ist sie zu still, ich erwarte von <strong>der</strong> künftigen Königin<br />

von Preußen, dass sie sich mit Gästen unterhalten kann. Sorgen<br />

Sie dafür, dass bis zu meiner Hochzeit diese Mängel behoben<br />

sind.»<br />

«Selbstverständlich, Königliche Hoheit», erwi<strong>der</strong>te Seckendorff<br />

eilig, «ich kenne in Berlin und Wien genügend hervorragende<br />

Tanzmeister und Schnei<strong>der</strong>.»<br />

«Königliche Hoheit», sagte Grumbkow, «ich erfülle gerne Ihre<br />

Wünsche und schlage Frau von Katsch als Oberhofmeisterin <strong>der</strong><br />

Prinzessin vor, Frau von Katsch ist gebildet und wortgewandt, unter<br />

ihrem Einfl uss lernt die Prinzessin wahrscheinlich am besten,<br />

wie man sich unterhält und benimmt.»<br />

«Ich bin mit Frau von Katsch einverstanden, aber die Entscheidung,<br />

wer zur Oberhofmeisterin <strong>der</strong> künftigen Königin ernannt<br />

wird, trifft <strong>der</strong> König.»<br />

Er schwieg, musterte Grumbkow eisig und sagte langsam: «Meine<br />

Wünsche, Herr von Grumbkow, sind Befehle.»<br />

689


Dann ging er zu einer Gruppe junger Damen und unterhielt sich<br />

mit ihnen.<br />

Grumbkow sah ihm erstaunt nach und sagte zu Seckendorff:<br />

«Der Kronprinz wird für mich allmählich zum Rätsel, vorhin beim<br />

Ringwechsel begann er zu weinen, jetzt kümmert er sich nicht<br />

mehr um seine Braut, son<strong>der</strong>n plau<strong>der</strong>t mit jungen Damen.»<br />

«Nun, ich fürchte, er wird sich auch in Zukunft nicht viel um<br />

die künftige Königin kümmern, sie tut mir jetzt schon leid; seine<br />

Tränen sollte man nicht überbewerten. Für den Wiener Hof ist nur<br />

wichtig, dass er sie heiratet.»<br />

«Gewiss, und seine Ehe, ich meine, wie er seine Gemahlin behandelt,<br />

ist seine Sache und geht uns nichts an, aber er spricht immer<br />

von <strong>der</strong> künftigen Königin, vorerst ist sie eine künftige Kronprinzessin,<br />

und er ist immer noch Kronprinz, er befi ehlt und er<br />

tritt auf, als ob er <strong>der</strong> König wäre, es ist unglaublich, eben erinnerte<br />

er mich sehr an seinen Vater, <strong>der</strong> König kennt auch nur Befehle<br />

und Gehorsam.»<br />

Seckendorff lächelte: «Sie haben recht, und vielleicht sollten wir<br />

und ganz Preußen ab heute jeden Abend beten, dass <strong>der</strong> regierende<br />

König noch viele Jahre lebt. Ich bezweifele allmählich, dass<br />

dem Soldatenkönig ein Philosoph und Flötenspieler auf den Thron<br />

folgt.»<br />

<strong>Friedrich</strong> saß in seinem Arbeitszimmer in Küstrin, blätterte nachdenklich<br />

in seinem Tagebuch, tauchte dann die Fe<strong>der</strong> in das Tintenfass<br />

und schrieb:<br />

690<br />

Küstrin, 30. März 1732, am Abend.<br />

Morgen werde ich Küstrin verlassen, und übermorgen, in Ruppin,<br />

werde ich anfangen, mein Regiment zu exerzieren.<br />

Gestern diskutierte ich mit Natzmer während <strong>der</strong> halben Nacht<br />

über die Zukunft Preußens. Ich fasse meine Gedanken noch einmal<br />

zusammen: Für die Gegenwart Frieden! Denn <strong>der</strong> König von Preußen,<br />

dessen Land Europa quer durchschneidet, von Nachbarstaaten<br />

durchsetzt und ohne inneren Zusammenhang ist, kann von mehreren<br />

Seiten angegriffen werden. Um sich allerseits zu verteidi-


gen, müsste er die ganze Armee zur Defensive verwenden, so dass<br />

nichts für die Offensive übrigbliebe.<br />

Aber dabei darf ich nicht stehenbleiben, sonst wäre ich ein<br />

schlechter Staatsmann und aller Phantasie und Erfi ndungsgabe<br />

bar, denn wer nicht vorwärtskommt, geht zurück.<br />

Es gilt also, den Staat fortschreitend zu vergrößern. Das Notwendigste<br />

ist daher, einen engeren Zusammenhang zwischen den<br />

Landesteilen herzustellen o<strong>der</strong> die losgerissenen Stücke, die eigentlich<br />

zum preußischen Besitz gehören, ihm wie<strong>der</strong> anzuglie<strong>der</strong>n,<br />

zum Beispiel Polen – gehört es einmal zu Preußen, so hat man<br />

nicht nur die freie Verbindung zwischen Pommern und Ostpreußen,<br />

son<strong>der</strong>n man hält auch die Polen im Zaum und kann ihnen<br />

Gesetze vorschreiben.<br />

Doch gehen wir weiter: Schwedisch-Pommern ist von Preußisch-<br />

Pommern nur durch die Peene getrennt, und es würde sich sehr<br />

hübsch ausnehmen, wenn es mit unserem Besitz vereinigt würde.<br />

Ferner möchte ich zum preußischen Besitz Kleve und Mark, Jülich<br />

und Berg hinzuerwerben; einmal in preußischem Besitz, können<br />

diese Län<strong>der</strong> eine Besatzung von 30 000 Mann tragen und sind<br />

dann imstande, Wi<strong>der</strong>stand zu leisten.<br />

Es gibt eine politische Notwendigkeit, diese Gebiete zu erwerben,<br />

diese politische Notwendigkeit muss natürlich durch Rechtsgründe<br />

unterstützt werden.<br />

Denn liegen die Dinge so, wie es nach meinem Projekt <strong>der</strong> Fall<br />

ist, so könnte <strong>der</strong> preußische König unter den Großen <strong>der</strong> Welt eine<br />

gute Figur machen und eine bedeutende Rolle spielen; ich wünsche<br />

dem preußischen Staate, dass er sich aus dem Staube, in dem er gelegen<br />

hat, völlig erhebe, aber nur, damit <strong>der</strong> protestantische Glaube<br />

zur Blüte komme, damit es die Zufl ucht <strong>der</strong> Bedrängten, <strong>der</strong> Hort<br />

<strong>der</strong> Witwen und Waisen, die Stütze <strong>der</strong> Armen und <strong>der</strong> Schrecken<br />

<strong>der</strong> Ungerechten werde. Lieber möge Preußen untergehen, als dass<br />

Ungerechtigkeit, Lauheit im Glauben, Parteiwesen o<strong>der</strong> Laster den<br />

Sieg über die Tugend davontragen, was Gott auf ewig verhüten<br />

wolle.<br />

Während er Sand über die Tinte streute, betrat Gummersbach das<br />

Zimmer und meldete Wolden.<br />

691


«Königliche Hoheit», sagte <strong>der</strong> Hofmarschall, «ich bitte um<br />

Verzeihung wegen <strong>der</strong> Störung zu später Stunde, aber soeben<br />

ist ein junger Mann eingetroffen, den Ihnen <strong>der</strong> General von<br />

Schwerin schickt, <strong>der</strong> junge Mann sollte schon vor einigen Tagen<br />

eintreffen, wurde aber durch Krankheit an <strong>der</strong> Abreise gehin<strong>der</strong>t.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Wolden erstaunt an und stand auf.<br />

«Schwerin? Er befehligt die Regimenter in Frankfurt an <strong>der</strong><br />

O<strong>der</strong>, warum schickt er mir einen jungen Mann?»<br />

Wolden lächelte: «Als Sie nach Küstrin kamen, war <strong>der</strong> junge<br />

Mann einfacher Soldat in einem <strong>der</strong> Frankfurter Regimenter.<br />

Schwerin wurde auf ihn aufmerksam wegen seiner guten Umgangsformen,<br />

überdies ist er praktisch veranlagt, zuverlässig, verschwiegen,<br />

und er spielt ausgezeichnet Flöte. Das ist <strong>der</strong> Hauptgrund,<br />

dass <strong>der</strong> General ihn schickt, er meint, Sie könnten in<br />

Ruppin wahrscheinlich einen Gesellschafter brauchen, <strong>der</strong> junge<br />

Mann ist zweiundzwanzig Jahre alt und heißt Michael Gabriel Fre<strong>der</strong>sdorf.»<br />

<strong>Friedrich</strong> ging hin und her und blieb dann vor Wolden stehen.<br />

«Ein Gesellschafter? Schwerin meint es gut, was wird <strong>der</strong> König<br />

sagen?»<br />

«Seine Majestät wird nichts erfahren, <strong>der</strong> General versetzt Fre<strong>der</strong>sdorf<br />

in Ihr Regiment», er zögerte etwas und fuhr dann fort:<br />

«Königliche Hoheit, verzeihen Sie meine Kühnheit, aber ich bin <strong>der</strong><br />

Meinung, dass Sie künftig einen Menschen in Ihrer Nähe benötigen,<br />

<strong>der</strong> Ihnen loyal dient. Fre<strong>der</strong>sdorf kann lesen, schreiben und<br />

rechnen, Sie könnten ihn zum Beispiel als Sekretär für geheime<br />

Korrespondenzen beschäftigen, vielleicht später als Kammerdiener,<br />

<strong>der</strong> Ihr beson<strong>der</strong>es Vertrauen genießt, ähnlich wie Eversmann<br />

bei Seiner Majestät.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Wolden an, und plötzlich erblickte er Kattes Gesicht,<br />

es schwebte im Raum, und <strong>Friedrich</strong> sah zu Boden. Als er die Augen<br />

hob, war Kattes Gesicht verschwunden, er straffte sich und sagte leise:<br />

«Ich glaube, Sie haben recht, ich möchte Fre<strong>der</strong>sdorf sehen.»<br />

Wolden ging hinaus und kehrte mit einem großen, stattlichen<br />

Mann zurück.<br />

692


Fre<strong>der</strong>sdorf verbeugte sich, und <strong>Friedrich</strong> spürte instinktiv, dass<br />

er diesem Mann vertrauen konnte.<br />

Er betrachtete intensiv die braunen Augen und dachte: Sein Blick<br />

ist offen, unverstellt, er strahlt Güte aus.<br />

«Will Er mir persönlich dienen?»<br />

«Ja, Königliche Hoheit, es ist eine große Ehre für mich.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte: «Gut, Er wird mich morgen nach Ruppin begleiten,<br />

dort werden wir in meinen Mußestunden zusammen Flöte<br />

spielen.»<br />

Die beiden Männer verließen das Zimmer, und <strong>Friedrich</strong> sah ihnen<br />

einen Augenblick nach.<br />

«Ein Mensch, <strong>der</strong> mir loyal dient und dem ich vertrauen kann»,<br />

sagte er leise. Dann setzte er sich wie<strong>der</strong> an den Schreibtisch und<br />

dachte über den Abschiedsbrief an Frau von Wreech nach.<br />

Ich werde mich mit einem Gedicht von ihr verabschieden,<br />

meinem Brief ein Bild von mir beilegen, sie bitten, es ab und zu<br />

eines Blickes zu würdigen und dabei zu denken: Er war im Grunde<br />

ein guter Junge, aber er wurde mir zum Überdruss, denn er liebte<br />

mich zu sehr und brachte mich mit seiner unbequemen Liebe oft in<br />

hellen Zorn. Er nahm einen Bogen Papier und schrieb:<br />

Als mein Gesandter soll mein Bild dich grüßen,<br />

Und des Gesandten Dolmetsch sei dies Lied,<br />

Was ich zu sagen dir bisher vermied,<br />

Ich sag‘ es nun: Ich liege dir zu Füßen.<br />

Am an<strong>der</strong>en Morgen verabschiedete er sich von Münchow und<br />

Hille.<br />

«Königliche Hoheit», sagte Münchow zögernd, «was werden<br />

<strong>der</strong>einst, nach Ihrer Thronbesteigung, diejenigen zu erwarten haben,<br />

die sich in <strong>der</strong> Zeit Ihres Zwiespaltes mit dem König feindselig<br />

gegen Sie verhalten haben?»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte: «Ich werde feurige Kohlen auf ihr Haupt sammeln.<br />

Leben Sie wohl, meine Herren, ich habe viel bei Ihnen gelernt<br />

und werde mich stets dankbar an Sie erinnern.»<br />

Er verließ das Haus, ging zu <strong>der</strong> Kutsche, blieb einen Augenblick<br />

stehen, betrachtete den wolkenlosen Himmel und atmete die milde<br />

Frühlingsluft ein, dann bestieg er die Kutsche, setzte sich Fre<strong>der</strong>s-<br />

693


dorf gegenüber, lächelte ihn an und sagte: «Vielleicht beginnen ab<br />

heute meine schönsten Jahre, nach meiner Thronbesteigung wird<br />

<strong>der</strong> Ernst des Lebens endgültig für mich anfangen.»<br />

694


2. Kapitel<br />

695


696<br />

1<br />

Ruppin, 7. September 1732<br />

Seit einer Woche bin ich Onkel. Meine Nichte Frie<strong>der</strong>ike wurde<br />

am 30. August geboren. Wilhelmine geht es gesundheitlich gut, sie<br />

wird das Wochenbett wahrscheinlich überleben.<br />

Sie schreibt, dass sie mit ihrem Gatten glücklich ist, und beklagt<br />

sich wie immer über ihren Schwiegervater, <strong>der</strong> sie schlecht empfangen<br />

und untergebracht hat und ihr zu wenig Geld für den erbprinzlichen<br />

Haushalt gibt.<br />

Sie bat Papa um Hilfe, und er schlug ihre Bitte rundweg ab. Sie<br />

schrieb mir verzweifelte Briefe, und ich sah nur eine Möglichkeit,<br />

nämlich Seckendorff um Hilfe zu bitten; nun erhält meine Schwester<br />

fi nanzielle Unterstützung aus Wien.<br />

Der Prinz Eugen hofft natürlich, mich dadurch in die Abhängigkeit<br />

des Hauses Habsburg zu bringen, er irrt sich gewaltig. Seit<br />

dem Sommer bin ich mehr denn je entschlossen, mich von <strong>der</strong> Vormundschaft<br />

o<strong>der</strong> Vorherrschaft <strong>der</strong> Habsburger zu befreien, wenn<br />

ich einmal König bin.<br />

Im Juli erfüllte sich Papas sehnlichster Wunsch: Er traf den Kaiser<br />

persönlich in Kladrub, das war ein Vorschlag Karls VI. und ist<br />

eine Brüskierung des preußischen Königs. Warum hat er ihn nicht<br />

in Wien empfangen? Man will die Bedeutung des Treffens offensichtlich<br />

herunterspielen, Papa begab sich dann für einige Tage<br />

nach Prag, und <strong>der</strong> Kaiser geruhte ebenfalls dort zu erscheinen,<br />

allerdings inkognito!<br />

Das außenpolitische Ergebnis ist mehr als mager: Die Bestätigung<br />

unserer Erbfolge in Jülich und Berg bleibt in weiter Ferne!<br />

Eines steht fest: <strong>Friedrich</strong> II. wird sich von den Habsburgern<br />

nicht wie eine Marionette behandeln lassen!<br />

Mein Verhältnis zu Papa ist leidlich harmonisch, ich weiß, dass er<br />

mich misstrauisch beobachtet, und verhalte mich so korrekt wie möglich.


Seit einigen Wochen macht er mir Vorwürfe, dass ich meiner<br />

Dulcinea nicht oft genug schreibe. Ich erwi<strong>der</strong>te, sie habe mir seit<br />

vierzehn Tagen nicht geschrieben, während mein letzter Brief vor<br />

acht Tagen abgegangen sei, und so weiter.<br />

Der wahre Grund für meine geringe Korrespondenz mit meiner<br />

Dulcinea ist, dass ich keinen Stoff habe und oft nicht weiß,<br />

womit ich eine Seite füllen soll. Man will mich mit Stockschlägen<br />

verliebt machen, doch da ich zum Unglück nicht die Gemütsart<br />

<strong>der</strong> Esel besitze, fürchte ich sehr, dass dies misslingen wird.<br />

Die Ehe macht mündig, und sobald ich es werde, bin ich Herr in<br />

meinem Hause, und meine Frau hat darin nichts zu befehlen.<br />

Ich halte den Mann, <strong>der</strong> sich von Weibern regieren lässt, für den<br />

größten Kujon von <strong>der</strong> Welt, unwürdig, den würdigen Namen<br />

eines Mannes zu führen.<br />

An Grumbkow schrieb ich neulich: «Ich liebe das weibliche Geschlecht,<br />

bin aber flatterhaft, ich verlange von ihnen nur den Genuss,<br />

und hinterher verachte ich es, urteilen Sie selbst, ob ich aus<br />

dem Holze bin, aus dem man die guten Ehemänner schnitzt.»<br />

Vor einigen Tagen schickte meine Dulcinea mir Braunschweiger<br />

Würste und eine Porzellantabatière, die ich zerbrochen in <strong>der</strong><br />

Schachtel fand. Ich weiß nicht, ob sie damit die Zerbrechlichkeit<br />

ihrer Jungfernschaft, ihrer Tugend o<strong>der</strong> <strong>der</strong> ganzen menschlichen<br />

Gestalt andeuten wollte.<br />

Ruppin, 10. Februar 1733<br />

Am 1. Februar starb August <strong>der</strong> Starke. Österreich und Frankreich<br />

streiten nun über den Nachfolger auf dem polnischen Thron. Sein<br />

Sohn, August III., wird von Russland und Österreich unterstützt,<br />

Frankreich unterstützt den Schwiegervater Ludwigs XV., Stanislaus<br />

Leszczynski. Man muss mit einem Krieg rechnen, Preußen<br />

wird Österreich mit 10 000 Soldaten unterstützen, und ich hoffe,<br />

dass ich in diesem Krieg militärischen Ruhm erwerbe.<br />

In Berlin und Wolfenbüttel ist man mit den Vorbereitungen für<br />

meine Hochzeit beschäftigt.<br />

Papa hat in <strong>der</strong> Prachtstraße «Unter den Linden» ein Palais gekauft,<br />

wo ich mit meiner Dulcinea wohnen werde. Dies soll <strong>der</strong><br />

697


Wohnsitz <strong>der</strong> künftigen preußischen Thronfolger sein, im Volk<br />

nennt man dieses Gebäude schon jetzt das Kronprinzenpalais.<br />

In Wolfenbüttel wird eine glanzvolle Hochzeit vorbereitet, die<br />

meinen künftigen Schwiegervater wahrscheinlich an den Rand<br />

des fi nanziellen Ruins treibt, die Hochzeit soll am 12. Juni in dem<br />

Lustschloss Salzdahlum, es liegt bei Wolfenbüttel, stattfi nden.<br />

Ich habe gehört, dass dieses Schloss renoviert wird, zerbrochene<br />

Fensterscheiben werden ersetzt, das silberne Tafelgeschirr wird<br />

aufgearbeitet, ergänzt, und so weiter.<br />

Ich werde diese Komödie so spielen, dass nichts fehlt.<br />

Am Abend des 10. Juni ging Seckendorff im Park des Schlosses<br />

Salzdahlum spazieren und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.<br />

Er setzte sich auf eine Bank und las erneut den Brief des Prinzen<br />

Eugen.<br />

Mon Dieu, dachte er, wie soll ich diesen Vorschlag dem preußischen<br />

König unterbreiten?<br />

In Wien ist man an einem Bündnis mit England interessiert,<br />

das gegen Frankreich gerichtet ist. Da <strong>der</strong> preußische König wegen<br />

seiner Armee ein wertvoller Verbündeter ist, will man ihn<br />

nicht verlieren und wärmt erneut das englische Heiratsprojekt auf:<br />

Prinz Eugen wünscht, dass Philippine Charlotte den Prinzen von<br />

Wales heiratet, <strong>der</strong> Prinz von Bevern soll die Prinzessin Anna von<br />

England heiraten, und <strong>der</strong> preußische Kronprinz soll die englische<br />

Prinzessin Amalie heiraten, über eine Verheiratung <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Elisabeth Christine müsste man erneut nachdenken. Grumbkow<br />

war entsetzt, als er den Brief las, und verweigerte mir seine<br />

Unterstützung, ich muss also allein den Dickwanst überreden, den<br />

Vorschlag des Prinzen Eugen anzunehmen. Wann ist <strong>der</strong> richtige<br />

Zeitpunkt? Heute? Nein, morgen ist auch noch ein Tag.<br />

Am nächsten Morgen gegen neun Uhr begab Seckendorff sich mit<br />

gemischten Gefühlen zu <strong>Friedrich</strong> Wilhelms Appartement. Im<br />

Vorzimmer traf er Eversmannn.<br />

«Guten Morgen, kann ich Seine Majestät schon sprechen?»<br />

«Selbstverständlich, Seine Majestät empfängt Sie zu je<strong>der</strong> Tageszeit,<br />

Seine Majestät ist wach und bester Laune.»<br />

698


Seckendorff atmete auf und betrat <strong>Friedrich</strong> Wilhelms Schlafzimmer.<br />

Der König lag im Bett und lächelte Seckendorff an.<br />

«Ich bin so glücklich wie schon lange nicht mehr, mein Sohn<br />

Fritz wird morgen eine Nichte <strong>der</strong> Kaiserin heiraten.»<br />

«Majestät, ich freue mich mit Ihnen. Vorhin erhielt ich eine Botschaft<br />

des Kaisers über eine wichtige Sache. Ich bitte Eure Majestät,<br />

den Brief in Ruhe zu lesen und sich nicht zu ereifern, es ist ein<br />

wichtiger Brief.»<br />

«Ich verspreche Ihnen, dass ich ruhig bleiben werde.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm las den Brief und sah Seckendorff erstaunt<br />

an.<br />

«Wenn ich Ihn nicht so wohl kennete, und wüsste, dass Er ein<br />

ehrlicher Mann ist, so glaubte ich, Er träumte. Hätte man vor einigen<br />

Monaten so gesprochen, so wüsste nicht, was aus Liebe für<br />

Ihre Kaiserliche Majestät nicht getan, auch wi<strong>der</strong> mein Interesse,<br />

dass mein ältester Sohn sollte an eine englische Prinzessin vermählt<br />

werden. Aber nun, da ich mit <strong>der</strong> Königin schon hier bin<br />

und ganz Europa weiß, dass morgen die Hochzeit sein soll, so ist es<br />

abermals eine englische Finesse, mich vor <strong>der</strong> ganzen Welt vor einen<br />

wankelmütigen Menschen ansehen zu machen, <strong>der</strong> we<strong>der</strong> Ehre<br />

noch Parole zu halten gewohnt ist.»<br />

Seckendorff atmete auf: Er denkt, dieser Heiratsplan ist eine<br />

Idee von England, nun, vielleicht gelingt es mir, ihn vom Plan des<br />

Prinzen Eugen zu überzeugen.<br />

«Majestät, ich weiß, dass alles für die Hochzeit des Kronprinzen<br />

gerichtet ist. Wäre es nicht möglich, morgen den Prinzen von Bevern<br />

mit <strong>der</strong> Prinzessin Philippine Charlotte zu vermählen? Später<br />

könnte dann die Doppelhochzeit des Prinzen von Wales mit<br />

<strong>der</strong> Prinzessin von Bevern, ich meine mit <strong>der</strong> Prinzessin Elisabeth<br />

Christine, und des Kronprinzen mit <strong>der</strong> Prinzessin Amalie stattfi<br />

nden.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm starrte Seckendorff einen Augenblick fassungslos<br />

an und erwi<strong>der</strong>te: «Nein, ich bin nicht bereit, meiner<br />

Ehre einen solchen Schandfl eck anzuhängen. Ich stehe zu meinem<br />

Wort: Mein ältester Sohn wird morgen mit <strong>der</strong> Prinzessin Elisabeth<br />

Christine vermählt werden, ich bin bereit, eine meiner jünge-<br />

699


en Töchter mit dem Prinzen von Wales zu vermählen, weil ich mit<br />

England in guter Freundschaft leben möchte, ich bin sogar bereit,<br />

meinen zweiten Sohn mit einer englischen Prinzessin zu vermählen,<br />

und nun, Herr von Seckendorff, leben Sie wohl, ich achte Sie<br />

nach wie vor, Sie haben die Vorschläge des Wiener Hofes als Ehrenmann<br />

überbracht, Sie haben nicht gesehen, dass es eine Intrige<br />

des englischen Hofes ist.»<br />

Seckendorff verließ das Schlafzimmer und atmete auf.<br />

Ich habe getan, was ich konnte, dachte er, <strong>der</strong> Dickwanst denkt<br />

tatsächlich, dass <strong>der</strong> Heiratsvorschlag von England ausgeht, nun,<br />

das ist seine Schuld, in außenpolitischen Dingen kann man ihn<br />

Gott sei Dank immer noch überlisten. Wie wird <strong>der</strong> Prinz Eugen<br />

reagieren?<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm erhob sich, und während <strong>der</strong> Morgentoilette<br />

dachte er noch einmal über den Brief des Prinzen Eugen nach.<br />

«Eine englische Intrige», brummte er, knöpfte den Uniformrock<br />

zu, und plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Meine<br />

Frau, dachte er, meine Frau und Fritz sind wahrscheinlich an dieser<br />

Intrige beteiligt, Mutter und Sohn mögen Elisabeth Christine nicht<br />

und lassen natürlich nichts unversucht, um die Heirat im letzten<br />

Augenblick zu verhin<strong>der</strong>n. Er spürte, dass Wut in ihm hochstieg,<br />

und ließ die Königin und <strong>Friedrich</strong> holen.<br />

Als Mutter und Sohn das Zimmer betraten, hätte er den Sohn<br />

am liebsten geohrfeigt, aber er bezwang sich und reichte Sophie<br />

Dorothea wortlos den Brief.<br />

Sie las, sah den Gatten erstaunt an, gab <strong>Friedrich</strong> den Brief, er<br />

überfl og ihn, sah dem Vater in die Augen und sagte: «Ich verstehe<br />

den Prinzen Eugen nicht, er weiß doch, dass ich morgen heiraten<br />

werde.»<br />

Er beobachtete besorgt, dass auf <strong>der</strong> Stirn des Vaters die Zorna<strong>der</strong><br />

schwoll, und dann brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Das ist eine<br />

englische Intrige, die du und deine Mutter eingefädelt haben!»<br />

<strong>Friedrich</strong> erschrak und überlegte verzweifelt, wie er den Vater<br />

von seiner Unschuld überzeugen konnte.<br />

Sophie Dorothea trat zu dem Gatten und sagte leise und bestimmt:<br />

«Sie irren sich: Mein Sohn und ich, wir wissen nichts von<br />

700


diesen Plänen, ich habe mich inzwischen damit abgefunden, dass<br />

<strong>der</strong> künftige preußische König eine dumme Gans heiratet.»<br />

«Papa, ich schwöre bei meiner Offi ziersehre, dass ich von diesen<br />

Plänen nichts weiß, und ich schwöre Ihnen, dass ich fest entschlossen<br />

bin, Elisabeth Christine zu heiraten.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms Augen wan<strong>der</strong>ten einen Augenblick zwischen<br />

Gattin und Sohn hin und her, er spürte, dass sie die Wahrheit<br />

sagten, und brummte unwirsch: «Schön, ich glaube euch, am<br />

besten, wir vergessen die ganze Angelegenheit, lasst mich jetzt allein.»<br />

Während sie zu ihren Appartements gingen, sagte Sophie Dorothea:<br />

«Ich verstehe den König nicht, wie kann er sich die Gelegenheit<br />

entgehen lassen, Sie mit Amalie zu vermählen, sie wäre es<br />

wert, einmal Königin von Preußen zu werden.»<br />

In diesem Augenblick wurde es <strong>Friedrich</strong> zum ersten Mal bewusst,<br />

dass seine Mutter jahrelang hinter dem Rücken des Königs<br />

ihre eigene Politik verfolgt hatte, eine Politik, die auch zur Zerstörung<br />

<strong>der</strong> Familie beitrug, und er blieb abrupt stehen: «Verzeihung,<br />

Mama, für mich ist diese englische Heirat erledigt. Ich möchte<br />

künftig kein Wort mehr darüber hören, und nun entschuldigen Sie<br />

mich, ich muss noch Korrespondenz erledigen.»<br />

Er verbeugte sich, und Sophie Dorothea sah ihm verblüfft nach.<br />

Er entgleitet mir, dachte sie enttäuscht, ich verliere ihn; an wen?<br />

Ich kenne keinen Menschen in seiner Umgebung, an den ich ihn<br />

verlieren könnte, ich verliere ihn vielleicht an Preußen, was für<br />

eine merkwürdige Eingebung, aber mein Gefühl sagt mir, dass er<br />

als König nur noch für Preußen leben wird.<br />

In seinem Appartement ging <strong>Friedrich</strong> verärgert auf und ab. Eines<br />

ist sicher, dachte er, wenn ich König bin, werde ich nicht dulden,<br />

dass Mama sich in meine Politik einmischt, keine Frau wird sich<br />

einmischen, auch kein Minister, ich werde ganz allein regieren,<br />

meine Minister und Generäle werden Befehlsempfänger sein,<br />

mehr nicht.<br />

Ich werde Mama fi nanziell so versorgen, dass sie in Monbijou<br />

das luxuriöse Leben führen kann, das sie sich immer wünschte,<br />

und als Sohn werde ich ihr immer den Respekt erweisen, <strong>der</strong> ihr<br />

701


gebührt, aber ich werde nicht dulden, dass sie sich in politische Angelegenheiten<br />

einmischt, auch sie hat zu meinem Unglück beigetragen<br />

durch ihre Heiratspläne. Mein Unglück? Vielleicht war es<br />

auch ein Glück, dass ich nach Küstrin kam, dort wurde mir endlich<br />

klar, wie man einen Staat regieren muss.<br />

Am Abend des 12. Juni saß Elisabeth Christine in ihrem Brautbett<br />

und wartete auf <strong>Friedrich</strong>.<br />

Sie spürte, dass ihr Herz immer stärker klopfte, je weiter <strong>der</strong><br />

Zeiger <strong>der</strong> Uhr vorrückte, und um sich zu beruhigen, dachte sie<br />

noch einmal an die zurückliegenden Stunden: Am Vormittag <strong>der</strong><br />

Austausch <strong>der</strong> Eheverträge, ihr Erbverzicht, am Nachmittag um<br />

fünf Uhr versammelten sich die Damen in ihrem Zimmer und geleiteten<br />

sie gegen sechs Uhr zur Hauskapelle. Dann stand sie neben<br />

<strong>Friedrich</strong> vor dem Altar, sie wechselten die Ringe, von <strong>der</strong> Galerie<br />

<strong>der</strong> Kapelle gab ein Trompeter ein Signal, und Sekunden später<br />

hörte man den Salut <strong>der</strong> Kanonen, die im Schlosshof standen. Das<br />

Hochzeitsmahl, neunzehn Gedecke waren aufgelegt, zuletzt <strong>der</strong><br />

Fackeltanz …<br />

Seit etwas mehr als drei Stunden bin ich mit ihm verheiratet,<br />

dachte sie, ich bin jetzt Kronprinzessin.<br />

In diesem Augenblick betrat <strong>Friedrich</strong> das Zimmer.<br />

Sie zuckte zusammen, betrachtete den Schlafrock aus Goldbrokat,<br />

die ungepu<strong>der</strong>ten blonden Haare, und diese neue, ungewohnte<br />

Intimität verunsicherte sie noch mehr.<br />

Als er zu ihr ging, spürte sie, dass sie errötete, und senkte verlegen<br />

die Augen.<br />

<strong>Friedrich</strong> blieb neben dem Bett stehen, betrachtete die offenen<br />

blonden Haare, die sich über den oberen Teil des weißen Seidenhemdes<br />

breiteten, setzte sich auf die Bettkante und nahm ihre<br />

Hände.<br />

Sie schwiegen eine Weile, dann sah Elisabeth Christine ihn vorsichtig<br />

an.<br />

Sie beobachtete den nachdenklichen Blick seiner Augen und spürte,<br />

dass ihm wenig daran lag, die Nacht mit ihr zu verbringen.<br />

Sie nahm ihren Mut zusammen und sagte leise: «Wir können<br />

doch warten, es muss ja nicht heute sein.»<br />

702


<strong>Friedrich</strong> sah sie überrascht an, dann lächelte er spöttisch: «Natürlich<br />

könnten wir warten, wir kennen uns kaum, aber wir werden von<br />

vielen Augen beobachtet, und wenn mein Vater erfährt, dass ich in<br />

dieser Nacht die Ehe nicht vollzogen habe, dann, nun, einen Wutausbruch<br />

könnte ich ertragen, aber vielleicht enterbt er mich, und dies<br />

möchte ich auf keinen Fall, ich will irgendwann König werden.»<br />

«Eine Enterbung kann ich mir nicht vorstellen, Ihr Vater ist so<br />

gütig, er hat uns sogar einen Landsitz zur Hochzeit geschenkt, irgendwo<br />

in <strong>der</strong> Nähe von Ruppin.»<br />

«Er muss diesen Landsitz noch fi nden und kaufen, überdies denkt<br />

er wie immer praktisch. Mein Haus in Ruppin ist zu klein für zwei<br />

Hofstaaten, also müssen wir gemeinsam in einem kleinen Schloss<br />

wohnen, und er denkt natürlich dabei auch an die Erbfolge. In den<br />

nächsten Monaten werde ich die meiste Zeit in Ruppin verbringen<br />

und nur selten im Kronprinzenpalais weilen.»<br />

Sie spürte eine leichte Enttäuschung und versuchte, das Thema zu<br />

wechseln: «Ich hoffe, dass Ihr Hochzeitstag Ihnen gefallen hat.»<br />

Sie möchte jetzt ein Lob über ihren Vater hören, dachte er, und<br />

erwi<strong>der</strong>te: «Ich weiß es zu würdigen, dass Ihr Vater keine Kosten<br />

gescheut hat, mon Dieu, beim Dessert gab es sogar süße Orangen<br />

aus Portugal.»<br />

Er lächelte sie an, betrachtete ihre ängstlichen Augen und dachte:<br />

Sie ist ein unberührtes junges Mädchen, wahrscheinlich wurde<br />

sie erst gestern über ihre ehelichen Pfl ichten aufgeklärt, kein<br />

Wun<strong>der</strong>, dass sie Angst hat. Ich muss sie beruhigen, Papa erwartet<br />

Thronerben, sie muss lockerer werden, sonst besteht die Gefahr,<br />

dass ich versage.<br />

Er nahm ihre Hände, berührte mit den Lippen die Fingerspitzen<br />

und sagte: «Ich spüre, dass Sie Angst haben, Sie müssen sich nicht<br />

fürchten, ich gehöre nicht zu den Männern, die ihre Frau in <strong>der</strong><br />

Hochzeitsnacht vergewaltigen.»<br />

Sie errötete: «Das weiß ich.»<br />

Er legte sie sanft zurück in die Kissen, zog die Bettdecke weg,<br />

betrachtete amüsiert das weiße, seidene Hemd, den Spitzenbesatz,<br />

und sagte: «Ihr kostbares Hemd ist ein überfl üssiges Kleidungsstück»,<br />

er schob das Hemd langsam hoch, sie erschrak und schloss<br />

unwillkürlich die Augen.<br />

703


Er betrachtet meinen Körper, dachte sie, hoffentlich gefalle ich ihm.<br />

Ihr Körper ist schön, dachte <strong>Friedrich</strong>, wenn sie Geist und Esprit<br />

besäße, wäre ich jetzt wahrscheinlich ein glücklicher Mann.<br />

Elisabeth Christine spürte, dass seine Finger spielerisch über<br />

ihre Brüste glitten, und wagte kaum, zu atmen. Dann roch sie sein<br />

Parfüm und fühlte sich glücklich, als er sie auf den Mund küsste.<br />

Ungefähr eine Stunde später stand <strong>Friedrich</strong> leise auf, zog den<br />

Schlafrock an und betrachtete nachdenklich seine schlafende Frau.<br />

Sie sieht glücklich aus, dachte er, nun, die Nächte mit ihr werden<br />

wahrscheinlich nie aufregend sein, aber auch nicht so unangenehm,<br />

wie ich befürchtete. Die Nächte? Wahrscheinlich werde ich<br />

mit ihr nie eine ganze Nacht verbringen, worüber soll ich mich mit<br />

ihr unterhalten?<br />

Er ging in sein Appartement, holte sein Tagebuch und verspürte<br />

plötzlich das Bedürfnis, an Wilhelmine zu schreiben.<br />

704<br />

Salzdahlum, um 12 Uhr nachts<br />

12. Juni 1733<br />

Meine geliebte Schwester,<br />

eben in diesem Augenblick ist die feierliche Handlung zu Ende,<br />

und Gott sei Dank, dass alles vorüber ist. Ich hoffe, Du empfi ndest<br />

es als Ausdruck meiner Zuneigung, wenn ich die erste Nachricht<br />

davon Dir gebe. Möchte ich bald die Ehre haben, Dich wie<strong>der</strong>zusehen<br />

und Dir zu versichern, geliebteste Schwester, dass ich ganz <strong>der</strong><br />

Deine bin. Lebe wohl!<br />

Er siegelte den Brief und schlug sein Tagebuch auf.<br />

Salzdahlum, 13. Juni 1733<br />

Jetzt bin ich verheiratet und mein eigener Herr, Papa wird mich<br />

natürlich weiterhin beobachten, aber in meinem Haushalt kann ich<br />

jetzt so leben, wie ich will.<br />

Vielleicht wird in einem Jahr mein ältester Sohn getauft, dann<br />

kann ich endlich durch Europa reisen.


Mein ältester Sohn, <strong>der</strong> nächste Kronprinz, welchen Namen soll<br />

er tragen? <strong>Friedrich</strong>? Wilhelm? <strong>Friedrich</strong> Wilhelm?<br />

Nein, diese Namen gibt es schon zu oft bei den Hohenzollern, es<br />

müsste ein Name sein, <strong>der</strong> halb französisch, halb deutsch ist, des<br />

Klanges wegen. Der Name meines jüngsten Bru<strong>der</strong>s gefällt mir:<br />

Ferdinand; es ist zwar ein habsburgischer Name, aber man könnte<br />

ihm den französischen Königsnamen beifügen: Louis, also Louis<br />

Ferdinand.<br />

Wie werde ich meinen ältesten Sohn erziehen? Ich werde versuchen,<br />

die Fehler meines Vaters bei meiner Erziehung zu vermeiden.<br />

Er wird nicht bis zum siebten Jahr in <strong>der</strong> Obhut einer Gouvernante<br />

bleiben, das heißt: in den Frauengemächern, das verweichlicht<br />

ihn nur. Ab dem vierten Jahr wird er von Gouverneuren<br />

erzogen, von loyalen Offi zieren, sie sollen ihm die Liebe zum Soldatenstand<br />

beibringen; die religiöse Erziehung ist unwichtig. Aber<br />

er wird Latein und Griechisch lernen, ferner Englisch und Italienisch.<br />

Französisch wird seine erste Sprache sein, er wird in Literatur,<br />

Philosophie, Ökonomie, Mathematik und natürlich auch in<br />

Musik unterrichtet. Er muss ein Instrument beherrschen, das zur<br />

Flöte passt: Klavier, vielleicht Geige, er soll mich so bald wie möglich<br />

musikalisch begleiten können. Wenn er zehn Jahre ist, möchte<br />

ich mich mit ihm über Literatur unterhalten können, seinen Tageslauf<br />

werde ich streng regeln, jede Minute muss sinnvoll genützt<br />

werden.<br />

Wie reagiere ich, wenn er sich an<strong>der</strong>s entwickelt, als ich es wünsche?<br />

Ich werde ihn nicht körperlich züchtigen, ich werde versuchen,<br />

ihn mit Spott und Ironie zur Raison zu bringen, unter vier Augen<br />

und vor den Augen des Hofes.<br />

Vielleicht ist es besser, wenn ich keinen Sohn habe, <strong>der</strong> Vater-<br />

Sohn-Konfl ikt ist bei den Hohenzollern, seit meinem Urgroßvater,<br />

inzwischen zur Tradition geworden, und ich habe keine Lust, nach<br />

dem Konfl ikt mit meinem Vater in einigen Jahren einen Konfl ikt<br />

mit meinem Sohn durchzukämpfen.<br />

705


706<br />

2<br />

Ruppin, 6. November 1733<br />

Vor drei Jahren wurde mein Freund hingerichtet. An seinem Todestag<br />

denke ich an ihn, ansonsten ist inzwischen so viel passiert, dass<br />

die Ereignisse in Küstrin in den Hintergrund treten; ich werde die<br />

Monate dort nie vergessen, aber sie verlieren an Bedeutung. Auch<br />

meine Schuldgefühle gegenüber meinem Freund sind im Laufe <strong>der</strong><br />

letzten Jahre geringer geworden, ich blicke nur noch nach vorn und<br />

nicht mehr zurück. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus:<br />

Im kommenden Frühjahr werde ich zum ersten Mal in den Krieg<br />

ziehen, und im Stillen hoffe ich, dass ich zu militärischem Ruhm<br />

gelange, nicht um Papa zu beeindrucken, son<strong>der</strong>n weil ich selbst<br />

diesen Ruhm wünsche.<br />

Der Streit, wer König von Polen werden soll, hat sich inzwischen<br />

zu einem Krieg zwischen Frankreich und Österreich entwickelt.<br />

Im Oktober überschritten die Franzosen den Rhein und besetzten<br />

die Stadt Kehl. Daraufhin griff <strong>der</strong> Kaiser nach den Waffen,<br />

und wir werden ihn mit 10 000 Mann unterstützen.<br />

Papa war begeistert, als er hörte, dass ganz Deutschland gegen<br />

Frankreich kämpfen wird, und bot dem Kaiser sogar 50 000 Mann<br />

an, vorausgesetzt, er würde den Oberbefehl über das Heer erhalten.<br />

Dieses Angebot wurde in Wien hochmütig abgelehnt, <strong>der</strong> Prinz<br />

Eugen wird den Oberbefehl führen.<br />

Einerseits kann ich diese Entscheidung verstehen: Ich glaube<br />

nicht, dass Papa fähig ist, einen Feldzug zu führen, es fehlt ihm<br />

an Erfahrung und wahrscheinlich auch an strategischer Begabung.<br />

An<strong>der</strong>erseits wird es immer unerträglicher, dass man uns in Wien<br />

immer noch als Vasallen betrachtet und nicht als einen eigenständigen<br />

Staat, nun, dies wird sich än<strong>der</strong>n, wenn ich einmal König<br />

bin.<br />

Papa hat inzwischen detailliert angeordnet, wie ich mich während<br />

des Feldzuges verhalten soll: Ich soll mich so aufführen, wie es<br />

einem Prinzen aus altem Brandenburgischem Geblüte gebührt: Ich


soll Gott je<strong>der</strong>zeit fürchten und mich um jedes Detail kümmern,<br />

zum Beispiel, wie die Schuhe <strong>der</strong> Musketiere beschaffen sind und<br />

wie lange ein Soldat sie in einer Kampagne tragen kann, mon Dieu,<br />

eine überfl üssige Ermahnung, ich weiß inzwischen, wie wichtig die<br />

Details sind. Ich soll alles beobachten, mit den Offi zieren Umgang<br />

pfl egen, die im Kriegshandwerk erfahren sind, vor allem mit dem<br />

Prinzen Eugen, ich soll bei den preußischen Truppen kampieren.<br />

Huren, saufen und spielen ist natürlich verboten; wenn ich zu Gast<br />

geladen bin, soll ich meine Offi ziere mitnehmen, so muss in unserer<br />

Küche kein Feuer entzündet werden. Wenn ich Generäle bewirte,<br />

dürfen einige Schüsseln mehr gereicht werden, und wenn <strong>der</strong> Prinz<br />

Eugen mein Gast ist, dürfen für ihn sechs Schüsseln mehr gereicht<br />

werden. Die Kosten für die Tafel soll während des Feldzuges 4.400<br />

Taler nicht überschreiten, wenn es zur Schlacht kommt, soll ich<br />

mich bis zur Hälfte <strong>der</strong> Aktion beim Prinzen Eugen, dann aber bei<br />

den preußischen Truppen aufhalten und so weiter.<br />

Diese Anordnungen versüßte er mir mit meiner Ernennung zum<br />

Generalmajor. Nun, ich bin gespannt auf den Zustand <strong>der</strong> Reichstruppen,<br />

und ich werde alles genau beobachten. Ich glaube, dass<br />

<strong>der</strong> Kaiser die Schlagkraft unserer Armee unterschätzt. Am 1. Mai<br />

wurde in Preußen für die Untertanen die Wehrpfl icht eingeführt,<br />

dies ist zwar im Ausland inzwischen bekannt, aber wahrscheinlich<br />

sieht man we<strong>der</strong> in Paris, London o<strong>der</strong> Wien die Tragweite dieser<br />

Entscheidung.<br />

Als mein Vater vor zwanzig Jahren anfi ng, die Armee aufzubauen,<br />

gab es ein Problem, das bei <strong>der</strong> dünnen Besiedelung des Staates<br />

nur schwer zu lösen war, nämlich die Frage des Mannschaftsersatzes.<br />

Da die Anwerbung ausländischer Söldner oft zu diplomatischen<br />

Konfl ikten führte, entschloss mein Vater sich zur Einführung<br />

<strong>der</strong> Wehrpfl icht.<br />

Es ist eine revolutionäre Entscheidung, weil es nirgendwo in Europa<br />

eine Wehrpfl icht <strong>der</strong> Untertanen gibt; auch in Preußen sind<br />

bestimmte Bevölkerungsschichten davon ausgenommen: <strong>der</strong> Adel,<br />

weil dessen Söhne das Offi zierskorps bilden, ferner alle Bürger und<br />

Bauern, die Haus und Hof besitzen, und ihre ältesten Söhne, ferner<br />

die Handwerker, die Kaufl eute, die Manufakturarbeiter, die eingewan<strong>der</strong>ten<br />

Siedler und die Studenten <strong>der</strong> Theologie, die wirtschaft-<br />

707


liche Entwicklung soll durch die Wehrpfl icht nicht beeinträchtigt<br />

werden.<br />

Die Wehrpfl icht gilt praktisch nur für die Besitzlosen, also die<br />

Leibeigenen, <strong>Knecht</strong>e, Diener, Kutscher und so weiter.<br />

Ein großzügiges System <strong>der</strong> Beurlaubung gewährleistet, dass<br />

die Wehrpfl ichtigen zur Erntezeit und zur Aussaat zu Hause sind.<br />

Das ganze Land ist in kleine, übersichtliche Kantone eingeteilt, die<br />

einem Bataillonskommandeur zugewiesen werden, und aus diesen<br />

Kantonen muss er künftig seine Rekruten ausheben.<br />

Dies klingt einfach, aber die Folgen sind für alle Beteiligten positiv,<br />

ausgenommen für die Grundherren.<br />

Alle Werbeexzesse, mit denen sich früher die Offi ziere gegenseitig<br />

den Mannschaftsersatz abjagten, haben aufgehört. Die Wehrpfl<br />

ichtigen sind auch außerhalb <strong>der</strong> aktiven Dienstzeit in Militärstammrollen<br />

eingetragen und unterstehen damit <strong>der</strong> Militärjustiz,<br />

was eine wesentliche Einschränkung <strong>der</strong> Gerichtsbarkeit <strong>der</strong> Gutsherren<br />

bedeutet.<br />

Die Wehrpfl icht wird langfristig auch das Selbstbewusstsein <strong>der</strong><br />

besitzlosen Untertanen stärken: Da sie den «Rock des Königs» tragen,<br />

wissen sie, dass <strong>der</strong> Staat sie braucht und sie nicht nur geboren<br />

wurden, um vom Gutsherren Prügel zu beziehen. Wenn sie ihre<br />

Dörfer verlassen, um im Heer zu dienen, lernen sie Städte kennen,<br />

erweitern ihren geistigen Horizont und fühlen sich dem König zur<br />

Loyalität verpfl ichtet; in einem Krieg werden sie an<strong>der</strong>s kämpfen<br />

als Söldner, sie kämpfen für ihren Staat und für ihren König. Ich<br />

bin gespannt, wie stark unser Heer in einigen Jahren sein wird.<br />

Der Hof beschäftigt sich zurzeit nur mit meinem Eheleben und<br />

wartet auf die ersten Anzeichen einer Schwangerschaft. Wenn ich in<br />

Berlin bin, werde ich ständig an meine ehelichen Pfl ichten erinnert:<br />

«Es gibt da eine Sache, <strong>der</strong> Königliche Hoheit mehr Aufmerksamkeit<br />

widmen müsste, nämlich Kin<strong>der</strong> zu haben, das würde Ihre Lage sofort<br />

günstiger machen und Ihnen in Zukunft viel Kummer ersparen.»<br />

«Hoheit kommen hierher und machen sich ebenso wie<strong>der</strong> davon.<br />

Sie tun wahrscheinlich wacker Ihre Pfl icht, aber Hoheit müssten<br />

sich dazu die erfor<strong>der</strong>liche Zeit nehmen und es machen wie die<br />

Bauern, die regelmäßig und ganze Nächte lang mit ihren Frauen<br />

zu Bett gehen.»<br />

708


Das mag richtig sein, aber ich kann mit meiner Frau nicht aus<br />

Leidenschaft zu Bett gehen, und wenn ich mit ihr zu Bett gehe,<br />

dann tue ich es mehr <strong>der</strong> Pfl icht halber als aus Neigung, ich erfülle<br />

meine ehelichen Pfl ichten, und wenn sie noch nicht schwanger ist,<br />

so weiß ich nicht, woran es liegt.<br />

Philippine Charlotte ist seit Juli mit dem Erbprinzen Karl von<br />

Braunschweig vermählt, sie ist wahrscheinlich glücklicher als ich.<br />

Am 6. November 1734 saß <strong>Friedrich</strong> im Potsdamer Schloss am<br />

Schreibtisch seines Vaters und unterzeichnete einige Dokumente.<br />

Das letzte Dokument las er noch einmal sehr aufmerksam und<br />

dachte: Papa stiftet ein großes Militärwaisenhaus in Potsdam für<br />

elternlose Soldatenkin<strong>der</strong> bei<strong>der</strong>lei Geschlechts. Die Waisen lernen<br />

dort lesen, schreiben und rechnen und werden zu loyalen Untertanen<br />

erzogen, das ist eine gute Idee, unter meiner Regierung werde<br />

ich dieses Haus bestehen lassen und fi nanziell för<strong>der</strong>n.<br />

Er siegelte das Dokument und dachte: Dies war meine letzte Unterschrift<br />

als Kronprinz, wie lange wird es noch dauern, bis ich als<br />

König Befehle und Dokumente unterzeichne?<br />

Er gab dem Sekretär das Dokument und ging in sein Appartement,<br />

setzte sich an den Schreibtisch und schlug das Tagebuch<br />

auf.<br />

Potsdam, 6. November 1734<br />

Vor vier Jahren wurde mein Freund hingerichtet. Ich habe nicht<br />

versucht, einen neuen Freund zu fi nden, aber das Schicksal bescherte<br />

mir Fre<strong>der</strong>sdorf, er ist loyal, und zwischen uns hat sich<br />

inzwischen ein Verhältnis des Vertrauens entwickelt, das einer<br />

Freundschaft ähnelt. Ich spreche mit Fre<strong>der</strong>sdorf über alles, was<br />

mich bewegt, er hört mir zu, sagt hin und wie<strong>der</strong> seine Meinung,<br />

und er versucht, im Hintergrund zu bleiben, er ist nicht ehrgeizig,<br />

was Ämter betrifft, es genügt ihm, mir zu dienen, ich bin glücklich,<br />

dass es in meiner Umgebung einen Menschen gibt, dem ich<br />

voll vertrauen kann.<br />

Seit einem Jahr habe ich mein Tagebuch vernachlässigt. Nun,<br />

während <strong>der</strong> Wintermonate lebte ich ohne Aufregungen in Rup-<br />

709


pin, besuchte meine Frau hin und wie<strong>der</strong> in Berlin, und am 1. Juli<br />

1734 brach ich nach einer Ballnacht in Monbijou zum Feldlager auf.<br />

Dort war ich so beschäftigt, dass ich meine Beobachtungen nicht in<br />

mein Tagebuch eintragen konnte. Der Feldzug war für mich eine<br />

Enttäuschung, weil es zu keiner richtigen Schlacht kam, es gab nur<br />

einige Gefechte, bei denen ich mich militärisch auszeichnete, ich<br />

bewies Mut und Tapferkeit. Der Prinz Eugen war für mich ebenfalls<br />

eine Enttäuschung.<br />

Am 7. Juli fand unsere erste Begegnung im Lager von Wiesenthal<br />

statt, ein Ort in <strong>der</strong> Nähe von Philippsburg, <strong>der</strong> von den Franzosen<br />

belagert wurde und dessen Belagerung die kaiserlichen Truppen<br />

aufheben sollten.<br />

Der Prinz Eugen wirkte auf mich senil, er war bestimmt in jungen<br />

Jahren ein guter Stratege, aber in diesem Feldzug scheute er<br />

den Angriff, mit dem Ergebnis, dass Philippsburg von den Franzosen<br />

erobert wurde. Das war das Ende des Feldzuges, zum Glück<br />

gab es einige Gefechte, in denen ich meinen Mut beweisen konnte,<br />

und dies wurde auch Papa berichtet. Er kam einige Tage nach mir<br />

in das Feldlager, reiste aber bereits im August ab, weil er sich über<br />

die defensive Führung des Feldzuges ärgerte.<br />

Unterwegs wurde er krank, so krank, dass man mit seinem baldigen<br />

Tod rechnete.<br />

Für mich war es interessant, den Zustand <strong>der</strong> Reichstruppen und<br />

vor allem <strong>der</strong> kaiserlichen Truppen zu beobachten, ich verglich sie<br />

mit unseren Truppen und war zum ersten Mal stolz auf die preußische<br />

Armee.<br />

Die preußischen Soldaten sind gut gekleidet, sie können kämpfen<br />

und erhalten regelmäßig ihren Sold. Die Reichstruppen hingegen<br />

und die Österreicher sind schlecht ausgerüstet und erhalten den<br />

Sold nur unregelmäßig, was sich natürlich negativ auf den Kampfgeist<br />

auswirkt. Die Offi ziere <strong>der</strong> Reichsarmee und die Österreicher<br />

logierten fern ihrer Truppen in den umliegenden Schlössern, die<br />

preußischen Offi ziere wohnten im Lager bei den Soldaten, das ist<br />

zwar unbequem, aber es stärkt den Kampfgeist.<br />

Der Feldzug war für mich eine gute Schule, aus <strong>der</strong> Unordnung<br />

und Konfusion, die in <strong>der</strong> kaiserlichen Armee herrscht, kann man<br />

viel lernen.<br />

710


Am 12. Oktober traf ich in Potsdam ein und fand meinen Vater<br />

in einem erbarmungswürdigen Zustand: Er litt an Erstickungsanfällen,<br />

nahm kaum Nahrung zu sich, und weil er unbedingt Tabak<br />

riechen wollte, befahl er den Offi zieren, an seinem Lager zu rauchen.<br />

Sein Gesicht war aschfahl, mit bläulichen Flecken auf den<br />

Backen, sein Atem ging kurz, <strong>der</strong> Bauch war aufgetrieben und hängend,<br />

die Beine ungeheuer dick und voller Eiter.<br />

Er empfi ng mich sehr liebevoll und befahl, dass ich vom Generaldirektorium<br />

zweimal wöchentlich über den Stand <strong>der</strong> Staatsgeschäfte<br />

unterrichtet wurde, außerdem durfte ich weniger wichtige<br />

Schriftstücke unterzeichnen.<br />

Die Regierungsarbeit gefällt mir, lei<strong>der</strong> habe ich mich nach <strong>der</strong><br />

Rückkehr undiplomatisch verhalten und zu Grumbkow und an<strong>der</strong>en<br />

Ministern gesagt, dass ich mit einem baldigen Regierungswechsel<br />

rechne. Meine Rechnung wird nicht aufgehen, Papa hat sich während<br />

<strong>der</strong> letzten Tage rasch erholt und wird wie<strong>der</strong> die Zügel in die Hand<br />

nehmen. Morgen reise ich nach Ruppin ab, hoffentlich hat Papa nicht<br />

erfahren, dass ich mich schon als König von Preußen sah.<br />

Meine Schwester Sophie Dorothea wird im Januar 35 den Markgrafen<br />

von Schwedt heiraten, wegen Papas schlechter Gesundheit<br />

wird es nur eine kleine Familienfeier geben, jetzt muss Papa nur<br />

noch zwei Töchter verheiraten.<br />

Er streute Sand auf die Tinte, sah zur Uhr und sprang auf. Mon<br />

Dieu, dachte er, Papa erwartet mich, er will mir etwas mitteilen,<br />

hoffentlich hat er nicht erfahren, dass ich einen baldigen Thronwechsel<br />

erhoffe.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> das Schlafzimmer des Vaters betrat, blieb er überrascht<br />

stehen: <strong>Friedrich</strong> Wilhelm saß im Rollstuhl vor einem Gemälde,<br />

pinselte etwas Farbe auf den Hintergrund, dann schrieb er<br />

mit dem Pinsel etwas auf das Bild.<br />

Ich weiß, dass er malt, dachte <strong>Friedrich</strong>, aber ich habe ihn noch<br />

nie bei dieser Liebhaberei gesehen, und er ging zum König.<br />

«Sie wünschen, mich zu sprechen, Papa?»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm legte den Pinsel zur Seite und betrachtete das<br />

Gemälde.<br />

711


«Das ist mein Selbstporträt, Fritz, auf diesem Bild bin ich <strong>der</strong><br />

Mijnheer van Hoenslardyck. Während meiner Krankheit beschloss<br />

ich, abzudanken und mich als Privatmann nach Holland zu begeben,<br />

während <strong>der</strong> letzten Tage fühlte ich mich indes so gut, dass ich<br />

die Regierungsgeschäfte wie<strong>der</strong> aufnehmen werde.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete aufmerksam das Porträt und las in <strong>der</strong> unteren<br />

rechten Ecke die Worte: «In tormentis pinxit.»<br />

«Ich nehme an, es ist Latein, Papa, was bedeuten diese Worte?»<br />

«Unter Schmerzen gemalt, Fritz. Ja, ich hatte Schmerzen, aber<br />

es geht mir wie<strong>der</strong> leidlich. Du reist morgen nach Ruppin, nun, ich<br />

habe eine Überraschung, die dich und deine Frau erfreuen wird.»<br />

In diesem Moment meldete ein Diener den neuen kaiserlichen<br />

Gesandten, Fürst von Liechtenstein.<br />

«Er ist <strong>der</strong> Nachfolger von Seckendorff», sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

zu seinem Sohn, «ich bedauere es, dass Seckendorff vom Wiener<br />

Hof abberufen wurde, er war für mich ein Freund.»<br />

Nun ja, dachte <strong>Friedrich</strong>, Seckendorff hat seine Aufgabe erfüllt,<br />

er hat die englische Heirat verhin<strong>der</strong>t und dafür gesorgt, dass ich<br />

die Nichte <strong>der</strong> Kaiserin heirate, gottlob werde ich auch nach seinem<br />

Abgang fi nanziell vom Wiener Hof unterstützt.<br />

«Der Gesandte hat um keine Audienz gebeten», sagte <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm, «aber ich werde ihn empfangen, weil er ein Gesandter<br />

des Kaisers ist; Fritz, reiche mir den Stock und hilf mir beim Aufstehen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> versuchte, den Ärger zu unterdrücken, <strong>der</strong> ihn bei den<br />

Worten des Vaters überkam.<br />

«Papa, Sie sind noch zu schwach, Sie können Liechtenstein im<br />

Rollstuhl empfangen.»<br />

«Nein, er ist <strong>der</strong> Gesandte des Kaisers, und ich bin ein Vasall des<br />

Kaisers, los, hilf mir aufzustehen.»<br />

Liechtenstein betrat das Zimmer, verbeugte sich und sagte:<br />

«Euer Majestät, mein Beglaubigungsschreiben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm öffnete den Brief, überfl og ihn und lächelte<br />

den Fürsten an: «Willkommen in Berlin, Sie sind bereits einige<br />

Tage hier, haben Sie sich die Stadt schon etwas angesehen?»<br />

«Gewiss, Majestät, und ich bin sehr beeindruckt, in einigen Jahren<br />

wird Berlin, was die Bauten betrifft, so großartig sein wie Paris<br />

712


o<strong>der</strong> Wien. In <strong>der</strong> Straße ‹Unter den Linden› wird ein Palais nach<br />

dem an<strong>der</strong>en gebaut, diese Straße wird einmal eine Prachtstraße<br />

werden.»<br />

«Die Junker bauen auf meinen Befehl, wer reich ist, soll bauen,<br />

so wurden in dem Stadtteil um das Schloss herum, in <strong>der</strong> <strong>Friedrich</strong>straße,<br />

bis jetzt ungefähr 1300 Häuser und Palais errichtet,<br />

dort wohnen ungefähr 26 000 Menschen, das ist ein Drittel <strong>der</strong> gesamten<br />

Berliner Einwohnerschaft.»<br />

Es entstand eine Pause, dann straffte sich Liechtenstein, musterte<br />

hochmütig den preußischen König und sagte langsam: «Heute<br />

erhielt ich vom Prinzen Eugen die Weisung, Euer Majestät über die<br />

Bestimmungen des Präliminarfriedens zu unterrichten, <strong>der</strong> am 5.<br />

Oktober zwischen Frankreich und dem Reich geschlossen wurde:<br />

Österreich verzichtet auf Lothringen, das Stanislaus Leszczynski<br />

erhält, <strong>der</strong> Herzog von Lothringen und künftige Schwiegersohn<br />

des Kaisers wird Großherzog <strong>der</strong> Toskana, Frankreich akzeptiert<br />

August III. als polnischen König. Nach dem Tod von Stanislaus<br />

wird Lothringen an Frankreich fallen. Außerdem haben Österreich<br />

und Frankreich beschlossen, dass die Rechte auf Jülich und Berg an<br />

den Prinzen von Sulzbach übergehen sollen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm glaubte, nicht richtig zu hören, und es dauerte<br />

einige Sekunden, bis er die Worte des Gesandten begriff.<br />

<strong>Friedrich</strong> spürte eine Wut in sich aufsteigen wie noch nie zuvor,<br />

und es gelang ihm nur mit Mühe, sich zu beherrschen und dem<br />

Gesandten nicht die Tür zu weisen.<br />

Er beobachtete verstohlen die Miene des Vaters und sah mit Genugtuung,<br />

dass sich dessen Gesicht rötete und auf <strong>der</strong> Stirn die<br />

Zorna<strong>der</strong> schwoll. Nun, dachte er, Papa wird dem Österreicher sagen,<br />

was er von dieser Brüskierung durch den Kaiser hält. Preußen<br />

war gut genug, Truppen zu stellen; bei den Friedensverhandlungen<br />

sind wir nicht dabei, werden noch nicht einmal davon unterrichtet,<br />

und <strong>der</strong> Prinz Eugen hält es nicht einmal für nötig, Papa persönlich<br />

zu schreiben, es wird uns beiläufi g mündlich mitgeteilt, und<br />

was Jülich und Berg betrifft, so hat <strong>der</strong> Wiener Hof jahrelang ein<br />

falsches Spiel mit uns getrieben.<br />

In diesem Augenblick brüllte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Der Kaiser<br />

traktiert mich und alle Reichsfürsten wie Schubjaks! Ich habe das<br />

713


gewiss nicht an ihm verschuldet! Ich examiniere mich immer wie<strong>der</strong>,<br />

ob ich jemals auch nur einen einzigen Gedanken gehabt habe,<br />

womit ich des Kaisers Interesse zu nahe getreten wäre. Allein ich<br />

mag mich prüfen, wie ich will, ich kann nichts fi nden!»<br />

Er schwieg, und <strong>Friedrich</strong> sah entsetzt, dass <strong>der</strong> Vater in Tränen<br />

ausbrach.<br />

Mon Dieu, dachte er, ist das nötig? Liechtenstein wird genüsslich<br />

nach Wien berichten, dass <strong>der</strong> preußische König geweint hat.<br />

Da straffte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sich, trat einen Schritt vor, wies mit<br />

seinem Stock auf <strong>Friedrich</strong> und rief: «Hier steht einer, <strong>der</strong> mich rächen<br />

wird! Schreiben Sie das dem Prinzen Eugen und dem Kaiser,<br />

und nun verlassen Sie das Schloss, cito, cito!»<br />

Liechtenstein starrte den König verwun<strong>der</strong>t an, dann sah er unsicher<br />

zu <strong>Friedrich</strong> und eilte hinaus.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm setzte sich stöhnend in den Rollstuhl und betrachtete<br />

das Gemälde: «In tormentis pinxit», sagte er leise.<br />

<strong>Friedrich</strong> trat vor den Vater: «Papa, ich verspreche Ihnen, dass<br />

ich Sie rächen werde: Das hochmütige Österreich wird Preußen nie<br />

mehr demütigen, nie mehr, ich werde das Haus Habsburg lehren,<br />

dass Preußen kein Duodezstaat im Reich ist, son<strong>der</strong>n eine eigenständige<br />

Macht. Preußen besitzt die größte und schlagkräftigste<br />

Armee in Deutschland, und diese Armee wird Österreich eines Tages<br />

kennenlernen, und zwar als Gegner, nicht als kaiserliche Hilfsarmee!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Sohn erstaunt an: «Fritz, willst du<br />

Österreich etwa den Krieg erklären? Ich bitte dich, vermeide einen<br />

Angriffskrieg, er würde Preußen ruinieren.»<br />

«Ich würde Österreich nur den Krieg erklären, wenn es einen<br />

triftigen Grund gibt.» Gründe fi ndet man immer, dachte er im Stillen.<br />

«Fritz, versprich mir, dass du nie einen Angriffskrieg führen<br />

wirst.»<br />

«Ich verspreche es Ihnen.» Wenn ich König bin, dachte er, werde<br />

ich so entscheiden, wie ich es für richtig halte.<br />

«Der Österreicher hat unser Gespräch gestört», sagte <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm, «ich wollte dir sagen, dass ich gestern den Kaufvertrag<br />

über das Landgut unterschrieb, das ich dir und deiner Frau zur<br />

714


Hochzeit schenkte, es ist wahrhaftig kein Zustand, dass ein junges<br />

Ehepaar wochenlang getrennt lebt. Künftig wirst du mit deiner<br />

Frau einige Monate im Jahr, wahrscheinlich vom Frühsommer bis<br />

zum Spätherbst, auf dem Gut leben.»<br />

«Bis zum Spätherbst? Bedeutet dies, dass ich nicht mehr an den<br />

Jagden in Wusterhausen teilnehme?»<br />

«Ja, ich denke, es ist für unser Verhältnis am besten, wenn wir<br />

getrennt leben und uns selten sehen. Ungefähr dreißig Meilen<br />

nördlich von Ruppin liegt die Domäne Rheinsberg, ich habe den<br />

Herrensitz für dich gekauft, du kannst das Schloss umbauen und<br />

einrichten, wie es dir beliebt.»<br />

«Rheinsberg, ich kenne die Domäne: Von Ruppin aus ritt ich etliche<br />

Male dorthin, weil ich die Landschaft genießen wollte. Das<br />

Schloss liegt am Grienericksee, von hier aus überblickt man eine<br />

graugrüne Wasserweite, hohe Schilfgräser, silbrige Birken, Buchen<br />

und schwarzgrüne Kiefern, <strong>der</strong> Sand zerrinnt unter den Füßen,<br />

es ist eine Landschaft von Dünen, grasigen Inseln, von Wäl<strong>der</strong>n,<br />

Flüssen und stehenden Gewässern, diese Landschaft ist ein Zusammenklang<br />

von Reinheit und Verwesung.<br />

Das Städtchen ist klein und wird hauptsächlich von Hugenotten<br />

bewohnt, das Schloss ist eine halbe Ruine, ein Flügel und ein Turm,<br />

immerhin ein Turm.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm beobachtete das Gesicht des Sohnes und sah<br />

erstaunt, dass die großen blauen Augen verträumt in die Ferne<br />

blickten.<br />

«Das Schloss muss natürlich renoviert und eventuell erweitert<br />

werden, das dauert wahrscheinlich einige Jahre, aber Rom wurde<br />

auch nicht an einem Tag erbaut, und ich habe das Anwesen zu<br />

einem günstigen Preis bekommen, ich habe 75 000 Taler dafür bezahlt,<br />

ich übernehme 50 000 Taler, die restliche Summe wirst du<br />

mir peu à peu zurückzahlen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> starrte den Vater an: «Wie bitte? Wo soll ich diese<br />

Summe hernehmen? Mein jährliches Einkommen deckt gerade die<br />

laufenden Kosten, es ist unmöglich, davon etwas zu sparen.»<br />

«Ich werde dein jährliches Einkommen erhöhen, statt 6 000 bekommst<br />

du künftig 12 000 Taler, dein Haushalt in Rheinsberg wird<br />

kostspieliger sein als <strong>der</strong> in Ruppin, du wirst wahrscheinlich öf-<br />

715


ter Gäste bewirten, benötigst eine größere Dienerschaft, trotzdem<br />

wird es möglich sein, dass du von 12 000 Talern jeden Monat eine<br />

Summe zur Seite legst und so allmählich die 25 000 Taler zurückzahlst.»<br />

Das wird nicht möglich sein, dachte <strong>Friedrich</strong>, er weiß nicht, dass<br />

ich in Rheinsberg einen Kreis von Freunden um mich versammeln<br />

will, <strong>der</strong> natürlich beköstigt werden muss, dann die Ausgaben für<br />

eine Musikkapelle, für Bücher und so weiter.<br />

Er überlegte und sagte dann: «Ich zahle Ihnen die 25 000 Taler sofort<br />

zurück, ich werde die Mitgift meiner Frau dafür verwenden.»<br />

«Die Mitgift, Fritz? Ich weiß nicht, ob dies eine gute Lösung ist;<br />

wenn Elisabeth Christine ihre Mitgift verliert, gerät sie vielleicht<br />

eines Tages in fi nanzielle Schwierigkeiten, vielleicht ist sie auch<br />

nicht damit einverstanden, dass du ihre Mitgift für den Kauf von<br />

Rheinsberg verwendest.»<br />

«Sie wird einverstanden sein, Papa, schließlich wünscht sie sich<br />

nichts sehnlicher, als sooft es geht in meiner Nähe zu sein. Ich werde<br />

Knobelsdorff beauftragen, den Neubau zu gestalten, sein griechischer<br />

Tempel in meinem Park in Ruppin ist ein kleines Meisterwerk.<br />

Papa, ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Rheinsberg.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Ich werde mich nicht in dein Leben<br />

einmischen, das du dort führst, aber einmal möchte ich dich dort<br />

besuchen und mir alles ansehen.»<br />

«Sie sind je<strong>der</strong>zeit willkommen, Papa.»<br />

Einige Tage später ritten <strong>Friedrich</strong> und Fre<strong>der</strong>sdorf von Ruppin<br />

nach Rheinsberg.<br />

Es war ein mil<strong>der</strong>, sonniger Nachmittag, und beide genossen den<br />

Anblick <strong>der</strong> rotgoldenen Blätter an den Bäumen und das leise Rascheln<br />

des Herbstlaubes unter den Pferdehufen.<br />

«Ich vermag nicht zu beschreiben», sagte <strong>Friedrich</strong>, «wie sehr ich<br />

mich auf das Leben in Rheinsberg freue, ich werde wahrscheinlich<br />

nur wenige Wochen im Jahr dort weilen können, aber diese Zeit<br />

werde ich auskosten bis zur Neige.<br />

Männer, die meine Interessen teilen, werden dort meine Hausgäste<br />

sein, ich werde lesen, lesen, lesen und meine Bildung vervollkommnen,<br />

an <strong>der</strong> Tafel werden wir geistreiche Gespräche führen,<br />

716


an den Abenden wird musiziert, o<strong>der</strong> es werden Tragödien und<br />

Komödien aufgeführt, bei denen wir alle irgendeine Rolle übernehmen,<br />

auch die Damen dürfen nicht fehlen, das Gespräch wird<br />

dadurch belebter und reizvoller.<br />

In Rheinsberg wird es we<strong>der</strong> eine Hierarchie noch höfi sche Etikette<br />

geben, je<strong>der</strong> darf sich frei bewegen, wie er will.<br />

Der Rostocker Professor Eilhardus Lubin, er starb vor ungefähr<br />

hun<strong>der</strong>t Jahren, hat den Namen Rheinsberg sehr apart interpretiert:<br />

Er führt ihn auf den Namen ‹Remusberg› zurück, demnach<br />

hat Romulus seinen Bru<strong>der</strong> Remus nicht erschlagen, dieser entwich<br />

und zog sich auf die Insel im Grienericksee zurück, dort soll<br />

sich auch ein Grabhügel befi nden.»<br />

Als sie in den Schlosshof ritten, sahen sie Knobelsdorff, <strong>der</strong> nachdenklich<br />

den verwitterten Schlossfl ügel und den angebauten Rundturm<br />

betrachtete.<br />

<strong>Friedrich</strong> saß ab und trat zu dem Baumeister: «Herr von Knobelsdorff,<br />

ich freue mich, dass Sie nach Rheinsberg gekommen<br />

sind, um mich beim Neubau des Schlosses zu beraten.»<br />

«Ja, Königliche Hoheit, es wird ein Neubau, ich habe mich etwas<br />

umgesehen, vielleicht kann man den Flügel in den Neubau integrieren.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete den Turm: «Ich habe konkrete Vorstellungen,<br />

wie das Schloss einmal aussehen soll, kommen Sie, wir<br />

wollen ein Stück am See spazieren, dann kann ich Ihnen meine<br />

Vorstellungen besser erklären», und zu Fre<strong>der</strong>sdorf: «Begleiten Sie<br />

uns, und sagen Sie offen Ihre Meinung.»<br />

Sie gingen am See entlang, und nach einer Weile blieb <strong>Friedrich</strong><br />

stehen: «Vor sechs Jahren, während meines Aufenthaltes in Dresden,<br />

weilte ich einige Tage in dem Jagdschloss Moritzburg. Dieses<br />

Schloss liegt ebenfalls an einem See, es ist ein Bau mit vier Türmen,<br />

so ähnlich stelle ich mir Rheinsberg vor.»<br />

Knobelsdorff betrachtete den Schlossfl ügel und den Turm: «Königliche<br />

Hoheit, ich kenne Moritzburg, es ist ein wuchtiges Jagdschloss,<br />

ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie ein Jagdschloss<br />

bauen möchten, Sie denken wahrscheinlich eher an ein elegantes<br />

Lustschloss.»<br />

717


«Ja, aber ich möchte einen Turm haben, wo ich arbeiten kann, einen<br />

Turm mit Blick zum See. Und damit das Anwesen harmonisch<br />

wirkt, muss noch ein weiterer Turm errichtet werden.»<br />

Knobelsdorff überlegte, nahm sein Notizheft, einen Stift und<br />

begann zu skizzieren.<br />

«Wie gefällt Ihnen dieser Vorschlag, Königliche Hoheit? Ich liebe<br />

die einfachen Linien, die regelmäßigen Fassaden, das Ebenmaß <strong>der</strong><br />

Verhältnisse. Man könnte drei Gebäudetrakte errichten unter Verwendung<br />

des vorhandenen Schlossfl ügels, die drei Flügel bilden einen<br />

quadratischen Hof, während die vierte Seite sich dem See zuwendet,<br />

und zwar als doppelte Säulenreihe, die in Stockwerkhöhe eine Terrasse<br />

trägt. Zu beiden Seiten <strong>der</strong> Kolonnaden endet je<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schlossfl ügel<br />

in einem Turm. Diese beiden völlig gleichen Türme sind oben mit<br />

einer Balustrade versehen und überragen das Hauptgebäude nur um<br />

einige Fuß. Einige Götterstatuen auf <strong>der</strong> Stadtseite, hölzerne Standbil<strong>der</strong><br />

mit Laternen auf <strong>der</strong> Brücke, geschwungene Giebel über den<br />

Fenstern, schmiedeeiserne Fensterbrüstungen und einige Balkone<br />

müssten als Verzierung genügen. Ich mache Sie schon jetzt darauf<br />

aufmerksam, Königliche Hoheit, dass <strong>der</strong> Neubau wahrscheinlich<br />

teurer wird als geplant. Sie werden bei <strong>der</strong> Innenausstattung sparen<br />

müssen, also keine Marmorfußböden, son<strong>der</strong>n Böden aus billigem<br />

Fichtenholz, die Wandverkleidungen müssten aus Stuck sein, das ist<br />

preiswert, wird aber trotzdem prachtvoll aussehen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete die Skizze.<br />

«Ihr Entwurf gefällt mir; durch die Säulenreihe wirkt das Schloss<br />

leicht und elegant. Es fällt mir nicht schwer, auf Marmor zu verzichten,<br />

weil ich hier zum ersten Mal in meinem Leben wirklich mein<br />

eigener Herr bin. Eines Tages werde ich König sein, über genügend<br />

Taler verfügen, und dann bauen Sie mir ein neues Sommerschloss<br />

mit marmornen Fußböden und mit Säulen aus Marmor. Wie lange<br />

wird <strong>der</strong> Neubau dauern?»<br />

«In ungefähr zwei Jahren werden Sie einziehen können, aber <strong>der</strong><br />

Bau wird dann noch nicht vollendet sein, rechnen Sie noch einmal<br />

vier Jahre dazu.»<br />

«Das wäre 1740, mon Dieu, vielleicht bin ich dann schon König<br />

und lebe nicht mehr hier, Rheinsberg ist das Schloss des Kronprinzen,<br />

nicht das Schloss des Königs.»<br />

718


Sie gingen zurück zum Hof, und bevor <strong>Friedrich</strong> wegritt, sah er<br />

noch einmal zum See und sagte leise: «Rheinsberg.»<br />

719


720<br />

3<br />

Am Nachmittag des 8. August 1736 saß <strong>Friedrich</strong> in seinem<br />

Arbeitszimmer in einem <strong>der</strong> Türme des Schlosses Rheinsberg und<br />

betrachtete unschlüssig einen unbeschriebenen Bogen weißes Papier<br />

auf dem Schreibtisch.<br />

Schließlich tauchte er die Fe<strong>der</strong> in das Tintenfass, zögerte, stand<br />

auf, ging zum Fenster und sah nachdenklich über den See.<br />

Kann ich es wagen, an Voltaire zu schreiben? Er ist zurzeit<br />

<strong>der</strong> größte und bedeutendste Dichter Europas, vielleicht sogar<br />

<strong>der</strong> größte Dichter <strong>der</strong> Welt, vielleicht <strong>der</strong> größte Dichter aller<br />

Zeiten.<br />

Er ging zum Schreibtisch, nahm zwei Bücher Voltaires, «La<br />

Henriade», und «Die Geschichte Karls XII.», blätterte und las, dann<br />

legte er sie zur Seite, trat erneut zum Fenster und sagte leise: «Voltaire<br />

schreibt, Toleranz sei die schönste Gabe <strong>der</strong> Menschlichkeit,<br />

und er verarbeitet den Toleranzgedanken in seinem Epos über<br />

Heinrich IV. von Frankreich, worin er ihn verherrlicht. Dieses Epos<br />

ist zurzeit mein Lieblingsbuch, weil es dazu beiträgt, meine Vorstellungen<br />

vom Königtum zu formen. Ich weiß jetzt, dass nur ein<br />

gerechter König ein großer König sein kann, aber ich folgere noch<br />

etwas an<strong>der</strong>es aus <strong>der</strong> Henriade: Nur ein absolutes, durch keinerlei<br />

Schranken gehin<strong>der</strong>tes Königtum hat die Macht und die Kraft,<br />

aufgeklärt und vernünftig, gemäßigt und fortschrittlich zu wirken.<br />

In seiner Schrift über Karl XII. von Schweden beschreibt er das<br />

Streben nach Ruhm. Sind Vernunft und Ruhmbegierde, sind Geist<br />

und Tat in <strong>der</strong> Person eines Fürsten vereinbar? Für mich lautet die<br />

Antwort: Ja, Vernunft und Ruhm, die Kombination aus Geist und<br />

Tat ist die Bedingung für historische Größe.<br />

Überdies werden die Dichter politische Bedeutung gewinnen,<br />

weil sie anfangen, auf die öffentliche Meinung, den Staat und die<br />

Gesellschaft Einfl uss zu nehmen, die Dichter können mich mit ihren<br />

Werken unterstützen, indem sie die Öffentlichkeit auf meine<br />

Regierung vorbereiten und sie mit einem Nimbus umgeben. Ich<br />

werde an Voltaire schreiben.»


Er setzte sich wie<strong>der</strong> an den Schreibtisch und tauchte die Fe<strong>der</strong><br />

in das Tintenfass: Monsieur, wenngleich ich nicht die Genugtuung<br />

habe, Sie persönlich zu kennen, so sind Sie mir doch durch Ihre<br />

Werke sehr wohl bekannt. Es sind, wenn ich mich so ausdrücken<br />

darf, Schätze des Esprits und Werke, die mit so viel Geschmack,<br />

Delikatesse und Kunst gearbeitet sind, dass ihre Schönheiten bei<br />

jedem Wie<strong>der</strong>lesen ganz neu erscheinen. Ich vermeinte darin den<br />

Charakter ihres ingeniösen Schöpfers wie<strong>der</strong>zuerkennen, <strong>der</strong> unserem<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t und dem menschlichen Geist überhaupt zur<br />

Ehre gereicht …<br />

Er schrieb wie besessen, legte dann die Fe<strong>der</strong> zur Seite und überfl<br />

og die Zeilen: Nie zuvor hat ein Dichter metaphysischen Gedanken<br />

rhythmischen Schwung verliehen; diese Ehre blieb Ihnen als<br />

Erstem vorbehalten … Die Nachsicht und die Unterstützung, die<br />

Sie all jenen zuteilwerden lassen, die sich den Künsten und den<br />

Wissenschaften weihen, lässt mich hoffen, dass Sie mich nicht von<br />

<strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong>er ausschließen, die Sie ihrer Unterweisung für würdig<br />

erachten … Eben dies lässt mich brennend wünschen, alle Ihre<br />

Werke zu besitzen. Ich bitte darum Monsieur, sie mir zu senden<br />

und mich freimütigst auf dem Laufenden zu halten … Ihre Dichtungen<br />

besitzen Qualitäten … Sie sind eine moralische Lektion …<br />

Tugend ist hier in den schönsten Farben gemalt; die Idee von wahrem<br />

Ruhm ist fest umrissen …<br />

Dann schrieb er den letzten Satz: Falls mein Schicksal es mir<br />

nicht vergönnt, sie selbst zu besitzen, so kann ich doch zumindest<br />

hoffen, eines Tages den Mann zu sehen, den ich seit so langer Zeit<br />

von weitem bewun<strong>der</strong>e, und Ihnen mit erregter Stimme zu versichern,<br />

dass ich mit aller Wertschätzung, die jenen Menschen zusteht,<br />

die <strong>der</strong> Flamme <strong>der</strong> Wahrheit folgen und ihr Tun dem allgemeinen<br />

Wohl widmen, Ihr zutiefst ergebener Freund bin,<br />

Frédéric, P. R. de Prusse.<br />

Er siegelte den Brief und befahl Fre<strong>der</strong>sdorf zu sich.<br />

«Ich möchte über den See fahren, begleiten Sie mich.»<br />

Während <strong>der</strong> Fährmann das Boot zur Mitte des Sees ru<strong>der</strong>te,<br />

betrachtete <strong>Friedrich</strong> die Gestalt Fre<strong>der</strong>sdorfs und dachte: Er ist<br />

721


verschwiegen und loyal, ich kann ihm mein Vertrauen schenken.<br />

«Herr Fre<strong>der</strong>sdorf, am Hof weiß es noch niemand, Sie sind <strong>der</strong><br />

Erste, <strong>der</strong> die Neuigkeit erfährt, ich habe vorhin einen Brief an Voltaire<br />

geschrieben.»<br />

«Voltaire? Der berühmte Dichter und Philosoph?»<br />

«Ja, an ihn, ich hoffe, dass er antwortet, ich wünsche mir nichts<br />

sehnlicher als eine Korrespondenz mit ihm.»<br />

«Königliche Hoheit, er wird Ihnen bestimmt antworten, für einen<br />

Dichter ist es eine große Ehre, mit einem künftigen König zu<br />

korrespondieren.»<br />

«Ich hoffe, dass er in mir nicht nur den künftigen König sieht,<br />

son<strong>der</strong>n einen Menschen, <strong>der</strong> die Dichtung liebt, <strong>der</strong> selbst Verse<br />

schreibt, und ich hoffe, dass er meine Verse korrigieren wird.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte <strong>Friedrich</strong>: «Jetzt wohne ich<br />

schon eine Woche in Rheinsberg und fühle mich so glücklich wie<br />

noch nie zuvor, morgen allerdings wird es mit <strong>der</strong> Ruhe hier vorbei<br />

sein, dann treffen meine Freunde nacheinan<strong>der</strong> ein, aber schließlich<br />

soll Rheinsberg ein Ort <strong>der</strong> Geselligkeit sein, ein Ort, wo je<strong>der</strong><br />

studiert, und an <strong>der</strong> Tafel unterhalten wir uns dann über die Bücher,<br />

die wir gelesen haben.»<br />

Als das Boot später auf das Ufer zusteuerte, sahen sie die Kronprinzessin<br />

und ihre Damen, die von einem Spaziergang zurückkehrten.<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete seine Frau, die lachte und sich lebhaft unterhielt.<br />

Sie wirkt hier viel gelöster und ungezwungener als in Berlin,<br />

dachte er, kein Wun<strong>der</strong>, in Berlin muss sie stets Mamas kritische<br />

Augen und ihre spöttischen Bemerkungen befürchten, vielleicht<br />

wird sie in Rheinsberg endlich schwanger; und er spürte erstaunt,<br />

dass er zum ersten Mal, seit sie verheiratet waren, eine leichte Zuneigung<br />

für sie empfand.<br />

Ungefähr vier Wochen später saß <strong>Friedrich</strong> an einem Vormittag in<br />

seinem Arbeitszimmer und überlas seine Aufzeichnungen, die er<br />

während seiner Inspektionsreise nach Ostpreußen im Frühsommer<br />

geschrieben hatte.<br />

722


Merkwürdig, dachte er, als mein Vater mir diese Lustreise vorschlug,<br />

war ich zunächst überhaupt nicht begeistert und schrieb an<br />

Wilhelmine: Er will mich nach Preußen schicken. Das ist ein wenig<br />

anständiger als Sibirien, aber nicht viel.<br />

Papa gab mir natürlich detaillierte Anweisungen: Ich solle das<br />

gesamte Militärwesen kontrollieren, alle Ämter besuchen und etwaige<br />

Missstände sofort korrigieren und so weiter. Während <strong>der</strong><br />

Reise fand ich Gefallen an diesen Inspektionen. Zum ersten Mal<br />

seit meinen Verwaltungsstudien in Küstrin konnte ich meine theoretischen<br />

Kenntnisse in die Praxis umsetzen. Wenn ich König<br />

bin, werde ich alle Provinzen regelmäßig persönlich besuchen und<br />

kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Meine Neigungen haben<br />

sich erweitert, jetzt ist die Kultur eines Landes für mich unendlich<br />

wichtig und interessant. Zu meinen künftigen Lieblingsbeschäftigungen<br />

wird es gehören, Land urbar zu machen, es zu besiedeln,<br />

Manufakturen anzulegen und für Handwerk und Gewerbe günstige<br />

Bedingungen zu schaffen.<br />

Er zuckte zusammen, als er laute Stimmen hörte: «Der Postkurier<br />

ist eingetroffen!»<br />

Die Post, dachte er, und sprang auf: Mon Dieu, dachte er, vielleicht<br />

ist heute endlich ein Brief von Voltaire dabei.<br />

Er spürte, dass sein Herz anfi ng, wild zu klopfen, eilte die Treppe<br />

hinunter und prallte auf halber Höhe fast mit seinem Sekretär Jordan<br />

zusammen, <strong>der</strong> einen Brief durch die Luft schwenkte: «Königliche<br />

Hoheit, ein Brief aus Frankreich, ein Brief von Voltaire!»<br />

«Voltaire würdigt mich einer Antwort, mon Dieu, dies ist einer<br />

<strong>der</strong> glücklichsten Augenblicke meines Lebens!»<br />

Er umarmte Jordan und rief: «Mein lieber Herr Jordan, mein<br />

süßer Herr Jordan, mein sanfter Herr Jordan, mein guter, mein<br />

mil<strong>der</strong>, mein friedlieben<strong>der</strong>, mein allerleutseligster Herr Jordan,<br />

Voltaire hat mir geschrieben!»<br />

Er öffnete den Brief, überfl og ihn und sagte zu Jordan: «Es ist für<br />

mich eine Ehre, dass Voltaire mit mir korrespondiert, er will wahrscheinlich<br />

den Briefwechsel fortsetzen, mon Dieu, dieser Mann ist<br />

ungefähr zweiundvierzig Jahre alt und hatte ein bewegtes Leben:<br />

Sein bürgerlicher Name ist François-Marie Arouet, er hat das Jesuitengymnasium<br />

Louis-le-Grand absolviert, das Studium <strong>der</strong> Rechte<br />

723


an <strong>der</strong> Sorbonne hat er abgebrochen und angefangen zu schreiben.<br />

Wegen seiner Schriften wurde er 1717 in <strong>der</strong> Bastille inhaftiert, 1726<br />

wurde er erneut inhaftiert, obwohl er damals schon ein angesehener<br />

Dichter war, dann ging er nach England, seit sieben Jahren lebt er<br />

wie<strong>der</strong> in Frankreich, er wohnt im Schloss Cirey in Lothringen.»<br />

Er ging in sein Arbeitszimmer und las noch einmal Voltaires<br />

Brief: Monseigneur, man müsste fühllos sein, um von dem Brief,<br />

mit dem Eure Königliche Hoheit mich zu ehren geruhten, nicht<br />

inniglichst gerührt zu sein. Er schmeichelte meiner Eigenliebe<br />

nur zu sehr, aber die Liebe zum Menschengeschlecht, die seit je in<br />

meinem Herzen lebt und die, wie ich zu behaupten wage, meinen<br />

Charakter prägt, schenkte mir eine tausendfach reinere Freude,<br />

als ich erkannte, dass es auf <strong>der</strong> Welt einen Prinzen gibt, <strong>der</strong> als<br />

Mensch denkt, einen Fürst-Philosophen, <strong>der</strong> die Menschen beglücken<br />

wird.<br />

Ein Fürst-Philosoph, dachte <strong>Friedrich</strong>; als König werde ich zuerst<br />

Fürst sein und in meinen Mußestunden Philosoph.<br />

Mitte September, an einem Samstagnachmittag, näherten sich<br />

zwei Kutschen dem Ort Rheinsberg. In <strong>der</strong> ersten Kutsche saßen<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm und Sophie Dorothea, in <strong>der</strong> zweiten Kutsche<br />

die Kammerfrau Ramen und Eversmann.<br />

Sophie Dorothea sah missmutig aus dem Wagenfenster und<br />

sagte nach einer Weile: «Es ist unglaublich, was Sie mir zumuten,<br />

wir reisen ohne Gefolge nach Rheinsberg, was wird <strong>Friedrich</strong><br />

denken, wenn wir nur mit meiner Zofe und Ihrem Kammerdiener<br />

ankommen?»<br />

«Liebe Frau, erstens ist dies kein Staatsbesuch, son<strong>der</strong>n ein Familienbesuch,<br />

zweitens weiß ich nicht, ob Fritz ein großes Gefolge<br />

in dem Schloss unterbringen kann, schließlich ist <strong>der</strong> Neubau noch<br />

nicht fertig, drittens möchte ich meinem Sohn überfl üssige Ausgaben<br />

ersparen, vier Gäste kann er wahrscheinlich ohne Probleme<br />

unterbringen und verpfl egen, ein größeres Gefolge wäre zu teuer,<br />

überdies bleiben wir nur eine Nacht und reisen morgen wie<strong>der</strong> ab,<br />

deshalb dürfte eine Kammerfrau zu Ihrer Bedienung genügen.»<br />

Sophie Dorothea schwieg, und es wurde kein Wort mehr gewechselt,<br />

bis sie in den Schlosshof fuhren.<br />

724


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm half seiner Frau beim Aussteigen, sie sah sich<br />

um und rief: «Mon Dieu, wie entzückend, sehen Sie nur die doppelte<br />

Säulenreihe, von dort hat man einen wun<strong>der</strong>baren Blick zum<br />

See! Knobelsdorff ist als Baumeister ein Genie.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah sich um und brummte: «Die Säulenreihe<br />

ist Wind und blauer Dunst, warum hat Fritz hier nicht noch einen<br />

Flügel mit Zimmern bauen lassen? Das wäre viel praktischer gewesen.<br />

Irgendwann wird er Kin<strong>der</strong> haben, wo will er sie unterbringen?<br />

Nun, ich werde mich nicht einmischen, in Rheinsberg soll er<br />

so leben, wie er will.»<br />

In diesem Augenblick erschienen <strong>Friedrich</strong> und Elisabeth Christine.<br />

«Willkommen in Rheinsberg!», rief <strong>Friedrich</strong> und beugte sich<br />

über die Hand seiner Mutter.<br />

Der König umarmte seine Schwiegertochter: «Mein liebes Kind,<br />

meine Tochter, ja, seit Sie meinen Sohn geheiratet haben, liebe ich<br />

Sie wie eine Tochter. Die Luft hier scheint Ihnen zu bekommen. Sie<br />

wirken gelöster als in Berlin, nun, ich hoffe, dass Sie mich bald mit<br />

einem Enkel beglücken.»<br />

Elisabeth Christine lächelte ihren Schwiegervater an und sagte<br />

leise: «Ich glaube, Ihre Hoffnung ist nicht unberechtigt.»<br />

«Papa, Sie erlauben, dass ich Ihnen jetzt meine Freunde vorstelle,<br />

die hier weilen, wenn ich in Rheinsberg bin. Sie, Papa und Mama,<br />

sind meine ersten Gäste in diesem Schloss.»<br />

Sie gingen in den Vorsaal, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah einige bekannte<br />

Gesichter.<br />

«Papa, Sie kennen bereits den Hofmarschall von Wolden, den<br />

Major von Senning und natürlich Pesne. Ich habe auch eine kleine<br />

Kapelle zusammengestellt: die Brü<strong>der</strong> Graun, sie sind Tenöre und<br />

Komponisten, Herr Benda, er ist <strong>der</strong> Erste Geiger, schließlich Herr<br />

Quantz, ein Meister des Flötenspiels. Nun zu den Offi zieren: Baron<br />

de La Motte-Fouqué, ein Protestant, Sohn französischer Emigranten,<br />

ein tapferer Offi zier; Edmond de Chasot, ich habe ihn während<br />

des Feldzuges anno 34 kennengelernt, er musste wegen eines<br />

Duells Frankreich verlassen, und ich lud ihn ein, nach Rheinsberg<br />

zu kommen; Herr Jordan, er ist ein Sohn französischer Protestanten<br />

und Pastor; Herrn von Keiserlingk kennen Sie schon. Nun zu<br />

725


den Damen <strong>der</strong> Kronprinzessin, die Sie bereits kennen: Frau von<br />

Katsch, die Oberhofmeisterin, Fräulein von Schack, Fräulein von<br />

Walmoden, schließlich Pastor Deschamps, unser Schlossgeistlicher,<br />

<strong>der</strong> Sohn eines französischen Flüchtlings.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete wohlwollend die Damen und<br />

Herren und sagte zu <strong>Friedrich</strong>: «Zeige mir jetzt das Schloss, ich<br />

meine, deine privaten Räume.»<br />

«Erlauben Sie», sagte Sophie Dorothea, «dass ich mich zurückziehe<br />

und ausruhe, ich bin müde.»<br />

«Selbstverständlich, liebe Frau», und er ging mit <strong>Friedrich</strong> hinauf<br />

in den ersten Stock.<br />

Sie betraten einen großen Saal, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete<br />

interessiert zwei allegorische Deckengemälde, Apollo auf seinem<br />

Wagen und Aurora, die Wolken zerteilend, aha, dachte er, hier<br />

wird symbolisch mein Nachfolger dargestellt, die aufgehende Sonne,<br />

nun ja, kein Wun<strong>der</strong>, dass er auf meinen Tod wartet, ich habe<br />

damals bei meinem Vater ähnlich empfunden, und es gibt Augenblicke,<br />

da möchte ich am liebsten abdanken.<br />

«Die Deckengemälde», unterbrach <strong>Friedrich</strong> die Gedanken des<br />

Königs, «sind noch unvollständig, was Sie hier sehen, wurde von<br />

Pesnes Schwager Dubuisson gemalt, ich möchte übrigens überall<br />

im Schloss Bil<strong>der</strong> von Watteau und Lancret aufhängen, sie passen<br />

am besten zur Inneneinrichtung; ich zeige Ihnen jetzt zunächst<br />

die fünf Räume meiner Frau, anschließend kommen meine sieben<br />

Räume.»<br />

Sie gingen schweigend durch einen weiteren Vorsaal, wo eichene<br />

Spieltische standen.<br />

«Dies ist <strong>der</strong> Gesellschaftssaal, hier kann man sich am Abend zu<br />

Spiel und Tanz versammeln.»<br />

Sie gingen durch einen Wohnraum, dessen Wände mit roséfarbenem<br />

Atlas ausgeschlagen waren, dann kam das Schreibkabinett,<br />

dann gingen sie durch ein weiteres Kabinett, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die mit blauem<br />

Atlas ausgeschlagenen Wände, die Goldleisten und sagte: «Dieses<br />

Zimmer wirkt vornehm.»<br />

Schließlich betraten sie das Schlafzimmer, dessen Wände mit<br />

Silberstoff und blauer Atlasseide verkleidet waren.<br />

726


<strong>Friedrich</strong> Wilhelm ging zu dem Prachtbett, das unter einem Vorhang<br />

aus blauem Atlas mit goldenen Tressen versank, er betrachtete<br />

den kleinen Ze<strong>der</strong>nschreibtisch, die Kommode mit Marmorplatte<br />

und vergoldeten Griffen und ein einfaches Tischchen, auf dessen<br />

blauem Taftüberhang ein Waschnapf und eine Wasserkanne aus<br />

Zinn standen.<br />

Dann ging er zu dem kleinen Bett, das an einer Wand stand, und<br />

fragte: «Wozu dieses Bett?»<br />

«Das Bett benutzt sie, wenn sie allein schläft.»<br />

«Aha, wenn sie allein schläft, nun ja, an manchen Tagen muss<br />

eine Frau allein schlafen, aber ich hoffe doch, Fritz, dass du mein<br />

Hochzeitsgeschenk entsprechend würdigst und deine Nächte mit<br />

deiner Frau in dem Prunkbett verbringst.»<br />

«Selbstverständlich, Papa. Lassen Sie mich mit einem Gedicht<br />

antworten:<br />

Dort, unterm Himmelsblau, am Fuß <strong>der</strong> Buchen,<br />

Wird Wolff studiert, wenn auch die Pfaffen fl uchen,<br />

Frohsinn und Grazie halten hier ihr Haus,<br />

Auch an<strong>der</strong>e Götter lassen wir nicht aus.<br />

Bald, wenn wir glühn in holdem Überschwang,<br />

Tönt Mars und Pallas unser Hochgesang.<br />

Dann wird ein Trunk dem Bacchus dargebracht,<br />

Und Venus opfern wir im Schoß <strong>der</strong> Nacht.<br />

Um es profaner auszudrücken: Die Hirsche sind jetzt in <strong>der</strong> Brunftzeit,<br />

und wenn ich dieselbe Bestimmung habe, so sind Sie in neun<br />

Monaten wahrscheinlich Großvater. Ich weiß auch nicht, wieso wir<br />

nach dreijähriger Ehe immer noch kin<strong>der</strong>los sind.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte: «Denke nicht so viel darüber nach,<br />

hier in Rheinsberg wirst du bestimmt einen Sohn zeugen. Du erwähntest<br />

Wolff, ich habe ihn im November 23 aus <strong>der</strong> Universität<br />

Halle und aus dem Land verwiesen, weil er Leibnizens Lehre von<br />

<strong>der</strong> prästabilisierten Harmonie zwischen Leib und Seele verteidigte,<br />

ich habe mich inzwischen etwas näher mit Wolff beschäftigt<br />

und werde versuchen, ihn nach Preußen zurückzuholen, und ihm<br />

eine Professur anbieten in Halle o<strong>der</strong> Frankfurt an <strong>der</strong> O<strong>der</strong>.»<br />

727


<strong>Friedrich</strong> streifte den Vater mit einem erstaunten Seitenblick.<br />

Nanu, dachte er, Papa beschäftigt sich in seinem Alter mit <strong>der</strong><br />

Philosophie, das ist erstaunlich, vielleicht macht er eine ähnliche<br />

Wandlung durch wie ich, im umgekehrten Sinn: Er wendet sich im<br />

Alter den Dingen zu, die er bisher verachtet hat, während mich die<br />

Regierung eines Staates immer mehr interessiert.<br />

Dann gingen sie durch <strong>Friedrich</strong>s Räume. In <strong>der</strong> Bibliothek verweilte<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm einen Augenblick und betrachtete das<br />

Deckengemälde, es stellte Minerva dar, die ein Buch hielt, auf dessen<br />

Seiten die Namen Horaz und Voltaire standen.<br />

«Das Bett in deinem Schlafzimmer wird von korinthischen<br />

Säulen getragen, du hast dir ein Musikzimmer eingerichtet, und<br />

überall hängen Spiegel, zu viele Spiegel … gewiss, sie sind elegant<br />

gearbeitet, das ganze Schloss wirkt elegant, es ist nicht mein<br />

Geschmack, aber das Schloss passt zu dir, und ich hoffe, dass du<br />

hier so glücklich bist wie ich in Wusterhausen; ich möchte jetzt<br />

am See spazieren, wir haben so selten Gelegenheit, miteinan<strong>der</strong><br />

zu reden.»<br />

Während sie das Schloss verließen, streifte <strong>Friedrich</strong> den Vater<br />

mit einem verstohlenen Seitenblick.<br />

Wie lange will er noch leben, dachte er. Wilhelmines Schwiegervater<br />

starb im Mai 35, sie ist jetzt regierende Markgräfi n, Philippine<br />

Charlottes Schwiegervater starb im September 35, sie ist jetzt<br />

regierende Herzogin; wann werde ich endlich regieren?<br />

Sie gingen eine Weile schweigend am Ufer entlang, dann betrachtete<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm den Sohn mit einem forschenden Seitenblick<br />

und fragte: «Wie ist hier <strong>der</strong> Tagesablauf? Du hast den Tag<br />

wahrscheinlich genau geregelt, damit kein Chaos entsteht.»<br />

«Wie man es nimmt», erwi<strong>der</strong>te <strong>Friedrich</strong> zögernd, «bis zur Mittagstafel<br />

kann je<strong>der</strong> tun und lassen, was er will. Ich stehe gewöhnlich<br />

gegen sechs Uhr auf und arbeite bis ein Uhr, das heißt: ich lese<br />

viel, meistens Bücher über Ökonomie, das Kriegswesen, aber auch<br />

antike Dichter und philosophische Werke.<br />

Von halb zwei bis drei Uhr ist Mittagstafel, danach trinken wir<br />

bis vier Uhr gemeinsam Kaffee, anschließend arbeite ich bis sieben<br />

Uhr, meine Frau schreibt Briefe o<strong>der</strong> lässt sich vorlesen, die ande-<br />

728


en ziehen sich auf ihre Zimmer zurück und lesen ebenfalls. Von<br />

sieben bis neun Uhr wird musiziert, anschließend arbeite ich wie<strong>der</strong><br />

bis zur Abendtafel, die um halb elf beginnt. Wir unterhalten<br />

uns dann bis weit nach Mitternacht, vor zwei Uhr begeben wir uns<br />

fast nie zur Ruhe.<br />

Manchmal spielen wir am Abend auch Theater, und je<strong>der</strong> übernimmt<br />

eine Rolle.»<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm: «Ich habe<br />

den Eindruck, dass du deine Zeit hier nicht vergeudest, son<strong>der</strong>n<br />

dich den größten Teil des Tages über mit ernsthaften Dingen beschäftigst,<br />

allerdings verstehe ich nicht, dass bis zum Mittag je<strong>der</strong><br />

machen kann, was er will; aber nun ja, es geht mich nichts an, und<br />

ich will mich nicht einmischen.»<br />

«In einigen Wochen werde ich übrigens einen eigenen Ritterorden<br />

stiften, ihm werden Hulla und Heinrich angehören und einige<br />

Offi ziere, mit denen ich befreundet bin, insgesamt zwölf Ritter, <strong>der</strong><br />

Schutzpatron des Ordens ist <strong>der</strong> französische Ritter Bayard und<br />

sein Wahlspruch, ‹Ohne Furcht und Tadel›, wird auch unser Wahlspruch<br />

sein.<br />

Fouqué ist <strong>der</strong> Großmeister, <strong>der</strong> uns durch den Ritterschlag weihen<br />

wird und uns das Gelübde abnimmt, nämlich auf die Vervollkommnung<br />

<strong>der</strong> Heeresführung zu achten. Je<strong>der</strong> Ritter trägt einen<br />

Ring mit <strong>der</strong> Inschrift: ‹Es lebe, wer sich nie ergibt.› Außerdem hat<br />

je<strong>der</strong> von uns einen beson<strong>der</strong>en Bundesnamen, Fouqué heißt ‹<strong>der</strong><br />

Keusche›, mein Name ist ‹<strong>der</strong> Beständige›.»<br />

«Ein Ritterorden mit dem Ziel, die Heeresführung zu vervollkommnen,<br />

das gefällt mir, Fritz. Nun etwas an<strong>der</strong>es: Deinen Briefen<br />

aus Ostpreußen entnahm ich, dass du meine Instruktionen<br />

genau befolgt hast und tatsächlich ins Detail gegangen bist, ich<br />

möchte dir jetzt, hier und heute sagen, dass ich mit deinen Leistungen<br />

sehr zufrieden bin.»<br />

<strong>Friedrich</strong> atmete erleichtert auf.<br />

«Danke, Papa, allerdings ist mir etwas aufgefallen, was ich in<br />

den Briefen aus Zeitmangel nicht erwähnte: Polnisch-Preußen<br />

kam mir wie eine Wüste vor, es ist zum Erschrecken schmutzig<br />

und verkommen, König August müsste sich mehr um diesen Teil<br />

seines Reiches kümmern, aber das geht uns nichts an.<br />

729


Ich habe in Ostpreußen Gutes gesehen, aber auch das nackte<br />

Elend. Sie müssten gegen Jahresende die Vorratskammern öffnen,<br />

sonst stirbt die Hälfte Ihrer Untertanen dort an Hunger, so schlecht<br />

waren die Ernten während <strong>der</strong> vergangenen Jahre.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm seufzte: «Ich weiß, du hast recht, und ich<br />

werde sofort entsprechende Anweisungen geben. Lass uns zurückgehen,<br />

ich möchte vor <strong>der</strong> Abendtafel noch etwas ruhen.»<br />

Im Schlosshof blieb <strong>Friedrich</strong> Wilhelm stehen, musterte den<br />

Sohn und sagte: «Ich weiß, dass du vor drei Jahren Elisabeth Christine<br />

nur wi<strong>der</strong>willig geheiratet hast; wie siehst du sie heute, hat<br />

sich deine Meinung über sie geän<strong>der</strong>t?»<br />

<strong>Friedrich</strong> überlegte.<br />

«Ja, ich sehe sie heute mit an<strong>der</strong>en Augen, sie versucht, sich zu<br />

bilden, liest viel, tanzt gut, hier in Rheinsberg repräsentiert sie<br />

ausgezeichnet, sie ist sehr hübsch, aber ich bin nie in sie verliebt gewesen:<br />

Trotzdem müsste ich <strong>der</strong> verworfenste Mensch sein, wenn<br />

ich sie nicht wirklich hochschätzte, denn erstens ist sie von sehr<br />

sanfter Gemütsart, zweitens so willfährig wie denkbar, und drittens<br />

tut sie mir alles zu Gefallen. Sie kommt mir in allem entgegen,<br />

was mir nach ihrer Meinung Freude machen kann. Sie kann sich<br />

deshalb auch nicht beklagen, dass ich sie vernachlässige. Ich weiß<br />

wirklich nicht, woran es liegt, dass ich kein Kind habe.»<br />

«Es freut mich, Fritz, dass du deine Frau als Mensch achtest, das<br />

hat sie wahrhaftig verdient, und mehr kann man vielleicht von einer<br />

erzwungenen Fürstenehe nicht erwarten, und was die Kin<strong>der</strong><br />

betrifft, das wird schon werden, man muss eben Geduld haben.»<br />

730<br />

Braunschweig, 15. August 1738<br />

Es ist bald Mitternacht, und ich bin seit fast vierundzwanzig Stunden<br />

ein Freimaurer. In <strong>der</strong> Nacht vom 14. auf den 15. August wurde<br />

ich in aller Heimlichkeit und Stille in die Hamburger Loge als<br />

Bru<strong>der</strong> aufgenommen.<br />

Meine Erinnerungen an die Aufnahme sind nur bruchstückhaft,<br />

wahrscheinlich war ich zu aufgeregt.<br />

Ich saß allein in einer engen dunklen Kammer vor einem kleinen<br />

Tisch. Auf diesem standen eine Vase mit einer roten Rose und eine


Kerze, <strong>der</strong>en Licht den Raum spärlich erhellte. Vor mir lag ein Bogen<br />

Papier mit drei Fragen, die ich beantworten sollte. Ich entsinne mich<br />

nur noch an die letzte Frage: «Worin sehen Sie den Sinn des Lebens?»<br />

Ich überlegte einen Augenblick und schrieb dann: «Für mich besteht<br />

<strong>der</strong> Sinn des Lebens darin, sich selbst zu erkennen und aus dieser<br />

Erkenntnis heraus die eigene Persönlichkeit weiterzuentwickeln.»<br />

Wenig später hörte ich Schritte, die Tür wurde aufgeschlossen,<br />

<strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> mich in die Kammer gebracht hatte, trat ein, nahm<br />

wortlos das Papier und verschwand wie<strong>der</strong>.<br />

Ich saß und wartete, dass man mich holen würde zu den Prüfungen,<br />

die ich bestehen musste, um in den Bund aufgenommen<br />

zu werden.<br />

Und während ich wartete, verlor ich allmählich das Gefühl für<br />

die Zeit, wie lange war ich in dieser Kammer eingeschlossen? Eine,<br />

zwei, drei Stunden?<br />

Endlich näherten sich Schritte, die Tür wurde geöffnet, und <strong>der</strong><br />

Mann, <strong>der</strong> mich hierher gebracht hatte, betrat den Raum in Begleitung<br />

eines an<strong>der</strong>en Mannes. Ersterer hieß mich aufstehen und<br />

fragte mich, ob ich nach ernster Selbstprüfung weiterhin darauf<br />

beharre, dem Bund beitreten zu wollen, ob ich mir <strong>der</strong> Bedeutung<br />

dieses Entschlusses bewusst sei, ob ich bereit sei, mich den Prüfungen<br />

zu unterwerfen und die Pfl ichten, die <strong>der</strong> Bund seinen Mitglie<strong>der</strong>n<br />

auferlege, zu erfüllen.<br />

Nachdem ich alles bejaht hatte, gab er seinem Begleiter ein Zeichen,<br />

dieser trat zu mir und bat mich, alle metallenen Gegenstände,<br />

die ich bei mir trug, abzulegen, und ich tat Geld und meine<br />

Ringe, auch den Ehering, in einen Behälter, dann legte man mir<br />

eine schwarze Binde über die Augen.<br />

Ich erinnere mich, dass <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Mann etwas von Finsternis<br />

sagte, Finsternis <strong>der</strong> Irrungen und Wirrungen des Lebens, durch<br />

die man hindurchgehen müsse, wenn man das Licht fi nden wolle.<br />

Ich wurde eine Treppe hinaufgeführt, und dann blieben wir stehen;<br />

man erklärte mir, dass wir vor <strong>der</strong> Pforte stünden, und dass<br />

ich durch drei Schläge Einlass begehren solle.<br />

Nach einer Weile hörte ich, wie drinnen jemand fragte, wer<br />

Einlass begehre, woraufhin einer meiner Begleiter erwi<strong>der</strong>te: «Ein<br />

freier Mensch von gutem Ruf.»<br />

731


Ich wurde hineingeführt, es war ganz still in diesem Raum, ich<br />

wurde zum zweiten Male gefragt, ob ich dem Bund beitreten wolle.<br />

Man versprach mir, dass man mein Vertrauen nicht missbrauchen<br />

werde, dass man mich aber prüfen müsse, ob ich des Bundes würdig<br />

sei, man wies mich darauf hin, dass in diesem Bund nicht die<br />

Stellung in <strong>der</strong> Gesellschaft zähle, son<strong>der</strong>n nur das Ansehen, das<br />

man sich als Mensch durch seine Lebenshaltung erworben habe.<br />

Dann erklärte man mir, dass ich drei symbolische Reisen antreten<br />

würde, die den menschlichen Lebensweg verdeutlichen sollten.<br />

An den Beginn <strong>der</strong> ersten Reise entsinne ich mich noch genau,<br />

nach ein paar Schritten hörte ich den Ruf: «Zurück! Sie stehen am<br />

Rande eines Abgrundes!»<br />

Ich wurde hin und her, kreuz und quer geführt, und auch bei<br />

den beiden nächsten Reisen mussten Hin<strong>der</strong>nisse überwunden<br />

werden, diesmal aber innere Gefahren: Enttäuschungen, Vorurteile,<br />

Eitelkeit, Geltungsbedürfnis. Während dieser Reisen wurde<br />

ich auch mit den vier Elementen vertraut gemacht, ich fühlte Erde<br />

und Wasser, ich spürte Feuer und Luft; irgendwann hörte ich, dass<br />

ich die Prüfungen bestanden und Erfahrungen gesammelt hätte,<br />

die mir, sofern ich sie richtig verstünde, für mein künftiges Leben<br />

den Weg weisen würden.<br />

Ich wurde noch ein drittes und letztes Mal gefragt, ob ich dem<br />

Bund beitreten wolle, und als ich dies bejahte, hieß man mich, das<br />

Gelöbnis nachzusprechen. Dann wurde mir die Augenbinde abgenommen,<br />

und ich sah mich in einem hell erleuchteten Raum,<br />

umgeben von einem Kreis Männer, sie trugen ihre Uniform, und<br />

darüber war eine weiße Schürze gebunden, die Männer bildeten<br />

eine Kette um mich herum; ich erblickte einen Tisch, auf dem ein<br />

dickes Buch lag, das einer Bibel ähnelte, in einer Vase standen drei<br />

Rosen, weiß, rosa und rot, drei Kerzen standen auf dem Tisch, <strong>der</strong><br />

Raum selbst war mit Rosen geschmückt, ich entsinne mich noch an<br />

die drei Säulen in <strong>der</strong> Mitte des Raumes, sie waren von Rosengirlanden<br />

umwunden, auf je<strong>der</strong> Säule stand eine Kerze …<br />

<strong>Friedrich</strong> legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite und sah nachdenklich vor sich hin.<br />

Wie kommt es, dass ich Freimaurer geworden bin, fragte er sich.<br />

Nun, es fi ng in diesem Frühjahr an, im April, als ich mein erstes<br />

732


politisches Flugblatt verfasste, das unter dem Pseudonym eines<br />

Englän<strong>der</strong>s erschien.<br />

Der Titel: Betrachtungen über den gegenwärtigen politischen<br />

Zustand Europas.<br />

Der Grundgedanke <strong>der</strong> Schrift ist: Der wahre Ruhm eines Fürsten<br />

besteht nicht in <strong>der</strong> Vermehrung seiner Sklaven, son<strong>der</strong>n darin,<br />

die Pfl ichten seines Amtes zu erfüllen und in allem den Absichten<br />

<strong>der</strong>er zu entsprechen, die ihn mit solcher Macht bekleidetet haben<br />

und von denen ihm die höchste Gewalt übertragen ist.<br />

Im Juli begleitete ich meinen Vater auf <strong>der</strong> jährlichen Inspektionsreise<br />

nach Wesel, zu seinem Gefolge gehörte auch <strong>der</strong> Graf von<br />

Schaumburg-Lippe, ein angenehmer Mann um Ende dreißig.<br />

An einem Abend sprach man an <strong>der</strong> Tafel über die Freimaurer,<br />

und mein Vater äußerte sich abfällig darüber, er hält sie für staatsgefährlich<br />

und will sie niemals in Preußen dulden.<br />

Der Graf von Lippe wi<strong>der</strong>sprach ihm, pries die Toleranz des<br />

Bundes und den Grundsatz, einen Menschen nicht nach seinem<br />

Rang in <strong>der</strong> Gesellschaft zu beurteilen, son<strong>der</strong>n nach seinem Charakter,<br />

zuletzt bekannte <strong>der</strong> Graf, dass auch er Freimaurer sei.<br />

Ich war tief beeindruckt von seinen Worten, nach <strong>der</strong> Tafel unterhielt<br />

ich mich mit ihm lange unter vier Augen, zuletzt bat ich<br />

um Aufnahme in seine Loge, die in Hamburg ihren Sitz hat.<br />

Er schrieb an den hammerführenden Meister, Baron von Oberg,<br />

und da mein Vater von <strong>der</strong> Angelegenheit nichts wissen durfte und<br />

darf, wurde vereinbart, dass die Logenbrü<strong>der</strong> nach Braunschweig<br />

kommen sollten, wo wir während <strong>der</strong> Rückreise einige Tage verbrachten,<br />

dort wurde ich dann in <strong>der</strong>en Gasthof in <strong>der</strong> Nacht vom<br />

14. auf den 15. August aufgenommen.<br />

Er nahm die Fe<strong>der</strong> und schrieb: Im nächsten Frühjahr werden die<br />

Freimaurer ihren Einzug in Rheinsberg halten: Von den Brü<strong>der</strong>n<br />

haben die Barone von Oberg und Bielfeld den stärksten Eindruck<br />

auf mich gemacht. Sie werden zu den ständigen Gästen in Rheinsberg<br />

gehören und mehrere Aufnahmen vornehmen: Keiserlingk,<br />

Jordan und Knobelsdorff möchten Freimaurer werden.<br />

733


734<br />

Rheinsberg, 1. April 1739<br />

Grumbkow starb plötzlich am 19. März. Seither ist mein Vater<br />

mir mehr zugetan als früher. Wahrscheinlich war Grumbkow<br />

<strong>der</strong> Urheber <strong>der</strong> unterschwelligen Spannungen, die zwischen<br />

meinem Vater und mir auch nach <strong>der</strong> Entlassung aus Küstrin<br />

immer noch existierten. Das Verhältnis zwischen meinem Vater<br />

und mir war noch nie so gut, er schenkte mir sogar sein preußisches<br />

Gestüt Trakehnen, was mir jährlich 18 000 Taler Einkünfte<br />

beschert.<br />

Während <strong>der</strong> letzten Monate habe ich intensiv Machiavellis<br />

Werk «Der Fürst» studiert, und während <strong>der</strong> Lektüre reifte in mir<br />

<strong>der</strong> Plan, diesen politischen Leitfaden für skrupellose Herrscher<br />

Punkt für Punkt zu wi<strong>der</strong>legen.<br />

Voltaire sicherte mir zu, dass er die Schrift stilistisch überarbeiten<br />

und sich auch um die Veröffentlichung unter einem Pseudonym<br />

kümmern will.<br />

Einige Gedanken habe ich im Stillen schon formuliert: Ein König<br />

soll nicht <strong>der</strong> unumschränkte Herrscher, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Erste Diener<br />

seines Staates sein.<br />

Die vornehmste Aufgabe eines Monarchen ist es nicht, Kriege zu<br />

führen und Eroberungen zu machen, son<strong>der</strong>n das Volk zu beschützen<br />

und den Menschen Glück zu bringen.<br />

Die Fürsten müssen von ihrem hohen Sockel <strong>der</strong> Eitelkeiten herabsteigen<br />

und ihre angemaßten Vorrechte aufgeben.<br />

Wozu die ganze lächerliche Soldatenspielerei? Genügt es nicht,<br />

ein paar Nachtwächter einzustellen, die das Residenzschloss umkreisen<br />

und es vor Dieben und Räubern schützen?<br />

Keine Empfi ndung ist so unzertrennlich von unserem Wesen<br />

wie die <strong>der</strong> Freiheit! Davon sind alle, vom Gebildeten bis zum Wilden,<br />

zutiefst durchdrungen. Denn wie wir ohne Ketten geboren<br />

sind, so wollen wir auch ohne <strong>Knecht</strong>schaft leben.<br />

Er legte die Fe<strong>der</strong> zur Seite und sagte sich: Das Thema Krieg muss<br />

ich etwas ausführlicher darlegen: Ich bin zwar dagegen, dass Fürsten<br />

Kriege führen, aber es gibt drei Arten von gerechten Kriegen:<br />

die Verteidigungskriege gegen Aggressoren, die Kriege um des


wohlverstandenen Selbstinteresses wegen und die Präventivkriege<br />

aus staatlicher Vorsicht.<br />

Er griff erneut zur Fe<strong>der</strong> und lächelte: Diese Sätze über den Krieg<br />

sind wichtig, dachte er, vielleicht erfährt die Welt, wer den Antimachiavell<br />

geschrieben hat, vielleicht führe ich eines Tages Krieg,<br />

mit <strong>der</strong> Theorie von den gerechten Kriegen habe ich für meine Zukunft<br />

als König nichts aus <strong>der</strong> Hand gegeben.<br />

Rheinsberg, 25. August 1739<br />

Endlich bin ich wie<strong>der</strong> in meinem Schloss. Vom 7. bis 18. August<br />

musste ich Papa auf einer Reise nach Ostpreußen begleiten, für<br />

ihn war es die elfte Reise in diese Provinz, für mich die zweite.<br />

Während <strong>der</strong> vergangenen Wochen wurde mir endgültig bewusst,<br />

welche Aufbauarbeit mein Vater in diesem Land geleistet hat, er<br />

war hier in Ostpreußen als Erster Diener seines Staates tätig!<br />

Zu Beginn des Jahrhun<strong>der</strong>ts hatte die Pest aus dieser blühenden<br />

Provinz eine Einöde mit fünfzehn entvölkerten Städten und fünfhun<strong>der</strong>t<br />

unbewohnten Dörfern gemacht. Wie sieht Ostpreußen<br />

jetzt, nach 25 Jahren unermüdlicher Tätigkeit meines Vaters, aus?<br />

Es zählt mehr Städte und Herden als früher, hat mehr Wohlstand<br />

und Fruchtbarkeit als irgendeine an<strong>der</strong>e Gegend Deutschlands,<br />

und all dies ist ausschließlich meinem Vater zu verdanken, <strong>der</strong> die<br />

Ausführung persönlich befohlen und auch selbst geleitet hat. Er<br />

hat we<strong>der</strong> Mühe noch Sorge, we<strong>der</strong> Geldmittel noch Belohnungen<br />

gespart, um einer halben Million denken<strong>der</strong> Wesen das Glück und<br />

das Leben zu sichern. Ihm allein verdanken sie ihr Wohlergehen<br />

und ihre Ansiedlung.<br />

Ich habe an Voltaire geschrieben und ihm diese Eindrücke geschil<strong>der</strong>t.<br />

Gesundheitlich ging es Papa während <strong>der</strong> Reise nicht gut,<br />

nach unserer Ankunft in Berlin erlitt er einen schweren Fieberanfall,<br />

in diesem Herbst wird er auf die Jagden in Wusterhausen<br />

verzichten müssen.<br />

735


736<br />

Potsdam, 1. Dezember 1739<br />

Papa geht es täglich schlechter. Im Oktober wollte er noch einmal<br />

sein Leibregiment sehen und nahm den Vorbeimarsch <strong>der</strong> Truppen<br />

ab, wobei er sich schwer auf seinen Krückstock stützte. Dann hob<br />

man ihn unter Mühen in seinen Wagen.<br />

Er hört nicht auf zu arbeiten und sagt immer: «Könige müssen<br />

mehr als an<strong>der</strong>e Menschen aushalten können.»<br />

In seinen Mußestunden malt er o<strong>der</strong> zimmert kleine Kästchen<br />

aus Lindenholz, dabei schlägt er so laut mit dem Hammer zu, dass<br />

man es unten auf dem Schlossplatz hört.<br />

Gestern hatte ich noch einmal einen unangenehmen Auftritt mit<br />

Papa, es war hoffentlich sein letzter Wutausbruch mir gegenüber.<br />

Ich betrat am Abend unangemeldet die Tabagie, weil ich mit<br />

Papa einige Beför<strong>der</strong>ungen besprechen wollte und tagsüber keine<br />

Zeit hatte. Bei meinem Eintritt erhoben sich die Offi ziere, was in<br />

<strong>der</strong> Tabagie unüblich ist.<br />

Papas Gesicht wurde rot vor Wut und er schrie: «Setzt euch nie<strong>der</strong><br />

in Teufels Namen, was fällt euch ein, die aufgehende Sonne<br />

anzubeten, noch lebe ich, geht auseinan<strong>der</strong> und kommt mir nicht<br />

wie<strong>der</strong> unter die Augen!»<br />

Er verließ den Raum, wandte sich an <strong>der</strong> Tür noch einmal um und<br />

sagte langsam: «Nun werden die Leute sagen, <strong>der</strong> alte Menschenquäler<br />

wird sterben, aber sagt ihnen nur, dass <strong>der</strong> nach mir kommen<br />

wird, <strong>der</strong> würde sie alle zum Teufel jagen, und das würden sie<br />

davon haben.»<br />

Ich sah ihm nach, ich konnte seinen Zorn verstehen, alle Augen<br />

sind bereits auf mich gerichtet, es ist teilweise wi<strong>der</strong>wärtig und<br />

ekelt mich an.<br />

Sein letzter Satz birgt eine gewisse Wahrheit, ich werde Preußen<br />

so regieren wie mein Vater, aber ich werde nicht alle zum Teufel<br />

jagen; die Männer, die meinem Vater loyal gedient haben, werde<br />

ich behalten.


3. Kapitel<br />

737


Am Vormittag des 27. Mai 1740 ritten <strong>Friedrich</strong> und Knobelsdorff<br />

durch die Straßen von Rheinsberg und betrachteten die verbrannten<br />

Häuser und die Notunterkünfte, die die Einwohner seit<br />

dem Brand Mitte April errichtet hatten.<br />

«Ihr Entwurf des neuen Stadtplanes gefällt mir», sagte <strong>Friedrich</strong>,<br />

«breite Straßen und eine weite Ausdehnung des Stadtbezirks, das<br />

neue Rheinsberg wird größer wirken als an<strong>der</strong>e märkische Städte.»<br />

«Ich hoffe, Königliche Hoheit, dass die Einwohner ihre Häuser<br />

vor dem nächsten Winter beziehen können, <strong>der</strong> letzte Winter war<br />

entsetzlich, das Tauwetter begann erst Ende März.»<br />

In diesem Augenblick sprengte ein Eilkurier heran, zügelte sein<br />

Pferd und rief: «Königliche Hoheit, ich überbringe Ihnen einen<br />

Brief Ihrer Majestät, <strong>der</strong> König wird nur noch wenige Stunden leben.»<br />

<strong>Friedrich</strong> überfl og den Brief, galoppierte zum Schloss, saß ab und<br />

rief den Stallmeister: «Schicke Er einen Husaren los, <strong>der</strong> unterwegs<br />

Pferde ab Ruppin bestellt, ich benötige sie in kurzen Abständen», er<br />

eilte in sein Arbeitszimmer und befahl Fre<strong>der</strong>sdorf zu sich.<br />

«Sie werden mich nach Potsdam begleiten, wir reiten sofort nach<br />

Ruppin, von dort reisen wir mit <strong>der</strong> Kutsche.»<br />

Er sah über den Schreibtisch, nahm den Brief des Vaters, <strong>der</strong> am<br />

frühen Morgen eingetroffen war, und verließ das Schloss.<br />

In <strong>der</strong> Kutsche las <strong>Friedrich</strong> den Brief <strong>der</strong> Mutter und sagte zu<br />

Fre<strong>der</strong>sdorf: «Mein Vater hat sich von Berlin nach Potsdam bringen<br />

lassen; als er Berlin verließ, rief er: ‹Leb wohl Berlin, in Potsdam<br />

will ich sterben.›<br />

Die Königin und meine Geschwister sind ihm gefolgt.»<br />

Dann las er noch einmal den Brief des Vaters.<br />

738


Potsdam, den 26. Mai 1740<br />

Mein geliebter Sohn,<br />

ich habe Euer Schreiben vom 24. dieses Monats wohl erhalten,<br />

daraus Euer herzliches Mitleid mit meinen elenden Umständen,<br />

auch Eure löbliche Entschließung, in allen Stücken meinem väterlichen<br />

Rate zu folgen, ersehen. Ich bin sehr davon attendrieret und<br />

habe nicht den geringsten Zweifel an dem Effekt Eures Versprechens<br />

und Eurer guten Sentiments, wenn Gott über mein Leben<br />

gebieten sollte, wie es das Ansehen hat. Dass Ihr gegen Pfingsten<br />

anhero kommen wollet, solches ist mir sehr lieb, und wird mir ein<br />

rechtes Vergnügen sein, Euch, so Gott will, noch zu embrassiren.<br />

Die Nachrichten von dem Lande sind zwar noch schlecht, weil<br />

aber nun das warme Frühlingswetter eintritt, und das Vieh genugsam<br />

Gras kriegen wird, so hoffe, es werde noch erträglich sein.<br />

Ich bin mit treuer Liebe, mein geliebter Sohn,<br />

Euer sehr wohl affektioniter und getreuer Vater<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm.<br />

Mein geliebter Sohn, dachte <strong>Friedrich</strong>, so hat er mich noch nie in<br />

einem Brief angeredet, er spürt, dass es mit ihm zu Ende geht, und<br />

ich spüre es auch.<br />

Er sah Fre<strong>der</strong>sdorf an: «Ich glaube, dieser Brief meines Vaters<br />

war sein letzter Brief an mich.»<br />

Es entstand eine Pause, und dann sagte <strong>Friedrich</strong>: «Ich wünsche<br />

durchaus nicht den Tod meines Vaters, Gott bewahre mich davor!<br />

Und ich werde, glaube ich, betrübter über seinen Tod sein als so<br />

manche, die sich zu seinen Lebzeiten in Liebedienerei nicht genugtun<br />

konnten. Die Stimme <strong>der</strong> Natur waltet doch allzu stark in mir,<br />

und ich bin nicht herzlos genug, sie zu ersticken.»<br />

Fre<strong>der</strong>sdorf schwieg einen Moment und erwi<strong>der</strong>te: «Mit Verlaub,<br />

Königliche Hoheit, ich glaube, kein Mensch kann die Stimme<br />

<strong>der</strong> Natur unterdrücken, wenn er ein Elternteil verliert.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah Fre<strong>der</strong>sdorf an: «Mit Ihnen kann ich mich von Mensch<br />

zu Mensch unterhalten, dafür danke ich Ihnen. Mein Vater, mon<br />

Dieu, welch ein schrecklicher Mann war mein Vater, aber zugleich<br />

wie gerecht, wie klug und geschäftskundig! Sie haben keine Vorstel-<br />

739


lung von <strong>der</strong> vortreffl ichen Ordnung, welche er in allen Zweigen <strong>der</strong><br />

Verwaltung eingeführt hat. Es hat nie einen Fürsten gegeben, <strong>der</strong> so<br />

fähig war wie er, in die geringsten Einzelheiten einzudringen, und<br />

das tat er, wie er selbst sagte, um alle Teile <strong>der</strong> Verwaltung möglichst<br />

vollkommen zu machen. Durch seine Sorgfalt, seine unermüdliche<br />

Arbeit, seine stets von <strong>der</strong> strengsten Gerechtigkeit geleitete Politik,<br />

seine bewun<strong>der</strong>nswürdige Sparsamkeit und die strenge Manneszucht,<br />

welche er in <strong>der</strong> von ihm geschaffenen Armee einführte, durch<br />

alles dies werde ich in den Stand gesetzt, aus Preußen eine europäische<br />

Großmacht zu schaffen.»<br />

Er schwieg eine Weile und fuhr fort: «Ich habe meinen verheirateten<br />

Schwestern mitgeteilt, wie es um unseren Vater steht, und<br />

ihnen untersagt, nach Potsdam zu kommen, sie sollen ihn so in Erinnerung<br />

behalten, wie sie ihn zuletzt gesehen haben. Mon Dieu, er<br />

ist an den Rollstuhl gefesselt, und die Wassersucht hat seinen Körper<br />

furchtbar aufgedunsen, es ist schrecklich, ihn anzusehen, überdies ist<br />

für meine Schwestern in Süddeutschland die Reise nach Berlin zu<br />

teuer, sie müssen sparen, meine Schwester in Braunschweig erwartet<br />

ihr sechstes Kind, eine Reise ist also nicht zumutbar, und meine<br />

Schwester in Schwedt kränkelt seit einiger Zeit.»<br />

Er schwieg erneut und sagte dann: «Nach dem Tod meines Vaters<br />

werde ich zunächst im Charlottenburger Schloss wohnen, das<br />

Berliner Stadtschloss ist mir zu groß und zu düster, ich war dort<br />

nie glücklich, im Winter habe ich stets gefroren, überdies war das<br />

Schloss im Winter nur spärlich erleuchtet, dort wurde ich von<br />

meinem Vater zum ersten Mal geschlagen, Charlottenburg hingegen<br />

ist das Schloss meiner Großmutter, ihr fühlte ich mich immer<br />

geistig verbunden. Wenn ich dort an einem Fenster stehe, sehe ich<br />

sie immer mit Leibniz lustwandeln und sich unterhalten.»<br />

«Mit Verlaub, Königliche Hoheit, die Berliner Bevölkerung wird<br />

enttäuscht sein, wenn Sie nicht in <strong>der</strong> Hauptstadt wohnen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte spöttisch: «Die Berliner Bevölkerung, mon<br />

Dieu, ich mag die Berliner nicht beson<strong>der</strong>s, sie besitzen Mutterwitz,<br />

aber er fällt mir auf die Nerven, die Berliner sind mir zu vorlaut, sie<br />

äußern unverhohlen ihre Kritik am Staat, am König, das passt mir<br />

nicht, sie haben den König als Autorität zu respektieren. Übrigens,<br />

nicht nur die Berliner werden enttäuscht sein, son<strong>der</strong>n auch die<br />

740


Herren, die mir in Rheinsberg Gesellschaft leisteten, sie rechnen<br />

wahrscheinlich alle mit hochdotierten Posten in <strong>der</strong> Armee und<br />

<strong>der</strong> Verwaltung, mitnichten, nach meinem Regierungsantritt haben<br />

die Possen ein Ende, ich werde die Männer übernehmen, die<br />

meinem Vater loyal gedient haben.»<br />

Er betrachtete Fre<strong>der</strong>sdorf und sagte: «Sie waren bis jetzt mein<br />

Kammerdiener, wenn ich König bin, werde ich Sie zum Geheimen<br />

Kämmerer ernennen, Sie haben dann verschiedene Aufgaben: Sie<br />

werden meine Privatschatulle verwalten, Sie werden allmählich<br />

die Aufgaben eines Intendanten <strong>der</strong> königlichen Schauspieler und<br />

Sänger übernehmen, und ich werde Sie mit an<strong>der</strong>en Aufträgen beschäftigen,<br />

die geheim bleiben sollen.»<br />

Fre<strong>der</strong>sdorf sah den Kronprinzen erstaunt an: «Königliche Hoheit,<br />

diese neuen Aufgaben sind eine Ehre für mich, aber ich weiß<br />

nicht, ob ich dieser Ehre würdig bin.»<br />

<strong>Friedrich</strong> lächelte: «Sie sind <strong>der</strong> Ehre würdig, Sie dienen mir jetzt<br />

seit acht Jahren, und Sie haben mich nie menschlich enttäuscht.»<br />

Als sie in Potsdam eintrafen, erfuhren sie, dass <strong>der</strong> König am Stadtrand<br />

weile, um <strong>der</strong> Grundsteinlegung eines Hauses beizuwohnen,<br />

das für seinen Hufschmied errichtet würde.<br />

<strong>Friedrich</strong> eilte zu dem Bauplatz, sah seinen Vater dort im Rollstuhl<br />

sitzen und hörte, dass er den Handwerkern Befehle erteilte.<br />

Er blieb überrascht stehen: Wird er sich wie<strong>der</strong> erholen und weiterregieren?,<br />

überlegte er, in diesem Augenblick sah <strong>der</strong> König den<br />

Sohn und breitete die Arme aus.<br />

Das hat er noch nie getan, dachte <strong>Friedrich</strong>, eilte zu dem Vater<br />

und umarmte ihn.<br />

«Mein Sohn!», rief <strong>Friedrich</strong> Wilhelm, und begann zu weinen.<br />

«Ich habe immer nur das Beste für dich gewollt, ich habe dich<br />

väterlich geliebt, das ist wahr, wenn ich auch streng gegen dich gewesen<br />

bin.»<br />

In diesem Augenblick wurde es <strong>Friedrich</strong> bewusst, dass <strong>der</strong> Vater<br />

ihn, auf seine Art, geliebt hatte, und brach in Tränen aus.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm wartete, bis <strong>der</strong> Sohn sich etwas beruhigte,<br />

und sagte: «Ich hatte dich erst zu Pfi ngsten erwartet, wie kommt<br />

es, dass du bereits heute hier bist?»<br />

741


«Mama schrieb mir, dass es Ihnen gesundheitlich nicht gutgeht,<br />

und dass ich kommen soll.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete den Sohn einige Augenblicke:<br />

«Fritz, deine Mutter weiß, wie es um mich steht, und ich weiß es auch,<br />

vielleicht erlebe ich das Pfi ngstfest nicht mehr; wenn ich heute trotz<br />

meiner Schmerzen auf <strong>der</strong> Baustelle bin, so deswegen, weil ich bis<br />

zum letzten Atemzug meine Pfl ichten als König erfüllen will, soweit<br />

es meine Kräfte erlauben. Ich möchte dich nachher unter vier o<strong>der</strong><br />

besser unter sechs Augen sprechen, <strong>der</strong> Minister Podewils wird auch<br />

anwesend sein, nun eile zum Schloss und begrüße deine Mutter.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> das Schlafzimmer von Sophie Dorothea betrat, war<br />

sie allein.<br />

Sie saß am Fenster und blickte nachdenklich hinunter in den Hof.<br />

Sie sieht zwar bleich aus, dachte er, wirkt aber sehr gefasst.<br />

Er ging zu ihr: «Mama, steht es wirklich so schlimm um ihn?»<br />

«Ja, <strong>Friedrich</strong>, die Ärzte geben ihm nur noch wenige Tage, er hat<br />

entsetzliche körperliche Schmerzen, kann sich nicht mehr allein<br />

bewegen, mon Dieu, <strong>der</strong> Tod wäre eine Erlösung für ihn», und für<br />

uns, dachte sie im Stillen.<br />

Es entstand eine Pause, dann sagte <strong>Friedrich</strong> zögernd: «Es ist<br />

vielleicht jetzt nicht <strong>der</strong> richtige Augenblick, Mama, aber nach seinem<br />

Tod werde ich wahrscheinlich vollauf mit den Regierungsgeschäften<br />

zu tun haben, deswegen sage ich Ihnen schon jetzt, welche<br />

Pläne ich bezüglich Ihnen und meiner Geschwister habe – als<br />

König bin ich ja auch das Oberhaupt <strong>der</strong> Familie. Ich werde Ihr<br />

jährliches Einkommen auf 50 000 Taler erhöhen, so können Sie geruhsam<br />

und umgeben von Luxus in Monbijou o<strong>der</strong> im Berliner<br />

Schloss residieren.<br />

Meine Schwestern Ulrike und Amalie sind längst im heiratsfähigen<br />

Alter, ich werde versuchen, sie so zu verheiraten, dass es für<br />

Preußen außenpolitisch vorteilhaft ist.<br />

Am wichtigsten ist die baldige Vermählung von August Wilhelm,<br />

ich werde ihn zum Prinzen von Preußen ernennen, er ist für<br />

die Erbfolge verantwortlich.»<br />

Sophie Dorothea sah <strong>Friedrich</strong> unsicher an: «Sie wollen Ihren<br />

Bru<strong>der</strong> zum Thronfolger ernennen, bedeutet dies, dass Sie nicht<br />

mehr mit eigenen Kin<strong>der</strong>n rechnen?»<br />

742


«Ja, Mama.»<br />

«Nun, Sie könnten sich scheiden lassen und eine an<strong>der</strong>e Prinzessin<br />

heiraten.»<br />

«Ich werde mich nicht scheiden lassen, und nun zu Heinrich und<br />

Ferdinand: Ich werde ihre Erziehung sorgfältig überwachen, die<br />

jungen Herren dürfen nicht glauben, dass sie sich nach Papas Tod<br />

undiszipliniert benehmen können, ich erwarte von meinen Brü<strong>der</strong>n<br />

Gehorsam, Disziplin, Pünktlichkeit und Fleiß.»<br />

Sophie Dorothea starrte den Sohn an: «Mon Dieu, Sie werden<br />

Ihrem Vater immer ähnlicher.»<br />

«Mama, ich ähnele ihm vielleicht auf bestimmten Gebieten, an<strong>der</strong>erseits<br />

bin ich großzügiger als er: Ich werde meinen Schwestern<br />

erlauben, weite Reifröcke zu tragen, dies hat Papa ihnen seit Jahren<br />

verboten, weil zu viel Stoff benötigt wird, nun, ein paar Ellen<br />

mehr an Stoff wird Preußen nicht ruinieren; ich werde meinen Geschwistern<br />

auch Ringe, Uhren, Fächer, Degen, kurz alles, was sie<br />

bisher entbehrt haben, schenken, aber sie müssen mir gehorchen.»<br />

Er begab sich zum Arbeitszimmer seines Vaters, wo <strong>der</strong> König und<br />

Podewils ihn bereits erwarteten.<br />

«Mein Sohn, <strong>der</strong> Minister von Podewils wird dich in die auswärtigen<br />

Angelegenheiten noch genauer einweihen, ich möchte dir<br />

nur sagen: Misstraue ganz Europa, vor allem deinem Onkel Georg<br />

in England und dem Kaiser in Wien. Am wichtigsten aber ist, dass<br />

du nie einen ungerechten Krieg anfängst – die höchste Wohlfahrt<br />

eines Regenten ist ein gut bevölkertes Land, deshalb bitte ich dich,<br />

keine ungerechten Kriege anzufangen; versprichst du mir dies?»<br />

«Ja, Papa.» Ich werde Kriege führen, wenn ich es für angebracht<br />

halte, dachte <strong>Friedrich</strong>.<br />

«Meine Leibgarde, ich meine die Langen Kerls, soll nach meinem<br />

Tod aufgelöst werden, sie wird allmählich zu teuer. Du kannst<br />

sie auf deine Grenadierbataillone verteilen und sparst so jährlich<br />

300 000 Taler.»<br />

Er übergab <strong>Friedrich</strong> zwei Dokumente: «Im ersten Schriftstück<br />

habe ich meine politischen Erfahrungen für dich dokumentiert und<br />

gebe dir Ratschläge, im zweiten Dokument habe ich die Einzelheiten<br />

meiner Bestattung festgelegt: Unter an<strong>der</strong>em sollen die Offi ziere<br />

743


am Abend nach meiner Beisetzung den besten Rheinwein trinken,<br />

und zwei Wochen später soll in allen Kirchen des Landes über den<br />

Text ‹Ich habe einen guten Kampf gekämpft› gepredigt werden, dann<br />

sollen alle mein Lieblingslied ‹Wer nur den lieben Gott lässt walten›<br />

anstimmen, von meinem Leben und meinen Taten soll nichts in den<br />

Predigten erwähnt werden, die Pfarrer sollen dem Volk sagen, dass ich<br />

als großer und armer Sün<strong>der</strong> gestorben bin, <strong>der</strong> bei Gott und seinem<br />

Heiland Gnade gesucht hat, überhaupt soll man mich in den Leichenpredigten<br />

zwar nicht verächtlichmachen, aber auch nicht loben.»<br />

Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm am Morgen des 31. Mai erwachte, sah er<br />

<strong>Friedrich</strong> neben seinem Bett sitzen.<br />

«Hast du die ganze Nacht hier gewacht?»<br />

«Ja, Papa.»<br />

«Fritz, ich spüre, dass ich nicht mehr lange lebe, ich werde immer<br />

schwächer, und ich habe deshalb gestern Podewils befohlen, meine<br />

Abdankungsurkunde aufzusetzen, die Regierungsgeschäfte dürfen<br />

nicht ruhen während meiner Krankheit. Ich weiß, dass du dich während<br />

<strong>der</strong> letzten Tage um verschiedene Angelegenheiten gekümmert<br />

hast, aber du musst vielleicht wichtige Entscheidungen treffen, das<br />

kannst du nur, wenn du König bist. Hole jetzt deine Mutter und<br />

deine Geschwister, ich will mich von ihnen verabschieden.»<br />

Eine Abdankung ist überfl üssig, dachte <strong>Friedrich</strong>, aber es ist besser,<br />

wenn ich ihm nicht wi<strong>der</strong>spreche.<br />

Als er später, begleitet von Sophie Dorothea und den Geschwistern,<br />

das Schlafzimmer des Vaters betrat, saß <strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

im Rollstuhl.<br />

Vor ihm standen <strong>der</strong> Leibarzt Dr. Eller, <strong>der</strong> Prediger Roloff und<br />

Podewils mit einem Schriftstück in <strong>der</strong> Hand.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm seine Familie sah, begann er zu weinen<br />

und rief: «Fritz, meine Finger sind so schwach, sie können die Fe<strong>der</strong><br />

nicht mehr halten, ich kann die Abdankungsurkunde nicht mehr<br />

unterzeichnen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> trat zu dem Vater und ergriff dessen Hände: «Papa, die<br />

Abdankung ist doch jetzt nicht wichtig.»<br />

Der König sah den Sohn an und sagte dann zu Podewils: «Tat<br />

Gott mir nicht viel Gnade, dass er mir einen so braven und würdi-<br />

744


gen Sohn gegeben? Mein Gott, ich sterbe zufrieden, da ich einen so<br />

würdigen Sohn und Nachfolger hinterlasse.»<br />

<strong>Friedrich</strong> sah einen Augenblick verlegen zu Boden, dann sah er<br />

dem Vater in die Augen und sagte: «Ich werde Ihr Werk in Ihrem<br />

Sinne fortführen, das verspreche ich Ihnen, Papa.»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm lächelte schwach und winkte Sophie Dorothea<br />

und die Kin<strong>der</strong> zu sich.<br />

«Fiekchen, ich verlasse dich jetzt, wir waren fast vierunddreißig<br />

Jahre verheiratet, und ich war dir immer treu. Du warst eine<br />

gute Frau, und ich verzeihe dir deine Eitelkeiten, über die ich mich<br />

oft ärgerte. Ich habe während <strong>der</strong> letzten Tage allen meinen Feinden<br />

verziehen, nur deinem Bru<strong>der</strong>, diesem Komödianten, kann ich<br />

nicht verzeihen, er hat mir zu viel Leid angetan.»<br />

Sophie Dorothea begann zu weinen, da rief <strong>der</strong> Prediger Roloff:<br />

«Mit Verlaub, Majestät, im Angesicht des Todes müssen Sie Ihren<br />

Feinden vergeben, das ist die Voraussetzung, wenn Sie die ewige<br />

Seligkeit gewinnen wollen!»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm überlegte: «Fiekchen, <strong>der</strong> Prediger hat recht,<br />

schreibe nach meinem Tod deinem Bru<strong>der</strong>, dass ich mich auf dem<br />

Sterbebett mit ihm ausgesöhnt habe, aber du darfst ihm dies erst<br />

schreiben, wenn ich wirklich tot bin.»<br />

Sophie Dorothea nahm ein Spitzentaschentuch und trocknete<br />

die Augen.<br />

«Ich werde Ihren letzten Wunsch erfüllen», dann beugte sie sich<br />

über den Gatten und küsste ihn sanft auf die Stirn.<br />

Dann traten Ulrike, Amalie, Heinrich und Ferdinand zu dem<br />

Vater und küssten weinend seine rechte Hand.<br />

Zuletzt ging August Wilhelm zu ihm und stammelte unter Tränen:<br />

«Papa, Papa …»<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sah den Sohn liebevoll an und nahm seine<br />

Hände: «Mein Hulla, du hast mir immer nur Freude bereitet, du<br />

wirst Thronfolger sein, solange dein älterer Bru<strong>der</strong> keine Kin<strong>der</strong><br />

hat, und wer weiß, vielleicht wirst du eines Tages König sein, knie<br />

nie<strong>der</strong>, damit ich dich segne.»<br />

<strong>Friedrich</strong> beobachtete, wie <strong>der</strong> Vater die Hände auf den Kopf des<br />

Bru<strong>der</strong>s legte, und spürte, wie ein leiser Groll gegenüber August<br />

Wilhelm in ihm aufstieg.<br />

745


Er hat ihn immer mehr geliebt als mich, Heinrich und Ferdinand,<br />

warum?<br />

Wahrscheinlich kann man Gefühle rational nicht erklären.<br />

«Liebe Frau, liebe Kin<strong>der</strong>, lasst mich jetzt allein, ich möchte<br />

nicht, dass ihr meinen Todeskampf erlebt, du bleibst hier, Fritz.»<br />

Während die Königin und ihre Kin<strong>der</strong> das Zimmer verließen,<br />

wurde <strong>der</strong> Dessauer gemeldet.<br />

Er eilte zum König und rief: «Majestät, ich wusste nicht, wie<br />

schlimm es um Sie steht, sonst wäre ich früher gekommen; in Ihren<br />

Briefen haben Sie Ihre Krankheit heruntergespielt.»<br />

«Lieber Freund, ich wusste, dass Sie kommen würden, leben Sie<br />

wohl, ich möchte Ihnen noch etwas schenken. Gehen Sie jetzt zum<br />

Marstall und suchen Sie sich die schönsten Reitpferde aus, das ist<br />

mein persönliches Abschiedsgeschenk für Sie.»<br />

«Majestät», stammelte <strong>der</strong> Dessauer, «ich danke Ihnen, ich danke<br />

Ihnen vor allem, dass Sie mich mit Ihrer Freundschaft beehrt haben,<br />

Majestät …»<br />

Er weinte, und <strong>Friedrich</strong> Wilhelm betrachtete den Freund einen<br />

langen Augenblick, dann sagte er: «Gehen Sie jetzt», und zu Podewils:<br />

«Sie auch.»<br />

Der Minister verbeugte sich stumm und verließ mit dem Dessauer<br />

das Zimmer.<br />

Eine Minute nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en verging, <strong>Friedrich</strong> beobachtete<br />

das Gesicht seines Vaters, <strong>der</strong> vor sich hin starrte.<br />

Als es elf Uhr schlug, sackte <strong>der</strong> Kopf des Königs etwas nach<br />

vorne, und er schloss die Augen.<br />

<strong>Friedrich</strong> sah den Arzt fragend an.<br />

Eller lehnte den König zurück und sagte: «Das Koma beginnt,<br />

Königliche Hoheit.»<br />

«Wird er noch einmal erwachen?»<br />

«Wahrscheinlich, aber ich weiß es nicht, Königliche Hoheit.»<br />

<strong>Friedrich</strong> ging auf und ab und betrachtete den Vater. Er war nicht<br />

fähig, einen klaren Gedanken zu fassen, und spürte, wie ihn eine<br />

merkwürdige Nervosität überkam.<br />

Wie lange wird es noch dauern?<br />

Nach ungefähr zwei Stunden schlug <strong>Friedrich</strong> Wilhelm die Augen<br />

auf und fragte: «Wie lange werde ich noch zu leben haben?»<br />

746


Der Arzt befühlte den Puls: «Ungefähr eine halbe Stunde, Majestät,<br />

<strong>der</strong> Puls steht schon still.»<br />

«Er soll aber nicht stillestehen», brummte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm,<br />

«bringen Sie mir einen Spiegel.»<br />

Er betrachtete intensiv sein aufgedunsenes Gesicht, zeigte mit<br />

<strong>der</strong> Hand auf die Brust und sagte: «Bis hierher bin ich schon tot.»<br />

Der Spiegel entglitt seinen Händen, fi el zu Boden und zerbrach.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm seufzte, richtete sich dann etwas auf und rief<br />

laut: «Tod, ick jraule mir nich vor dir!»<br />

Er wurde erneut ohnmächtig.<br />

Er hat Berliner Dialekt gesprochen, dachte <strong>Friedrich</strong>, merkwürdig,<br />

es ist das erste Mal, dass ich ihn Berlinerisch reden höre.<br />

Kurz vor zwei Uhr erwachte <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und sagte leise:<br />

«Herr Jesus, Dir leb‘ ich, Dir sterb‘ ich, Du bist mein Gewinn …»<br />

Er schloss die Augen, und fast im gleichen Augenblick schlug die<br />

Uhr die volle Stunde.<br />

Eller neigte sich über den König, betrachtete ihn prüfend, dann<br />

ging er zu <strong>Friedrich</strong> und verbeugte sich: «Majestät, <strong>der</strong> König ist<br />

tot. Erlauben Sie mir, Ihnen mein aufrichtiges Beileid auszusprechen.»<br />

Roloff ging zu <strong>Friedrich</strong> und verbeugte sich: «Majestät, erlauben<br />

Sie auch mir, Ihnen mein aufrichtiges Beileid auszusprechen.»<br />

<strong>Friedrich</strong> betrachtete den toten Vater.<br />

Ich bin König, dachte er, am 31. Mai 1740, einem Dienstag, am<br />

Nachmittag um zwei Uhr bin ich König geworden, König, ich kann<br />

jetzt so leben und regieren, wie ich will. Und er fühlte sich auf einmal<br />

so frei und unbeschwert wie noch nie zuvor.<br />

«Danke, meine Herren», und zu Eller: «Mein Vater hat genau<br />

angeordnet, was nach seinem Tod mit ihm geschehen soll: Sein<br />

Körper soll gründlich gewaschen, mit einem reinen Hemd bekleidet<br />

und auf einen hölzernen Tisch gelegt werden. Danach soll er<br />

rasiert und anschließend mit einem sauberen Laken zugedeckt<br />

werden. Sein toter Leib soll von den Regimentsärzten geöffnet und<br />

gründlich examiniert werden, um festzustellen, woran er gestorben<br />

ist, es soll aber nichts aus dem Leib herausgenommen werden.<br />

Anschließend soll man ihm seine beste Uniform anziehen und ihn<br />

so in den Sarg legen; kümmern Sie sich um alles.»<br />

747


Er betrachtete den Vater noch einige Sekunden und begab sich<br />

zur Königin in das Nebenzimmer.<br />

Seine Augen wan<strong>der</strong>ten über die Mutter und seine Geschwister,<br />

dann sagte er: «Der König ist tot.»<br />

Sophie Dorothea verzog keine Miene, sah auf ihren Rock und<br />

dachte: Gott sei Dank, ab jetzt werde ich hoffentlich noch viele unbeschwerte<br />

Sommer in Monbijou verbringen.<br />

Die Geschwister begannen zu weinen, und August Wilhelm rief:<br />

«Er ist tot, Papa ist tot, ich kann mir ein Leben ohne Papa nicht<br />

vorstellen, warum musste er so früh sterben? Er war noch nicht<br />

einmal zweiundfünfzig Jahre!»<br />

<strong>Friedrich</strong> musterte den Bru<strong>der</strong> ärgerlich, ging zu ihm und sagte<br />

streng: «August Wilhelm, ich werde dich noch heute zum Prinzen<br />

von Preußen ernennen, dies bedeutet, dass ich dich offi ziell zu<br />

meinem Nachfolger proklamiere, deine Nachkommen werden<br />

künftig über Preußen herrschen. Ich erwarte, dass du dich deiner<br />

Stellung als Kronprinz würdig erweist, dazu gehört, dass du deine<br />

Gefühle künftig beherrschst; während <strong>der</strong> kommenden Monate<br />

werde ich nach einer passenden Gemahlin für dich suchen, deine<br />

wichtigste Aufgabe ist es, die Erbfolge zu sichern.»<br />

August Wilhelm sah den Bru<strong>der</strong> unsicher an.<br />

Er befi ehlt wie Papa, dachte er, und wird keinen Wi<strong>der</strong>stand dulden.<br />

Sophie Dorothea sah auf und musterte ihre Kin<strong>der</strong>: «Merkt<br />

euch eines: Euer Bru<strong>der</strong> ist jetzt nicht nur König, son<strong>der</strong>n auch das<br />

Oberhaupt <strong>der</strong> Familie, dies bedeutet, dass ihr ihm unbedingten<br />

Gehorsam schuldet.»<br />

Die Geschwister sahen <strong>Friedrich</strong> unsicher an, und er lächelte:<br />

«Ich werde mich nicht als Familientyrann aufführen», und zu <strong>der</strong><br />

Königinwitwe: «Entschuldigen Sie mich, Mama, ich möchte jetzt<br />

einen Augenblick allein sein.»<br />

In seinem Arbeitszimmer stand er am Fenster und beobachtete die<br />

Soldaten und Diener, die aufgeregt umherliefen o<strong>der</strong> in kleinen<br />

Gruppen zusammenstanden und sich unterhielten.<br />

Dies ist <strong>der</strong> letzte ruhige Augenblick, dachte er, bevor ich mein<br />

Amt als König und als Erster Diener meines Staates antrete, ja, ich<br />

748


will und werde <strong>der</strong> Erste Diener meines Staates sein.<br />

«Vater», sagte er leise, «ich werde dein Werk fortführen. Unter<br />

meiner Regierung wird Preußen zu einer europäischen Großmacht<br />

aufsteigen.»<br />

749


Nachwort<br />

Am 11. Juli 1657 wurde in Königsberg <strong>der</strong> Sohn und Erbe des Kurfürsten<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm von Brandenburg, genannt <strong>der</strong> Große<br />

Kurfürst, geboren.<br />

Ein Wahrsager verkündete, unter Anspielung auf den Namen<br />

des Geburtsortes Königsberg: Nascitur in Regis Fri<strong>der</strong>icus. Quid<br />

istud?<br />

Praedicunt Musae: Rex Fri<strong>der</strong>icus erit.<br />

(Dort auf des Königs Berg ist <strong>Friedrich</strong> geboren. Was heißt das?<br />

Die Musen prophezeien: <strong>Friedrich</strong> wird König <strong>der</strong>einst.)<br />

Wahrscheinlich hat <strong>der</strong> Kurprinz von dieser Wahrsagung gehört.<br />

Seit dem Tod des Vaters am 9. Mai 1688 verfolgte er das Ziel,<br />

König zu werden.<br />

Der Kurfürst von Brandenburg war ein Untertan des deutschen<br />

Kaisers. Er konnte König werden, aber nur in einem Land, das nicht<br />

zum deutschen Reichsgebiet gehörte. Dieses Land war das Herzogtum<br />

Preußen, das 1618 an das Haus Hohenzollern gefallen war und das <strong>der</strong><br />

Große Kurfürst von <strong>der</strong> polnischen Lehenshoheit befreit hatte.<br />

Nach jahrelangen Verhandlungen willigte Kaiser Leopold I. im<br />

November 1700 ein, dass <strong>der</strong> Kurfürst von Brandenburg König in<br />

Preußen wurde. Die Gegenleistung des Kurfürsten war die militärische<br />

Unterstützung des Kaisers im beginnenden Spanischen<br />

Erbfolgekrieg. Der Kurfürst war ferner damit einverstanden, alle<br />

For<strong>der</strong>ungen, die er aus vergangenen Zeiten noch an Wien stellen<br />

konnte, zu streichen; er verpfl ichtete sich, seine Län<strong>der</strong> niemals aus<br />

dem Reich zu lösen und bei künftigen Kaiserwahlen seine Kurstimme<br />

stets dem Haus Habsburg zu geben.<br />

Am 18. Januar 1701 war die Krönung in <strong>der</strong> Königsberger<br />

Schlosskirche.<br />

Kurfürst <strong>Friedrich</strong> III. setzte sich die Krone auf das Haupt und<br />

war nun in Personalunion Kurfürst von Brandenburg und König<br />

<strong>Friedrich</strong> I. in Preußen.<br />

Er krönte sich selbst, weil es keine an<strong>der</strong>e Lösung gab: Der Papst<br />

verleugnete den protestantischen Kurfürsten, <strong>der</strong> Kaiser duldete<br />

751


ihn nur als König, an<strong>der</strong>e Reichsfürsten waren nicht erschienen,<br />

obwohl er sie eingeladen hatte.<br />

In Deutschland war <strong>der</strong> Kronvertrag zwischen den Häusern Hohenzollern<br />

und Habsburg inzwischen bekannt, und alle deutschen<br />

Fürsten lachten über den Kurfürsten von Brandenburg.<br />

Am Wiener Hof gab es jemanden, <strong>der</strong> nicht lachte: Prinz Eugen<br />

von Savoyen.<br />

Der berühmte Feldherr sagte, dass dieser Kronvertrag <strong>der</strong> erste<br />

Schritt sei zur Unabhängigkeit Brandenburg-Preußens, dass <strong>der</strong><br />

Preis, den <strong>Friedrich</strong> von Hohenzollern zahle, ein bald vergessenes<br />

Kin<strong>der</strong>spiel sein würde und dass die blinden Minister des Kaisers<br />

es verdienten, aufgehängt zu werden.<br />

Während <strong>der</strong> folgenden zwölf Jahre, bis zum Tod <strong>Friedrich</strong>s I.<br />

am 25. Februar 1713, schien es, dass die Vorhersage des Prinzen<br />

Eugen sich nicht erfüllen würde.<br />

<strong>Friedrich</strong> I. liebte sein Leben als König. Er för<strong>der</strong>te zwar Künste<br />

und Wissenschaften, was vor allem dem Einfluss seiner Gemahlin<br />

Sophie Charlotte zu verdanken war, aber er versuchte, wie alle Fürsten<br />

seiner Zeit, den Versailler Hof zu kopieren: ein umständliches<br />

Hofzeremoniell mit überflüssigen Hofämtern, Bällen und Banketten;<br />

es gab sogar eine offizielle Mätresse, die nie seine Geliebte war,<br />

aber zu einem königlichen Hof gehörte eben eine Mätresse.<br />

Als er starb, hinterließ er seinem Sohn <strong>Friedrich</strong> Wilhelm einen<br />

überschuldeten Staat und ein dünnbesiedeltes Land.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm I., <strong>der</strong> «Soldatenkönig», war aus an<strong>der</strong>em Holz<br />

geschnitztalsseinVater.InihmverkörpertensichdieEigenschaften,<br />

die man später als «preußisch» bezeichnete: Fleiß, Disziplin, Sparsamkeit,<br />

Pünktlichkeit und Gehorsam, unbedingter Gehorsam <strong>der</strong><br />

Untertanen gegenüber dem König, und diesen Gehorsam for<strong>der</strong>te<br />

er auch von seiner Familie, was zu Konfl ikten führte.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm sanierte während seiner Regierungszeit die<br />

Finanzen, reformierte die Verwaltung und baute eine schlagkräftige<br />

Armee auf.<br />

Ganz Europa lachte über seine Vorliebe für die Langen Kerls,<br />

hochgewachsene Soldaten, für <strong>der</strong>en Kauf ihm kein Preis zu teuer<br />

war.<br />

752


Der Aufbau <strong>der</strong> Armee diente nur <strong>der</strong> Verteidigung des Landes,<br />

weil die Grenzen seines Staates offen für jeden Angreifer waren:<br />

Preußen besaß keine natürlichen Grenzen wie Frankreich. <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm I. verabscheute Kriege, und was man als «preußischen<br />

Militarismus» bezeichnet, begann erst unter dem letzten<br />

regierenden Hohenzollern, Kaiser Wilhelm II.<br />

Als <strong>Friedrich</strong> Wilhelm I. am 31. Mai 1740 starb, hinterließ er seinem<br />

Nachfolger einen Staatsschatz von ungefähr zehn Millionen<br />

Talern, keine Schulden, eine gut ausgebildete Armee von 75 000<br />

Mann, eine durchorganisierte Verwaltung mit loyalen Beamten<br />

und annähernd zweieinhalb Millionen Untertanen, das entsprach<br />

einem Anstieg <strong>der</strong> Bevölkerung um etwa vierzig Prozent seit seinem<br />

Regierungsantritt im Jahre 1713.<br />

Die Höfl inge staunten darüber, dass <strong>der</strong> neue König, <strong>Friedrich</strong><br />

II., nicht seine Freunde aus <strong>der</strong> Kronprinzenzeit zu Ministern ernannte,<br />

son<strong>der</strong>n die Minister seines Vaters im Amt beließ.<br />

<strong>Friedrich</strong> war <strong>der</strong> Meinung, dass die Männer, die seinem Vater<br />

gut gedient hatten, auch ihm loyal dienen würden.<br />

Er sagte: «Die Possen haben nun ein Ende.» Schloss Rheinsberg<br />

und seine Freunde, die er dort um sich versammelt hatte, waren für<br />

ihn ein abgeschlossenes Kapitel in seinem Leben, er wohnte dort nicht<br />

mehr und überließ später das Schloss seinem Bru<strong>der</strong> Heinrich.<br />

Während <strong>der</strong> ersten Monate seiner Regierung schaffte er die<br />

Folter und die Pressezensur ab und sah seine Pfl icht als König darin,<br />

<strong>der</strong> Erste Diener seines Staates zu sein.<br />

Während seiner Kronprinzenzeit und auch während seiner ersten<br />

Monate als König dachte man an den europäischen Höfen, er<br />

sei Philosoph, Dichter, Komponist von Flötenkonzerten und würde<br />

die Regierung seinen Ministern überlassen.<br />

Wie erstaunt war man, als die Gesandten berichteten, dass <strong>der</strong><br />

König faktisch allein regiere und die Minister nur Befehlsempfänger<br />

waren.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm I. war als Kurfürst von Brandenburg ein loyaler<br />

Untertan des Kaisers gewesen; sein Nachfolger war entschlossen,<br />

sich allmählich von <strong>der</strong> Oberherrschaft des Hauses Habsburg<br />

zu lösen. Sein Königreich sollte eine zweite Macht im deutschen<br />

Reich werden, ein Gegengewicht zu den Habsburgern.


Der plötzliche Tod Kaiser Karls VI. im Oktober 1740 war für<br />

ihn die Gelegenheit, sich mit dem Kaiserhaus zu messen o<strong>der</strong> zu<br />

arrangieren.<br />

Die Erbin des Kaisers war seine einzige Tochter, Maria Theresia,<br />

die ein Anrecht auf die Kaiserkrone hatte. Dieses war durch die<br />

«Pragmatische Sanktion», ein neues Erbgesetz des Hauses Habsburg,<br />

legitimiert worden. Die europäischen Fürsten hatten dieses<br />

Erbgesetz anerkannt, auch <strong>der</strong> Kurfürst von Brandenburg.<br />

<strong>Friedrich</strong> II. sah nun, nach dem Tod des Kaisers, eine Gelegenheit,<br />

in den Besitz einer Provinz <strong>der</strong> Habsburger zu kommen, die<br />

für Preußen wirtschaftlich wertvoll war: Schlesien.<br />

Er teilte Maria Theresia mit, er sei bereit, die «Pragmatische<br />

Sanktion» anzuerkennen, wenn sie Schlesien an Preußen abtrete.<br />

Seine Ansprüche auf Schlesien begründete er auch juristisch, aber<br />

Maria Theresia lehnte sein Angebot ab.<br />

Europa erschrak, als <strong>Friedrich</strong> im Dezember 1740 ohne Kriegserklärung<br />

in Schlesien einmarschierte. War dies <strong>der</strong> Philosoph auf<br />

dem Thron? Der Flötenspieler? Hatte man sich in ihm getäuscht?<br />

War er ein Eroberer?<br />

<strong>Friedrich</strong> wollte nur Schlesien, und er kämpfte in drei Kriegen<br />

um diese Provinz. Als er sie nach dem Siebenjährigen Krieg endgültig<br />

behielt, war sein Expansionshunger gestillt. Nach dem Siebenjährigen<br />

Krieg widmete er sich dem Wie<strong>der</strong>aufbau seines zerstörten<br />

Staates.<br />

Als er am 17. August 1786 starb, war Preußen eine europäische<br />

Großmacht geworden.<br />

Seine Nachfolger ruhten sich auf seinen Lorbeeren aus und versäumten<br />

es, die Armee und die Verwaltung zu reformieren.<br />

Im Oktober 1806 wurde die preußische Armee in <strong>der</strong> Schlacht<br />

bei Jena und Auerstädt von den napoleonischen Truppen fast völlig<br />

vernichtet. Nun schlug die Stunde <strong>der</strong> Reformer: Scharnhorst reformierte<br />

die Armee, <strong>der</strong> Freiherr vom Stein die Verwaltung.<br />

Im Revolutionsjahr 1848 trug das Frankfurter Gesamtdeutsche<br />

Parlament <strong>Friedrich</strong> Wilhelm IV. von Preußen die deutsche Kaiserkrone<br />

an. Der König lehnte sie ab.<br />

Nach dem Krieg 1870/71 gegen Frankreich gelang es dem preußischen<br />

Ministerpräsidenten Bismarck, Deutschland zu einen, und<br />

754


am 18. Januar 1871 wurde König Wilhelm I. von Preußen in Versailles<br />

zum Kaiser proklamiert. Das Königreich Preußen war nun<br />

ein Bestandteil des Deutschen Reiches.<br />

Das Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrates vom 25.2.1947 besiegelte<br />

die Aufl ösung des 1945 auf die Besatzungszonen aufgeteilten<br />

Preußens als Staat.<br />

Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges lösten den Staat<br />

Preußen auf, aber gelang es ihnen auch, den Geist Preußens zu<br />

zerstören?<br />

Die preußischen Eigenschaften, die in den Königen <strong>Friedrich</strong><br />

Wilhelm I. und <strong>Friedrich</strong> II. verkörpert waren, nämlich Fleiß, Sparsamkeit,<br />

Disziplin, blieben zunächst erhalten; diese Eigenschaften<br />

waren ein wichtiger Faktor beim Wie<strong>der</strong>aufbau Deutschlands.<br />

Der preußische Geist verlor zwar in <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Deutschland an Bedeutung, er wurde durch die «Spaßgesellschaft»<br />

ersetzt, aber es gibt Anzeichen, dass er wie<strong>der</strong> aufl ebt.<br />

Diese Romanbiographie über <strong>Friedrich</strong> den Großen will die Leser<br />

und Leserinnen dafür sensibilisieren, dass es Epochen in <strong>der</strong><br />

deutschen Geschichte gab, auf die man stolz sein kann. In Preußen<br />

wurde ein neuer Typ von Menschen geschaffen. Wolfgang Venohr<br />

bezeichnet dies in seiner Biographie «Der Soldatenkönig» (Frankfurt/Main,<br />

Berlin: Ullstein 1990) als «pädagogische Revolution»:<br />

«Aus Dreckspatzen wurden saubere Menschen, aus Analphabeten<br />

wurden Volksschüler und Wollproduzenten; habgierige rohe Junker<br />

wandelten sich in ehrpusselige, eitle Offi ziere; aus notorischen<br />

Faulpelzen wurden pfl ichteifrige Beamte. Die Preisgabe <strong>der</strong> inneren<br />

Freiheit und die Unterwerfung unter den allmächtigen Zeitgeist,<br />

das hat <strong>der</strong> preußische Staat von seinen Untertanen niemals<br />

gefor<strong>der</strong>t. Ideologisches Geläute fand nicht statt.»<br />

Was ist in dieser Romanbiographie Fiktion, was ist Über lieferung?<br />

Zunächst eine Anmerkung zur Sprache: Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t war<br />

Französisch die Sprache des europäischen Adels. Am preußischen<br />

Hof wurde Französisch gesprochen, allerdings ein «deutsches Französisch».<br />

<strong>Friedrich</strong> <strong>der</strong> Große lernte das «französische Französisch»<br />

erst während seines Kontaktes zu Voltaire, <strong>der</strong> auch seine Verse<br />

korrigierte.<br />

755


Die Briefe <strong>Friedrich</strong>s sind Übersetzungen in das Deutsch, das<br />

damals gesprochen wurde.<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm I. sprach eine merkwürdige Mischung aus<br />

Deutsch und Französisch, wobei er die französischen Ausdrücke<br />

nach Gutdünken verän<strong>der</strong>te. Ich habe die Quellentexte übernommen,<br />

soweit sie verständlich waren, ich habe sie umgedichtet bzw.<br />

nachgedichtet, sofern ich es wegen <strong>der</strong> besseren Lesbarkeit für notwendig<br />

hielt.<br />

Ich habe einen Generationenkonfl ikt erzählt, einen Konfl ikt zwischen<br />

Vater und Sohn. Die Entwicklung zwischenmenschlicher<br />

Beziehungen verläuft oft zunächst unbemerkt von <strong>der</strong> Umgebung.<br />

So war es auch bei <strong>Friedrich</strong> Wilhelm I. und dem Kronprinzen.<br />

Die Jahre zwischen 1716 und dem Taufmahl bei Grumbkow 1725<br />

sind Fiktion: Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn könnte so<br />

gewesen sein.<br />

Bei dem Taufmahl, das ist überliefert, bemerkte die Umgebung<br />

zum ersten Mal Spannungen zwischen Vater und Sohn.<br />

Die Härte, mit <strong>der</strong> <strong>Friedrich</strong> Wilhelm den Sohn behandelte, ist<br />

ebenfalls überliefert.<br />

<strong>Friedrich</strong> lernte seinen Freund Katte erst 1729 kennen. Ich habe<br />

diese Begegnung auf einen früheren Zeitpunkt verlegt, um die Geschichte<br />

des Fluchtversuches nicht durch die Einführung Kattes<br />

unterbrechen zu müssen.<br />

Die Vorgänge in Dresden sind überliefert. (<strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

versuchte, seinen Sohn nicht die nackte Frau sehen zu lassen.)<br />

Hat <strong>Friedrich</strong> in Dresden sinnliche Liebe erfahren? Man weiß es<br />

nicht genau, gewisse Indizien sprechen dafür. Ich beschloss, dass er<br />

in Dresden die Erotik entdeckte.<br />

Der Fluchtversuch, die Hinrichtung Kattes, <strong>der</strong> Aufenthalt in<br />

Küstrin, die Versöhnung mit dem Vater, die Heirat mit einer ungeliebten<br />

Frau, die Jahre in Rheinsberg, die Verstellung vor dem Vater<br />

und die Korrespondenz mit Voltaire sind überliefert, in meinem<br />

Roman sind sie durch Fiktion angereichert, an<strong>der</strong>s ausgedrückt: Es<br />

hätte so gewesen sein können.<br />

<strong>Friedrich</strong>s Tagebuch ist Fiktion. Ich wollte seine Person durch<br />

das Tagebuch differenzierter darstellen, und außerdem konnte ich<br />

756


so Ereignisse, die erzählerisch zwar uninteressant sind, die <strong>der</strong> Leser<br />

aber wissen sollte, in den Roman hineinarbeiten.<br />

Cornelia Wusowski<br />

Wuppertal, im Januar 2007<br />

757


Zeittafel<br />

1688 15. August: <strong>Friedrich</strong> Wilhelm wird in Berlin als<br />

einziger Sohn des späteren Königs in Preußen<br />

<strong>Friedrich</strong> I. und seiner Frau Sophie Charlotte<br />

geboren.<br />

1701 18. Januar: Kurfürst <strong>Friedrich</strong> III. (1657–1713)<br />

krönt sich selbst zum König und wird somit zu<br />

König <strong>Friedrich</strong> I.<br />

1712 24. Januar: <strong>Friedrich</strong> wird in Berlin als Sohn des<br />

Kronprinzen <strong>Friedrich</strong> Wilhelm und <strong>der</strong> Prinzessin<br />

Sophie Dorothea von Hannover (geb. 1687)<br />

geboren.<br />

1713 25. Februar: Tod <strong>Friedrich</strong>s I. und Regierungsantritt<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelms I.<br />

1714 7. März: Der Friede von Rastatt zwischen Österreich<br />

und Frankreich beendet die letzten Kampfhandlungen<br />

des spanischen Erbfolgekriegs am<br />

Oberrhein. Im wesentlichen werden die Bestimmungen<br />

des Utrechter Friedens übernommen.<br />

1715 Preußen beginnt den «Nordischen Krieg» und<br />

erobert Teile von Vorpommern und Stralsund.<br />

1716–1718 Venezianisch-Österreichischer Türkenkrieg. Österreich<br />

tritt unter dem Kommando Prinz Eugens<br />

auf Seiten Venedigs in den Krieg zwischen dem<br />

Osmanischen Reich und Venedig ein.<br />

1717 Gewinn Belgrads durch Prinz Eugen.<br />

759


1720 Brandenburg-Preußen erhält im Zweiten Stockholmer<br />

Frieden das lang erstrebte Vorpommern<br />

bis zur Peene und damit die O<strong>der</strong>mündung mit<br />

Stettin.<br />

1722 Der seit 1721 schwelende Zollkrieg zwischen<br />

Brandenburg-Preußen und Polen unter August<br />

dem Starken ( 1670 – 1733) verschärft sich.<br />

1723 Die preußische Verwaltung wird mo<strong>der</strong>nisiert<br />

und zur Behörde. Die oberste Verwaltungsinstanz<br />

wird das «Generaldirektorium».<br />

1725 Tod Peter des Großen, <strong>der</strong> von 1682– 1721 Zar<br />

und Großfürst von Russland und von 1721– 1725<br />

Kaiser des russischen Imperiums war.<br />

1729 30. Mai: <strong>Friedrich</strong>s Schwester Frie<strong>der</strong>ike Luise<br />

von Preußen wird mit Karl Wilhelm <strong>Friedrich</strong>,<br />

Markgraf von Brandenburg-Ansbach verheiratet.<br />

1730 5 . August: Missglückter Fluchtversuch <strong>Friedrich</strong>s.<br />

Nach kurzer Inhaftierung in Küstrin wird <strong>Friedrich</strong><br />

bei den dortigen Behörden in <strong>der</strong> Verwaltungsarbeit<br />

geschult.<br />

1731 20. November: Heirat von <strong>Friedrich</strong>s älterer<br />

Schwester, Wilhelmine von Preußen, mit Markgrafen<br />

<strong>Friedrich</strong> von Brandenburg-Bayreuth.<br />

1732 4 . April: Auf Befehl seines Vaters Verlobung mit<br />

<strong>der</strong> Prinzessin Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern<br />

(geb. 1715). Danach wird <strong>Friedrich</strong><br />

Regimentchef in Ruppin.<br />

1733 12. Juni: Hochzeit auf Schloss Salzdahlum bei<br />

Wolfenbüttel.<br />

760


2 . Juli: <strong>Friedrich</strong>s Schwester, Philippine Charlotte<br />

von Preußen, heiratet Karl I. Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel.<br />

1733– 1735 Polnischer Thronfolgekrieg. Der Gegensatz<br />

zwischen Österreich und Frankreich in <strong>der</strong><br />

polnischen Thronfolgefrage führt zum Krieg, in<br />

dem Österreich gegen Frankreich, Spanien und<br />

Sardinien fast ganz Italien militärisch verliert;<br />

die Franzosen besetzen u.a. Lothringen.<br />

1736 21. April: Tod des Prinzen Eugen von Savoyen.<br />

Herbst: Das Kronprinzenpaar bezieht Schloss<br />

Rheinsberg, dort bereitet sich <strong>Friedrich</strong> auf die<br />

Regierung vor und widmet sich <strong>der</strong> Philosophie.<br />

1739 <strong>Friedrich</strong> verfasst seine erste größere literarische<br />

Arbeit, den Antimachiavell.<br />

In den von Russland begonnenen Krieg gegen<br />

die Türkei greift auch das mit ihm verbündete<br />

Österreich ein. Die Österreicher werden jedoch<br />

geschlagen und unter französischer Vermittlung<br />

zum Frieden von Belgrad genötigt, dem auch Russland<br />

beitritt. Österreich verliert Belgrad, Serbien,<br />

die kleine Walachei und die Festung Orsova (am<br />

Eisernen Tor) an die Türken. Das Prestige Österreichs<br />

ist schwer getroffen; Russland wird seitdem<br />

sein Rivale auf dem Balkan.<br />

1740 31. Mai: Tod <strong>Friedrich</strong> Wilhelms I. und Regierungsantritt<br />

<strong>Friedrich</strong>s II.<br />

761


Wilhelmine<br />

1709–1758<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm<br />

1620–1688<br />

Großer Kurfürst<br />

von Brandenburg<br />

762<br />

Stammbaum<br />

<strong>Friedrich</strong> III. (I.)<br />

1657–1713<br />

Kurfürst von<br />

Brandenburg und<br />

König in Preußen<br />

<strong>Friedrich</strong> II.,<br />

Der Große<br />

1712–1786<br />

Luise Henriette<br />

1626–1667<br />

Prinzessin von<br />

Nassau-Oranien<br />

Frie<strong>der</strong>ike<br />

Luise<br />

1714–1784<br />

Sophie Charlotte<br />

1668–1705<br />

Prinzessin von Hannover<br />

Philippine<br />

Charlotte<br />

1716–1801<br />

Sophie<br />

1719–1765


Ulrike<br />

1720–1782<br />

Ernst August<br />

1629–1698<br />

Kurfürst von<br />

Hannover<br />

<strong>Friedrich</strong> Wilhelm I.<br />

1688–1740<br />

König in Preußen<br />

August<br />

Wilhelm<br />

1722–1758<br />

Sophie<br />

1630–1714<br />

Prinzessin von<br />

<strong>der</strong> Pfalz<br />

Georg I.<br />

1660–1727<br />

Kurfürst von<br />

Hannover und<br />

König von England<br />

Sophie dorothea<br />

1687–1757<br />

Prinzessin von<br />

Hannover<br />

Amalie<br />

1723–1787<br />

Sophia Dorothea<br />

1666–1726<br />

Prinzessin von Celle<br />

Heinrich<br />

1726–1802<br />

Ferdinand<br />

1730–1813<br />

763


764<br />

Glossar<br />

affable: leutselig<br />

affektionit: sehr gewogen<br />

Allodifi kation: Umwandlung eines Lehensbesitzes in eigenen Besitz<br />

Ars amatoria: Liebeskunst<br />

attendrieret: erschüttert, betroffen<br />

Auskultator: Referendar<br />

Blackscheißer: Tintenkleckser<br />

bon chemin: guter Weg<br />

Bruch: Sumpfl and<br />

Cendrillon ou la petite pantoufl e de verre: Aschenputtel o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

kleine gläserne Schuh,<br />

Chagrin: Gram, Kummer<br />

cito, cito!: Schnell, schnell!<br />

comme il faut: wie es sich gehört<br />

Contes de ma mère l‘Oye: Märchen meiner Mutter Gans.<br />

dégoûtant: wi<strong>der</strong>lich<br />

effeminiert: verweichlicht<br />

embrassieren: umarmen<br />

Force: Gewalt<br />

furnieren: unterbringen.<br />

grande Parure: höfi sche Galakleidung<br />

Inklinationen: Neigungen<br />

La Belle au bois dormant: Die schlafende Schöne im Walde,<br />

la dolce vita: das süße Leben<br />

Lange Kerls: Soldaten in <strong>Friedrich</strong> Wilhelms I. Gar<strong>der</strong>egiment, die<br />

mindestens 188 cm (6 Fuß, rheinisches Maß) groß sein mussten.<br />

malpropre: unsauber<br />

mon bijou: mein Schatz,<br />

mon chéri: mein Liebling<br />

Oh, quel prince charmant: Oh, was für ein bezaubern<strong>der</strong> Prinz<br />

reprimandieret: verwiesen<br />

Rocher von bronce: Bronzefelsen


Roman comique: komischer Roman<br />

Sanssouci: ohne Sorgen<br />

Semper talis: Immer die Gleichen<br />

Soupçons: Argwohn, Verdächtigung<br />

soutiniert: unterstützt<br />

Sucessor: Nachfolger<br />

Suum cuique: Jedem das Seine<br />

tramieren: weben, verwoben, verbunden sein<br />

Usage: Sprachgebrauch<br />

765

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