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Johannes Tütken - SUB Göttingen - GWDG

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902<br />

sentiert sich Kern auf diese Weise als ein auf reale Veränderung pochender Moralist,<br />

der sich gegen eine zwar wortreiche aber kraftlose Aufklärung seiner Zeit und<br />

ihren abstrakten Idealismus stellt – aber von der angeprangerten Geniesüchtelei selber<br />

nicht frei war.<br />

Zieger hat darauf hingewiesen, dass Kern seinerzeit mit der philosophischen<br />

Grundsätzlichkeit seiner Betrachtung weit über den pragmatischen Tellerrand des<br />

positiven Völkerrechts hinausgedacht hat. Kern sprach sich z. B. für ein Gesamteigentum<br />

der Menschheit an der Erde aus [S. 86]. Nach Zieger hat Kern damit eine<br />

Idee vorweggenommen, die unter der Bezeichnung common heritage of mankind erst<br />

bei der letzten internationalen Seerechtskonvention von 1982 Gestalt annahm. 2559<br />

Bei dieser wahrhaft universalistischen Perspektive bewegte Kern die Vorstellung<br />

einer organischen Menschheit [S. 40]. Indem er aufgrund seiner Doppelqualifikation<br />

die Spannung zwischen philosophischer Grundsätzlichkeit und juristischer Handhabbarkeit<br />

auszuhalten versuchte, unternahm er eine wenig begangene Gradwanderung.<br />

Er beklagte Defizite der Gelehrten angesichts dieser komplexen und disziplinenüberschreitenden<br />

Aufgabe, sowohl ihrer Einstellung als auch der erforderlichen<br />

Kompetenz:<br />

Allein im Völkerrecht trifft es sich gar oft, daß der Philosoph kein Jurist und der Jurist<br />

kein Philosoph ist, [...] weswegen man auch hier so oft auf unrechtlichen Verstand<br />

und auf unverständiges Recht stößt. [S. 46]<br />

Im pragmatischen <strong>Göttingen</strong> handelte sich Kern mit dieser rechtsphilosophischen<br />

Grundsatzreflexion das abfällige Etikett der Speculation ein, mit dem Eichhorn als<br />

Dekan der Philosophischen Fakultät Stimmung bei der Entscheidung über Kerns<br />

Promotion zu machen versuchte. Zudem hatte Kern den Zeitgeist nicht auf seiner<br />

Seite. Er lebte in einer Epoche, die von imperialen Machtstrukturen bestimmt<br />

wurde. Die hinterfragende Erörterung rechtsphilosophischer Prinzipien im Staats-<br />

und Völkerrecht weder zeitgemäß noch herrschaftskonform.<br />

Das für einen Philosophen ungewöhnliche politische Interesse verrät auch Kerns<br />

Publikation über den Ost-West-Konflikt seiner Zeit, den er allerdings nach einer<br />

gängigen Vorstellung als Nord-Süd-Konflikt etikettierte:<br />

� Frankreich und Rußland oder Doppelherrschaft in Europa.<br />

<strong>Göttingen</strong>, bey Heinrich Dieterich. 1808. [40 S.]<br />

Vielleicht hat auch das symbolträchtige Treffen Napoleons und des Zaren Alexander<br />

I. am 25. 6. 1807 auf einem Floß im Njemen Kern den Anstoß für diese<br />

anonym veröffentlichte Betrachtung gegeben. Kern will in dieser Publikation aus<br />

Anlass seines Kollegiums über die Anthropotetologie oder Philosophie der<br />

Menschheit, von welcher schon 1 ¼ Bogen gedruckt erschienen waren, auf die<br />

unwandelbaren Gründe der Staatenverhältnisse aufmerksam machen. Nach seiner Auffassung<br />

folgt die jetzt deutlich erkennbare Doppelherrschaft in Europa mit einem<br />

Südkaisertum (Frankreich) und einem Nordkaisertum (Russland) der Natur der<br />

Sache. Nach dieser Geschichtskonstruktion zweier Lager führte für Kern im Süd-<br />

2559 Zieger (wie Anm. 2555), S. 70, Anm. 205.

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