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Johannes Tütken - SUB Göttingen - GWDG

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sichere Punkt, an dem er in sein unverstelltes Ich wieder eintauchen konnte und<br />

wieder bei sich war. Karl Emil Franzos, dem offensichtlich der ganze Nachlass<br />

Schulzes noch zugänglich war, hat u. a. das diskrepante Liebesleben von Ernst<br />

Schulze beleuchtet, dessen Spektrum von der zarten und entsagungsvollen Liebe<br />

zu Cäcilie bis zu Abenteuern mit älteren Damen reichte. 2496<br />

Aufmerksamen Beobachtern blieb diese Diskrepanz in Schulzes Verhalten nicht<br />

verborgen. Am 31. Januar 1812 notierte er eine kritische Nachfrage von Cäcilie,<br />

die vermutlich durch die Ambivalenz seines Rollenspiels irritiert war:<br />

Sie äußerte, es sei ihr unbegreiflich, wie ich bey so vielem Gefühl soviel Medisance haben<br />

könne. Ich that mehr als ich je gethan habe und sagte ihr die Wahrheit, daß der<br />

spottende Charakter nur eine angenommene Maske sey, um in der Gesellschaft etwas<br />

zu gelten. Ich würde es ihr indeß nicht gestanden haben, wenn ich nicht von diesem<br />

Geständniß Vortheil zu hoffen gehabt hätte. 2497<br />

Das nur halbherzige Geständnis zeigt, dass Schulze zu diesem Zeitpunkt noch<br />

nicht zu einer rückhaltlosen Wahrhaftigkeit in der Beziehung zu Cäcilie bereit war,<br />

sondern kalkulierend die Maske lüftete. Erst als ihn seine wachsende Liebe zu<br />

Cäcilie mit Siechtum, Entsagung und Tod in Grenzsituationen führte, fand Schulze<br />

zu einem relativ authentischen Verhalten – Cäcilie und sich selbst gegenüber.<br />

Aber in Cäcilien fand ich mich selbst, doch viel reiner, viel keuscher, viel schöner und<br />

herrlicher. Sie war Das, was ich vielleicht werden könnte, wenn es eine Unsterblichkeit<br />

gäbe, und wovon ich jetzt nur der Schatten bin. 2498<br />

Die Wende nach Cäciliens Tod hat Schulze auch in einigen andern sozialen Bereichen<br />

veranlasst, Stilisierungen seines Verhaltens zu beenden und Charaktermasken<br />

abzulegen. Ein Beispiel ist der weiter oben wurde dargestellte Entschluss Schulzes,<br />

seinen Umgang mit den Sodalen der Societas philologica Gottingensis auf eine veränderte<br />

Basis zu stellen, wobei er zu seiner Freude erfahren konnte, dass diese Entscheidung<br />

seine Beziehung zu den Sodalen intensivierte und bereicherte. 2499<br />

Mit dem Begriff der Rolle bezeichnet man in der Regel eine dem Individuum von<br />

der sozialen Umwelt auferlegte Verhaltenserwartung. Im Unterschied zur weitgehend<br />

selbst gewählten Berufung als Poet, ist Schulze bei der Wahl des Gelehrtenberufs<br />

offenbar stark den Empfehlungen Dritter und dem Zwang der Umstände<br />

2496 Nach Draws-Tychsen (wie Anm. 2415), S. 173 f. soll Schulze bei einem nächtlichen Besuch der<br />

Louise, Freifrau von Pentz, vom plötzlich heimkommenden Ehemann überrascht worden sein. Der<br />

Freifrau gelang es nur noch Schulzens Kleider unter dem Bett zu verstecken, während ihr Liebhaber<br />

nackt und nur im Schutze der Dunkelheit durch <strong>Göttingen</strong> den Weg bis zu seiner Behausung vor<br />

den Stadtmauern suchen musste. Vgl. ferner ebd. S. 168. – Die vielgliedrige Artikelfolge von K. E.<br />

Franzos in die Deutsche Dichtung Bd. VI/1889 bis Bd. XXXIV/1903 ist in den Göttinger Bibliotheken<br />

nicht vorhanden und wurde von mir nicht eingesehen. Sie ist im einzelnen verzeichnet bei Müller:<br />

Vertonungen (wie Anm. 2413), S. 154-156.<br />

2497 Müller: Vertonungen (wie Anm. 2413), S. 115.<br />

2498 Marggraff (wie Anm. 2418), S. 162.<br />

2499 Vgl. oben Seite 869.

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