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Johannes Tütken - SUB Göttingen - GWDG

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der zahlreichen Separatdrucke einzelner Werke, zu denen auch Wiederauflagen<br />

einer Reclamausgabe gehören. 2490<br />

30. 5. 6. Rollenkonflikte: Poet oder Wissenschaftler?<br />

Romantiker oder medisanter Spötter?<br />

Schulze bot – bei aller Aufrichtigkeit – seiner Umwelt ein widersprüchliches Erscheinungsbild,<br />

und er war vermutlich im Wechsel seiner Rollen mit sich selber<br />

uneins, wenn nicht sogar zerrissen. Es fällt auf, wie häufig der um eine ehrliche<br />

Selbstanalyse Bemühte in vertraulichen Äußerungen von seinen verschiedenartigen<br />

Charakteren oder Rollen und von jenen Problemen spricht, die ihm sein Rollenspiel<br />

einbrachte.<br />

Vielleicht ist das widersprüchliche Erscheinungsbild, das der Knabe einerseits zu<br />

Hause und andererseits unter Gleichaltrigen bot, eine frühe Erscheinungsform der<br />

späteren Tendenz, sich – nunmehr bewusst – für unterschiedliche Umwelten in<br />

verschiedenen Rollen oder Charakteren zu entwerfen. Wahrscheinlich war Schulzes<br />

übermächtige Phantasie an diesen Rollenspielen entscheidend beteiligt. Er benutzte<br />

diese nicht nur als Poet, um in seinen sprachlichen Kunstwerken fiktionale<br />

Ereignisse und Stimmungen sprachlich zu entwerfen, er hat sie auch im sozialen<br />

Umgang spielen lassen, um sich selber in wechselnden Charakteren zu erdichten.<br />

Indem er sich in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenartigen Rollen präsentierte,<br />

übertrug er gleichsam Tendenzen seines poetischen Verhaltens auf<br />

nicht-fiktionale Bereiche seines Lebens. Gesellschaftliche Herausforderungen am<br />

Studienort <strong>Göttingen</strong> haben diese Tendenz noch verstärkt, da er als Studienanfänger<br />

die neue soziale Situation an der Georgia Augusta so interpretierte, als ob hier<br />

der Auftritt in Charaktermasken zum etablierten Gesellschaftsspiel gehörte. Am<br />

11. 12. 1810 schreibt Schulze:<br />

Ich gebe entweder einen stillen Zuschauer ab oder heule, wenn ich die Laune dazu habe<br />

mit den Wölfen und werde ebenso insipide, als ich in vernünftigen Gesellschaften vernünftig<br />

sein kann. Da die Medisance, die Koketterie und die Affectation hier ebenso<br />

sehr Modekrankheiten sind, als die galanten Krankheiten in Frankreich unter Ludwig<br />

XV., so müßte ich mich schämen, den einzigen Gesunden spielen zu wollen. 2491<br />

Für den 17jährigen Schulze war das soziale System von Stadt und Universität mit<br />

seinen z. T. artifiziellen Konventionszwängen offensichtlich ein ungewohnt komplexes<br />

Gebilde, dem gegenüber er sich als ungemodelter, gesunder Naturbursche sah.<br />

Manchmal spricht er auch von seinem alten Landstreichergenie und ein wenig Liederlichkeit,<br />

wenn er den seiner Meinung nach authentischen Schulze meint. Vermutlich<br />

fühlte der überforderte Studienanfänger sich angesichts der gesellschaftlichen<br />

Rollenzwänge in seiner Naivität unsicher und meinte gegenüber konventionellen<br />

Entfremdung sich mit einem Repertoire an Charaktermasken schützen zu müssen,<br />

um seine eigentlichen Gefühle zu bewahren:<br />

2490 Müller: Bibliographie (wie Anm. 2416), S. 84-111.<br />

2491 Marggraff (wie Anm. 2418), S. 68.

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