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Johannes Tütken - SUB Göttingen - GWDG

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863<br />

Genüssen und Verdorbenheiten hat meine Phantasie so rege gemacht, daß ich keinen<br />

Augenblick Herr meiner selbst werden kann.<br />

In der anschließenden Selbstanalyse kommt er auf die langweilige Alltäglichkeit eines<br />

mühevollen und kleinlichen Geschäftslebens zu sprechen, in dem sein altes Landstreichergenie,<br />

sein seit langem versteckter Charakter, verkümmert sei, der frei und fröhlich […]<br />

ein wenig Liederlichkeit im guten Sinne bedarf. 2426 Im freien Spiel der Phantasie und<br />

damit frei von den Rollenzwängen des Alltags glaubte er in hohem Maße bei sich<br />

selbst zu sein.<br />

Für Schulze war seine Phantasie nicht nur ein machtvoller Antrieb seiner poetischen<br />

Begabung, er hat sie auch als dämonischen Zwang empfunden. Als er eines<br />

Tages entdeckte, dass sein Freund, Freiherr von Schleinitz, dichtete, war Schulze<br />

sehr betroffen und sah es als notwendig an, diesen ausführlich zu warnen, wie<br />

gefährlich es sei, die Dichtkunst zu seinem Lebensberufe zu machen.<br />

Man werde […], indem man sein ganzes Wesen der Dichtung hingebe, nicht nur<br />

unwillkürlich, sondern selbst wider seinen Willen von einer fast dämonischen Macht<br />

fortgerissen; man werde verleitet, die Wirklichkeit poetisch zu gestalten und seine Ideale<br />

in dieselbe zu übertragen. Es erzeuge sich auf diese Weise ein äußere und, was noch<br />

schlimmer sei, eine innere Unwahrheit, [die] wie alles Unwahre nicht dauern könne,<br />

sondern den Keim des Untergangs in sich trage, entstehe bald zwischen Leben und<br />

Dichtung ein Zwiespalt, für den keine Versöhnung zu finden sei, der immer schneidernder<br />

werde und das Individuum in einen Kampf mit sich selbst verwickele, in welchem<br />

es untergehe oder doch den inneren Frieden für immer oder auf längere Zeit einbüße.<br />

2427<br />

Diese freundschaftliche Warnung vor dem Dichten als Beruf ist allzu deutlich von<br />

einer zwiespältigen Selbsterfahrung geprägt. Einen geradezu dämonischen Zwang<br />

kennzeichnet seine poetische Besessenheit der letzten Jahre, für die ihm vermutlich<br />

ein befreiendes Selbstverständnis und eine hilfreiche Poetologie fehlten.<br />

Starke Anregungen für die Entwicklung seiner poetischen Begabung erhielt Schulze<br />

in der musterbildenden Bekanntschaft mit anspruchsvoller Literatur. Anregungen<br />

für Motive – aber auch für ein früh erwachtes Formbewusstsein – boten ihm<br />

u. a. die Lyrik des schwärmerischen Friedrich von Matthisson und vor allem Ch.<br />

M. Wieland. 2428 Frühe Ansätze zum Schreiben von Texten ergaben sich im Austausch<br />

mit seinem noch zu erwähnenden Freund von Bülow um 1805, bei dem<br />

Aufsätze und eine Art Zeitung entstanden.<br />

Schulze besuchte das Ernestinum in Celle, wo Direktor Grünebusch über ihn –<br />

und seinen Freund von Bülow – eine über den Tag hinausreichende Beurteilung<br />

niederschrieb:<br />

2426 Marggraff (wie Anm. 2418), S. 145 f.<br />

2427 Marggraff (wie Anm. 2418), S. 353 f.<br />

2428 Zu Friedrich von Matthisson vgl. ADB 20/1884, S. 675-681. – Über den vierfachen Stellenwert,<br />

den Wieland für Schulze besaß, vgl. Schulzes Äußerung bei Marggraff (wie Anm. 2418), S. 17.

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