10.12.2012 Aufrufe

Johannes Tütken - SUB Göttingen - GWDG

Johannes Tütken - SUB Göttingen - GWDG

Johannes Tütken - SUB Göttingen - GWDG

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

862<br />

nünftig zu reden verstand, ausgenommen über die Kochkunst, deren großer Verehrer<br />

ich von jeher war. 2422<br />

Diese Selbstbeschreibung erinnert an die Verlegenheit, die ein anderer romantischer<br />

Dichter, Friedrich Schlegel, seinem Elternhaus bereitete:<br />

Man war in der Schlegelschen Familie nicht auf eine so merkwürdige und seltsame<br />

Menschenblüte gefaßt, wie sie sich da bald entfalten sollte, und wußte nichts mit ihr<br />

anzufangen. 2423<br />

Vermutlich hat sich der Knabe Schulze früh durch seine starke Phantasietätigkeit<br />

in ein Eigenleben eingesponnen, das er durch das Lesen von Romanen und Gedichten<br />

vertiefte, indem er dem Geschriebenen und Gedachten in seiner Phantasie<br />

ausgiebig nachträumte. Was er aus eigenem Interesse aufgriff, wurde von ihm<br />

engagiert und kompetent verfolgt. Er soll sich z. B. schon im 14. Lebensjahr zu<br />

einem gefragten Wappenkundler entwickelt haben, der von Sargmalern zu Rate<br />

gezogen wurde. 2424 Der zu Hause scheue und als linkisch angesehene Knabe war<br />

im Kreis seiner Altersgenossen ein angesehener Rädelsführer und für die tollkühnsten<br />

Streiche zu haben. Vielleicht zeigt sich in diesem widersprüchlichen<br />

Erscheinungsbild bereits unbewusst eine spätere Tendenz von Schulze, in Reaktion<br />

auf soziale Erwartungen unterschiedlicher Umwelten verschiedene Ich-Rollen<br />

(Charaktere) zu spielen und mit unterschiedlichen Charaktermasken aufzutreten.<br />

Für die ungewöhnliche Gewalt, die Schulzes Phantasie in seinem Leben besaß, ist<br />

vielleicht ein frühes Ereignis bezeichnend: In seinem Tagebuch hat Schulze über<br />

sein 16. Lebensjahr notiert, dass damals eine ganz neue poetische Welt in ihm entstand,<br />

deren unbewältigte Probleme ihn zeitweise in die Einsamkeit trieben. Monatelang<br />

hielt er sich auf dem abgelegenen Landgut Havighorst vor Celle auf, wo<br />

er im abseits liegenden unbewohnten Herrenhaus allein lebte, im vermodernden<br />

Ritterzimmer an wackeligen Tischen abenteuerliche Geschichten ritterlicher Helden,<br />

Feenmärchen und französische Bücher las. Aber er durchstreifte auch die<br />

wüste Moor- und Heidelandschaft, und die einsamen Nächte in dem verfallenden<br />

Gemäuer verbrachte er nicht selten mit schaudernden Gefühlen im standesgemäßen<br />

Himmelbett. Ich lebte ganz in meiner Phantasie, und war auf dem Wege, ein ganz unheilbarer<br />

Schwärmer zu werden. 2425 Noch am 31. 10. 1813 notierte der Privatdozent<br />

Schulze über die Macht der Phantasie in seinem Leben und ihre möglichen Auslöser:<br />

Ich bin ein Thor, das sehe ich in diesem Augenblicke deutlich ein, und doch ist es mir<br />

nicht möglich, von meiner Thorheit zu lassen. Ich las in diesen Tagen den >Faublas<<br />

und dieses phantasiereiche und geistvolle Gemälde des höhern Lebens mit allen seinen<br />

2422 Marggraff (wie Anm. 2418), S. 3 f.<br />

2423 Schwering, Markus: Romantische Theorie der Gesellschaft. In: Schanze, Helmut (Hg.): Romantik-Handbuch.<br />

Stuttgart 1994, S. 511.<br />

2424 Bouterwek: Biographische Vorrede (wie Anm. 2418), S. III.<br />

2425 Marggraff (wie Anm. 2418), S. 9-12.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!