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Johannes Tütken - SUB Göttingen - GWDG

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591<br />

das ganze System der praktischen Theologie, vor allem die Katechetik, nach Kantischen Ideen zu<br />

bearbeiten, kritisiert wurde. 1601 Bei dieser Orientierung bestand in der Tat die Gefahr,<br />

dass die Religiosität emotionsarm und stark auf Moralität reduziert wurde.<br />

Indem Gräffe sein Konzept über Jahrzehnte im wesentlichen beibehielt, entzog er<br />

sich weitgehend dem Wandel des pädagogischen Zeitgeistes. Unter dem Stichwort<br />

der allgemeinen Menschenbildung mehr oder minder neuhumanistischer Prägung setzte<br />

die Pädagogik in Gräffes letzten Lebensjahrzehnten auf eine vielseitige Förderung<br />

kindlicher Fähigkeiten, auf die Entwicklung der Selbständigkeit der Lernenden<br />

und dementsprechend auf ein Lernen des Lernens (Wilhelm von Humboldt). Stark<br />

der Aufklärung verhaftet, fiel es Gräffe vermutlich nicht leicht, diesem Wandel des<br />

Zeitgeistes zu folgen, der auch mit den Epochenmarken Klassik und Romantik<br />

grob bezeichnet werden kann, von dem aber das rationalistische theologische<br />

Denken in <strong>Göttingen</strong> insgesamt wenig berührt wurde. Aus dieser Perspektive war<br />

die Katechetik mit ihrem methodischen Formalismus und ihrer gängelnden Bevormundung<br />

der Lernenden das Relikt einer zu eng geführten Aufklärung, von<br />

der sich der neue pädagogische Zeitgeist profilierend abzuheben versuchte, der z.<br />

B. in der Lehrerbildung eher auf die gebildete Lehrerpersönlichkeit und weniger<br />

auf die Methode setzte. 1602 Obgleich Gräffe die Notwendigkeit betonte, das religiöse<br />

Gefühl zu entwickeln und die Zöglinge auf den Weg zur Selbständigkeit zu<br />

bringen, haben der moralisch-dogmatische Inhalt und die relativ autoritäre Vermittlungsform<br />

der Katechetik wohl gemeinsam bewirkt, dass Gräffes weit verbreitete<br />

katechetische Publikationen am Ende des 19. Jahrhunderts höchstens noch den<br />

Werth einer historischen Curiosität besaßen. Sie pflegten in den theologischen und pädagogischen<br />

Lehrbüchern der Gegenwart citirt zu werden als Beispiele historischer Verirrungen. 1603<br />

Nachsichtiger urteilt Karl Knoke, der als sachverständiger Theologe und Pädagoge<br />

um die vorige Jahrhundertwende ein professoraler Nachfolger Gräffes in der<br />

Theologischen Fakultät war. Knoke hatte dabei nicht nur die Publikationen zur<br />

Katechese im Auge, sondern auch Gräffes Engagement in der praktischen Theologie:<br />

Gewiß herrschte bei diesen Übungen viel Formalismus, aber die Studenten lernten doch,<br />

was sie nach Gräffes Absichten lernen sollten, und traten nicht ungeschult an ihre späteren didaktischen<br />

Aufgaben. Endlich führte er die Mitglieder des katechetischen Seminars auch in die<br />

Volksschulen seiner Inspektion, um ihnen Gelegenheit zu geben, sich durch Anhören von Lektionen<br />

der Lehrer für ihren künftigen Beruf zu bilden. 1604 In der Regel hatten die Theologiestudenten<br />

als Pfarrer die Aufsicht im niederen Schulwesen wahrzunehmen.<br />

Für Gräffes starkes Verharren in rhetorischen Fragestellungen und beim Aspekt<br />

kommunikativer Vermittlung spricht auch seine publizistische Ausrichtung wäh-<br />

1601 So der Biograph Wagenmann in ADB 9/1879, S. 572. – Zur Lehrbarkeit der Religion vgl. die<br />

Zusammenfassung bei Schulz: Katechetik (wie Anm. 1536), S. 45-47.<br />

1602 Jeismann, Karl-Ernst: Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Bd. 1: Die Entstehung<br />

des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten 1787-1817. Stuttgart 2 1996, S.<br />

346-349.<br />

1603 ADB 9/1879, S. 572.<br />

1604 Knoke: Schulwesen (wie Anm. 50), S. 238.

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