Blutalkohol 2005 - BADS (Bund gegen Alkohol und Drogen im ...

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Dokumentation kann? Die Niederländer, für ihren Pragmatismus bekannt, mögen mit einem solchen System arbeiten, und ich will mich da – auch als „Nachbar“ aus Münster – nicht einmischen. Für Europa insgesamt halte ich es für prinzipiell verfehlt, und ich will das Prinzip benennen, um das es geht: Das Schuldprinzip, das nicht nur Verfassungsrang nach der Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts hat, sondern das auch ein europäisches Rechtsprinzip ist, wie sich aus Art. 6 der EMRK ergibt. Das Europa des Europarats, dessen Verfassung diese Konvention gewissermaßen ist, ist das Europa der traditionellen (nicht nur, aber auch) europäischen Freiheits- und Menschenrechte, und es garantiert jedem einer Straftat Beschuldigten bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld einen fairen Prozess, bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld. Dem Einwand, es gehe ja bei dem vorgeschlagenen Bußgeld um eine verwaltungsrechtliche, keine strafrechtliche Reaktion, mag man im Europa der EU Gewicht beimessen, im Europa der Menschenrechtskonvention zählt er nicht, denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zu einem solchen Einwand (der Bundesrepublik im Zusammenhang mit dem Ordnungswidrigkeitenrecht), schnöde vereinfacht, geäußert, man könne eine Strafe nennen wie man möge, es bleibe doch eine Strafe. Diese Rechtsprechung folgt zu Recht der Definition der Strafe durch den großen niederländischen Juristen HUGO GROTIUS, nach welcher Strafe ein Übel sei, das einer Person auferlegt werde, weil sie ein Übel begangen hat – poena est malum passionis quod affligitur propter malum actionis. Gleichgültig, ob man die „poena“ „a fee“ oder ob man „requiring the fee“ denn doch hinreichend deutlich als „sanctioning“ bezeichnet (die englischen Vokabeln beziehe ich wie meine Informationen aus dem dankenswerten Referat von Frau DE VRIES), es bleibt ein malum passionis, und es wird wegen „mala actionum“ auch dann verhängt, wenn man die Geschwindigkeitsübertretungen nicht so benennt, sondern als „offences“. Kontrollen ja – aber sie sind weder kostenfrei zu haben noch lassen sich die ökonomischen Kosten bedenkenlos in Einbußen an Rechtsstaatlichkeit umwandeln. Europa soll nach einem Programmsatz des Entwurfs einer EU-Verfassung ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ sein. Das ist so lange erstrebenswert, wie diese Elemente im rechten Verhältnis zueinander stehen; nicht aber darf das Recht die Freiheit in eine Sicherheitszelle sperren. Das heißt auch, dass bei aller Notwendigkeit von Kontrollen auch die Kontrolle der Kontrolleure gewährleistet bleiben muss. Nun führt das natürlich leicht in einen infiniten Regress – wer kontrolliert die Kontrolleure der Kontrolleure (u.s.w.)? Um einen solchen zu vermeiden, muss man Rechtsmittel in irgendeiner Weise begrenzen. Das zu tun ist seit einiger Zeit beliebte Beschäftigung unserer Rechtspolitiker; mit einem Teil der Folgen einschlägigen Tuns beschäftigt sich auf diesem Verkehrsgerichtstag ein Arbeitskreis. Aber bevor diese Änderungen auch nur einigermaßen bewältigt sind und bevor ihre Auswirkungen beurteilt werden können, sind schon wieder die Rechtsmittel Gegenstand politischer Aktivitäten. Diesmal sind es die Landesjustizminister, die unter anderem dem System strafrechtlicher Rechtsmittel zu Leibe rücken wollen. Ins Auge gefasst sind eine weitgehende Abschaffung von Rechtsbehelfen überhaupt gegen Urteile der Amtsrichter in (u.a.) Verkehrsordnungswidrigkeiten sowie die Reduzierung der Rechtsmittel gegen Strafurteile der Amtsgerichte auf nur noch eines – wahlweise Berufung oder Revision. Ich erlaube mir dazu nur einige wenige Sätze, bei denen ich mir verkneife, auf den sicherlich seltenen, aber doch nicht wegzudiskutierenden Typ des selbstherrlichen Amts- oder Berufungsrichters einzugehen und auf die Begrenztheit revisionsrechtlicher Kontrolle. Ich spreche auch 127 BLUTALKOHOL VOL. 42/2005

128 Dokumentation nicht über die Besorgnisse, die sich einem erfahrenen Leser politischer Lyrik aufdrängen, wenn er in dem einschlägigen Eckpunktepapier der Länderjustizminister den Satz liest: „Die richterliche Unabhängigkeit ist dabei uneingeschränkt zu wahren.“ (Da nicht alle Verfassungsnormen in dem Papier beschworen werden, rätselt man als Leser zunächst über den Zusammenhang, bis man Wörter liest wie „Führung“, „Qualitätsmanagement“, „flexiblerer Richtereinsatz“.) Was erwarten sich diese Rechtspolitiker und auf welcher Beurteilungsgrundlage wollen sie schon wieder am Rechtsmittelsystem herumoperieren? Sie sprechen von einem Zuwachs an Transparenz und Effizienz, sprich: Kostenersparnis. Dazu nämlich hätten die bisherigen Reformen nicht geführt. Statt nun über den entsprechenden Nutzen solcher Reformen nachzudenken, fordern sie mehr davon – merkwürdig; denn ein aufwendiges rechtsvergleichendes und empirisch fundiertes Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht führte zu dem Ergebnis, dass unser strafrechtliches Rechtsmittelsystem im internationalen Vergleich keineswegs besonders umfangreich ausgestaltet sei und dass es durchaus effizient sei. Es funktioniert zur Zeit mit anderen Worten ganz gut – warum also wollen die Politiker ein bewährtes System zugunsten einer ungewissen Zukunftsstruktur zerschlagen? Ich wage dazu eine Prognose: Sollte es zu einer solchen Änderung kommen, würden Reparaturen schnell nötig, und die personellen Einsparungen, sollten sie denn überhaupt erfolgen, würden nicht einmal das Maß an juristischer Arbeitskraft aufwiegen, das allein schon für die Vorarbeiten zu einer solchen Reform erforderlich wird. Wo bisher durch die Existenz von richterlicher Kontrolle Vertrauen in richterliches Tun herrscht, wird letzteres mit dem Wegfall von Kontrollen auch als Systemkapital schwinden. Zum Thema „Kontrolle und Vertrauen“ möchte ich zurückkehren zu einem Aspekt der Straßenverkehrssicherheit. Die Gurtanlegequote ist in Deutschland erfreulich hoch. Das war nicht immer so, ist also erreicht worden, und das kaum wesentlich durch Kontrolle und Repression, sondern durch Aufklärung und nicht zuletzt Zivilrechtsprechung. Ein Bereich der Unfallstatistik allerdings ist in diesem Zusammenhang alarmierend: Fast die Hälfte aller im Straßenverkehr tödlich verunglückten Kinder waren „Mitfahrer“ in einem Pkw, und sie wurden meist deshalb tödlich verletzt, weil sie nicht optimal gesichert waren – durch die für Kleinkinder vorgeschriebenen, je nach Alter divergierenden technischen Vorrichtungen, die im Bürokratendeutsch z. T. als „Kinderrückhaltesysteme“ bezeichnet werden. Das ist schlimm, und es sind hochgradig vermeidbare Opfer. Deshalb, so wurde mir einmal gesprächsweise vorgehalten, sei es nicht richtig davon zu sprechen, für eine Verschärfung repressiver Vorschriften im Straßenverkehr bestehe in Anbetracht erfreulich sinkender Opferzahlen kein Anlass. Mir scheint dies ein Punkt zu sein, an dem die Begrenztheit des Schemas Kontrolle/Repression besonders deutlich sichtbar wird: Normalerweise sorgen sich Eltern um das Wohl ihrer Kinder – darauf kann man auch vertrauen. Macht man ihnen also hinreichend klar, dass das größte Risiko für einen plötzlichen Tod ihres Kleinkindes nicht in falschem Bettzeug, Bauchlage oder in dem liegt, was sonst immer noch in entsprechenden Kursen für junge Eltern als statistische Gründe für den plötzlichen Kindstod genannt werde, sondern in einer mangelhaften Sicherung im Auto, oder weist man sie z. B. anlässlich einer Kontrolle darauf hin, dass sie ggf. das Sterberisiko für ihr Kind bei einem Unfall auf das Siebenfache erhöhen, dürfte das mehr Erfolg versprechen als irgendeine Sanktionsverschärfung. BLUTALKOHOL VOL. 42/2005

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kann? Die Niederländer, für ihren Pragmatismus bekannt, mögen mit einem solchen<br />

System arbeiten, <strong>und</strong> ich will mich da – auch als „Nachbar“ aus Münster – nicht einmischen.<br />

Für Europa insgesamt halte ich es für prinzipiell verfehlt, <strong>und</strong> ich will das Prinzip<br />

benennen, um das es geht: Das Schuldprinzip, das nicht nur Verfassungsrang nach der<br />

Rechtsprechung des deutschen <strong>B<strong>und</strong></strong>esverfassungsgerichts hat, sondern das auch ein europäisches<br />

Rechtsprinzip ist, wie sich aus Art. 6 der EMRK ergibt. Das Europa des Europarats,<br />

dessen Verfassung diese Konvention gewissermaßen ist, ist das Europa der traditionellen<br />

(nicht nur, aber auch) europäischen Freiheits- <strong>und</strong> Menschenrechte, <strong>und</strong> es<br />

garantiert jedem einer Straftat Beschuldigten bis zum gesetzlichen Nachweis seiner<br />

Schuld einen fairen Prozess, bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld.<br />

Dem Einwand, es gehe ja bei dem vorgeschlagenen Bußgeld um eine verwaltungsrechtliche,<br />

keine strafrechtliche Reaktion, mag man <strong>im</strong> Europa der EU Gewicht be<strong>im</strong>essen, <strong>im</strong><br />

Europa der Menschenrechtskonvention zählt er nicht, denn der Europäische Gerichtshof<br />

für Menschenrechte hat zu einem solchen Einwand (der <strong>B<strong>und</strong></strong>esrepublik <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit dem Ordnungswidrigkeitenrecht), schnöde vereinfacht, geäußert, man könne<br />

eine Strafe nennen wie man möge, es bleibe doch eine Strafe. Diese Rechtsprechung folgt<br />

zu Recht der Definition der Strafe durch den großen niederländischen Juristen HUGO<br />

GROTIUS, nach welcher Strafe ein Übel sei, das einer Person auferlegt werde, weil sie ein<br />

Übel begangen hat – poena est malum passionis quod affligitur propter malum actionis.<br />

Gleichgültig, ob man die „poena“ „a fee“ oder ob man „requiring the fee“ denn doch hinreichend<br />

deutlich als „sanctioning“ bezeichnet (die englischen Vokabeln beziehe ich wie<br />

meine Informationen aus dem dankenswerten Referat von Frau DE VRIES), es bleibt ein<br />

malum passionis, <strong>und</strong> es wird wegen „mala actionum“ auch dann verhängt, wenn man die<br />

Geschwindigkeitsübertretungen nicht so benennt, sondern als „offences“.<br />

Kontrollen ja – aber sie sind weder kostenfrei zu haben noch lassen sich die ökonomischen<br />

Kosten bedenkenlos in Einbußen an Rechtsstaatlichkeit umwandeln. Europa soll<br />

nach einem Programmsatz des Entwurfs einer EU-Verfassung ein „Raum der Freiheit, der<br />

Sicherheit <strong>und</strong> des Rechts“ sein. Das ist so lange erstrebenswert, wie diese Elemente <strong>im</strong><br />

rechten Verhältnis zueinander stehen; nicht aber darf das Recht die Freiheit in eine Sicherheitszelle<br />

sperren.<br />

Das heißt auch, dass bei aller Notwendigkeit von Kontrollen auch die Kontrolle der<br />

Kontrolleure gewährleistet bleiben muss. Nun führt das natürlich leicht in einen infiniten<br />

Regress – wer kontrolliert die Kontrolleure der Kontrolleure (u.s.w.)? Um einen solchen<br />

zu vermeiden, muss man Rechtsmittel in irgendeiner Weise begrenzen. Das zu tun ist seit<br />

einiger Zeit beliebte Beschäftigung unserer Rechtspolitiker; mit einem Teil der Folgen einschlägigen<br />

Tuns beschäftigt sich auf diesem Verkehrsgerichtstag ein Arbeitskreis. Aber<br />

bevor diese Änderungen auch nur einigermaßen bewältigt sind <strong>und</strong> bevor ihre Auswirkungen<br />

beurteilt werden können, sind schon wieder die Rechtsmittel Gegenstand politischer<br />

Aktivitäten. Diesmal sind es die Landesjustizminister, die unter anderem dem System<br />

strafrechtlicher Rechtsmittel zu Leibe rücken wollen. Ins Auge gefasst sind eine weitgehende<br />

Abschaffung von Rechtsbehelfen überhaupt <strong>gegen</strong> Urteile der Amtsrichter in (u.a.)<br />

Verkehrsordnungswidrigkeiten sowie die Reduzierung der Rechtsmittel <strong>gegen</strong> Strafurteile<br />

der Amtsgerichte auf nur noch eines – wahlweise Berufung oder Revision. Ich erlaube mir<br />

dazu nur einige wenige Sätze, bei denen ich mir verkneife, auf den sicherlich seltenen, aber<br />

doch nicht wegzudiskutierenden Typ des selbstherrlichen Amts- oder Berufungsrichters<br />

einzugehen <strong>und</strong> auf die Begrenztheit revisionsrechtlicher Kontrolle. Ich spreche auch<br />

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