Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

Eine wirkliche Selbstregierung und Selbstbestimmung nach dem eigenen,
nichtmanipulierten Willen des Kindes oder Jugendlichen ist unvereinbar mit
einer fest vorgegebenen Moralerziehung, die die offene und freie Meinungsbildung
behindert durch eine gezielte pädagogische Meinungs- und Entscheidungssteuerung.
Alle Arten von Intoleranz, Tabus, moralischem Druck, Überredung, offener
oder versteckter Drohung (Veto!), gezielt einseitiger Information, Hetze, die
gezielte Ausnutzung intellektueller oder gruppendynamischer Überlegenheiten,
Lächerlichmachen anderer Ansichten und überhaupt alles, was die möglichen,
frei und offen diskutierbaren Bereiche, Möglichkeiten, Meinungen,
Aspekte und Alternativen von vornherein einschränkt als unwichtig, ungehörig,
unmoralisch, lächerlich, falsch, tabu, als spalterisch, staatsfeindlich, antiamerikanisch,
antisowjetisch, antikirchlich oder dem Gegner nützlich, alles
dies behindert und verhindert wirkliche Demokratie und Selbstregierung.
„Die Grundlage der Demokratie besteht nicht im allgemeinen Stimmrecht, Mehrheitsentscheidungen
und anderen organisatorischen Verfahrensweisen. Dies ist der technisch
notwendige Überbau auf der Grundlage einer demokratischen Atmosphäre, ihre
Konsequenz und Ausdrucksweise.“ (Lewin 1982: 286)
Jugendselbstregierung bedarf weniger der in Verfassungen garantierten
Kompetenzen, sondern dieser toleranten, offenen, demokratischen Atmosphäre,
in der der Geist der Meinungsfreiheit, Offenheit, Toleranz gilt, wo
allgemeine Gleichheit aller Menschen (auch von Erzieher und Zögling!)
sowie Minderheitenschutz und Menschenrechte bestehen.
Dazu gehört auch, daß Erzieher sich geradezu skrupulös der Einflußnahme
in Selbstregierungsangelegenheiten enthalten, daß sie stets völlig unmißverständlich
deutlich machen, daß jeder Rat eines Erwachsenen ganz selbstverständlich
und problemlos abgelehnt und überstimmt werden kann, und daß
Meinungen und Wünsche von Erwachsenen nicht höher zu bewerten sind als
die von Kindern (einige praktische Einschränkungen werden später behandelt.).
Diese eigentlich wichtige freie Atmosphäre mit ihren großen Selbstbestimmungsrechten
und Ausdrucksmöglichkeiten für die Ideen und Bedürfnisse der
Kinder gab / gibt es auch in therapeutischen Heimen ohne ausgebaute formelle
Selbstregierungssysteme. So z. B. in Wien- Oberhollabrunn (1918 - 1922)
unter August Aichhorn (Aichhorn 1977), in Shotton Hall in England unter
Frederick Lennhoff (Lennhoff 1967), in Mulberry Bush unter Dockar-
Drysdale (Dockar-Drysdale 1953), in Finchden Manor unter George Lyward
(Burn 1964) sowie in (Paris-) Montmorency und in der Wiltwyck School for
Boys (1949 - 1958) unter Ernst Papanek (Brown 1965, Papanek 1971, 1983).
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