Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

Diese kriegsverwahrlosten, manchmal auch erblindeten, gelähmten, verstümmelten
Kinder waren notgedrungen sehr selbständig und äußerlich erwachsen,
frühreif, sorgten selbständig für ihren Lebensunterhalt (und sei es
durch Raub und Diebstähle) und kannten die Welt und das Leben, führten
selbst ein abenteuerliches, manchmal lebensgefährliches, häufig notgedrungen
kriminelles Leben, waren mutig und erfindungsreich und aus Erfahrung mißtrauisch.
Sie hatten Kämpfe und Bombenkrieg erlebt, Tötungen, Sterbende
und Leichen gesehen, hatten zum Teil selbst gekämpft, waren als Troßbuben
den Armeen gefolgt, hatten auf dem Schwarzmarkt gehandelt und waren oft
grausame und kriminelle Vagabunden geworden, die sich selbst jeweils die
Nächsten waren. Sie kannten auch die Erwachsenen (die z. B. diesen Krieg
mit seinen Greueln und Grausamkeiten organisiert hatten), hatten vieles von
Erwachsenen gelernt und sahen sie extrem realistisch ohne jegliche Illusion,
Beschönigung oder besondere Hochachtung. Sie fielen auf gute Worte nicht
mehr herein.
Man hätte sie schwerlich als unmündige Zöglinge in traditionelle Heime
und Schulen (die es zudem auch kaum mehr gab) eingliedern können - sie
hätten sich kaum dem Reglement untergeordnet und wären rasch wieder fortgelaufen.
Bei den zerstörten Heimen und Schulen, dem allgemeinen Personalund
Materialmangel, der Desorganisation und der ungeheuren Anzahl der
Kriegskinder war schon eine Betreuung und Versorgung kaum zu schaffen,
von Überwachung und Aufsicht ganz zu schweigen.
Beim allgemeinen Personalmangel und Arbeitskräftebedarf einerseits und
dem Charakter und der Eigenart der Kinder andererseits sowie drittens (und
nicht zuletzt!) zur Umerziehung der Jugend der bisher faschistischen Länder
lag es nahe, auch die neu zu schaffenden Einrichtungen zur Versorgung und
öffentlichen Erziehung dieser Kriegskinder zu orientieren an den modernen
reformpädagogischen Konzepten von Selbsttätigkeit, Selbständigkeit und Arbeitsschule,
und diese Einrichtungen auszustatten mit Werkstätten, in denen
die Kinder auch einen wirtschaftlichen Beitrag zum eigenen Unterhalt leisten
konnten, zumindest dafür ausgebildet wurden.
Politisch gefordert waren offene, freie, demokratisch strukturierte, stark auf
Frieden, Völkerfreundschaft und Internationalität ausgerichtete Einrichtungen.
Die Bedingungen für selbstregierte Kinderrepubliken waren also äußerst
günstig. Rotten (1954) bezeichnet diese Kindergemeinschaften sogar als spezielle
Lebensform für Kriegsopfer (a way of life for war victims).
Im Folgenden werden - aufgegliedert nach Ländern - einige der Kriegs- und
Nachkriegs-Kinderrepubliken beschrieben, und zusätzlich eine Kinderrepublik
in Kolumbien. Denn in armen Ländern der Dritten Welt herrschen bereits
ohne besondere Kriege vergleichbare Umstände, und die Slum- und
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