Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

pädologischer Forschung beschäftigt. Andererseits werden seine Kenntnisse
aber auch angezweifelt 515 .
Makarenko selbst behauptete und betonte zwar pauschal seine gute Kenntnis
der gesamten Pädagogik, ließ aber in seinen Schriften nichts davon erkennen.
Aufgrund des Poem könnte man seine völlige Unkenntnis der reformpädagogischen
Vorstellungen und Diskussionen und den totalen Mangel
an sozialpädagogischer Ausbildung 516 vermuten. Er betonte dort mehrfach
517 , daß er (seit ca. 1921/22 ?) keine pädagogische Literatur mehr lese.
Es ist aber möglich, daß er seine Kenntnisse in den 30er Jahren lieber verleugnet
hatte.
515 „Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe H. Vascenko, der Mitte der 20er Jahre
wiederholt mit Makarenko auf Pädagogischen Konferenzen diskutiert hat, führt in einem
in der Emigration (1955) veröffentlichten Beitrag aus, daß dieser keine gründliche
Kenntnis auf dem Gebiet der Pädagogik und ihrer Geschichte besessen habe, und leitet
von daher dessen Negierung jeglicher Relevanz der Pädagogischen Wissenschaft für die
pädagogische Praxis ab und - damit verbunden - die Überschätzung der eigenen Position.
‚Das lief darauf hinaus, daß Makarenko die Pädagogik mit sich selbst beginnen ließ.‘“
(Hillig 1980: 126 f.) Der Beitrag Vascenkos ist auszugsweise deutsch abgedruckt in Hillig
(1979).
516 Die Tatsache, daß Makarenko von dem seit zwei Jahrzehnten zentralen Diskussionspunkt
seines zukünftigen Arbeitsgebietes, nämlich der gezielt pädagogischen Behandlung jugendlicher
Verbrecher in speziellen pädagogischen Jugendgefängnissen (Reformatorien),
angeblich nicht einmal dem Wort nach gehört hatte, spricht für sich. Bezeichnend ist das
Gespräch mit dem Leiter des Gouvernements-Volksbildungsamtes ganz zu Beginn des
Pädagogischen Poem: Der Amtsleiter beauftragt Makarenko mit der Koloniegründung,
weiß aber ebensowenig wie Makarenko, was das eigentlich ist und soll. Irgendetwas Ultramodernes
wie in Amerika soll gemacht werden, was es in der Ukraine noch nicht gibt:
ein Reformatorium. Er kennt nicht einmal richtig das Wort, hat aber kürzlich ein
Heftchen darüber erhalten. Mit dieser Information schickt er den Lehrer Makarenko los,
den neuen Sowjetmenschen zu schaffen.
Vermutlich wußte Makarenko allerdings doch einiges mehr, kannte nämlich die Arbeit
von Lietz und Wyneken (vgl. Kapitel 20.4.3.) und vielleicht auch schon die nahe und bekannte
Korolenko-Kolonie.
Amerikanische Reformatorien, ihre (praktisch weltweite) Übernahme und Ausgestaltung
waren einer der ganz zentralen Diskussionspunkte der Sozialpädagogik der Jahrhundertwende.
In Deutschland wurden Reformatorien ab 1913 erprobt und dann unter dem Namen
Jugendgefängnis amtlich eingeführt. Auch die George Junior Republic und das
Little Commonwealth in England waren offiziell Reformatorien.
517 So äußerte Makarenko z. B. in einem Gespräch mit der Inspektorin vom Volkskommissariat
für Bildungswesen (im Poem, etwa auf Dezember 1924 datierbar):
„‚das Gewäsch gewisser Skribenten lese ich nicht.‘
‚Sie lesen keine pädologische Literatur? Ist das Ihr Ernst?‘
‚Schon drei Jahre nicht mehr.‘
‚Schämen Sie sich nicht? Lesen Sie denn überhaupt etwas?‘
‚Natürlich lese ich. - Und damit Sie's wissen: ich schäme mich nicht. Die Leute, die pädologische
Literatur lesen, tun mir sehr leid.‘
‚Wahrhaftig, ich werde Sie überzeugen, daß Sie im Unrecht sind. Wir müssen eine sowjetische
Pädagogik haben.‘
Ich beschloß, dieser Diskussion ein Ende zu machen“ ... (Makarenko 1970: 388)
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