Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

„Meiner politischen Überzeugung nach bin ich parteilos. Ich halte den Sozialismus in
den schönsten Formen menschlichen Zusammenlebens für möglich, doch glaube ich,
solange die Soziologie nicht auf dem festen Fundament der wissenschaftlichen Psychologie,
insbesondere der Psychologie des Kollektivs, beruht, ist eine wissenschaftliche
Ausarbeitung sozialistischer Lebensformen unmöglich, und ohne wissenschaftliche
Fundierung ist der vollkommene Sozialismus unmöglich.“ (Hillig 1989a: 58; in
anderer Übersetzung auch bei Hillig 1980: 128).
Erstmals um 1930 beantragte er die Parteimitgliedschaft, wurde aber abgelehnt,
weil sein (emigrierter) Bruder Offizier in einer weißen Freiwilligen-
Armee war. Aufgrund eines zweiten Antrags von 1939 wurde er dann drei
Tage nach (!) seinem Tod aufgenommen. Auch die häufig zitierten Bekenntnisse
Makarenkos zur Oktoberrevolution stammen sämtlich aus der Zeit ab
1936 (vgl. Hillig 1980: 127 f.).
Ähnlich vorverlegt wurde die von ihm zunächst abgelehnte Gründung der
Komsomolgruppe 506 . Obwohl er ihre Gründung in den ersten Teil des Poems
(d. h. spätestens auf 1923) verlegte, gab er tatsächlich seinen Widerstand gegen
die Einführung einer Komsomol- bzw. Pioniergruppe in der Gorki-
Kolonie - begründet mit der Sorge um die Einheit des Zöglingskollektivs -
erst ab Juli 1925 unter massivem Druck durch den Ukrainischen Komsomol
auf, als ein Politleiter eingestellt wurde (vgl. Hillig 1980: 127 f.; Dunstan
1984: 71). Ein Argument zu seiner Entlassung 1928 war, daß in der Kolonie
noch immer keine Pionierorganisation für die 10 - 14jährigen bestand.
Zu den Schriftenmanipulationen im weiteren Sinn kann man auch die aus
purer Angst statt aus Überzeugung geschriebene Bekenntnisse zählen. Stalin-
Huldigungen z. B. mögen ebenso wie manche andere Verfälschungen auch
politische Selbstschutzversuche sein und müssen nicht unbedingt die wirkliche
Überzeugung wiedergeben. Makarenko war nach einem erst vor wenigen
Jahren entdeckten Dokument 507 im September 1936 unmittelbar nach dem
ersten Moskauer Prozeß gegen das trotzkistisch-sinowjewsche Zentrum des
Trotzkismus bezichtigt worden. Seit dieser Zeit häuften sich (vielleicht nicht
ganz zufällig) bei ihm die Huldigungen an die Kommunistische Partei und ihren
wunderbaren Steuermann, den genialen Stalin (vgl. Hillig 1980: 129). In
der Phase der Säuberungen und des Terrors benutzte Makarenko zunehmend
Wendungen des Stalin-Kultes, aber es ist unklar, ob er dies aus Überzeugung
oder zu seinem Schutz tat.
Makarenkos Selbstgerechtigkeit und sein Bedürfnis nach Selbstdarstellung
und Selbstüberhöhung behinderten eine einigermaßen objektive Selbstein-
506 Der Kommunistische Jugendverband hieß Komsomol.
507 Vgl. das Referat von N. N. Oska (Melitopol) und F. I. Naumenko (L'vov): Von wem und
warum wurde die Dzerzinskij-Kommune aufgelöst auf dem Internationalen Makarenko-
Symposion 1989 bei Marburg (Hillig 1989b: 184).
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