Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

In der Praxis fehlten allerdings sämtliche Voraussetzungen für eine solche
Pädagogik: Es gab dafür im kriegszerstörten ehemaligen Zarenreich weder
ausgebildete Erzieher noch Gebäude, Kleidung oder auch nur ausreichende
Nahrung. So ist es nicht verwunderlich, daß die hohen Ideale kaum erreicht
wurden und schließlich von der erheblich schlichter denkenden Stalin'schen
Erziehung abgelöst wurden. Die freiheitliche frühsowjetische Pädagogik war
geradezu das Gegenteil der späteren, auf Anton S. Makarenko aufbauenden
Sowjetpädagogik der Stalinzeit. In der frühsowjetischen Ära galt Makarenko
noch als unbedeutender, militaristischer Außenseiter, der mit unzulässigen
und veralteten Zwangsmethoden, mit wechselseitiger Überwachung, Furchtund
Strafe operierte, und den die Krupskaja deshalb unerbittlich bekämpfte.
„Erst mit dem Beginn der Stalinisierung wurde seine Doktrin zum Kanon der sowjetischen
Pädagogik gemacht, während die Pädologie als kleinbürgerlicher Irrtum dem
Bann verfiel.“ (Schedler 1972: 244)
„Noch 1932 schrieb Krupskaja, daß der Zwang in der Erziehung ein sklavischer
Überrest sei und daß man ihn nicht ‚marxistisch‘ begründen könne. Ein ähnlicher Gegensatz
besteht in der Frage der kollektiven Verurteilung einzelner Vergehen, die bei
Makarenko in dem ‚Stehen in der Mitte‘ vor der Vollversammlung zu einem festen
Ritual geworden war. Krupskaja hatte sich schon vor der Revolution gegen Schülergerichte
ausgesprochen, und später wurde ihre Haltung noch ablehnender. In der offiziösen
‚Pädagogischen Enzyklopädie‘ von 1927 hieß es, daß es sich bei dem ‚Stehen
vor Gericht‘ um dieselbe Erniedrigung und Demütigung der kindlichen Persönlichkeit
handle wie früher bei den vom Lehrer verhängten Strafen in der Klasse. Der Konflikt
zwischen Individuum und Kollektiv sollte nicht wie bei Makarenko auf die Spitze, bis
zur ‚Explosion‘ getrieben, sondern ‚auf evolutionärem Wege‘ durch behutsames Vorgehen
des Erziehers gelöst werden.“ (Anweiler 1963: 282)
20.3.3. Die Kinderhaus-Politik der Ukraine
Die politisch selbständige Ukraine beschritt als Sowjetrepublik auch pädagogisch
zunächst einen interessanten revolutionären Sonderweg, über dessen
Einzelheiten bislang noch relativ wenig bekannt ist 490 .
Die entscheidenden Dokumente 491 der frühsowjetischen Schulreform enthielten
zunächst auch in Rußland linksradikale, reformpädagogische
490 Vgl. die wenigen Hinweise bei: Anweiler (1963: 272 - 273), Astermann (1922: 17 - 22,
78 - 82), Schedler (1972: 242 f.) sowie die Erwähnungen bei Sorin (1926: 10 - 12) und
Dunstan (1984: 73).
491 Die Ordnung und die Prinzipien der Einheits-Arbeitsschule in der Russischen Sozialistischen
Sowjetrepublik vom 16. Oktober 1918 sind deutsch abgedruckt bei Anweiler u.
Meyer (Ed. 1979: 66 - 89). Ebenso die Deklaration über die soziale Erziehung der Kinder
in der Ukrainischen Sowjetrepublik vom 1. Juli 1920.
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