Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

Selbstverwaltung auf der Grundlage des Gemeineigentums und zur Ablehnung
jeder Autorität den zaristischen Staat gefährde. 1909 wurde unter dem
neuem Namen Kinderarbeit und -erholung (Detskij trud i otdych) weitergearbeitet.
Ab 1911 wurde auf einem Landgut im Gouvernement Kaluga (100 km
südwestlich von Moskau) alljährlich eine mehrmonatige Sommerkolonie
Munteres Leben (Bodraja zizn) für 60 Kinder eröffnet, die 1918 in eine
ganzjährige Einrichtung umgewandelt wurde. Als neue Elemente waren Musik
und Theaterspiel hinzugekommen, ab 1916 auch planmäßiger Unterricht
in den wichtigen Schulfächern.
Nachdem er auf mehreren Auslandsreisen 489 die Arbeit führender europäischer
Kollegen studiert hatte, hielt Schazki ab 1915 Universitäts-Vorlesungen
über Vorschulerziehung, mit Praktika in seinen Einrichtungen, die ab 1916
vom Volksbildungsministerium sowie von der Stadt Moskau als Versuchsstation
anerkannt und unterstützt wurden, in der auch Pädagogen ausgebildet
wurden. Schazki betonte den experimentellen, offenen Charakter seiner Pädagogik:
„Man muß mit den Kindern arbeiten und sie dabei gleichzeitig aufmerksam
studieren“ (Schazki nach Anweiler 1964: 59).
Schazki erkannte, daß es das von Wentzel idealisierte reine und freie Kind,
das sofort frei und selbstbestimmt handelt, wenn es plötzlich in günstige Umstände
versetzt wird, so nicht gibt. Sondern daß es einer langen und beharrlichen,
gezielten Arbeit bedarf, um die bisherigen negativen Umwelterfahrungen
und Sklavenbedingungen der Straßen- und Waisenhauskinder aufzuwiegen.
Schazki hielt eine bewußte, wenngleich sehr behutsame Führung und
Leitung des Kinderkollektivs durch die erwachsenen Erzieher für notwendig,
allerdings bei weitgehender Wahrung der kindliche Selbständigkeit. Mit diesem
Konzept hatte er mehr Erfolg als Wentzel in seinem Haus des freien
Kindes.
Wesentliche Voraussetzung der von Schazki angestrebten Freiheit war ein
Verantwortungsgefühl der Kinder für die übernommenen Verpflichtungen,
das wiederum auf dem von der Gemeinschaft entgegengebrachten Vertrauen
beruhte. Übernommenen Ämter waren mit keinerlei Vorrechten verbunden,
Schazki achtete sehr darauf, daß Stärkere und Aktivere sich nicht eine Autorität
gegenüber Schwächeren anmaßten.
Schazki wollte das Straßenkind aus seiner städtischen Umwelt mit ihren
verderblichen Milieueinflüssen heraus in die freie, ländliche Natur verpflanzen,
in eine eigenständige, geschlossene Lebensgemeinschaft der Kinder:
eben in die 1918 zur Dauereinrichtung gewordene Kolonie Munteres Leben.
Diese war eine kindlich-fröhliche Arbeits- und Lebensgemeinschaft von Er-
489 Schazki reiste 1910 nach Skandinavien und 1913/14 nach Belgien (zu Ovide Decroly),
Genf (Institut J. J. Rousseau), München (Kerschensteiner) und Berlin (Berthold Otto).
470