Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

die mit den Ausgängen verknüpft waren, löste. Mit Schaudern hatte die alte Pädagogik
erfahren, daß ich Kinobesuch gestatte, und mir bittere Vorwürfe gemacht. Die
Leiterin traf einmal zwei Kinder am Tor und fragte natürlich, wohin sie gehen - denn
solche wertlose und unnütze Fragerei gehört zu den Grundsätzen aller Pädagogik, die
aus taktlosem Gestammel, wie es sich bei der Begegnung mit Kindern aus der Verlegenheit
und Unfähigkeit, ein natürliches ‚guten Tag‘ zu sprechen, ergibt, Lehrsätze
macht - die Kinder sagten einfach ‚ins Kino‘, so wie sie es mir gesagt hatten. Die
Leiterin ‚wollte nicht glauben‘, daß ich es erlaubt hatte, und verbot es auf alle Fälle
von sich aus. Ich konnte, von dieser Pädagogik zur Rede gestellt, nichts anderes als
zynisch antworten, ich gehe auch ins Kino; würde zwar gern einmal mit den Kindern
über den Wert dieser Anstalt diskutieren, aber dazu sei noch Zeit, vorläufig sei ich
froh, daß die Kinder mich nicht mehr belügen, und aus Joe Deebs keine gute Tante
machen, die ihnen Brot schenkt. Den Kindern aber erklärte ich (wovon die Verwaltung
natürlich verständigt wurde), daß gar niemand ihnen irgend einen Gang verbieten
könne, wenn sie im Besitz eines ordnungsgemäßen, von der Schulgemeinde ausgefüllten
Ausgangsscheins wären: niemand, weder die Leiterin, noch ich, noch sonst wer.“
(Bernfeld 1974a: 124 - 126)
19.3.2. Die Kwuzoth-Gemeinschaften
In der Schulgemeinde und den besonderen kleinen Kameradschaften oder
Gemeinschaften (hebräisch Kwuzoth, faktisch sind dies jüdische Jugendvereine)
sollte - psychoanalytisch gesprochen - das Ich zu einem größeren
Gesamt-Ich erweitert werden, welches narzistisch besetzt werden kann.
Vor allem diese regelmäßig zusammenkommenden Kwuzoth-
Jugendgruppen erzeugten und förderten die engen affektiven Beziehungen
(Freundschaft, Kameradschaft, Liebe) untereinander und zum kameradschaftlichen
eigenen erwachsenen Gruppenführer. Ihre Mitglieder spielten, sangen,
lasen gemeinsam, hörten Geschichten aus der jüdischen Geschichte, diskutierten
alle möglichen religiösen, philosophischen, politischen etc. Fragen 482
und arbeiteten auch gemeinsam im Heim, z. B. um Geld für einen Gruppen-
Fußball zu verdienen. Die Gruppen sollten so zur Überwindung des Egoismus,
zur Entwicklung von Solidaritäts- und Gemeinschaftsgefühlen und
zur Opferbereitschaft im selbstlosen Handeln für die Kameraden, Freunde
und die Gruppe befähigen.
Selbstloses Handeln in der Kwuzoth-Gruppe wurde tatsächlich geübt, allerdings
galten Außenstehende als außerhalb des Sittengesetzes stehende
Fremde (Gojim). So kam es vor, daß eine Gemeinschaft den individuellen Essens-Schwindel
ablehnte, den Schwindel für die Kwuzoth-Gemeinschaft
482 Sie diskutierten z. B. über die Zukunft Palästinas und die eigene Zukunftspläne, über Arbeit
und Privateigentum, über Krieg, Kunst, Sozialismus und Genossenschaften.
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