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Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

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„Und die Unart hörte langsam auf, so wie die Kin<strong>der</strong> langsam die Empfindung bekamen,<br />

daß sie selbst die Herren im Kin<strong>der</strong>heim sind, daß die Möbel ihnen gehörten,<br />

daß sie durch <strong>der</strong>en Beschädigung niemanden an<strong>der</strong>en ärgern, kränken, schädigen, als<br />

sich selbst.“ (Bernfeld 1974a: 123)<br />

„Wir sprachen nie in jenem falschen, liebenswürdigen, ermahnenden und scheinbar<br />

frei überzeugenwollenden Ton, den fixe Pädagogen gerne anschlagen, wenn sie wissen,<br />

geht es so nicht, so werde ich eben zwingen.“ ... „Es ist uns nicht eingefallen, irgendeine<br />

Zwangsmaßnahme zu ergreifen o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schulgemeinde eine scheinbar<br />

demokratische Entscheidung herbeizuführen, auch dann nicht, als wir sahen, die Kin<strong>der</strong><br />

bleiben bei ihrer Art selig zu werden und wollen von unserer Spielbeglückung<br />

<strong>nichts</strong> wissen.“ (Bernfeld 1974a: 124))<br />

„Wir haben aber noch mehr gewonnen durch unsere Pädagogik des scheinbaren<br />

laissez aller, laissez faire. Die Knaben haben in den mit ihnen spielenden Lehrern sich<br />

Führer gewonnen. Und sie haben ein sehr feines Gefühl <strong>der</strong> Ritterlichkeit erleben und<br />

bewähren gelernt, wenn sie auf die geringeren Fußballgeschicklichkeiten eines mitspielenden,<br />

sonst geliebten Lehrers, o<strong>der</strong> einer sehr verehrten Lehrerin Rücksicht<br />

nehmen mußten; und diese Ritterlichkeit begann zuletzt sichtbar auch auf die schwächeren<br />

Kameraden sich zu beziehen.<br />

O<strong>der</strong>: Am zweiten Tag teilte ich mit, daß alle Kin<strong>der</strong> über neun Jahren unter gewissen<br />

Bedingungen Ausgang erhalten konnten. Ich notierte von jedem Kinde, das <strong>aus</strong>gehen<br />

wollte, sein angebliches Alter und das Ziel; und wußte durch Vergleich mit unseren<br />

Daten nach einer halben Stunde, daß die meisten gelogen hatten; sie hatten sich<br />

zur Vorsicht um ein paar Jahre älter gemacht, und waren alle ‚um Brot zur Tante‘ gegangen.<br />

Der von mir unterschriebene Ausgangsschein war die Anweisung an die<br />

Verwaltung für Fahrgeld, das nur jene beanspruchen sollten, die gar keines hätten.<br />

Keines <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> verzichtete auf die wenigen Heller, trotzdem sehr viele verhältnismäßig<br />

viel Taschengeld besaßen. Nun hätte ich mich in meiner ganzen direktoralen<br />

Machtfülle zeigen können - so verlangte die Verwaltung und mein beleidigtes Pädagogengemüt.<br />

Ich sagte den Kin<strong>der</strong>n aber bloß, daß die meisten gelogen hätten, und<br />

daß dies überflüssig sei, denn sie hätten Anrecht auf Ausgang, einerlei, wohin sie gingen,<br />

und wir brauchten die Adresse nur, um für den Fall ihres Ausbleibens zu wissen,<br />

wohin wir uns zu wenden hätten. Und augenblicklich wurde die Zahl <strong>der</strong> Lügen geringer,<br />

aber sie glaubten mir nicht recht, und ein paar Mutige führten mich in Versuchung.<br />

Einer sagte, er gehe ins Kino, ein an<strong>der</strong>er, er wolle ‚so ein bißchen in die<br />

Stadt‘ gehen. Das maßlose Staunen <strong>der</strong> anwesenden Kin<strong>der</strong>, als ich einfach dem einen<br />

gute Unterhaltung wünschte, und den an<strong>der</strong>en auf die Kompliziertheit des Stadtanschlusses<br />

<strong>der</strong> Tramway aufmerksam machte, läßt sich nicht beschreiben. Ihre Weltanschauung<br />

ging in die Brüche, denn sie waren sicher gewesen, nun endlich das Donnerwetter<br />

hereinbrechen zu sehen, dessen Fehlen sie seit dem Betreten des Baumgartner<br />

Lagers in eine unheimliche, noch nicht dagewesene Situation versetzt hatte, eine<br />

Situation, <strong>der</strong>en völliger Uneinordbarkeit gegenüber ‚kein Rat blieb, als grenzenlos zu<br />

lieben‘. In erstaunlicher Kürze hat alles Lügen bei <strong>der</strong> Ausgangserteilung ganz und<br />

gar aufgehört. Und dieser amoralische, aber sehr sachliche und richtige Zustand wurde<br />

bald zu einem wahrhaft moralischen, als ich mich, bald nachdem die organische<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Schulgemeinde klar sichtbar wurde, dieser meiner letzten Willkürmachtposition<br />

entäußerte und die Schulgemeinde Ausgangsordner wählte, und leicht<br />

und gerecht auch die finanziellen Probleme,<br />

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