Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

mit dem zusammen er die Zeitschrift Der Anfang herausgab, und ein führender
Vertreter der Österreichischen Jugendbewegung480 und Jugendkulturbewegung.
Im Juni 1914 entschloß er sich, für die Erziehung des jüdischen Volkes zu
arbeiten, das dann in Palästina siedeln sollte. Er erstrebte den Aufbau eines
sozialistischen jüdischen Staates in Palästina, in dem die durch Assimilierung
weitgehend verlorene nationale jüdische Kultur wiedererstehen sollte. Um in
Palästina siedeln zu können, bedurfte es nach seiner Überzeugung nicht nur
des politischen Macht- und Parteienkampfes um Anerkennung des jüdischen
Anspruches, sondern auch - und zuvor! - einer großen neuen Erziehungsbewegung,
einer vielfachen Umerziehung des gesamten Volkes
– vom Händler zum landwirtschaftlichen, handwerklichen und industriellen
Handarbeiter
– zur Wiederaneignung seiner nationalen Kultur
– eine soziale (sozialistische) Umerziehung vom Kleinbürger zum Sozialisten.
Jüdische Erziehung muß sozialistisch sein, bevor Palästina Wirklichkeit
werden kann.
Bernfeld kritisierte ausführlich die nutzlose autoritäre Straf- und Zwangsdisziplin
des untauglichen bestehenden Erziehungssystems. Statt die jüdischen
Kriegswaisen aus Wohltätigkeit in die üblichen kasernenartigen, altmodischen
jüdischen Waisenhäuser zu sperren, in denen sie dem Judentum nur
noch weiter entfremdet würden, sollten die durch Not und durch traditionelle
Rettung gleichermaßen gefährdeten Kinder an führender Stelle beteiligt
werden an der Rettung des eigenen Volkes vor dem Untergang in der
Assimilation, bei der Nationwerdung des jüdischen Volkes.
„Und dessen ist die Waisenschaft vor allen anderen fähig. Sie wird die Glücklicheren
aufrufen zur Nachfolge.“ (Bernfeld 1974a: 99)
promovierte zum Dr. phil. und war Leiter des jüdischen Berufsberatungsamtes der Gemeinde
Wien, einem der ersten solcher Ämter überhaupt, außerdem der Haupt-
Organisator des Jüdischen Pädagogiums in Wien. 1920 versuchte er als Leiter des Kinderheim
Baumgarten die neuartige Erziehung praktisch. 1922 war er praktizierender
Psychoanalytiker in Wien. Bernfeld schrieb viele Bücher und Aufsätze, wobei er sich von
praktischer Pädagogik ab- und theoretischen Problemen zuwandte. 1924 wurde Bernfeld
Mitarbeiter am Ausbildungsinstitut der Psychoanalytischen Gesellschaft in Wien, später
in Berlin, wo er sich intensiv mit dem Marxismus auseinandersetzt. 1934 emigrierte er
von Wien nach Frankreich, wo er in Menton praktizierte und / oder lehrte. 1936 oder
1937 oder 1938 (widersprüchliche Angaben) übersiedelte er nach San Francisco / Kalifornien,
wo er sich mit Psychoanalyse, Freud-Biographie, Gestaltpsychologie, Soziologie
und mathematischen Spekulationen zur Frage der seelischen Energie befasste. Er starb
1953.
480 Die Jugendbewegung sollte in seinem Heim eine bedeutende Rolle spielen. Die ebenfalls
jugendbewegte Kinderrepublik von Lazarsfeld u. Wagner (1924) in Österreich wird hier
nicht beschrieben.
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