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Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

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dekorierte den eigenen Tisch und Stuhl und seine Wand. Heute haben nur zwei Neuankömmlinge<br />

Tische und Ecken, die an<strong>der</strong>en arbeiten überall.<br />

Als das Dekorationsfieber <strong>aus</strong>gelebt worden war, kam eine Zeit des Überdrusses.<br />

Die Kin<strong>der</strong> kamen <strong>aus</strong> Schulen, in denen sie stets angeleitet wurden. Sie waren nicht<br />

bereit für die Freiheit. Betty <strong>aus</strong> England tat sechs Monate lang fast <strong>nichts</strong>, sie wurde<br />

absolut überdrüssig und gelangweilt, und sie kam zu mir und beklagte sich über die<br />

Schule. Warum lehrte ich sie keine Fächer? Kurz gesagt, sie benötigte sechs Monate,<br />

um sich von ihrer ‚Erziehung‘ zu erholen. Schließlich wurde das Leben für sie so<br />

langweilig, daß sie für sich selbst zu arbeiten begann, und heute lernt sie hart, um die<br />

Universitätseingangsprüfung zu bestehen. Ich finde, daß jedes Kind über zehn eine<br />

lange Ruhep<strong>aus</strong>e benötigt, ich nenne es eine Erholung, bevor es entdeckt, daß Erziehung<br />

<strong>aus</strong> dem Selbst kommt und nicht vom Lehrer. Natürlich sorgen wir für Material<br />

für die Kin<strong>der</strong>. Künstliche Apparate <strong>der</strong> Montessori-Methode sind pädagogisch und<br />

darum verboten, aber eine Schule muß Papier, Farben, Holz, <strong>Wer</strong>kzeuge, Linoleum<br />

für Linolschnitte, Bücher aller Art bereithalten. Mit den Büchern haben wir das größte<br />

Problem. Wir haben z.B. drei Jugoslawen. Es ist unmöglich, eine Bücherei für Jugoslawen,<br />

Englän<strong>der</strong>, Norweger, Russen etc. bereitzustellen. Alle Kin<strong>der</strong> lernen<br />

Deutsch und Englisch, aber das ist nicht befriedigend in einer kreativen Schule. Ein<br />

Kind kann Gedichte und Erzählungen und Theaterstücke schreiben, aber kein Mensch<br />

kann in einer Fremdsprache auf <strong>der</strong> Höhe seiner Kreativität sein. Allein das Sprachenproblem<br />

würde die Schule zwingen, eine Handwerks-Schule zu sein, selbst wenn<br />

das Interesse des Kindes nicht durch psychologische Notwendigkeit zum Handwerk<br />

gelenkt würde.<br />

Was ein Kind weiß, ist von geringer Bedeutung; das, was zählt, ist, was ein Kind<br />

ist. Und genau hier unterscheiden wir uns von den meisten Versuchs-Schulen. Beinahe<br />

jede Schule versucht in irgendeiner Weise den Charakter zu formen. Die alten<br />

Schulen formten den Charakter durch Furcht, die neuen versuchen ihn durch Shakespeare<br />

o<strong>der</strong> Goethe-lesen zu formen. Sie errichten einen <strong>Wer</strong>tmaßstab, sie sagen<br />

letztlich, daß Goethe besser als ein Kabarett ist. Wir begannen mit dem offenen Bekenntnis,<br />

daß kein Mensch das Recht hat, den <strong>Wer</strong>tmaßstab für An<strong>der</strong>e zu setzen. Das<br />

Leben enthält Goethe und Wagner und Charlie Chaplin und Kabaretts, und dem Kind<br />

muß die Freiheit gelassen werden, seine eigenen Maßstäbe zu bilden. Wir sind Individualisten,<br />

das heißt, wir behandeln jedes Kind als ein Individuum. Wir kennen seine<br />

psychologische Geschichte, seine Stärke und seine Schwäche. Aber wir müssen beständig<br />

die Neigung bekämpfen, die Schule als eine große Maschine zu sehen, die wie<br />

ein Uhrwerk läuft. Und jede nicht freie Schule muß ein Uhrwerk sein. Das Kind muß<br />

Mathematik lernen von zehn bis elf Uhr, ob es Interesse an Mathematik hat o<strong>der</strong><br />

nicht. Und weil Interesse die konzentrierte Zusammenarbeit des Bewußten und des<br />

Unbewußten ist, ist jedes System, das nicht dem Interesse des individuellen Kindes<br />

folgt, falsch. Eine Armee ist eine exzellente Maschine, aber kein Mensch würde heute<br />

eine Armee als erzieherische Einrichtung bezeichnen.<br />

Eines Tages sagte eine englische Lady zu mir: ‚Was ist - in einem Wort - Ihre<br />

Schule?‘ Ich antwortete ohne nachzudenken: ‚Eine Schule die nicht an die Erbsünde<br />

329 glaubt.‘ Unser System könnte man als die Kein-Gewissen-Schule bezeich-<br />

329 Zur Verwendung religiöser Begriffe durch den Atheisten Neill vgl. Kapitel 16.1.4.<br />

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