Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

Dies beginnt mit gleich drei - dann häufig wiederholten - Falschmeldungen
238 im Begleittext des Taschenbuches Theorie und Praxis der antiautoritären
Erziehung (Neill 1969: 4). Die verbreiteten Legenden vom unpolitischen
bürgerlichen Neill und von der Schule, in der alle Unarten von Kindern
geduldet würden, sind eher auf eine flüchtige Lektüre seiner Werke zurückzuführen.
Das seltsame Gerücht von den psychoseartigen Zusammenbrüchen 239 in
Summerhill ist ebensowenig belegt wie das von der Erziehung zu Unterordnung,
totaler Anpassung und zum Unternehmertum dort sowie eine niedrige
Frustrationstoleranz 240 der Kinder.
238 Dort wird behauptet, „Summerhill wurde 1921 in England gegründet.“ (Dresden liegt in
Deutschland!) Neill habe an der Universität gemeinsam mit dem Magistertitel M. A.
[=1912] auch den M. Ed. Titel (Master of Education) erworben (der wurde ihm erst ehrenhalber
1966 von der Universität Newcastle verliehen). Und „1921 gründete er seine
berühmte Internatsschule von Summerhill. Im selben Jahr wurde er Mitbegründer der Internationalen
Schule von Dresden-Hellerau.“
239 Ich fand es bei Wilfried Kuckartz (in Claßen 1973: 38), mit Verweis auf Reiche (1971:
160), der jedoch ebenfalls nur die pure Behauptung liefert, diesmal unter Bezug auf eine
unveröffentlichte Arbeit: Rita Offe: Der Beitrag der Triebtheorie Wilhelm Reichs zu einem
Modell repressionsfreier Erziehung. Frankfurt 1966 (ungedruckt). Dort verliert sich
dann die Spur...
Ebenfalls übernommen wurde die Behauptung Reiches durch Breiteneicher u. a. (1971:
47), vgl. dazu Schmidt-Herrmann (1987: Anm. 90).
240 Breiteneicher u. a. (1971: 45 - 48) befassen sich in einem höchst polemischen 3½seitigen
Exkurs mit Summerhill und seiner Bedeutung für die Kinderläden. Für diese Autoren ist
Neill vollkommen unpolitisch, an gesellschaftlichen Zuständen nicht interessiert und ausschließlich
auf das Privatglück einiger reicher Oberklassen-Kinder bedacht, die sich, da
sie später nicht arbeiten müssen, den Luxus einer Summerhill-Erziehung leisten können.
Der Erziehung unterstellen sie dementsprechend eine massiv konservative Tendenz zur
Anpassung, zur Unterordnung und zum Unternehmertum (denn Neills erster Schüler
hatte für die Wartezeit vor dem Studium mit großem Glück einen ungewöhnlich günstigen
Job bei einer reichen und großzügigen Dame gefunden). Aus Neills Beschreibung eines
Summerhillabsolventen, der als Lehrling in seinem Traumberuf zur Freude seines
Chefs begeistert auch in seiner Freizeit arbeitete, folgern Breiteneicher u. a. (1971: 46)
„Neillkinder würden mit Freude bei Dow Chemical in Überstundenschichten Napalm
produzieren, wenn ihr Chef sie nicht durch Unglücklichsein terrorisiert.“ Es folgten mehrere
völlig unbelegte und unerklärte Tatsachenbehauptungen, darunter die bereits erwähnte
von den psychoseähnlichen Zusammenbrüchen:
„2. Summerhillkinder leben in einer nahezu konfliktfreien Welt. Es werden kaum Kategorien
für die Bewältigung von Konflikten angeboten. Entsprechend niedrig ist die Frustrationstoleranz
dieser Kinder.“
„4. Neill erzieht zur totalen Anpassung, denn nur um diesen Preis ist sein versprochenes
Glück zu verwirklichen“ (Breiteneicher u. a. 1971: 47 f.).
Diese polemischen Behauptungen werden dann in der Psychologie des 20. Jahrhundert
unter Verweis auf Breiteneicher sehr ernsthaft und betont zustimmend zitiert: sie hätten
„den Nagel auf den Kopf getroffen. Es kann in der Erziehung nicht darum gehen, dem
sich selbst regulierenden Kind für den opportunistischen Lustgewinn kein Hindernis in
den Weg zu le-
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