Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

9.2.1. Léonard Bourdons System der Anstaltserziehung
Léonard Bourdon 173 (1758 - ca. 1815) war ein Advokat aus dem niederen
Adel. Als radikal demokratischer Jakobiner nahm er an der Französischen
Revolution von Anfang an in führender Stellung teil: als Anführer, Delegierter,
Kommunebeamter und Konventsmitglied. Schließlich leitete er die Verhaftung
Robespierres.
Bei Bourdon wird der Einfluß politischer Ziele und Formen auf die Pädagogik
besonders deutlich: durch eine neue Erziehung wollte er eine auf Freiheit,
Gleichheit und Menschenwürde gegründete Gesellschaft absichern.
Schon vor der Revolution betrieb er die Gründung eines eigenen Internats.
1788 reichte er der königlichen Regierung seinen pädagogischen Plan zur
Genehmigung ein und argumentierte etwa folgendermaßen:
Da das Kind dazu bestimmt ist, unter Menschen in der Gesellschaft zu leben,
muß es in der Erziehung die Menschen kennenlernen, denn Unerfahrenheit
wäre verhängnisvoll. Dabei kommt es vor allem auf die richtige Umgebung
an, denn Umwelteinflüsse wirken stärker als Lehrerworte. Einzelerziehung
in reichen Familien vermittelt dem Kind unrichtige Vorstellungen:
Genuß ohne Arbeit, Eitelkeit und Faulheit. Die das Kind umgebenden mächtigeren
Erwachsenen könnten das Kind zu ihrem Vorteil nach Belieben täuschen
und verwirren.
Darum lernt das Kind die Menschen am besten kennen durch Übung und
eigene Erfahrung unter Gleichen, in der Gemeinschaft der Altersgenossen.
Schon vor der Revolution forderte Bourdon - damals praktisch als einziger -
eine Anstaltserziehung für alle Kinder: für verwahrloste und verwaiste Armenkinder
ebenso wie für die reichsten Bürgerkinder.
Das Erziehungsleitbild des freisinnigen Bürgers war jedoch - auch wenn er
es sich praktisch nicht leisten konnte und auf Anstaltsplätze angewiesen
blieb - die individuelle Einzelerziehung im eigenen Haus durch Privatlehrer.
Bourdon teilte die vernichtende Kritik an der bestehenden altmodischunaufgeklärten,
meist kirchlichen Anstaltserziehung durchaus, wollte die Anstalten
aber durch radikale Reformen in vollkommen gute verwandeln: durch
Werkstattarbeit und physische Erziehung, durch Unterricht nach Begabung
und Neigung in einer Art Kurssystem und insbesondere durch sein neues
Disziplinsystem.
„Die Abhängigkeit von den Dingen ist eine naturgegebene Abhängigkeit, die in nichts
die Selbstachtung, Freiheit und Gleichheit kränkt; gegen sie lehnt man sich nicht auf.
Wer nur von Dingen abhängt, hat die innere Genugtuung, sich nur von sich selber abhängig
zu fühlen, hat das Gefühl, daß sein Schicksal in seiner eigenen Hand ist. Die
Abhängigkeit von Personen, d. h. von der Willkür anderer empört die
173 Diese Darstellung stützt sich auf Bernfeld (1974c). Vergleiche auch Alt (1949: 147).
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