Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

8.7.2.5.1. Scheinbar paradoxe psychologische Methoden
Neill hielt Taten - speziell bei Kindern - für eindringlicher und wichtiger als
Worte. Zu seinem Konzept gehörte auch die Unterstützung (fast) jeglichen
Verhaltens - auch wenn es verboten war.
Aufgrund ihrer andersartigen Motivationstheorie (unbewußte innere
Motive statt rationale Nutzenkalküle) erzielten Lane, Neill, Wills und andere
psychoanalytisch geschulte Erzieher mit Handlungsweisen, die im Rahmen
traditioneller Motivationsvorstellungen unsinnig und paradox erscheinen
(etwa Belohnung statt Bestrafung von Fehlverhalten) auf scheinbar
magische Weise (für Andere nicht nachvollziehbare) therapeutische Wirkungen162
, die aber bei Betrachtung der inneren Motive im Einzelfall (!)
durchaus erklärbar werden. Es handelt sich vor allem um folgende Punkte:
– Absichtliche Ermöglichung und Erleichterung verbotenen Verhaltens,
insbesondere des Weglaufens. Dies scheint häufig die paradoxe Wirkung
zu haben, daß, weil man frei und nicht eingesperrt ist, auch keine Notwendigkeit
zur Flucht mehr empfunden wird: man braucht nicht mehr wegzulaufen,
weil man jederzeit weglaufen kann. Außerdem ist es banal, reizlos
und unromantisch, unbehelligt durch die stets offene Tür zu fliehen, statt
bei Nacht und Nebel heimlich die Mauer zu überklettern.
– Eine Variante ist die betonte Herausforderung zu (bereits großmäulig angekündigtem)
Fehlverhalten, und zwar gerade nicht als Herausforderung
zum Kampf gegen die Macht und Autorität (‚versuch es nur, ich werde dir
dann schon zeigen, daß ich stärker bin‘), sondern als Herausforderung an
Großsprecher, der gerade deshalb laut tönen kann, weil es jemanden gibt,
der ihn an der Verwirklichung seiner Drohungen hindert (vgl. Lane in Bazeley
1948: 48).
– Beteiligung am Fehlverhalten, um das Kind darin womöglich noch zu
übertreffen. Es gibt etliche Berichte über Neills Regelbrüche, mit denen er
bei bestimmten Problemkindern psychologische Wirkungen zu erzielen
suchte. So half Neill einem Jungen, die Hühner des Nachbarn zu stehlen
(die dann sofort zurückflogen), und er beteiligte sich (nach heimlicher Absprache
mit dem Ladenbesitzer) auch an Ladendiebstählen. Als eine gegen
die Regierung rebellierende Bande Zwölfjähriger per Aushang Mitglieder
162 Ganz ähnliche Wirkungen werden auch von anderen psychoanalytischen Erziehern berichtet,
etwa von Lane, Wills, Aichhorn, Lyward, Shaw, Zulliger, und übrigens (vgl.
Riedmüller 1966) sogar von Makarenko.
Es handelt sich z. B. darum, daß gerade ein überstrenges Gewissen zum Verbrechen aus
Strafbedürfnis treibt, und um völlig nutzlose Diebstähle aus scheinbar reiner Bosheit,
die, als symbolisch gestohlene Liebe, durch Bestrafung (Liebesentzug) verewigt und
durch Belohnung (materieller Liebesbeweis) beseitigt werden können. (vgl. die Quellen-
Anmerkung dazu in Kapitel 7.1.)
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