Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

gender als die bloßen Lerninhalte. Die prinzipiell demokratische Struktur der
Schule wird den Kindern ungefragt und unabänderlich vorgesetzt und diktiert,
so wie andere Schulen (ebenfalls ungefragt) eine stärker autokratisch geprägte
Struktur vorgeben. Neill setzt auf das Prinzip des radikalen Erfahrungslernens
und hat ein so ungewöhnlich (!) großes Vertrauen in die Vorteile und Stärken
der Demokratie, daß er sogar die eigene Grundüberzeugung zum praktischen
Vergleichstest stellt! Wenn die Angelegenheit Demokratie wirklich mehr
taugt als andere Formen, dann kann man darauf vertrauen, daß sich das auch
in der praktischen Erprobung bestätigen wird. Die von Zeit zu Zeit unternommenen
Versuche mit Diktatur oder Monarchie (Housemother's Law) sowie
Anarchie ermöglichen den praktischen Vergleich (vgl. Kapitel 8.6.2.).
Neill hatte durchaus Ziele, dies sind aber primär eigene Ziele, nicht primär
(Lehr-) Ziele für das Kind. Er erzieht nicht andere zur Demokratie (Lehrziel),
sondern ist primär selbst Demokrat und organisiert daher das praktische Leben
in seinem Umkreis demokratisch.
Ein traditioneller Lehrer dagegen wird sich um eine Erziehung zur Demokratie
bemühen, wird Wesen und Vorteile der Demokratie erläutern und
- mehr oder weniger - anpreisen, allerdings innerhalb der prinzipiell hierarchisch
verfassten real existierenden Schule, wo solche Demokratie kaum
wirklich praktiziert werden darf. So lernt das Kind dort gleich zweierlei: wie
Demokratie funktionieren sollte, und daß sie eigentlich doch nicht funktioniert.
Auch hier ist das Medium die eigentliche Botschaft.
Neill verbietet auch nicht das Schlagen anderer Kinder (sofern es sich nicht
um gesundheitsgefährdende Mißhandlungen handelt). Ein solches Verbot
müssten die Kinder schon selbst beschließen 123 . Doch kann auch daraus
nicht auf eine Wertindifferenz und auf reines Gewährenlassen geschlossen
werden.
Ein Erzieher in der Kinderrepublik ist nicht unmittelbar verantwortlich
für Recht und Ordnung (wohl aber zuständig für das Funktionieren des
Selbstregierungs-Systems) und hat nicht von vornherein recht. Dies gibt ihm
eine größere Handlungsfreiheit und vielfältigere Möglichkeiten zum Initiieren
und Organisieren von Erfahrungen, denn er muß sich nicht unbedingt
vorbildhaft verhalten und kann deshalb - etwa mit einem Antrag,
123 Nicht alle Kinderrepubliken haben ein Verbot von Schlägen beschlossen (obwohl mir
keine bekannt ist, die Schläge erlaubt hätte). Bei einigen wurden Schläge auch ohne formellen
Beschluß als verboten betrachtet, in anderen gingen die Kinder
(realistischerweise!) davon aus, daß ihnen die Einhaltung eines strikten Gebotes nicht
gelingen würde, und beschränkten sich darauf, Schläge grundsätzlich zu mißbilligen.
Diese Mißbilligung hatte beträchtliche Wirkungen: Dora Russell berichtete, daß es bei
den (kleinen) Kindern in ihrer selbstregierten Beacon Hill School häufig vorkam, daß sie
zu Schlägereien hinzuliefen und lauthals zitierten: ‚dieser Rat mißbilligt...‘.
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