Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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10 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE sein, und fragt man die Menschen, so nennen sie gemäß Aristoteles übereinstimmend das Glück (eudaimonia) als dieses einzige sich selbst genügende Ziel, dem folglich die Politik zu dienen hat. 18 Das politische Handeln muß deshalb aber auch ethischen Prinzipien gerecht werden. Denn nur wer ethisch und politisch verantwortlich handelt (bios politikos), kann dauerhaftes Glück erreichen – die ungezügelte Hingabe an die Lust (bios apolaustikos) schafft nur kurzzeitiges 19 Vergnügen. Die ethischen Tugenden wiederum ergeben sich aus der Tradition der Polis. Es handelt sich um konventionelle Werte, die zur Charakterbildung eingeübt und verinnerlicht werden müssen. Auf theoretischer Ebene läßt sich allerdings die Aussage treffen, daß die Tugend stets in der Mitte zwischen den Extremen angesiedelt ist. Zentrale Tugend ist die Gerechtigkeit, denn das +Gerechte bedeutet das Mittlere* (ebd.; S. 128 [1131b]) und umgekehrt. Auf staatlicher Ebene meint Gerechtigkeit deshalb ein Zweifaches: +Das Gerechte ist […] die Achtung vor Gesetz und bürgerlicher Gleichheit* (Ebd., S. 120 [1129a]). Allerdings sollte man sich bei dieser Bestimmung nicht täuschen. Aristoteles ist keineswegs ein egalitärer Denker, sondern stets betont er (gegen die demokratischen Bestrebungen des Volks gewandt): +[…] für Menschen in unterschiedlicher Stellung sei das Gerechte und die Würdigkeit je verschieden.* (Politik; S. 181 [1282b]) 20 Diese ungleiche Stellung der Menschen ist für Aristoteles naturgegeben. Schon die häusliche Ordnung ist deshalb durch ein Ungleichheitsverhältnis bestimmt. Der Patriarch herrscht selbst- verständlich und uneingeschränkt über die zum Haushalt gehörenden Frauen, Kinder und 21 Sklaven. Die Herrschaft in der Polis ist dagegen eine Herrschaft über Freie und Gleiche, welche die politischen Lasten unter sich verteilen. Dazu Aristoteles: +Daher beanspruchen vernünftigerweise die Ehre die Edelgeborenen, die Freien und die Reichen. Denn es muß Freie geben [die die öffentlichen Ämter besetzen] und Leute, die die Steuerlast tragen. Nicht könnte ein Staat bestehen aus lauter Mittellosen, ebenso nicht aus Sklaven.* (Ebd.; 1283a) Die Bildung des Staates ist nun aber keineswegs aus bloßer Not geboren. Anders als z.B. Platon, ist Aristoteles der Meinung, daß der Mensch ein zoon politikon, ein soziales Wesen ist. Das Wesen des Sozialen wiederum ist die Heterogenität: +Seiner Natur nach ist der Staat
KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 11 eine Vielheit* (Politik; S. 108 [1261a]). Deshalb kritisiert er auch Platons homogenisierendes Staatsmodell. Besonders wendet er sich gegen die Güter- sowie die Frauen und Kinderge- meinschaft. Insgesamt gesehen ist Aristoteles’ politisches Denken stabilitätsorientiert und hierarchisch. Dies zeigt sich auch bei seiner Beurteilung der verschiedenen Verfassungsformen: Monarchie und Aristokratie sind gute Herrschaftsformen, da in ihnen die Besten und Tugendhaftesten die Macht ausüben. Beide Formen unterscheiden sich im wesentlichen dadurch, daß in der Monarchie, im Gegensatz zur Aristokratie, nur ein Einzelner an der Spitze des Staates steht. Ein qualitativer Unterschied besteht hingegen zu den Herrschaftsformen der Oligarchie und der Tyrannis, welche die +Entartungen* von Aristokratie und Monarchie darstellen: Der Tyrann übt eine unumschränkte, gewaltsam aufrecht erhaltene Alleinherrschaft im Sinne seiner Eigen- interessen aus, und in der Oligarchie zählt weniger die Tugendhaftigkeit als der Besitz. Da normalerweise nur wenige über großen Besitz verfügen, herrschen in der Oligarchie deshalb die wenigen Wohlhabenden. In der Demokratie, die in gewisser Weise der Tyrannis gleicht, herrschen dagegen diejenigen, die nicht nur Tugend vermissen lassen, sondern zudem besitzlos sind. Ihre Zahl ist in der Regel groß. Die Demokratie unterscheidet sich also von der Oligarchie durch ein substantielles qualitatives sowie durch ein abgeleitetes quantitatives Merkmal. Die Politie, als letzte der sechs von Aristoteles unterschiedenen Verfassungsformen, ist eine Mischform aus Oligarchie und Demokratie. Doch obwohl sie Elemente zweier eigentlich +entarteter* Verfassungen beinhaltet, ist sie gemäß Aristoteles eine gute, vielleicht sogar die beste Verfassungsform, weil sie die größte Stabilität aufweist. Durch ihre enorme Zahl können die Herrschenden in der Politie den Mangel an Tugend kompensieren, der vielleicht im Vergleich zum einzelnen Aristo- kraten oder einem Monarchen festzustellen wäre, und das politische Verantwortungsbewußtsein andererseits wird durch das Vorhandensein eines gewissen Besitzes sichergestellt. Aristoteles kennt also drei gute Formen der Verfassung (Politie, Aristokratie und Monarchie) sowie drei +Entartungen* (Demokratie, Oligarchie und Tyrannis), die sich jeweils durch die Zahl der an der politischen Herrschaft beteiligten Personen unterscheiden. Wollte man zum Abschluß ein Resumé über den aristotelischen Politikbegriff abgeben, so hätte man ein doppeltes Politikverständnis des Aristoteles zu konstatieren: Politik umfaßt bei ihm zum einen die gesamte Sphäre des sozialen und des ethischen (Handelns). Zum anderen
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e<strong>in</strong>e Vielheit* (<strong>Politik</strong>; S. 108 [1261a]). Deshalb kritisiert er auch Platons homogenisierendes<br />
Staatsmodell. Beson<strong>der</strong>s wendet er sich gegen die Güter- sowie die Frauen und K<strong>in</strong><strong>der</strong>ge-<br />
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Insgesamt gesehen ist Aristoteles’ politisches Denken stabilitätsorientiert und hierarchisch.<br />
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<strong>der</strong> Tyrannis, welche die +Entartungen* von Aristokratie und Monarchie darstellen: Der Tyrann<br />
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normalerweise nur wenige über großen Besitz verfügen, herrschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Oligarchie deshalb<br />
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In <strong>der</strong> Demokratie, die <strong>in</strong> gewisser Weise <strong>der</strong> Tyrannis gleicht, herrschen dagegen diejenigen,<br />
die nicht nur Tugend vermissen lassen, son<strong>der</strong>n zudem besitzlos s<strong>in</strong>d. Ihre Zahl ist <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Regel groß. Die Demokratie unterscheidet sich also von <strong>der</strong> Oligarchie durch e<strong>in</strong> substantielles<br />
qualitatives sowie durch e<strong>in</strong> abgeleitetes quantitatives Merkmal. Die Politie, als letzte <strong>der</strong><br />
sechs von Aristoteles unterschiedenen Verfassungsformen, ist e<strong>in</strong>e Mischform aus Oligarchie<br />
und Demokratie. Doch obwohl sie Elemente zweier eigentlich +entarteter* Verfassungen<br />
be<strong>in</strong>haltet, ist sie gemäß Aristoteles e<strong>in</strong>e gute, vielleicht sogar die beste Verfassungsform, weil<br />
sie die größte Stabilität aufweist. Durch ihre enorme Zahl können die Herrschenden <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Politie den Mangel an Tugend kompensieren, <strong>der</strong> vielleicht im Vergleich zum e<strong>in</strong>zelnen Aristo-<br />
kraten o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em Monarchen festzustellen wäre, und das politische Verantwortungsbewußtse<strong>in</strong><br />
an<strong>der</strong>erseits wird durch das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es gewissen Besitzes sichergestellt. Aristoteles<br />
kennt also drei gute Formen <strong>der</strong> Verfassung (Politie, Aristokratie und Monarchie) sowie drei<br />
+Entartungen* (Demokratie, Oligarchie und Tyrannis), die sich jeweils durch die Zahl <strong>der</strong><br />
an <strong>der</strong> politischen Herrschaft beteiligten Personen unterscheiden.<br />
Wollte man zum Abschluß e<strong>in</strong> Resumé über den aristotelischen <strong>Politik</strong>begriff abgeben, so<br />
hätte man e<strong>in</strong> doppeltes <strong>Politik</strong>verständnis des Aristoteles zu konstatieren: <strong>Politik</strong> umfaßt bei<br />
ihm zum e<strong>in</strong>en die gesamte Sphäre des sozialen und des ethischen (Handelns). Zum an<strong>der</strong>en