Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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98 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE 152. Wie meine Ausführungen im Text ergeben, handelt es sich, anders als in der Abbildung dargestellt, eigentlich um eine vierdimensionales dialektisches Feld: 1. Die Ebene der Dialektik von Sein und Bewußtsein; 2. Die Ebene der Dialektik von Reflexion und Deflexion; 3. Die Ebene der reflexiv-deflexiven Dialektik jeweils im Sein/Handeln (Praxis–Praxologie sich äußernd als Reflexivität) sowie im Bewußtsein (Theorie–Ideologie sich äußernd als Ambivalenz); 4. Die Ebene der Dialektik von Sein und Bewußtsein auf der Seite der Reflexion (Theorie–Praxis erscheinend als Dynamisierung) sowie auf der Seite der Deflexion (Ideologie–Praxologie erscheinend als Statik). Diese Vierdimensionalität ist jedoch (graphisch) schwer darstellbar und zudem, was die beiden letztgenannten Dimensionen betrifft, nur abgeleitet aus dem seinerseits (verschränkend) dialektischen Verhältnis der Dialektiken der beiden ersten Dimensionen. 153. Bhaskar bemerkt hier: +[…] to exist is to be able to become, which is to possess the capacity for self-development, a capacity that can be fully realized only in a society founded on the principle of universal concretely singularized human autonomy in nature. This process is dialectic; and it is the pulse of freedom.* (S. 385) 154. Wenn Martin Lipset allerdings von einem +Working-Class Authoritarianism* spricht (vgl. Political Man; Kap. IV), um zu zeigen, daß die Politik besser in den Händen der weniger autoritär eingestellten (weil ohnehin an der Macht partizipierenden) sozialen Eliten aufgehoben ist und man in die Arbeitklasse kaum berechtigte Hoffnungen auf positive Wandlungsimpulse setzen kann, wie es selbst kritische Neomarxisten wie George Lukács noch taten, so verdeckt Lipset damit genau den ideologisch-praxologischen Konformierungsapparat, der zu diesen autoritären Einstellungen geführt hat. 155. Gurvitch entwickelt hier ein dreifaches Verständnis von Dialektik: 1. Dialektik als reale (soziale) Bewegung; 2. Dialektik als ihrerseits bewegte, nicht fixierbare Methode der (dekonstruktiven) Spiegelung der dialektischen Bewegung des Sozialen; 3. Dialektik als (selbst dialektisches) Verhältnis von sozialer Realität zu theoretischer Spiegelung (vgl. Dialektik und Soziologie; S. 218ff.) Dies führt Gurvitch zu einem empirisch-realistischen Dialektikverständnis (ähnlich zu Bhaskar, siehe oben), d.h. Dialektik reflektiert immer wieder neu die +unendlich variierte[n] Erfahrungen, deren Bezugsgrundlagen unablässig erneuert werden* (ebd.; S. 224).

A: ANMERKUNGEN 99 EXCURSION TERMINAL: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN – ZUM VERHÄLTNIS VON SEIN UND BEWUßTSEIN, KONTINGENZ UND KONVERGENZ 1. Hierzu bemerkt Adorno ganz ähnlich (allerdings nicht auf die grundlegende immanente Ambivalenz des +verkörperten* Bewußtseins abhebend): +Die vermeintlichen Grundtatsachen des Bewußtseins sind ein anderes als bloß solche. In der Dimension von Lust und Unlust ragt Körperliches in sie hinein. Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des dialektischen Gedankens, sind vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem […]* (Negative Dialektik; S. 200) 2. Sousa Santos bevorzugt allerdings den Begriff +Heterotopia*: +What I am about to propose is not a[n] utopia. Let me call it heterotopia. Rather than the invention of a place elsewhere or nowhere, I propose a radical displacement within the same place: ours. From orthotopia to heterotopia, from the center to the margin [...] The aim is to experiment with the frontiers of sociability as a form of sociability.* (Toward a New Common Sense; S. 481) Der Heterotopia-Begriff von Sousa Santos ist also durchaus +utopisch* – im Gegensatz zu Foucault, der Heteropopien als reale soziale Orte, als +Gegenplatzierungen* und +Widerlager* innerhalb des sozialen Raumes begreift (vgl. Andere Räume; S. 68ff.). 3. In diesem negativ-dekonstruktiven Sinn waren die frühneuzeitlichen utopischen Entwürfe eines Morus oder Campanella also keine U-topien, sondern eher (utopische) Wunsch- und Traumbilder (siehe auch unten, Bloch). 4. Dieser utopische Charakter der Kunstsphäre bleibt nach Fredric Jameson selbst in der Postmoderne erhalten, die doch eigentlich eine radikale Absage an das utopische Denken impliziert, indem auf den ideologischen Charakter des Utopischen hingewiesen wird. Denn gerade +in einer Zeit, in der unser Minimalkonsens gerade darin besteht, daß alles Ideologie ist […], scheint dies auch nicht länger ein erschreckendes Eingeständnis zu sein.* (Postmoderne und Utopie; S. 108) Und so findet man – +nicht zuletzt unter den Künstlern und Schriftstellern – überall eine […] ›Utopie-Partei‹ […], eine Untergrundspartei, deren Mitgliederzahl schwer bestimmbar ist, deren Programm unerklärt und vielleicht sogar unformulierbar bleibt, deren Existenz der allgemeinen Bürgerschaft und den Behörden unbekannt ist, deren Mitglieder sich aber offensichtlich mit der Hilfe geheimer freimaurerischer Signale erkennen* (ebd.). 5. Bewußtsein wird also hier – ohne, wie Adorno, einen Vorrang des Objekts, sondern vielmehr einen Vorrang des Subjekts anzunehmen – als durchaus +körperliches*, jedoch in seiner erlebten Einzigartigkeit (Qualia-Aspekt) vom +äußeren Sein* zu unterscheidendes Phänomen aufgefaßt, und schon Nietzsche bemerkte schließlich: +›Ich‹ sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist […] dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich.* (Also sprach Zarathustra; S. 300 [Von den Verächter des Leibes]) 6. Auch im Denken von Adorno, Bloch und Castoriadis spielt natürlich das Subjekt eine wichtige Rolle für die (utopische) Überschreitung, und insbesondere zum Konzept Adornos besteht eine besonders große Nähe und Affinität: Mit seiner Herausstellung des Nichtidentischen in Verbindung mit dem Mimesis-Gedanken legte er meines Erachtens die Grundlagen für eine +subjektivistische* Ethik. Andererseits – und wie schon an anderer Stelle angemerkt (siehe auch nochmals Anmerkung 149, Kap. 5) – behauptet Adorno, der hier noch deutlich in der anti-idealistischen, materialistischen Tradition des Marxismus steht, einen Vorrang des (physischen) Objekts. Ich möchte im Gegensatz dazu jedoch explizit auf die radikale Subjektivität aller Wahrnehmungen und Empfindungen verweisen, die nicht objektivierbar sind (Qualia- Problematik), aber gleichzeitig auch das einzige darstellen, was für uns +greifbar* ist. Das Sein ist als Erfahrenes subjektiv. Zudem ist es ja ein wesentlicher Punkt in meiner Argumentation (siehe unten), daß ebendiese Empfindungen immer auch ambivalenten Charakter haben (womit ich natürlich indirekt an Bauman anschließe). Es kommt jedoch sogar noch ein weiterer Punkt hinzu, der sowohl für Adorno, wie auch für Bloch und Castoriadis gilt: Ihr Subjekt ist ein von vorne herein soziales Subjekt, d.h. +das Subjekt, von dem wir reden, ist […] nicht das abstrakte Moment der philosophischen Subjektivität, sondern das durch und durch von der Welt und den anderen geprägte wirkliche Subjekt* (Gesellschaft als imaginäre Institution; S. 181). Dies führt zu einer Sicht, die zwar die (sozialen) Deformationen des Subjekts aufzeigt. +Daher kann es in einem absoluten Sinne auch keine dem Subjekt ›eigene Wahrheit‹ geben. Die eigene Wahrheit des Subjekts ist immer Teilhabe an der Wahrheit, die es überschreitet, weil sie letztlich in der Gesellschaft und der Geschichte wurzelt […]* (Ebd.) Diese Einschätzung bietet aber meiner Meinung nach keinen +wirklichen* Ansatzpunkt für utopische Transzendenz, die sich – da sie ihrem Charakter nach eben genau nicht in der Faktizität des Sozialen liegen kann – aus dem singulären Subjekt speisen muß, das im reflexiven Bezug auf die anderen und

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152. Wie me<strong>in</strong>e Ausführungen im Text ergeben, handelt es sich, an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abbildung dargestellt, eigentlich<br />

um e<strong>in</strong>e vierdimensionales dialektisches Feld: 1. Die Ebene <strong>der</strong> Dialektik von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>; 2. Die Ebene<br />

<strong>der</strong> Dialektik von Reflexion und Deflexion; 3. Die Ebene <strong>der</strong> reflexiv-deflexiven Dialektik jeweils im Se<strong>in</strong>/Handeln<br />

(Praxis–Praxologie sich äußernd als Reflexivität) sowie im Bewußtse<strong>in</strong> (Theorie–Ideologie sich äußernd als Ambivalenz);<br />

4. Die Ebene <strong>der</strong> Dialektik von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Reflexion (Theorie–Praxis ersche<strong>in</strong>end als<br />

Dynamisierung) sowie auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Deflexion (Ideologie–Praxologie ersche<strong>in</strong>end als Statik). Diese Vierdimensionalität<br />

ist jedoch (graphisch) schwer darstellbar und zudem, was die beiden letztgenannten Dimensionen betrifft, nur abgeleitet<br />

aus dem se<strong>in</strong>erseits (verschränkend) dialektischen Verhältnis <strong>der</strong> Dialektiken <strong>der</strong> beiden ersten Dimensionen.<br />

153. Bhaskar bemerkt hier: +[…] to exist is to be able to become, which is to possess the capacity for self-development,<br />

a capacity that can be fully realized only <strong>in</strong> a society founded on the pr<strong>in</strong>ciple of universal concretely s<strong>in</strong>gularized<br />

human autonomy <strong>in</strong> nature. This process is dialectic; and it is the pulse of freedom.* (S. 385)<br />

154. Wenn Mart<strong>in</strong> Lipset allerd<strong>in</strong>gs von e<strong>in</strong>em +Work<strong>in</strong>g-Class Authoritarianism* spricht (vgl. Political Man; Kap. IV),<br />

um zu zeigen, daß die <strong>Politik</strong> besser <strong>in</strong> den Händen <strong>der</strong> weniger autoritär e<strong>in</strong>gestellten (weil ohneh<strong>in</strong> an <strong>der</strong> Macht<br />

partizipierenden) sozialen Eliten aufgehoben ist und man <strong>in</strong> die Arbeitklasse kaum berechtigte Hoffnungen auf positive<br />

Wandlungsimpulse setzen kann, wie es selbst kritische Neomarxisten wie George Lukács noch taten, so verdeckt<br />

Lipset damit genau den ideologisch-praxologischen Konformierungsapparat, <strong>der</strong> zu diesen autoritären E<strong>in</strong>stellungen<br />

geführt hat.<br />

155. Gurvitch entwickelt hier e<strong>in</strong> dreifaches Verständnis von Dialektik: 1. Dialektik als reale (soziale) Bewegung; 2.<br />

Dialektik als ihrerseits bewegte, nicht fixierbare Methode <strong>der</strong> (dekonstruktiven) Spiegelung <strong>der</strong> dialektischen Bewegung<br />

des Sozialen; 3. Dialektik als (selbst dialektisches) Verhältnis von sozialer Realität zu theoretischer Spiegelung (vgl.<br />

Dialektik und Soziologie; S. 218ff.) Dies führt Gurvitch zu e<strong>in</strong>em empirisch-realistischen Dialektikverständnis (ähnlich<br />

zu Bhaskar, siehe oben), d.h. Dialektik reflektiert immer wie<strong>der</strong> neu die +unendlich variierte[n] Erfahrungen, <strong>der</strong>en<br />

Bezugsgrundlagen unablässig erneuert werden* (ebd.; S. 224).

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