Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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LVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE vor dem +Beginn einer Epoche der Hyperrealität* (Das Andere selbst; S. 14). Das heißt aber auch: +Der Körper als [realer] Schauplatz, die Landschaft als [realer] Schauplatz, die Zeit als [realer] Schauplatz verschwinden mehr und mehr.* (Ebd.; S. 16) Baudrillard gelangt in dieser Perspektive zu einer sehr pessimistischen Einschätzung der postindustriellen, posthistorischen Gegenwart: +Die Transzendenz ist in Tausende von Fragmenten zerborsten, die wie die Bruchstücke eines Spiegels sind, in denen wir flüchtig noch unser Spiegelbild greifen können, bevor es vollends verschwindet […] In demselben Sinn können wir heute von einem fraktalen Subjekt sprechen, das in eine Vielzahl von winzigen gleichartigen Egos zerfällt […]* (Videowelt und fraktales Subjekt; S. 113) Mit diesem Bild eines fraktalen Subjekts, das starke Ähnlichkeiten mit der eingangs zitierten Passage aus Montaignes Essay +Über die Unbeständigkeit der menschlichen Handlungen* aufweist, scheint der Kreis geschlossen, dessen Bogen von der (früh)neuzeitlichen Moderne bis zur nachindustriellen (Post-)Moderne gespannt wurde. Doch in der Überschrift zu diesem Unter- abschnitt wurde eine Frage aufgeworfen, die bisher nur unbefriedigend beantwortet wurde: Weitergehende Modernisierung, Postmoderne, Posthistoire, postindustrielle Gesellschaft oder Spätkapitalismus? – Bevor diese allerdings auf der Grundlage der dargestellten Ansätze weiter diskutiert werden kann, steht es noch aus, das Konzept des Spätkapitalismus darzulegen und in bezug zur Postmoderne-Diskussion zu bringen. In der Bundesrepublik verbinden sich mit dem verstärkt Anfang der 70er Jahre propagierten Begriff +Spätkapitalismus* in erster Linie zwei Namen: Claus Offe und Jürgen Habermas. Offe macht klar (obwohl gewisse Parallelen speziell zu Touraine durchaus festzustellen sind), daß die Rede vom Spätkapitalismus eine Zurückweisung alternativer Typisierungen +hochindu- strialisierter ›westlicher‹ Gesellschaftssysteme* impliziert. Das schließt für ihn auch Begriffe wie +postindustrial society* und +post-modern society* mit ein (vgl. Strukturprobleme des kapi- talistischen Staates; S. 7f.). Denn nur in der Bezeichnung +Spätkapitalismus* ist nach ihm adäquat ausgedrückt, daß trotz der unterschiedlichen Erscheinungsformen des Kapitalismus in seinen einzelnen Entwicklungsphasen dem System doch eine identische Bewegungslogik zugrunde liegt, nämlich die (in der Gegenwart durch ihre Latenz nur unsichtbar gewordene)

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LVII Kontinuität des Widerspruchs von Arbeit und Kapital. Dieser Kontinuität stehen auch die umfang- reichen strukturellen Veränderungen nicht entgegen, die in der Tat stattgefunden haben, sondern diese sind vielmehr der Ausdruck der fortbestehenden Dominanz der kapitalistischen Entwick- lungslogik: Vor allem sei ein Bestreben auszumachen, durch Marktorganisation und staatliche Globalregelungen (im Rahmen von Konzepten wie +planification* oder +mixed economy*) jene durch die inhärenten Widersprüche des Kapitalismus erzeugten Krisentendenzen politisch aufzufangen (vgl. ebd.; S. 18–25). Ganz ähnlich argumentiert Jürgen Habermas: Die Widersprüche des Marktes zwangen zur Intervention des Staates, um das System stabil zu halten (vgl. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus; S. 50f.). Der Grundwiderspruch des kapitalistischen Systems konnte so zwar zeitweilig überdeckt, jedoch nicht gelöst werden. Dieser Grundwiderspruch führt dazu, +daß […] entweder • das ökonomische System das erforderliche Maß an konsumierbaren Waren nicht erzeugt [ökonomische Krise], oder • das administrative System das erforderliche Maß an rationalen Entscheidungen nicht her- vorbringt [Rationalitätskrise], oder • das legitimatorische System das erforderliche Maß an generalisierten Motivationen nicht beschafft [Legitimationskrise], oder • das soziokulturelle System das erforderliche Maß an handlungsmotivierendem Sinn nicht generiert [Motivationskrise].* (Ebd.; S. 72) Während im spätkapitalistischen Staat gemäß Habermas ökonomische und Rationalitätskrisen (die zu einer Systemkrise führen) weniger relevant sind, treten umso mehr Legitimations- und Motivationskrisen in den Vordergrund (vgl. ebd.; 128ff.). Diese Identitätskrisen eröffnen die vage Möglichkeit für ein historisch neues Organisationsprinzip in einer +Postmoderne*, die von Habermas damals (1972) noch eher positiv als Ablösung der hochkulturellen Entwick- lungsstufe der Menschheit verstanden wird (vgl. ebd.; S. 30f.). 114 Wenn allerdings in der Gegenwart von den Zusammenhängen zwischen Postmoderne und Spätkapitalismus die Rede ist, so sind weniger Offe oder Habermas die Bezugspunkte des Diskurses, als vielmehr die Ausführungen des Literaturwissenschaftlers und Leiters des +Center

LVI POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

vor dem +Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Epoche <strong>der</strong> Hyperrealität* (Das An<strong>der</strong>e selbst; S. 14). Das heißt aber<br />

auch:<br />

+Der Körper als [realer] Schauplatz, die Landschaft als [realer] Schauplatz, die Zeit als [realer] Schauplatz<br />

verschw<strong>in</strong>den mehr und mehr.* (Ebd.; S. 16)<br />

Baudrillard gelangt <strong>in</strong> dieser Perspektive zu e<strong>in</strong>er sehr pessimistischen E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong><br />

post<strong>in</strong>dustriellen, posthistorischen Gegenwart:<br />

+Die Transzendenz ist <strong>in</strong> Tausende von Fragmenten zerborsten, die wie die Bruchstücke e<strong>in</strong>es Spiegels<br />

s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> denen wir flüchtig noch unser Spiegelbild greifen können, bevor es vollends verschw<strong>in</strong>det<br />

[…] In demselben S<strong>in</strong>n können wir heute von e<strong>in</strong>em fraktalen Subjekt sprechen, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />

von w<strong>in</strong>zigen gleichartigen Egos zerfällt […]* (Videowelt und fraktales Subjekt; S. 113)<br />

Mit diesem Bild e<strong>in</strong>es fraktalen Subjekts, das starke Ähnlichkeiten mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gangs zitierten<br />

Passage aus Montaignes Essay +Über die Unbeständigkeit <strong>der</strong> menschlichen Handlungen* aufweist,<br />

sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Kreis geschlossen, dessen Bogen von <strong>der</strong> (früh)neuzeitlichen Mo<strong>der</strong>ne bis zur<br />

nach<strong>in</strong>dustriellen (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne gespannt wurde. Doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Überschrift zu diesem Unter-<br />

abschnitt wurde e<strong>in</strong>e Frage aufgeworfen, die bisher nur unbefriedigend beantwortet wurde:<br />

Weitergehende Mo<strong>der</strong>nisierung, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, <strong>Post</strong>histoire, post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft o<strong>der</strong><br />

Spätkapitalismus? – Bevor diese allerd<strong>in</strong>gs auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> dargestellten Ansätze weiter<br />

diskutiert werden kann, steht es noch aus, das Konzept des Spätkapitalismus darzulegen und<br />

<strong>in</strong> bezug zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskussion zu br<strong>in</strong>gen.<br />

In <strong>der</strong> Bundesrepublik verb<strong>in</strong>den sich mit dem verstärkt Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre propagierten<br />

Begriff +Spätkapitalismus* <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie zwei Namen: Claus Offe und Jürgen Habermas. Offe<br />

macht klar (obwohl gewisse Parallelen speziell zu Toura<strong>in</strong>e durchaus festzustellen s<strong>in</strong>d), daß<br />

die Rede vom Spätkapitalismus e<strong>in</strong>e Zurückweisung alternativer Typisierungen +hoch<strong>in</strong>du-<br />

strialisierter ›westlicher‹ Gesellschaftssysteme* impliziert. Das schließt für ihn auch Begriffe<br />

wie +post<strong>in</strong>dustrial society* und +post-mo<strong>der</strong>n society* mit e<strong>in</strong> (vgl. Strukturprobleme des kapi-<br />

talistischen Staates; S. 7f.). Denn nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bezeichnung +Spätkapitalismus* ist nach ihm<br />

adäquat ausgedrückt, daß trotz <strong>der</strong> unterschiedlichen Ersche<strong>in</strong>ungsformen des Kapitalismus<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Entwicklungsphasen dem System doch e<strong>in</strong>e identische Bewegungslogik<br />

zugrunde liegt, nämlich die (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart durch ihre Latenz nur unsichtbar gewordene)

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