Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal
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LIV POLITIK IN DER (POST-)MODERNE ordnen will. Geradezu konträr zu dieser Position Touraines steht Daniel Bells Ansatz. Dieser bestimmt die Konturen der nachindustriellen Gesellschaft zunächst in Abgrenzung zum klassischen industriellen Kapitalismus, der auf dem Privateigentum als Grundkategorie beruhte. Die nachindustrielle Gesellschaft steht jedoch auf einem anderen Fundament: +Das Konzept der ›nachindustriellen Gesellschaft‹ betont die zentrale Stellung des theoretischen Wissens als Achse, um die sich die neue Technologie, das Wirtschaftswachstum und die Schichtung der Gesell- schaft organisieren werden.* (Die nachindustrielle Gesellschaft; S. 112f.) Konzentrierte sich die vorindustrielle Gesellschaft auf den primären Sektor (d.h. die Bereiche Bergbau, Fischerei, Forst- und Landwirtschaft dominierten nahezu ausschließlich das Wirt- schaftsgeschehen), so trat in der Phase der industriellen Gesellschaft die Güterproduktion (sekundärer Sektor) in den Vordergrund. Postindustrielle Gesellschaften sind dagegen Dienstlei- 109 stungsgesellschaften, d.h. der tertiäre Sektor nimmt den größten Raum ein. Diese Tendenz zur Dominanz des tertiären Sektors versucht Bell mit einer Fülle von Zahlenmaterial (bezogen 110 auf das Beispiel der USA) zu belegen. Er führt dabei aus, daß sich nicht nur die sektorale Verteilung der Arbeitsplätze gewandelt hat, sondern auch Änderungen der Berufsmuster auszumachen sind, und kommt zu dem Schluß: +Die Vereinigten Staaten haben sich zu einer Gesellschaft von Kopfarbeitern entwickelt* (ebd.; S. 142). 111 Entsprechend konstatiert Bell auch eine neue Klassenstruktur in der von ihm beschworenen postindustriellen Wissensgesellschaft. Denn die Dimension des Wissen wird immer bedeutender auch für die soziale Hierarchie. Nicht alles Wissen ist jedoch gleich relevant. Was zählt, ist vor allem theoretisches und technologisch verwertbares +know how*. Bell prognostiziert deshalb (in Absetzung zu Platon) eine wissensbasierte Drei-Klassengesellschaft: +In Plato[n]s Staat war nur eine Klasse im Besitz des Wissens, die Philosophen, während sich die übrigen Bürger in die Krieger (Wächter) und die Handwerker aufgliederten. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Zukunft dagegen wird es […] drei [Wissens-]Klassen geben: die schöpferische Elite der Wissenschaftler und akademisch geschulten Spitzenbeamten […]; die Mittelklasse der Ingenieure und Professoren; und das Proletariat der Techniker, des akademischen Mittelbaus und der Assistenten.* (Ebd.; 220) Diese neue Klassenformierung hat auch Auswirkungen auf das politische System. Denn laut Bell wird in der nachindustriellen Gesellschaft technisches Können die Grundlage und Bildung
ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LV den Zugang zu Macht liefern (vgl. ebd.; S. 258). Entgegen Veblen, der eine technokratische Revolution voraussagte (vgl. The Engineers and the Price System), konstatiert Bell jedoch: +Letzendlich hält nicht der Technokrat, sondern der Politiker die Macht in Händen* (Die nachindustrielle Gesellschaft; S. 260). Dabei soll allgemein ein meritokratisches Prinzip gelten, das aber, wie Bell zugesteht, mit egalitären Gerechtigkeitsvorstellungen in Konflikt geraten kann (vgl. ebd.; S. 338ff.). Ein anderes grundsätzliches Dilemma der nachindustriellen Gesell- schaft ist die sich tendenziell vertiefende Kluft zwischen Kultur (die im Kapitalismus auf Konsum beruht) und Sozialstruktur (die im Gegensatz dazu auf dem Leistungsprinzip aufbaut) (vgl. ebd.; S. 363ff.). 112 In diesem Konzept der nachindustriellen Gesellschaft Bells lassen sich noch (Struktur-)Elemente der +klassischen* Industriegesellschaft erkennen. Denn auch, wenn Dienstleistungen den größten Anteil ausmachen und Wissen immer zentraler wird: Streng genommen bleibt der Pro- duktionssektor der (wenn auch geschrumpfte) eigentliche Kernbereich – weil schließlich nur weitere Rationalisierungsmaßnahmen innerhalb der Güter-Produktion die Ausweitung des wissensbasierten Dienstleistungssektors erlauben (bzw. erzwingen). Die Gesellschaft hat bei Bell also selbst in ihrem postindustriellen (ökonomischen) Entwicklungsstadium noch eine materielle Basis. Den Rahmen des Materiellen hat die Gesellschaft und Ökonomie der Gegenwart dagegen 113 für Jean Baudrillard bereits gesprengt: Nach ihm leben wir in einem (posthistorischen) Zeitalter des Simulakrums, in dem +das Reale und das Imaginäre zu einer gemeinsamen operationalen Totalität verschmolzen sind* (Die Simulation; S. 161). +Die Digitalität ist sein metaphysisches Prinzip […] und die DNS ist sein Prophet* (ebd.; S. 153). Umfangreiche Manipulationsmöglich- keiten durch Computertechnologie, Medien und Gentechnik haben nämlich die Unterscheidung zwischen Simulation und Wirklichkeit (angeblich) unmöglich gemacht, und so stellt Baudrillard (wie immer grandios übertreibend) fest: +Bin ich nun Mensch, oder bin ich Maschine? Es gibt heute keine Antwort mehr auf diese Frage […]* (Videowelt und fraktales Subjekt; S.125) Die +Agonie des Realen* (so der Titel einer anderen Schrift Baudrillards) führt jedoch nicht zu seiner Auslöschung, denn das Reale wird durch die Simulation nur gleichsam verdoppelt: +Die Realität geht im Hyperrealismus unter* (Die Simulation; S. 156), und wir stehen somit
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den Zugang zu Macht liefern (vgl. ebd.; S. 258). Entgegen Veblen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e technokratische<br />
Revolution voraussagte (vgl. The Eng<strong>in</strong>eers and the Price System), konstatiert Bell jedoch:<br />
+Letzendlich hält nicht <strong>der</strong> Technokrat, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er die Macht <strong>in</strong> Händen* (Die<br />
nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft; S. 260). Dabei soll allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong> meritokratisches Pr<strong>in</strong>zip gelten,<br />
das aber, wie Bell zugesteht, mit egalitären Gerechtigkeitsvorstellungen <strong>in</strong> Konflikt geraten<br />
kann (vgl. ebd.; S. 338ff.). E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es grundsätzliches Dilemma <strong>der</strong> nach<strong>in</strong>dustriellen Gesell-<br />
schaft ist die sich tendenziell vertiefende Kluft zwischen Kultur (die im Kapitalismus auf Konsum<br />
beruht) und Sozialstruktur (die im Gegensatz dazu auf dem Leistungspr<strong>in</strong>zip aufbaut) (vgl.<br />
ebd.; S. 363ff.). 112<br />
In diesem Konzept <strong>der</strong> nach<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft Bells lassen sich noch (Struktur-)Elemente<br />
<strong>der</strong> +klassischen* Industriegesellschaft erkennen. Denn auch, wenn Dienstleistungen den größten<br />
Anteil ausmachen und Wissen immer zentraler wird: Streng genommen bleibt <strong>der</strong> Pro-<br />
duktionssektor <strong>der</strong> (wenn auch geschrumpfte) eigentliche Kernbereich – weil schließlich nur<br />
weitere Rationalisierungsmaßnahmen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Güter-Produktion die Ausweitung des<br />
wissensbasierten Dienstleistungssektors erlauben (bzw. erzw<strong>in</strong>gen). Die Gesellschaft hat bei<br />
Bell also selbst <strong>in</strong> ihrem post<strong>in</strong>dustriellen (ökonomischen) Entwicklungsstadium noch e<strong>in</strong>e<br />
materielle Basis.<br />
Den Rahmen des Materiellen hat die Gesellschaft und Ökonomie <strong>der</strong> Gegenwart dagegen<br />
113<br />
für Jean Baudrillard bereits gesprengt: Nach ihm leben wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em (posthistorischen) Zeitalter<br />
des Simulakrums, <strong>in</strong> dem +das Reale und das Imag<strong>in</strong>äre zu e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen operationalen<br />
Totalität verschmolzen s<strong>in</strong>d* (Die Simulation; S. 161). +Die Digitalität ist se<strong>in</strong> metaphysisches<br />
Pr<strong>in</strong>zip […] und die DNS ist se<strong>in</strong> Prophet* (ebd.; S. 153). Umfangreiche Manipulationsmöglich-<br />
keiten durch Computertechnologie, Medien und Gentechnik haben nämlich die Unterscheidung<br />
zwischen Simulation und Wirklichkeit (angeblich) unmöglich gemacht, und so stellt Baudrillard<br />
(wie immer grandios übertreibend) fest:<br />
+B<strong>in</strong> ich nun Mensch, o<strong>der</strong> b<strong>in</strong> ich Masch<strong>in</strong>e? Es gibt heute ke<strong>in</strong>e Antwort mehr auf diese Frage […]*<br />
(Videowelt und fraktales Subjekt; S.125)<br />
Die +Agonie des Realen* (so <strong>der</strong> Titel e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Schrift Baudrillards) führt jedoch nicht<br />
zu se<strong>in</strong>er Auslöschung, denn das Reale wird durch die Simulation nur gleichsam verdoppelt:<br />
+Die Realität geht im Hyperrealismus unter* (Die Simulation; S. 156), und wir stehen somit