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Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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32 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

146. Giddens sieht natürlich, daß beide Bewegungen auch deutliche Elemente emanzipatorischer <strong>Politik</strong> be<strong>in</strong>halten<br />

(vgl. Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity; S. 215f.). Mit den Begriffen +Freiheit von* und +Freiheit zu* habe ich mich allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht auf Giddens bezogen, son<strong>der</strong>n auf Fromm (vgl. Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit; S. 30ff.). Fromm me<strong>in</strong>t, daß beide<br />

Aspekte <strong>der</strong> Freiheit bereits im philosophischen Denken <strong>der</strong> Neuzeit wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> theologischen Lehre <strong>der</strong> Reformation<br />

<strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verwoben waren (vgl. ebd.; S. 93) und sieht ganz an<strong>der</strong>s als Giddens, daß +mit <strong>der</strong> zunehmenden Entwicklung<br />

des Monopolkapitalismus <strong>in</strong> den letzten Jahrzenten […] sich die Gewichtverteilung <strong>der</strong> beiden Tendenzen zur<br />

menschlichen Freiheit verän<strong>der</strong>t zu haben [sche<strong>in</strong>t]. Jene Faktoren, die dazu tendieren, das <strong>in</strong>dividuelle Selbst zu<br />

schwächen, haben größeres Gewicht gewonnen* (ebd.; S. 94). Deshalb konstatiert Fromm nicht nur e<strong>in</strong>e Furcht,<br />

son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e Flucht vor <strong>der</strong> Freiheit (ebd.; S. 33).<br />

147. Genau um dieses Problem dreht sich <strong>der</strong> 1994 erschienene Band +Beyond Left and Right*. Hier untersucht Giddens<br />

die Möglichkeiten für e<strong>in</strong>e Revitalisierung +radikaler*, d.h. – so möchte ich es zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>terpretieren – das Potential<br />

für e<strong>in</strong>e ges<strong>in</strong>nungs- und verantwortungsethische <strong>Politik</strong>, die für ihn <strong>in</strong> unseren Zeiten des radikalen Wandels geradezu<br />

e<strong>in</strong>e Notwendigkeit darstellt. Allerd<strong>in</strong>gs liegt +Die Zukunft radikaler <strong>Politik</strong>* (so <strong>der</strong> Untertitel) eben +Jenseits von Rechts<br />

und L<strong>in</strong>ks*. Denn nachdem <strong>der</strong> (real existierende) Sozialismus offensichtlich historisch gescheitert ist, steckt die L<strong>in</strong>ke<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Identitätskrise und konzentriert sich im wesentlichen auf die Erhaltung des Wohlfahrtsstaats. Dieser gerät<br />

immer mehr unter Druck, auch da die Konservativen sich zum (ökonomischen) Liberalismus haben bekehren lassen.<br />

Wir f<strong>in</strong>den uns also vor die paradoxe Situation gestellt, daß die L<strong>in</strong>ke zu e<strong>in</strong>er konservativen Kraft geworden ist, während<br />

die Rechte hilft, das (ökonomische) Schwungrad des (sozialen) Wandels <strong>in</strong> Gang zu halten. Und dieses dreht sich<br />

mit voller Wucht, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zunehmenden Globalisierung (die auch das Alltagsleben erfaßt), <strong>der</strong> (u.a. daher<br />

rührenden) immer weiteren Auflösung traditionaler Lebenszusammenhänge und e<strong>in</strong>er durch menschliche E<strong>in</strong>griffe<br />

<strong>in</strong> die Natur sowie das Sozialleben hergestellten Unsicherheit äußert. E<strong>in</strong>e radikale <strong>Politik</strong>, die diese Prozesse (positiv)<br />

reflektiert (und nicht <strong>in</strong> Fundamentalismus abdriftet), müßte die beschädigten Solidaritäten (durch aktives Vertrauen)<br />

wie<strong>der</strong> herzustellen trachten, die lebens(weltliche) <strong>Politik</strong> ernst nehmen, e<strong>in</strong>e (zukunfts- und geme<strong>in</strong>wohlorientierte)<br />

+generative <strong>Politik</strong>* betreiben, auf dialogischer Demokratie gründen, den Wohlfahrtstaat auf e<strong>in</strong>e neue Basis stellen<br />

und nicht zuletzt Gewalt durch das +Gespräch* ersetzen. Die Verwirklichung e<strong>in</strong>es solchen Programms muß natürlich<br />

all jenen als unmöglich und anachronistisch ersche<strong>in</strong>en, die die These e<strong>in</strong>er (postmo<strong>der</strong>nen) Wertepluralisierung vertreten<br />

und für die wertebasierte Entscheidungen allgeme<strong>in</strong> unter Verdacht geraten s<strong>in</strong>d (siehe dazu auch S. 60ff.). Doch<br />

gerade durch die Globalisierung (siehe zum Begriff und zu ihren ökonomisch-politischen Aspekten Abschnitt 2.1)<br />

entsteht heute erstmals so etwas wie e<strong>in</strong>e tatsächliche Werteuniversalisierung (wie sich z.B. an <strong>der</strong> Menschenrechtsbewegung<br />

zeigt), so daß für Giddens e<strong>in</strong> guter Grund zur Hoffnung besteht.<br />

148. Lyotard hat übrigens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schrift aus dem Jahr 1977 bereits ganz ähnliche Thesen wie Beck und Giddens<br />

formuliert (siehe auch Abschnitt 5.2.1). Die Fixierung auf die Institutionen und Akteure des (politischen) Zentrums<br />

und die großen sozialen Bewegungen ersche<strong>in</strong>t ihm ungenügend, denn sie verwischt, +was im täglichen Leben <strong>der</strong><br />

›Kle<strong>in</strong>en‹ <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>em o<strong>der</strong> gar mikroskopischem Maßstab fortwährend geschieht […] milliardenmal haben Frauen am<br />

Herd um Kle<strong>in</strong>igkeiten gestritten – lange vor <strong>der</strong> Frauenbewegung […] Millionen von Gesten, Signalen, gekritzelten<br />

Botschaften […] haben die Homosexuellen erfunden, um sich an halböffentlichen Orten treffen und erkennen zu<br />

können – lange vor <strong>der</strong> Homosexuellenbewegung; Milliarden von F<strong>in</strong>ten und Kniffen von Arbeitern <strong>in</strong> den Werkhallen<br />

und Büros – lauter Unfe<strong>in</strong>heiten, die sich erst als For<strong>der</strong>ungen, über die man verhandeln kann, verkleiden müssen,<br />

bevor sie <strong>in</strong> den Diskurs <strong>der</strong> Gewerkschaften E<strong>in</strong>laß f<strong>in</strong>den können.* (Das Patchwork <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten; S. 9). Diese<br />

Wi<strong>der</strong>ständigkeit <strong>der</strong> M<strong>in</strong>oritäten ist weit +effektiver* als die herkömmliche Kritik, die zwangsläufig <strong>in</strong> ihrem kritischen<br />

Bemühen entwe<strong>der</strong> selbst die Macht ergreift o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Macht vere<strong>in</strong>nahmt wird – und damit als Kritik stirbt (vgl.<br />

ebd.; S. 7). Zudem entspricht die Mikropolitik <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die großen E<strong>in</strong>heiten sich auflösen:<br />

+Was sich abzeichnet ist e<strong>in</strong>e (noch zu def<strong>in</strong>ierende) Gruppe von heteronomen Räumen, e<strong>in</strong> großes Patchwork aus<br />

lauter m<strong>in</strong>oritären S<strong>in</strong>gularitäten […] Diese Bewegung <strong>der</strong> Zersplitterung betrifft nicht nur die Nationen, son<strong>der</strong>n<br />

auch die Gesellschaften: wichtige neue Gruppierungen treten auf, die <strong>in</strong> den offiziellen Registern bisher nicht geführt<br />

wurden: Frauen, Homosexuelle, Geschiedene, Prostitutierte, Enteignete, Gastarbeiter…* (Ebd.; S. 38)<br />

149. Ebenfalls vier, doch unterschiedliche Charakteristika nennt Frank Fechner, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wenigen bisher (<strong>in</strong> deutscher<br />

Sprache) erschienenen Monographien zum Thema +<strong>Politik</strong> und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (1990) verfaßt hat: 1. Anerkennung<br />

radikaler Pluralität, 2. Dezentralisierung und Regionalisierung, 3. Reflexive Verwissenschaftlichung, 4. Aufwertung<br />

von M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten (vgl. S. 99–110). Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d (neben <strong>der</strong> Anlehnung an Beck mit Punkt 3) die Überschneidungen<br />

mit Beyme allzu deutlich. Dieser konstatiert <strong>in</strong> dem Band +Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t* (1989) drei typische<br />

Merkmale postmo<strong>der</strong>ner politischer Theorie: 1. +Kampf gegen die Technokratie*, 2. +Radikalisierung des Pluralismus*<br />

und 3. +Skepsis gegenüber <strong>der</strong> Mehrheit*. In <strong>der</strong> Auflage von 1992 nennt Beyme, <strong>der</strong> dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus eher<br />

kritisch gegenübersteht, schließlich weitere drei Punkte: +Entsubstanzialisierung <strong>der</strong> Macht*, +Ende <strong>der</strong> Revolutionstheorie*<br />

und +Ende <strong>der</strong> Legitimationstheorie* (vgl. Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 187).

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