Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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LII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE ist nämlich der Glaube an den Fortschritt historisch geworden: Die +Verve verrückter Utopien* ist passé(e) (vgl. S. 119). Und in einer anderen Schrift bekennt er: +Ich exponiere mich also mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir im Posthistoire angekommen sind.* (Über kulturelle Kristallisation; S. 323) Gehlen legt in diesem bekannten Aufsatz dar, daß es zu einer Stabilisierung der modernen Kultur gekommen sei, die deren Grundsätze irreversibel festschreibt. Und wie Lyotard glaubt auch Gehlen – allerdings gestützt auf eine beinahe konträre, +positivistische* Argumentation – an das Ende der großen Metaerzählungen: +Das Ende der Philosophie im Sinne der Schlüsselattitüde kann an Bedeutung schwer überschätzt werden […] Es ist aber auch eine von übersteigerten Einzelwissenschaften ausgehende Ersatzreligion […] nicht mehr real möglich. Jede seriöse Wissenschaft ist so weit in ein Geäst von Einzelfragestellungen auseinandergegangen, daß sie sich gegen die Zumutung einer Allkompetenz aufs entschiedenste wehren würde, sie hätte dann nämlich überhaupt keine Sprache.* (Ebd.; S. 316) Für Gehlen ist also die Vorstellung einer Posthistoire an die unauflösliche Faktizität, an die historische (In-)Transzendenz der industriegesellschaftlichen Realität und ihres empiristischen Wissenschaftsprogramms gebunden. Doch schon als Gehlen diese These aufstellte, sprachen andere längst von der postindustriellen Gesellschaft (vgl. z.B. Riesman: Leisure and Work 105 in Post-Industrial Society). Wirklich Populär wurde die Rede von der postindustriellen Gesell- schaft aber erst in den 70er Jahren durch das Erscheinen und die Rezeption von zwei Büchern: 106 +Die postindustrielle Gesellschaft* (1969) von Alain Touraine und vor allem Daniel Bells vielbeachtete Schrift über +Die nachindustrielle Gesellschaft* (1973). 107 Touraines Ansatz ist kritisch und neomarxistisch geprägt. Er begreift die für ihn real gewordene postindustrielle Gesellschaft als programmierte wie technokratische Gesellschaft, und zunächst einmal stellt er – vor allem in Abgrenzung zu Riesman – klar: +Es soll in der Tat nicht gesagt werden, daß eine postindustrielle Gesellschaft eine solche ist, die, sobald sie ein bestimmtes Niveau der Produktivität […] erreicht hat, sich der ausschließlichen Sorge um die Produktion entheben kann, um eine Konsum- und Freizeitgesellschaft zu werden* (S. 9) Vielmehr sind postindustrielle Gesellschaften dadurch gekennzeichnet, daß das wirtschaftliche Wachstum +mehr durch einen politischen Prozeß als durch wirtschaftliche Mechanismen

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LIII bestimmt* ist (ebd.; S. 10), und eine jegliche Kritik absorbierende, umfassende kulturelle Manipulation stattfindet: +Unsere Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Entfremdung nicht, weil sie die Menschen ins Elend stößt […], sondern weil sie verführt, manipuliert, integriert.* (Ebd.; S. 13) Im politischen Bereich bedeutet dies, daß es zu einer +abhängigen Partizipation* kommt (vgl. ebd.). Allerdings glaubt Touraine, daß die neue Generation – es ist die Zeit der Studentenbewe- gung – sich der sozialen Manipulation entziehen können wird: +Die Jugend […] [tritt] in den Kampf ein, […] weil sie ihr ›Privatleben‹ einer Pseudo-Rationalität ent- gegenhalten[!], hinter der die herrschenden Kräfte Schutz suchen.* (Ebd.; S. 15) 108 Das bedeutet für Tourraine, der hier ganz in der Tradition einer fortschrittsgläubigen Linken steht, jedoch nicht das Ende allen Fortschritts- und Wachstumsdenkens: +Die Gesellschaft, die lange Zeit in der Zufriedenheit über ihren materiellen Erfolg erstarrt war, verwirft nicht den technischen Fortschritt und das wirtschaftliche Wachstum, sondern die Tatsache, daß sie einer Macht unterliegt, die sich für […] rational ausgibt […]* (Ebd.) Nicht mehr alleine der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, sondern immer mehr der Konflikt zwischen der außerparlamentarischen Opposition der neuen sozialen Bewegungen und der Techno-Bürokratie tritt ins Zentrum der sgesellschaftlichen Auseinandersetzungen (vgl. ebd., S. 23ff.). In diesem Zusammenhang ist interessant, daß bereits Touraine auf +das Verschwinden der alten kulturellen Grundlagen der Gesellschaftsklassen* hinweist (ebd.; S. 41) und gerade daraus neue gesellschaftliche Konfliktlinien erwachsen sieht: +Alle diese Konflikte sind von gleicher Natur. Sie schaffen einen Gegensatz zwischen [technokratischen wie bürokratischen] Führern, die von dem Willen geleitet werden, die Produktion zu erhöhen, sich den Forderungen der Effektivität anzupassen und den Geboten der Macht zu gehorchen, und Individuen, welche nicht so sehr Arbeiter sind, die ihren Lohn verteidigen, als vielmehr Personen und Gruppen, die sich bemühen, den Sinn ihres persönlichen Lebens aufrecht zu erhalten.* (Ebd.; S. 66) Für Touraine ist also die neue technokratisch-bürokratische Elite der postindustriellen Gesellschaft Gegner im Kampf für ein Leben, das sich nicht der +hohlen Rationalität der Produktion* unter-

LII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ist nämlich <strong>der</strong> Glaube an den Fortschritt historisch geworden: Die +Verve verrückter Utopien*<br />

ist passé(e) (vgl. S. 119). Und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Schrift bekennt er:<br />

+Ich exponiere mich also mit <strong>der</strong> Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß<br />

wir im <strong>Post</strong>histoire angekommen s<strong>in</strong>d.* (Über kulturelle Kristallisation; S. 323)<br />

Gehlen legt <strong>in</strong> diesem bekannten Aufsatz dar, daß es zu e<strong>in</strong>er Stabilisierung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Kultur gekommen sei, die <strong>der</strong>en Grundsätze irreversibel festschreibt. Und wie Lyotard glaubt<br />

auch Gehlen – allerd<strong>in</strong>gs gestützt auf e<strong>in</strong>e be<strong>in</strong>ahe konträre, +positivistische* Argumentation<br />

– an das Ende <strong>der</strong> großen Metaerzählungen:<br />

+Das Ende <strong>der</strong> Philosophie im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Schlüsselattitüde kann an Bedeutung schwer überschätzt<br />

werden […] Es ist aber auch e<strong>in</strong>e von übersteigerten E<strong>in</strong>zelwissenschaften ausgehende Ersatzreligion<br />

[…] nicht mehr real möglich. Jede seriöse Wissenschaft ist so weit <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Geäst von E<strong>in</strong>zelfragestellungen<br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gegangen, daß sie sich gegen die Zumutung e<strong>in</strong>er Allkompetenz aufs entschiedenste wehren<br />

würde, sie hätte dann nämlich überhaupt ke<strong>in</strong>e Sprache.* (Ebd.; S. 316)<br />

Für Gehlen ist also die Vorstellung e<strong>in</strong>er <strong>Post</strong>histoire an die unauflösliche Faktizität, an die<br />

historische (In-)Transzendenz <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen Realität und ihres empiristischen<br />

Wissenschaftsprogramms gebunden. Doch schon als Gehlen diese These aufstellte, sprachen<br />

an<strong>der</strong>e längst von <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft (vgl. z.B. Riesman: Leisure and Work<br />

105<br />

<strong>in</strong> <strong>Post</strong>-Industrial Society). Wirklich Populär wurde die Rede von <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesell-<br />

schaft aber erst <strong>in</strong> den 70er Jahren durch das Ersche<strong>in</strong>en und die Rezeption von zwei Büchern:<br />

106<br />

+Die post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft* (1969) von Ala<strong>in</strong> Toura<strong>in</strong>e und vor allem Daniel Bells<br />

vielbeachtete Schrift über +Die nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft* (1973). 107<br />

Toura<strong>in</strong>es Ansatz ist kritisch und neomarxistisch geprägt. Er begreift die für ihn real gewordene<br />

post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft als programmierte wie technokratische Gesellschaft, und zunächst<br />

e<strong>in</strong>mal stellt er – vor allem <strong>in</strong> Abgrenzung zu Riesman – klar:<br />

+Es soll <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat nicht gesagt werden, daß e<strong>in</strong>e post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft e<strong>in</strong>e solche ist, die, sobald<br />

sie e<strong>in</strong> bestimmtes Niveau <strong>der</strong> Produktivität […] erreicht hat, sich <strong>der</strong> ausschließlichen Sorge um die<br />

Produktion entheben kann, um e<strong>in</strong>e Konsum- und Freizeitgesellschaft zu werden* (S. 9)<br />

Vielmehr s<strong>in</strong>d post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaften dadurch gekennzeichnet, daß das wirtschaftliche<br />

Wachstum +mehr durch e<strong>in</strong>en politischen Prozeß als durch wirtschaftliche Mechanismen

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