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Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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4 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?<br />

1. In ihrem Buch +Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität* (1973) konstatieren die drei Autoren Peter L. Berger, Brigitte<br />

Berger und Hansfried Kellner, die die mo<strong>der</strong>ne Welt aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Wissenssoziologie betrachten, e<strong>in</strong>e<br />

+Pluralisierung <strong>der</strong> sozialen Lebenswelten* – d.h. mo<strong>der</strong>ne Individuen erfahren ihre Umwelt als segmentiert, <strong>in</strong> verschiedene<br />

Bereiche getrennt. Dadurch ist die mo<strong>der</strong>ne Identität beson<strong>der</strong>s offen, differenziert, reflexiv und <strong>in</strong>dividuiert. An<strong>der</strong>erseits<br />

fühlen sich viele Menschen entwurzelt und verunsichert (vgl. S. 59–74). Dies führt zu e<strong>in</strong>er permanenten Identitätskrise<br />

und e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Heimatlosigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt stellt sich e<strong>in</strong>, weshalb <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> englischen Orig<strong>in</strong>alausgabe<br />

auch +The Homeless M<strong>in</strong>d* lautet.<br />

2. Erikson hat e<strong>in</strong> Entwicklungsmodell <strong>der</strong> Identität konzipiert, das den +Brennpunkt* <strong>der</strong> Identitätsbildung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Adoleszenz ansetzt. In dieser Lebensphase entscheidet es sich gemäß Erikson, ob man e<strong>in</strong>e kohärente Identität gew<strong>in</strong>nen<br />

kann, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fähigkeit ausdrückt, +e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>heitlichkeit und Kont<strong>in</strong>uität […] aufrechtzuerhalten* (Identität<br />

und Lebenszyklus; S. 107), o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Identitätsdiffusion e<strong>in</strong>tritt, <strong>der</strong>en Resultat +e<strong>in</strong>e Zersplitterung des Selbst-Bildes<br />

[…], e<strong>in</strong> Gefühl von Verwirrung und <strong>in</strong> schweren Fällen die Furcht vor völliger Auflösung* ist (ebd.; S. 154).<br />

3. Bei <strong>in</strong> den Text <strong>in</strong>tegrierten Zitaten (wie hier) nenne ich die Quelle nicht direkt im Anschluß, son<strong>der</strong>n so, daß es<br />

den Lesefluß nicht stört. Der von Keupp gebrauchte Begriff des Identitätszwangs geht ursprünglich übrigens auf Adorno<br />

zurück.<br />

4. So z.B. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz +Grundzüge e<strong>in</strong>er reflexiven Sozialpsychologie – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Perspektiven*, wo er für<br />

die +Wie<strong>der</strong>gew<strong>in</strong>nung kritischer Reflexivität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychologie* plädiert (S. 226) und damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung<br />

weist, wie ich sie hier anstrebe.<br />

5. In sehr prägnanten Worten bemerkt hierzu Claus Beyme: +Die Abgrenzung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird häufig dadurch verwirrt,<br />

daß die Entstehung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> <strong>der</strong> realen Geschichte und die Entstehung e<strong>in</strong>er Theorie dieser Mo<strong>der</strong>ne ständig<br />

vermischt werden […] Jede Wissenschaft neigte dazu, die Gesichtspunkte, welche ihr Forschungsfeld beherrschten,<br />

dem Begriff <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zugrundezulegen. In e<strong>in</strong>er wirtschaftszentrierten Forschung wurde die Mo<strong>der</strong>ne meist mit<br />

dem Kapitalismus gleichgesetzt. Später wurde die Industriegesellschaft als Folge des Kapitalismus mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />

identifiziert […] In kultur-zentrierten Forschungen wurden kulturelle Prozesse wie Säkularisierung, Ausbreitung <strong>der</strong><br />

rationalen Lebensführung und ›Entzauberung <strong>der</strong> Welt‹ als die wichtigsten Kennzeichen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne herausgestellt.*<br />

(Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 29)<br />

6. Das ist selbstverständlich e<strong>in</strong>e eher pragmatische Festschreibung als e<strong>in</strong>e durch konkrete historische Transformationen<br />

so e<strong>in</strong>deutig zu rechtfertigende Datierung. Zurück geht sie auf das um 1700 erschienene Werk +Historia Nova* von<br />

Christoph Cellarius, <strong>der</strong> zum ersten Mal die Epochen Altertum, Mittelalter und Neuzeit unterschied (vgl. Burkhardt:<br />

Frühe Neuzeit; S. 11f.). Allerd<strong>in</strong>gs gab es um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

bedeutenden Ereignissen, die diese Epochene<strong>in</strong>teilung zum<strong>in</strong>dest plausibel machen: 1492 erfolgte die (unbeabsichtigte)<br />

+Entdeckung* Amerikas durch Kolumbus, 1497/1498 gelang Vasco da Gama schließlich <strong>der</strong> Vorstoß nach Indien<br />

auf dem Seeweg, den sich auch Kolumbus erträumt hatte, und 1517 schlug Luther se<strong>in</strong>e Thesen an die Schloßkirche<br />

zu Wittenberg, womit die Reformation e<strong>in</strong>geläutet war (vgl. hierzu z.B. Mieck: Geschichte <strong>der</strong> Frühen Neuzeit; <strong>in</strong>sb.<br />

S. 12–74 u. S. 102–143).<br />

Die Neuzeit brach jedoch auch für viele Historiker ke<strong>in</strong>esfalls plötzlich über die Menschheit here<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> im<br />

16. Jahrhun<strong>der</strong>t sich schließlich dynamisierenden Entwicklung g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e lange Latenzzeit voraus. Romano und Tenenti<br />

setzen +Die Grundlegung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt* (1967) deshalb bereits Mitte des 14. Jahrhun<strong>der</strong>ts an, als es, ausgelöst<br />

durch die schwarze Pest, zu e<strong>in</strong>em verstärkten +Todesbewußtse<strong>in</strong>* kam, das – <strong>in</strong>dem es sich nicht <strong>in</strong> die christliche<br />

Vorstellungswelt <strong>in</strong>tegrieren ließ und die eigene Person <strong>in</strong>s Zentrum des Interesses rückte – den Individualismus <strong>der</strong><br />

Renaissance vorbereitete: +Gerade weil dieses Bewußtse<strong>in</strong> ausschließlich das eigene irdische Dase<strong>in</strong> betraf, war es<br />

nicht christlicher Natur und blieb dem System <strong>der</strong> üblichen Anschauungen fremd […] Im geheimsten W<strong>in</strong>kel <strong>der</strong><br />

eigenen Überzeugungen, wo das Dogma unwi<strong>der</strong>sprochen hätte herrschen sollen, dachte <strong>der</strong> Mensch nunmehr an<br />

sich selbst als Mensch und nicht nur als Christ.* (S. 119)<br />

7. Dieses häufig angeführte Zitat wird zumeist <strong>in</strong> <strong>der</strong> late<strong>in</strong>ischen Übersetzung (cogito ergo sum) angegeben. Orig<strong>in</strong>al<br />

steht es jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat <strong>in</strong> französisch und zwar auch nicht, wie häufig angenommen, <strong>in</strong> den +Meditationes* (1641),<br />

son<strong>der</strong>n im früheren +Discours de la méthode* (1637) (S. 54 [IV,3]).

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