Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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L POLITIK IN DER (POST-)MODERNE Verschlüsselungstechnologien auf verlorenen Posten stehen dürften (vgl. Borchers: Der Kampf um die Schlüsselgewalt). Doch trotz oder gerade wegen solcher (aktueller) Relativierungen ist Lyotards Argument relevant. Denn die zuvor skizzierte Entwicklung täuscht darüber hinweg, daß die Legitimationsbasis für ein Wissen, das eine derartige Vorherrschaft und Absolutheit beansprucht, sich in der Postmoderne auflöst, und +bei extremer Vereinfachung hält man [genau] die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen für ›postmodern‹* (Lyotard: Das postmoderne Wissen; S. 14). In der Moderne dominierten und determinierten nämlich noch drei solcher +Metaerzählungen* den sozialen Wissenshorizont: die Erzählung von der Dialektik des Geistes (im Idealismus), die Erzählung von der Hermeneutik des Sinns (im Historismus) und die Erzählung von der Emanzi- 97 pation des vernünftigen Subjekts (in der Aufklärung) (vgl. ebd.; S. 13). Das Wissen der Moderne war also narratives Wissen (vgl. ebd.; S. 63ff.), doch in der Postmoderne hat +die große Erzählung ihre Glaubwürdigkeit verloren* (ebd.; S. 112). Der Keim dieser +Delegitimierung* liegt darin, daß die Wissenschaft ihr eigenes, abgetrenntes Spiel spielt und die anderen +Sprachspiele*, aufgrund ihrer positivistischen Beschränkung, nicht legitimieren kann. So kommt es zur Zer- streuung (dissémination). +Neue Sprachen [so Lyotard] sind zu den alten hinzugekommen, bilden die Vorstädte der alten Stadt* (ebd.; S. 120). Die postmoderne Wissenschaft ist deshalb eine Erforschung des Instabilen, und +nunmehr [muß] die Betonung auf den Dissens gelegt werden. Der Konsens ist ein Horizont, er wird niemals erworben.* (Ebd.; S. 177) Eine so verstandene Postmoderne ist nicht gänzlich abgesetzt vom Gewesenen, und +das Projekt der Moderne besteht weiterhin, allerdings in Unruhe und Sorge* (ders.: Immaterialität 98 und Postmoderne; S. 9). Die +Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?* (1982) kann nur gelingen, wenn man sich dies vergegenwärtigt. Dann wird auch klar, daß die Moderne von einer fatalen und unerfüllbaren +Sehnsucht nach dem Ganzen und Einen, nach Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung* geprägt war (S. 203) – was teuer bezahlt werden mußte. Der Versuch nach der +Umfassung der Wirklichkeit* schlug nämlich in Terror um, wie die Erfahrungen des Jahrhunderts uns eindrücklich gelehrt haben. Deswegen muß die +postmoderne* Devise lauten: +Krieg dem Ganzen, zeugen wir das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Widerstreite […]* (Ebd.) 99 Die bisher vorgestellten Vertreter einer +nouvelle philosophie* – Foucault, Derrida und Lyotard – hatten und haben bedeutenden Einfluß vor allem auf die neuere, stark politisch geprägte

ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE? LI amerikanische +cultural theory* (vgl. Angermüller: PostModerne zwischen Theorie und Kultur). Sie selbst rekurrieren in ihrem Werk allerdings vielfach auf die deutschen Philosophen Nietzsche und Heidegger, welche man deshalb vielleicht als philosophische +Vorläufer* des Poststruktu- 100 ralismus/Postmodernismus bezeichnen kann. Auch Gianni Vattimo, ein italienischer Vertreter der philosophischen Postmoderne, bezieht sich auf diese in ihrer deutschen Heimat wegen der Vereinnahmung durch den Nazismus eher diskreditierten Denker, und stellt klar fest: +Man kann mit Recht behaupten, daß die philosophische Postmoderne im Werk Nietzsches entsteht […]* (Das Ende der Moderne; S. 178f.). 101 Mit der Aufstellung einer +Ontologie des Verfalls* gibt er sich denn auch betont nihilistisch, und der Kern des Seins liegt für ihn im Untergang. Formulierte Heidegger noch: +das Abendland ist das Land des Untergangs (des Seins)* (Brief über den Humanismus; zitiert nach: Einer Ontologie des Verfalls entgegen; S. 65), so heißt es bei Vattimo: +das Abendland ist das Land des Untergangs (und daher des Seins)* (ebd.). Wenn Vattimo allerdings +Das Ende der Moderne* (1985) verkündet, so ist dies nur die plakative Überschrift zu einer durchaus differenzierten philosophischen Betrachtung über die Postmoderne. Diese ist nach Vattimo keine bloße Überwindung der Moderne, sonder vielmehr deren 102 Verwindung. Denn da +sich die Moderne als das Zeitalter der Überwindung definiert, als Zeitalter des Neuen, das veraltet und umgehend von einer neueren Neuigkeit ersetzt wird, […] kann man die Moderne nicht verlassen, indem man sie zu überwinden gedenkt […] dies wäre ein noch gänzlich innerhalb der Moderne selbst verbleibender Schritt* (S. 180ff.). Die Verwindung dagegen überholt nicht einfach die Moderne, sondern vertieft und verdreht sie, und bewirkt damit eine Genesung von den Irrungen ihrer immanenten Metaphysik (vgl. ebd.; 186f.). Der Idee eines Seins der Ewigkeit, Stabilität und Stärke wird von Vattimo in Anlehnung an Heidegger ein +schwaches* Denken gegenübergestellt, welches das Sein als Leben und Reifung, Geburt und Tod begreift: +Es ist nicht das, was weiterbesteht, sondern in auffallender Weise […] das, was wird, geboren wird und stirbt* (Einer Ontologie des Verfalls entgegen; S. 93). In Vattimos Konzept kommt also – trotz der Formel vom +Ende der Moderne* – streng ge- 103 nommen kein +posthistoristisches* Verständnis zum Tragen. Anders bei Arnold Gehlen: 104 Schon lange vor Francis Fukuyama fragte auch er im Titel eines Essays nach dem +Ende der Geschichte* – wobei es sich allerdings um eine rein rhetorische Frage handelt. Nach Gehlen

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amerikanische +cultural theory* (vgl. Angermüller: <strong>Post</strong>Mo<strong>der</strong>ne zwischen Theorie und Kultur).<br />

Sie selbst rekurrieren <strong>in</strong> ihrem Werk allerd<strong>in</strong>gs vielfach auf die deutschen Philosophen Nietzsche<br />

und Heidegger, welche man deshalb vielleicht als philosophische +Vorläufer* des <strong>Post</strong>struktu-<br />

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ralismus/<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus bezeichnen kann. Auch Gianni Vattimo, e<strong>in</strong> italienischer Vertreter<br />

<strong>der</strong> philosophischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, bezieht sich auf diese <strong>in</strong> ihrer deutschen Heimat wegen<br />

<strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung durch den Nazismus eher diskreditierten Denker, und stellt klar fest:<br />

+Man kann mit Recht behaupten, daß die philosophische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne im Werk Nietzsches<br />

entsteht […]* (Das Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 178f.). 101<br />

Mit <strong>der</strong> Aufstellung e<strong>in</strong>er +Ontologie des Verfalls* gibt er sich denn auch betont nihilistisch,<br />

und <strong>der</strong> Kern des Se<strong>in</strong>s liegt für ihn im Untergang. Formulierte Heidegger noch: +das Abendland<br />

ist das Land des Untergangs (des Se<strong>in</strong>s)* (Brief über den Humanismus; zitiert nach: E<strong>in</strong>er<br />

Ontologie des Verfalls entgegen; S. 65), so heißt es bei Vattimo: +das Abendland ist das Land<br />

des Untergangs (und daher des Se<strong>in</strong>s)* (ebd.). Wenn Vattimo allerd<strong>in</strong>gs +Das Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne*<br />

(1985) verkündet, so ist dies nur die plakative Überschrift zu e<strong>in</strong>er durchaus differenzierten<br />

philosophischen Betrachtung über die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.<br />

Diese ist nach Vattimo ke<strong>in</strong>e bloße Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong> vielmehr <strong>der</strong>en<br />

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Verw<strong>in</strong>dung. Denn da +sich die Mo<strong>der</strong>ne als das Zeitalter <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung def<strong>in</strong>iert, als<br />

Zeitalter des Neuen, das veraltet und umgehend von e<strong>in</strong>er neueren Neuigkeit ersetzt wird,<br />

[…] kann man die Mo<strong>der</strong>ne nicht verlassen, <strong>in</strong>dem man sie zu überw<strong>in</strong>den gedenkt […]<br />

dies wäre e<strong>in</strong> noch gänzlich <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne selbst verbleiben<strong>der</strong> Schritt* (S. 180ff.).<br />

Die Verw<strong>in</strong>dung dagegen überholt nicht e<strong>in</strong>fach die Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n vertieft und verdreht<br />

sie, und bewirkt damit e<strong>in</strong>e Genesung von den Irrungen ihrer immanenten Metaphysik (vgl.<br />

ebd.; 186f.). Der Idee e<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>s <strong>der</strong> Ewigkeit, Stabilität und Stärke wird von Vattimo <strong>in</strong><br />

Anlehnung an Heidegger e<strong>in</strong> +schwaches* Denken gegenübergestellt, welches das Se<strong>in</strong> als<br />

Leben und Reifung, Geburt und Tod begreift: +Es ist nicht das, was weiterbesteht, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>in</strong> auffallen<strong>der</strong> Weise […] das, was wird, geboren wird und stirbt* (E<strong>in</strong>er Ontologie des Verfalls<br />

entgegen; S. 93).<br />

In Vattimos Konzept kommt also – trotz <strong>der</strong> Formel vom +Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* – streng ge-<br />

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nommen ke<strong>in</strong> +posthistoristisches* Verständnis zum Tragen. An<strong>der</strong>s bei Arnold Gehlen:<br />

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Schon lange vor Francis Fukuyama fragte auch er im Titel e<strong>in</strong>es Essays nach dem +Ende<br />

<strong>der</strong> Geschichte* – wobei es sich allerd<strong>in</strong>gs um e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> rhetorische Frage handelt. Nach Gehlen

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