Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

edition.fatal.de
von edition.fatal.de Mehr von diesem Publisher
09.12.2012 Aufrufe

XCVIII POLITIK IN DER (POST-)MODERNE Raum des Möglichen Handlungsmöglichkeiten Abbildung 13: Der doppelte Raum der Kontingenz Raum des Denkbaren Luftballon unendlich viele Größenzustände an. Wird er aber über eine bestimmte Größe ausgedehnt, so platzt er. (S)eine Hülle, die seine Ausdehnbarkeit begrenzt, ist allerdings die Voraussetzung dafür, daß er überhaupt aufgeblasen werden kann. Der somit notwendig beschränkte und doch +unendliche* Raum des Möglichen wird allerdings noch durch weitere Grenzen markiert, denn es handelt sich bei ihm eigentlich um einen doppelten bzw. zweigeteilten Raum: Dem (grundsätzlich unerschließbaren, nur retrospektiv hervortretenden) Raum des objektiv Möglichen, steht der (subjektiv erschlossene) Raum des Denkbaren gegenüber. Alleine im Überlappungsbereich beider besteht nun die dem Handeln 19 tatsächlich verfügbare Kontingenz (siehe Abb. 9), und wiederum nur ein Teil der +kontingenten* Handlungsmöglichkeiten haben überschreitenden Charakter – dann nämlich, wenn sie den Raum des Möglichen durch ihre Verwirklichung wiederum vergrößern würden. Die Möglichkeit der Utopie ist also – genauso wie das, was allgemein möglich ist – immer auch abhängig vom individuellen Kontingenzbewußtsein. Deshalb gilt eine (subjektive) Relativität der Kontingenz. Kontingenz ist nicht absolut, sondern, gerade in ihrer utopischen Komponente, nur relativ zu unserer Erkenntnisfähigkeit, unserem Willen und unseren Handlungspotentialen. Das +Utopische* (als Teilbereich des Kontingenten, des Möglichen und damit Unwirklichen) steht im Gegensatz zur (aktuellen) Wirklichkeit. Wie aber wird eine Möglichkeit zur Wirklichkeit, und wie ist Wirklichkeit möglich? – Durch das Eintreten einer Möglichkeit erfolgt eine Punk- tualisierung der Kontingenz. Der Kontingenzraum schrumpft auf einen Punkt, eine Möglichkeit zusammen, die mit ihrem Eintreten alle anderen Möglichkeiten +unmöglich* macht. Der Raum objektiver Kontingenz bestand, wie sich retrospektiv erweist, notwendig immer zumindest

EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN XCIX aus dieser einen, wirklich gewordenen Möglichkeit. Diese kann zuweilen auch jenseits des als möglich Gedachten liegen. Doch stellt sich, so fragt sich, nicht alles Mögliche durch das (eine), was wirklich wird, als rein spekulativ und hypothetisch heraus? Man könnte es allerdings auch umgekehrt betrachten: Wirklichkeit ist ein von Kontingenz gespeistes Werden; der Pfad der Faktizität ist das Ergebnis einer permanenten Punktualisierung von Möglichkeitsräumen. Kontingenz wäre somit gewissermaßen die Raumdimension der Zeitlinie, und in ihrer fortschreitenden Punktualisierung würde eine Wirklichkeitslinie im Raum der Zeit gebildet. Damit zeigt sich andererseits, daß die Vorstellung der Kontingenz selbst kontingent: abhängig von einem bestimmten Zeitmodell ist. Denn nur vor dem Hintergrund der Vorstellung einer (linear-)progressiven Zeit ist Kontingenz in der oben beschriebenen Weise denkbar, die damit nicht, wie Sartre meint, eine konkrete Eigenschaft des Seins darstellt (vgl. Das Sein und das Nichts; S. 200ff.), sondern alleine ein Resultat der Zeitlichkeit ist. Eine Mög- lichkeit ist schließlich dadurch charakterisiert, daß sie zwar wirklich werden kann, aber (noch) nicht wirklich ist. Löst man sich jedoch vom Modell progressiver Zeit und denkt sie zyklisch oder negiert ihre Existenz gar völlig, so wird aus Möglichkeiten eventuell die +Gleichzeitigkeit* verschiedener Wirklichkeiten. Von ganz ähnlichen Überlegungen geleitet – und vor dem (Zeit)- 20 Hintergrund der +zeitlosen* indischen Antike – konnte deshalb bereits N)ag)arjuna bemerken: +If the present and the future/Depend on the past/Then the present and the future/Would have existed in the past […]/If they are not depending on the past/Neither of the two would be established […]/By the same method/The other two divisions – past and future/[…] should be understood/[…] So how can time exist?* (Mu) lamadhyamakaka) rika) ; Kap. 19) Im europäischen Kontext dominiert(e) dagegen – in der Philosophie wie in den Naturwissen- schaften – über weite Strecken die aristotelische Vorstellung einer kontinuierlich fortschreitenden, linearen Zeit. Aristoteles definierte Zeit nämlich als die +Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ›davor‹ und des ›danach‹* (Physik; Buch IV, Kap. 11 [219b]). Kant (1724–1804) löste zwar zumindest die philosophische Betrachtung der Zeit von dieser +naiven* Auffassung und begriff Zeit (ebenso wie den Raum) als +transzendentale*, d.h. der Anschauung und der Erkenntnis notwendig vorausgehende und deshalb nur von der Vernunft gesetzte, nicht an sich wirkliche 21 Kategorie (vgl. Kritik der reinen Vernunft; Erster Teil, Abschnitt 2). Erst durch Edmund Husserl (1859–1931) kommt es jedoch (in etwa gleichzeitig mit der naturwissenschaftlichen Relativierung

EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN XCIX<br />

aus dieser e<strong>in</strong>en, wirklich gewordenen Möglichkeit. Diese kann zuweilen auch jenseits des<br />

als möglich Gedachten liegen. Doch stellt sich, so fragt sich, nicht alles Mögliche durch das<br />

(e<strong>in</strong>e), was wirklich wird, als re<strong>in</strong> spekulativ und hypothetisch heraus?<br />

Man könnte es allerd<strong>in</strong>gs auch umgekehrt betrachten: Wirklichkeit ist e<strong>in</strong> von Kont<strong>in</strong>genz<br />

gespeistes Werden; <strong>der</strong> Pfad <strong>der</strong> Faktizität ist das Ergebnis e<strong>in</strong>er permanenten Punktualisierung<br />

von Möglichkeitsräumen. Kont<strong>in</strong>genz wäre somit gewissermaßen die Raumdimension <strong>der</strong><br />

Zeitl<strong>in</strong>ie, und <strong>in</strong> ihrer fortschreitenden Punktualisierung würde e<strong>in</strong>e Wirklichkeitsl<strong>in</strong>ie im Raum<br />

<strong>der</strong> Zeit gebildet. Damit zeigt sich an<strong>der</strong>erseits, daß die Vorstellung <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz selbst<br />

kont<strong>in</strong>gent: abhängig von e<strong>in</strong>em bestimmten Zeitmodell ist. Denn nur vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />

<strong>der</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er (l<strong>in</strong>ear-)progressiven Zeit ist Kont<strong>in</strong>genz <strong>in</strong> <strong>der</strong> oben beschriebenen Weise<br />

denkbar, die damit nicht, wie Sartre me<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong>e konkrete Eigenschaft des Se<strong>in</strong>s darstellt (vgl.<br />

Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 200ff.), son<strong>der</strong>n alle<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> Resultat <strong>der</strong> Zeitlichkeit ist. E<strong>in</strong>e Mög-<br />

lichkeit ist schließlich dadurch charakterisiert, daß sie zwar wirklich werden kann, aber (noch)<br />

nicht wirklich ist. Löst man sich jedoch vom Modell progressiver Zeit und denkt sie zyklisch<br />

o<strong>der</strong> negiert ihre Existenz gar völlig, so wird aus Möglichkeiten eventuell die +Gleichzeitigkeit*<br />

verschiedener Wirklichkeiten. Von ganz ähnlichen Überlegungen geleitet – und vor dem (Zeit)-<br />

20<br />

H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> +zeitlosen* <strong>in</strong>dischen Antike – konnte deshalb bereits N)ag)arjuna bemerken:<br />

+If the present and the future/Depend on the past/Then the present and the future/Would have existed<br />

<strong>in</strong> the past […]/If they are not depend<strong>in</strong>g on the past/Neither of the two would be established […]/By<br />

the same method/The other two divisions – past and future/[…] should be un<strong>der</strong>stood/[…] So how can<br />

time exist?* (Mu) lamadhyamakaka) rika) ; Kap. 19)<br />

Im europäischen Kontext dom<strong>in</strong>iert(e) dagegen – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie wie <strong>in</strong> den Naturwissen-<br />

schaften – über weite Strecken die aristotelische Vorstellung e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlich fortschreitenden,<br />

l<strong>in</strong>earen Zeit. Aristoteles def<strong>in</strong>ierte Zeit nämlich als die +Meßzahl von Bewegung h<strong>in</strong>sichtlich<br />

des ›davor‹ und des ›danach‹* (Physik; Buch IV, Kap. 11 [219b]). Kant (1724–1804) löste zwar<br />

zum<strong>in</strong>dest die philosophische Betrachtung <strong>der</strong> Zeit von dieser +naiven* Auffassung und begriff<br />

Zeit (ebenso wie den Raum) als +transzendentale*, d.h. <strong>der</strong> Anschauung und <strong>der</strong> Erkenntnis<br />

notwendig vorausgehende und deshalb nur von <strong>der</strong> Vernunft gesetzte, nicht an sich wirkliche<br />

21<br />

Kategorie (vgl. Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft; Erster Teil, Abschnitt 2). Erst durch Edmund Husserl<br />

(1859–1931) kommt es jedoch (<strong>in</strong> etwa gleichzeitig mit <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen Relativierung

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!