Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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390 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE problematischen Aspekt der sozialen +Wirklichkeit* moderner Gesellschaften: nämlich deren arbeitsteilige Organisation sowie die aus ihr folgenden Differenzierungen und +Autonomiegewin- ne*. Zentralisierungen und offene wie verdeckte Querverbindungen der (teil)autonomen Subsysteme werden dagegen kaum reflektiert. Durch diese spezifische Selektivität ergibt sich zwar ein hoch in sich geschlossenes, konsistentes 108 Gedankengebäude mit ebenso hohem Allgemeinheitsgrad. Dieser Vorteil ist jedoch nicht nur durch eine (tautologische) Zirkularität erkauft (siehe unten), sondern bewirkt auch, daß sie einen Bezug auf das konkrete Soziale nur als ideologischer Überbau aufweist. Mit der Faktizität der Gesellschaft konfrontiert, gelangt schließlich selbst Luhmann gelegentlich zu Feststellungen, die seine eigenen theoretischen Prämissen indirekt in Frage stellen. So kommt er in seinem Aufsatz +Inklusion und Exklusion* (1994) zu der bereits zitierten Schlußfolgerung, daß in der modernen Gesellschaft zwar der Inklusionsbereich den (gedachten) Regeln funktionaler Differenzierung gehorcht. Der Exklusionsbereich ist dagegen – paradoxerweise und zum Nachteil der so allzu leicht aus dem sozialen Rahmen fallenden Individuen – hoch integriert (siehe S. 261f.). Wir haben es also +tatsächlich* mit einer Trennung ohne Trennung zu tun. Soziale Tatsachen sind allerdings, wie auch Luhmann aufweist, immer sozial konstruiert und unterliegen Interpretationsprozessen. Diese +Relativität* trifft ebenso auf die wissenschaftliche Kommunikation zu, die sich – gemäß der funktionalistischen Sicht – auf den Code wahr/unwahr bezieht: +Der Wahrheitscode selbst ist, indem wir hier über ihn sprechen, Gegenstand wahrer oder vielleicht unwahrer Aussagen* (Die Gesellschaft der Gesellschaft; S. 373f.) Damit deutet Luhmann auf das grundlegende, schon oben angesprochene Problem aller +Beobachtungen höherer Ordnung*, wie sie insbesondere (soziologische) Metatheorien mit hohem Allgemein- heitsgrad darstellen: Diese müssen, um überhaupt Aussagen vornehmen zu können, kontingente Setzungen vornehmen, die sich nicht +objektivieren* lassen, sondern – berechtigterweise – Gegenstand des kritischen wissenschaftlichen (Meta-)Diskurses sind. Dieser kritische Diskurs hat (seit ihren ersten Artikulierungen) auch die funktionalistische System- theorie Luhmanns begleitet. Vor allem Jürgen Habermas exponierte sich Anfang der 70er Jahre durch eine intensive, überaus kritische Auseinandersetzung mit Luhmann. Der primäre an Luhmann gerichtete Vorwurf lautete dabei, daß dieser im Rahmen seiner Theorie eine Funktionalisierung und damit eine +Sinnentleerung* des Wahrheitsbegriffs betrieben habe: Wahrheit wird nämlich von Luhmann rein +empirisch*, als Ergebnis von Kommunikations-

KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 391 109 prozessen, verstanden (siehe auch oben) und ist gleichzeitig ein zentrales +Medium* der Kommunikation, indem der Rekurs auf Wahrheit die (soziale) Kommunikation von Begrün- dungsansprüchen entlastet. Der gesellschaftliche +Wert* der Wahrheit wird also alleine in ihrer Dienlichkeit für die nach Luhmann zentrale Funktion der Komplexitätsreduktion und Stabilitätssicherung gesehen. Damit entfällt jedoch nach Habermas erstens eine Kritisierbarkeit der +empirischen* Wahrheit(en) – was für diesen wiederum ein wesentliches Kriterium für eine begründete, intersubjektive Wahrheit darstellt, die auch unabhängig von Autorität, Vertrauen und Zwang etc. Gültigkeit beanspruchen kann und damit diesen Namen erst wirklich verdient. Zweitens muß Luhmann paradoxerweise, um zu seiner +empirischen*, pragmatisch verkürzten Bestimmung von Wahrheit gelangen zu können, zugleich implizit auf einen +theoretischen*, auf diskursiven Begründungen beruhenden Wahrheitsbegriff rekurrieren. Luhmanns Ansatz wird also dem eigenen Anspruch – nämlich gerade ohne einen solchen, inhaltlich gefüllten Wahrheitsbegriff auszukommen – nicht gerecht. (Vgl. Theorie der Gesellschaft oder Sozial- technologie?; Abschnitt IV) Unter diesem Blickwinkel erscheint die Systemtheorie konsequent als eine +neue Form der Ideologie*. Habermas illustriert dies auch an Luhmanns Verbindung einer rein auf formalisierten Verfahren beruhenden Legitimation des Rechts mit einem funktionalisierten Ideologiebegriff: Einerseits wird von Luhmann betont, daß die Wirksamkeit des Rechtssystems auf der Aner- kennung der dem Recht Geltung verschaffenden Verfahren beruht (siehe auch hier S. 100ff.). Anderseits besteht die Auffassung, daß zu diesen Verfahren abstützende Ideologien hinzutreten müssen, um ihnen die Anerkennung zu sichern. Dabei wird unter +Ideologie* von Luhmann freilich nicht der Ausfluß +falschen* Bewußtseins verstanden, sondern er versteht unter Ideologien lediglich (austauschbare) Ideensysteme, die die Funktion erfüllen, das Handeln zu orientieren und zu rechtfertigen. In dieser Konstruktion übernimmt die funktionalistische Theorie gemäß Habermas jedoch selbst offensichtlich die Funktion einer Ideologie: Sie stützt, ähnlich wie die idealistischen Rechtstheorien in der Vergangenheit, die bestehenden Herrschaftsverhältnis und tilgt den Anspruch auf diskursive Legitimation. (Vgl. ebd.; Abschnitt V.) Diese kritische Einschätzung durch Habermas ist natürlich nicht unwidersprochen geblieben und hat eine weitergehende Diskussion entfacht (vgl. v.a. die im Suhrkamp-Verlag erschienenen Folgebände von +Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie*). Es ist allerdings bezeichnend, daß selbst aus Kreisen einer eher am +Mainstream* orientierten Soziologie teilweise sehr ähnliche

390 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<br />

problematischen Aspekt <strong>der</strong> sozialen +Wirklichkeit* mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften: nämlich <strong>der</strong>en<br />

arbeitsteilige Organisation sowie die aus ihr folgenden Differenzierungen und +Autonomiegew<strong>in</strong>-<br />

ne*. Zentralisierungen und offene wie verdeckte Querverb<strong>in</strong>dungen <strong>der</strong> (teil)autonomen<br />

Subsysteme werden dagegen kaum reflektiert.<br />

Durch diese spezifische Selektivität ergibt sich zwar e<strong>in</strong> hoch <strong>in</strong> sich geschlossenes, konsistentes<br />

108<br />

Gedankengebäude mit ebenso hohem Allgeme<strong>in</strong>heitsgrad. Dieser Vorteil ist jedoch nicht<br />

nur durch e<strong>in</strong>e (tautologische) Zirkularität erkauft (siehe unten), son<strong>der</strong>n bewirkt auch, daß<br />

sie e<strong>in</strong>en Bezug auf das konkrete Soziale nur als ideologischer Überbau aufweist. Mit <strong>der</strong><br />

Faktizität <strong>der</strong> Gesellschaft konfrontiert, gelangt schließlich selbst Luhmann gelegentlich zu<br />

Feststellungen, die se<strong>in</strong>e eigenen theoretischen Prämissen <strong>in</strong>direkt <strong>in</strong> Frage stellen. So kommt<br />

er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz +Inklusion und Exklusion* (1994) zu <strong>der</strong> bereits zitierten Schlußfolgerung,<br />

daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft zwar <strong>der</strong> Inklusionsbereich den (gedachten) Regeln funktionaler<br />

Differenzierung gehorcht. Der Exklusionsbereich ist dagegen – paradoxerweise und zum Nachteil<br />

<strong>der</strong> so allzu leicht aus dem sozialen Rahmen fallenden Individuen – hoch <strong>in</strong>tegriert (siehe<br />

S. 261f.). Wir haben es also +tatsächlich* mit e<strong>in</strong>er Trennung ohne Trennung zu tun.<br />

Soziale Tatsachen s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs, wie auch Luhmann aufweist, immer sozial konstruiert und<br />

unterliegen Interpretationsprozessen. Diese +Relativität* trifft ebenso auf die wissenschaftliche<br />

Kommunikation zu, die sich – gemäß <strong>der</strong> funktionalistischen Sicht – auf den Code wahr/unwahr<br />

bezieht: +Der Wahrheitscode selbst ist, <strong>in</strong>dem wir hier über ihn sprechen, Gegenstand wahrer<br />

o<strong>der</strong> vielleicht unwahrer Aussagen* (Die Gesellschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 373f.) Damit deutet<br />

Luhmann auf das grundlegende, schon oben angesprochene Problem aller +Beobachtungen<br />

höherer Ordnung*, wie sie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e (soziologische) Metatheorien mit hohem Allgeme<strong>in</strong>-<br />

heitsgrad darstellen: Diese müssen, um überhaupt Aussagen vornehmen zu können, kont<strong>in</strong>gente<br />

Setzungen vornehmen, die sich nicht +objektivieren* lassen, son<strong>der</strong>n – berechtigterweise –<br />

Gegenstand des kritischen wissenschaftlichen (Meta-)Diskurses s<strong>in</strong>d.<br />

Dieser kritische Diskurs hat (seit ihren ersten Artikulierungen) auch die funktionalistische System-<br />

theorie Luhmanns begleitet. Vor allem Jürgen Habermas exponierte sich Anfang <strong>der</strong> 70er<br />

Jahre durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive, überaus kritische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Luhmann. Der primäre<br />

an Luhmann gerichtete Vorwurf lautete dabei, daß dieser im Rahmen se<strong>in</strong>er Theorie e<strong>in</strong>e<br />

Funktionalisierung und damit e<strong>in</strong>e +S<strong>in</strong>nentleerung* des Wahrheitsbegriffs betrieben habe:<br />

Wahrheit wird nämlich von Luhmann re<strong>in</strong> +empirisch*, als Ergebnis von Kommunikations-

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